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Gertruda lebt als Kinderfrau bei einer reichen jüdischen Familie in Warschau. Mit dem kleinen Michael erlebt sie eine unbeschwerte, glückliche Zeit. Doch als die deutschen Truppen Polen überfallen, beginnt eine dramatische Geschichte von Liebe, Angst, Tod und Hoffnung. Michaels Mutter nimmt Gertruda auf dem Sterbebett das Versprechen ab, ihn wie ihren eigenen Sohn zu beschützen und nach dem Krieg nach Palästina zu bringen. Wird sie diesen Schwur halten können?
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Seitenzahl: 428
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Ram Oren
Eine mutige Frau und ein jüdisches Kind:Die Geschichte einer dramatischen Rettung
In Zusammenarbeit mit Michael Stolowitzky
Die hebräische Originalausgabe erschien in Israel unter dem Titel„Shevu’ah“ bei Keshet Publishing, Tel Aviv 2007,Copyright © Keshet PublishingCopyright der amerikanischen Ausgabe © 2009 DoubledayThis translation to German published by arrangement withDoubleday Religion, an imprint of The Crown Publishing Group,a division of Random House, Inc.
Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Evelyn Reuter.
Zum Schutz der Privatsphäre wurden die Namen bestimmter Personen geändert.
3. Auflage 2011
© der deutschen AusgabeBrunnen Verlag Gießen 2010www.brunnen-verlag.deUmschlagfoto: Getty ImagesUmschlaggestaltung: Sabine SchwedaFotos im Innenteil: privatSatz: Die Feder GmbH, WetzlarDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN 978-3-7655-1767-9eISBN 978-3-7655-7057-5
Vorbemerkung des Autors
Nach dem großen Krieg
Zwei Hochzeiten
Das Kind
Die Erpressung
Kristallnacht
Sturm
Die Pistole
Wilna
Nächtliche Straßen
Das Schiff
Die Überfahrt
Das neue Versprechen
Das Erbe
Nachwort
Dank
Quellenverzeichnis
Dieses Buch ist eine wahre Geschichte. Alle darin beschriebenen Ereignisse basieren auf meinen Interviews mit Überlebenden des Holocaust und deren Angehörigen sowie auf Zeitdokumenten und den von mir durchgeführten Recherchen. Da sich der Inhalt zu einem großen Teil auf die Erinnerungen der Hauptpersonen stützt (von denen viele, einschließlich Gertruda, inzwischen verstorben sind), war es für mich als Autor jedoch notwendig, meine schriftstellerische Freiheit zu nutzen, um die Erzählung durch Dialoge und Einzelheiten bestimmter Begebenheiten zu ergänzen. Das Schicksal von Michael und Gertruda – und von allen, die den Holocaust hautnah erlebt haben – ist ein bewegendes Zeitzeugnis, und ich habe versucht, mich so genau wie möglich an die historischen Tatsachen zu halten.
Die Rauchwolken des Krieges lösten sich nur langsam auf. Zaghaft brach die Frühlingssonne durch und strich über die Ruinen, die Zehntausende von Menschen unter sich begraben hatten, tauchte verwüstete Straßenzüge in ein mildes Licht und ließ glitzernde Punkte auf den Wassern der Weichsel tanzen, deren träge Strömung die Erinnerung an Tod und Schrecken mit sich forttrug.
Auf einer Anhöhe im zerbombten Warschau stand das ehrwürdige alte Palais der Familie Stolowitzky. Wie durch ein Wunder hatte es den Krieg unbeschädigt überstanden. Ein Kunstwerk aus vier Stockwerken behauener Steine und fein gemeißelter Kanten, mit prächtigen Bleiglasfenstern und Deckenmalereien, von dessen Dachvorsprüngen die Statuen alter Kämpfer grüßten.
Nur zwei der ehemaligen Bewohner waren noch am Leben, ein Junge und seine Kinderfrau – Flüchtlinge in einem fernen Land. In ihrem neuen Zuhause in Israel, zwischen blätternden Tapeten, billigen Möbeln und Rostflecken in der Badewanne, schien das große, herrschaftliche Haus wie ein Tagtraum, wie ein Bild aus einer allzu lebhaften Fantasie.
Die beiden lebten in einer der düsteren Mietskasernen in einer Seitenstraße in Jaffa. Aus den Fenstern ihrer kleinen Wohnung blickten sie auf graue, trostlose Häuser. Kinder spielten in einem verlassenen Hinterhof, Frauen kamen vom Markt nach Hause, beladen mit schweren Einkaufstaschen. Tag und Nacht drang der Lärm vorbeifahrender Autos in die Wohnung. In der Luft lag ein fauliger Abfallgestank. Im Winter roch es in den feuchtkalten Räumen nach Schimmel, im Sommer staute sich die heiße, stickige Luft zwischen den Wänden.
Wie anders war es in dem Palais gewesen. Da hatte es geräumige Seitenflügel und weitläufige Gartenanlagen gegeben, eine warme Heizung im Winter. Im Sommer hatte durch die geöffneten Fenster eine frische Brise vom Fluss heraufgeweht. Dienstboten waren auf Zehenspitzen durchs Haus gehuscht, um unnötigen Lärm zu vermeiden. In den Schränken hatten teure Kleider gehangen, und die erlesenen Mahlzeiten waren in feinen Porzellangefäßen serviert worden. Das schwere goldene Besteck war auf Hochglanz poliert gewesen, und in edlen Kristallgläsern hatte der vollmundige Wein geschimmert.
Michael Stolowitzky und Gertruda, die Kinderfrau, die ihn als ihren eigenen Sohn angenommen hatte, hatten den Krieg überlebt. Nun kämpften sie den Überlebenskampf in einem fremden Land. Michael ging zur Schule, während Gertruda jeden Morgen in Jaffas nördliche Bezirke fuhr, wo sie als Putzhilfe für sich und Michael ihren Lebensunterhalt verdiente – keine leichte Arbeit für eine Frau, welche die Blüte der Jugend bereits hinter sich gelassen hatte. Abends kehrte sie müde und mit schmerzenden Gliedern zurück. Michael begrüßte sie immer mit einem Kuss, zog ihr die Straßenschuhe aus, kochte eine bescheidene Mahlzeit und schlug ihr Bett auf. Er wusste, dass sie nur seinetwillen so hart arbeitete. Sie wollte, dass er eine gute Schulbildung bekam, es sollte ihm an nichts fehlen. Und er schwor sich, dass er ihr eines Tages tausendmal vergelten würde, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt, ihm das Leben zum zweiten Mal geschenkt. Immer war sie für ihn da gewesen, tröstend und beschützend wie ein gütiger Engel.
Während des Krieges waren Armut und Not Michael Stolowitzkys ständige Wegbegleiter gewesen. Endlich, nach all den Jahren des Leids, sah er jetzt Licht am Ende des Tunnels. Bald würde dieses entbehrungsreiche Leben der Vergangenheit angehören. Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, würde sich alles zum Guten wenden, und es würde wieder so sein wie früher, in den sorgenfreien Tagen des Wohlstands. Davon war er fest überzeugt.
Eine glückliche, unbeschwerte Zukunft lag in greifbarer Nähe. Nicht mehr als vier Flugstunden trennten ihn von einem Schatz, der nur darauf wartete, von ihm gehoben zu werden: Millionen von Dollars auf den Konten und Goldbarren in den Tresoren von Schweizer Banken – das Vermögen seines verstorbenen Vaters, Jacob Stolowitzky, bekannt als „der Rockefeller von Polen“. Michael war sein einziger Erbe.
Das Erbe seines Vaters schien ihm eine gerechte Entschädigung für die furchtbaren Kriegsjahre. Es wurde zum Zentrum seines Denkens, Gegenstand seiner Tagträume. Während seiner Zeit bei der israelischen Armee fieberte er ungeduldig seiner Entlassung entgegen, um endlich seinen Plan zu verwirklichen.
Als junger Soldat wurde er einer Gefechtseinheit zugeteilt und von der Kugel eines syrischen Heckenschützen verwundet. Sie traf ihn bei einem Schusswechsel nördlich des Sees Genezareth ins Bein. Man brachte ihn, stöhnend vor Schmerzen, ins Krankenhaus von Poriya. Als er nach der Operation aus der Narkose erwachte, sah er seine Adoptivmutter an seinem Bett sitzen und streckte seine schwache Hand nach ihr aus.
„Weine nicht“, sagte sie und drückte seine Hand an ihr Herz, „es wird alles gut, das verspreche ich dir.“
Nach seiner Militärzeit kehrte er nach Hause in ihre bescheidene Wohnung zurück. Gleich am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach einem Job. Für keine Arbeit war er sich zu schade. Tagsüber flitzte er als Eilbote mit seinem Motorroller durch Jaffa-Tel Aviv, abends kellnerte er und arbeitete als Nachtwächter bei einer Textilfirma. Er wollte so viel wie möglich verdienen, so viel Geld wie möglich sparen.
Zwei Jahre später, im Juni 1958, kratzte er alle Ersparnisse zusammen und buchte einen Flug nach Zürich. Im Koffer verstaute er die verbliebenen Familiendokumente.
„Wie lange wirst du fortbleiben?“, fragte Gertruda besorgt.
„Zwei bis drei Tage vielleicht. Länger sollte es nicht dauern.“
„Und wenn sie dir das Geld nicht geben?“
„Warum sollten sie nicht?“ Er lächelte sie zuversichtlich an. „Ich bin bald wieder da“, versprach er. „Und wenn ich wiederkomme, bin ich ein reicher Mann. Dann ändert sich unser Leben.“
Sie begleitete ihn noch zum Flughafen und drückte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. „Pass auf dich auf“, sagte sie. „Und gib gut auf das Geld acht – damit es dir nicht abhandenkommt.“
„Mach dir keine Sorgen“, antwortete er.
Aufgeregt und voll freudiger Erwartung ging er an Bord. In Zürich mietete er ein kleines Zimmer und lag die ganze Nacht wach. Er wusste nur den Namen einer Bank unter mehreren, bei denen sein Vater sein Vermögen angelegt hatte. Diese Bank suchte er am nächsten Tag auf. Unterwegs sah er vor seinem inneren Auge, wie die Bankangestellten ihm kofferweise Geldscheine aushändigten und wie er damit, reich und sorgenfrei, nach Israel zurückreiste. Er sah seine Adoptivmutter, wie sie ihn mit ausgebreiteten Armen begrüßte, und er hörte sich sagen: „Wir haben es geschafft, Gertruda, wir sind reich! Jetzt wohnen wir bald in unserem eigenen Haus, kaufen uns alles, was wir wollen – und das Wichtigste: Du musst nie wieder arbeiten!“
Sie würde ihn in die Arme schließen und sagen, was sie immer sagte: „Mein lieber Junge. Ich brauche kein Geld. Alles, was ich brauche, bist du.“
Graf Stefan Roswadowsky stürzte wütend ein weiteres Glas Brandy herunter. Er war ein dickbäuchiger, rotgesichtiger Mann, auf dessen Militäruniform die Orden seiner Vorväter prangten. Seine zweiundsiebzig Lebensjahre glichen einer nie endenden Vergnügungsreise. Unter seinem breiten Kiefer hing ein rosa Doppelkinn wie ein fetter Kloß, das wie der übrige Körper durch die Jahre des ausschweifenden Lebens an Fülle zugenommen hatte.
Draußen knirschten Wagenräder auf dem Kiesweg und kündigten die Kutsche an. Ein Anflug von Übelkeit stieg wie eine böse Vorahnung in ihm auf. Er würde alles darum geben, um die folgende Begegnung zu vermeiden.
Die düsteren, bleiernen Wolken über Warschau passten zu seiner Stimmung. Ein dünner, bindfadenartiger Regen fiel kaum hörbar auf die gepflegten Gartenanlagen des herrschaftlichen Hauses in der Ujazdowska-Allee 9, als die Kutsche vor dem Eingang hielt. Der Kutscher sprang vom Bock und öffnete dem Fahrgast die Tür. Ein Mann um die vierzig in einem eleganten Wollmantel stieg aus. Er war groß und schlank, hatte einen selbstsicheren, entschlossenen Zug um den Mund und ging geschmeidigen Schrittes auf das Haus zu. Der Kutscher hielt ihm einen Regenschirm über den Kopf und geleitete ihn zur Tür. Von seinem Fenster aus beobachtete der Graf die Szene mit wachsendem Unbehagen. Jeden Augenblick würde der Gast seinen Fuß über die Schwelle setzen und damit die Familienehre der Roswadowskys und seine eigene Ehre unwiederbringlich zerstören.
Ein Dienstbote in schwarzer Livree bat den Gast mit ausdrucksloser Miene ins Haus und nahm ihm den Mantel ab.
„Wenn der Herr bitte warten möchten“, sagte er in unterwürfigem Tonfall, „ich werde Graf Roswadowsky von Ihrer Ankunft unterrichten.“
Leise öffnete der Hausdiener die Tür zu Roswadowskys Arbeitszimmer und machte eine tiefe Verbeugung. „Euer Gnaden“, kündigte er an, „Herr Stolowitzky ist da.“
Der Graf zögerte. „Es schadet dem Juden nicht, wenn er ein bisschen warten muss“, brummte er unwillig. Er brauchte noch etwas Zeit, um sich für die bevorstehende Unterredung zu wappnen.
Seufzend sank der Graf tiefer in seinen Sessel. Von den mit Samt bezogenen Wänden schauten seine Vorfahren auf ihn herab, ordensschwere Offiziere mit Schwertern, hoch zu Ross auf edlen Pferden mit wallenden Mähnen und schimmerndem Fell. Daneben prangten in Goldrahmen die Porträts ihrer schönen, üppigen Frauen in prunkvollen Gewändern, geschmückt mit Gold, Diamanten und anderen wertvollen Juwelen. Perserteppiche, von ausgesuchten Künstlern im Schweiße ihres Angesichts in den Kellern von Isfahan und Shiraz gewoben, zierten die Wände, und die Möbelstücke in dem großzügigen Zimmer hätten einem Königsschloss alle Ehre gemacht.
Der alte Graf rutschte unbehaglich hin und her, zupfte nervös an seinem gepflegten Schnurrbart und bemühte sich um Haltung. Um jeden Preis wollte er seine Unsicherheit und seinen Abscheu vor dem Treffen mit dem Besucher verbergen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass eines Tages er, der aus einer polnischen Adelsfamilie stammte, der ausgedehnte Ländereien und wertvolle Kunstgegenstände besaß und von dessen Gunst Hunderte von Pächtern abhängig waren, sich in einer solch peinlichen, erniedrigenden Lage befinden würde. Das erschütterte seine Vorstellung von der Ordnung der Welt bis in die Grundfesten.
In der Familie des Grafen Roswadowsky spielten Ehre und gesellschaftliche Stellung eine große Rolle. Roswadowsky wusste, wie seine Vorfahren gehandelt hätten, hätte ein Jude es gewagt, seinen Fuß in ihr Haus zu setzen. Ohne zu zögern hätten sie ihn hinausgeworfen, vielleicht sogar mit Schlägen vor die Tür gejagt, wie es sich für einen gehörte, der sich erdreistete, ihre Notlage auszunutzen.
Niemals zuvor hatte jemand aus der Familie Roswadowsky es mit einem Juden zu tun gehabt wie diesem, der nun draußen in der Vorhalle wartete. In Baranowicz im Osten Polens, wo die Familie zahlreiche Gutshöfe und Ländereien besaß, verneigten sich die Juden voller Ehrfurcht, wenn die Kutsche des Grafen vorbeifuhr, und wagten nicht, ihre Augen zu heben. Wo waren diese Zeiten geblieben? Wo war seine Autorität? Wie konnte es geschehen, dass ein Jude es wagte, dieses prachtvolle Warschauer Anwesen zu betreten? Es war eines der vielen Herrschaftshäuser in ganz Polen, die sich im Besitz der Familie befanden. Und nun kam dieser Jude ins Haus, nicht etwa, um einen Gefallen zu erbitten, sondern weil er, der Graf, ihn zu sich gebeten hatte, damit er ihm aus einer Notlage half.
Juden wie Moshe Stolowitzky waren dem Grafen Roswadowsky fremd. Stolowitzkys Leben war von Wohlstand und Einfluss geprägt, und es gab nicht viele Männer in Polen, die es mit seinem Reichtum aufnehmen konnten. Einen Großteil seines Vermögens hatte er von seinem Vater geerbt, einem geschickten Geschäftsmann, der vor dem Ersten Weltkrieg mit der Produktion und dem Verkauf von Eisenbahnschwellen reich geworden war, ferner mit der Herstellung von Mühlsteinen für Getreidemühlen, einem Gasthaus in seinem Heimatort Baranowicz sowie durch erfolgreiche Immobiliengeschäfte. Als Baranowicz im Ersten Weltkrieg an die Russen fiel, flohen viele Einwohner nach Warschau. Moshe Stolowitzky gelang es, den größten Teil seines Vermögens zu retten.
Graf Roswadowsky hatte weniger Glück gehabt. Er floh bei Nacht und Nebel und musste einen Großteil seines Besitzes zurücklassen. Unterschlupf fand er in seinem Palais in Warschau. Bald jedoch wurde das Geld knapp, sein Schuldenberg wuchs immer höher und die Gläubiger wurden immer ungeduldiger. Er wusste, es gab nur noch den einen schmerzvollen Ausweg: Er musste Häuser und Ländereien verkaufen. Käufer kamen und gingen. Manche wollten seine Notlage schamlos ausnutzen und versuchten, gnadenlos den Preis zu drücken. Andere boten angemessene Preise, die jedoch immer noch nicht hoch genug waren. Bis eines Tages Moshe Stolowitzky auf der Bildfläche erschien und ein gutes Angebot machte.
Der Diener kam nach ein paar Minuten zurück. „Herr Stolowitzky ist in Eile“, meldete er, „er sagt, er könne nicht länger warten.“
Der Graf schnaubte verächtlich. „Der Jude hat vielleicht Nerven“, brummte er ungehalten.
Der Dienstbote blieb stumm stehen und wartete auf weitere Anweisungen.
Roswadowsky schluckte seinen Widerwillen herunter. „Na schön, er soll reinkommen.“
Kurz darauf stand Moshe Stolowitzky in der Tür und blickte den Grafen respektlos an. Er war sich seiner überlegenen Position bewusst. Daher nahm er sich keine Zeit, um Nettigkeiten auszutauschen, sondern kam gleich auf das Geschäftliche zu sprechen, was Roswadowsky missfiel. Der Gast war ein harter Verhandlungspartner, und in der darauffolgenden Stunde verkaufte ihm der Graf mehrere Häuser und Ländereien in Baranowicz und überschrieb ihm das Anwesen in Warschau. Wie immer, wenn er in Geldnot war, war die Familienehre plötzlich zweitrangig. Er schluckte seine verletzten Gefühle hinunter und unterschrieb schweren Herzens die Kaufverträge.
Es fiel ihm nicht leicht, sich von seinem Besitz zu trennen – schon gar nicht von dem Warschauer Herrschaftshaus mit den wertvollen Möbeln und Kunstgegenständen, das sein ganzer Stolz gewesen war. Es schmerzte ihn, all das aufgeben zu müssen: ein Heer von Dienstboten, eine mit Delikatessen aus aller Welt gefüllte Speisekammer, einen Weinkeller mit erstklassigen Weinen. Und dann die festlichen Bankette, bei denen reiche Geschäftsleute und alles, was in Polen Rang und Namen hatte, zu Gast gewesen waren. Und all das nur, um einen skandalösen Privatkonkurs zu vermeiden.
Das Palais der Familie Stolowitzky, Warschau
Seine junge Geliebte, eine schwarzhaarige Schönheit und Tochter eines seiner Pächter, die ebenfalls in dem Palais in Warschau lebte und seine Besuche dort noch angenehmer machte, weinte bitterlich, als sie ihre Sachen packen musste. Der Graf stand hilflos daneben.
„Was wird nun aus mir? Und was wird aus uns?“, schluchzte sie.
Der Graf strich ihr übers Haar und blinzelte eine Träne aus den Augenwinkeln weg. Er hatte keine Antwort.
Moshe Stolowitzky verließ das Haus mit dem Gefühl, ein hervorragendes Geschäft gemacht zu haben. Er war als erfahrener Geschäftsmann bekannt. Sein scharfer Verstand und seine Zielstrebigkeit ebneten ihm den Weg in die obersten Etagen der Regierungsbehörden, und schon bald war er der Vertragspartner im Eisenbahngeschäft. Er beschäftigte Hunderte von Arbeitern, die Schienen durch ganz Polen und später durch ganz Russland verlegten. Antisemitische Äußerungen prallten an ihm ab, denn er wusste, dass kein Judenhasser es wagen würde, ihm ein Haar zu krümmen. Bei festlichen Anlässen lud er Regierungsvertreter und die übrige Elite Polens ein und war auch in ihren Häusern ein gern gesehener Gast.
Graf Roswadowsky erbat sich eine Frist von einer Woche, um aus seinem Warschauer Palais auszuziehen. Nachdem der letzte Möbelwagen das Gelände für immer verlassen hatte, zog Moshe Stolowitzky mit seiner Frau Hava und ihrem kleinen Sohn Jacob ein.
Moshe Stolowitzky war nicht nur reich, sondern auch stolz auf seine jüdischen Wurzeln. Regelmäßig las er die jiddische Tageszeitung, Dos Yidishe Tageblat, und besuchte gemeinsam mit seiner Frau das von dem Schauspieler Zigmund Turkow gegründete jüdische Theater „Wikt“. Ferner hatte er in den jiddischen Film „Jiddl mitn Fiddl“ investiert, der weltweit zum jüdischen Kinohit wurde. Er unterstützte jüdische Schriftsteller sowie jüdische Schulen und Jeschiwas (Talmudschulen, an denen sich männliche Schüler dem Studium der überlieferten Auslegung des Alten Testaments widmen; d. Übers.). Jeden Freitag ließ er für das Sabbatmahl Lebensmittelkörbe für die Armen in die Stadt bringen, und in seinem Haus hatte er – wie es bei vielen wohlhabenden Juden üblich war – eine kleine Schachtel mit Bargeld für die Bettler, die täglich an seine Tür klopften.
Jacob, sein einziger Sohn, sollte in die Fußstapfen seines Vaters treten. Moshe beschäftigte mehrere Hauslehrer, die Jacob in Hebräisch und Naturwissenschaften unterrichteten, abonnierte für ihn die hebräische Kinderzeitschrift Olam Katan (Kleine Welt) und war glücklich, als Jacob Geschichten über die Chassidim – besonders fromme Juden – und die heiligen Stätten des Gelobten Landes zu lesen begann.
An einem stürmischen Winterabend saß Moshe Stolowitzky in der ersten Reihe des Novoschi-Auditoriums, wo sich etwa dreitausend Juden versammelt hatten, um den Zionisten Zeev Jabotinsky sprechen zu hören. Der kleine Mann mit der intellektuellen Brille und dem ernsten Gesicht rief in seiner Rede leidenschaftlich dazu auf, nach Israel auszuwandern, bevor die Juden aus Europa vertrieben würden. Obwohl Moshe Stolowitzky ein Bewunderer Jabotinskys und seiner Bücher war, hielt er dessen Theorie der lauernden Gefahr für die europäischen Juden für reichlich übertrieben. Wie die meisten ihrer Freunde betrachteten die Stolowitzkys Polen als ihre Heimat und waren dankbar für den Wohlstand, zu dem sie es dort gebracht hatten. Sie führten ein gutes, angenehmes Leben und dachten nicht im Traum daran, dass ihnen schwere Zeiten bevorstehen könnten, wie Jabotinsky es in seiner düsteren Prophezeiung voraussagte.
Doch es dauerte nicht lange, bis Moshe Stolowitzky am eigenen Leib erfuhr, dass ein weiteres Leben in Wohlstand und Sicherheit eine trügerische Illusion war. Es war an einem Freitagabend, und der jüdische Millionär saß auf seinem gepolsterten Stuhl gegenüber der Nachbildung der Bundeslade in der Tlomackie-Synagoge, der größten und ältesten Synagoge Warschaus. Andächtig lauschte er den Gesängen des berühmten Kantors Moshe Koussevitzky, und als der Gottesdienst vorüber war, verließ er die Synagoge gemeinsam mit einer Gruppe von Gläubigen. Seine Kutsche stand schon bereit. Zu Hause wartete seine Familie mit dem traditionellen Sabbatmahl.
Aber Stolowitzky kam nicht weit. Eine Horde jugendlicher Antisemiten umzingelte die Gläubigen, warf mit Steinen und beschimpfte sie in übelster Weise. Die Juden erstarrten vor Schreck und wussten nicht, wie ihnen geschah. Die meisten von ihnen waren in der Vergangenheit schon Zeugen antisemitischer Übergriffe gewesen, doch niemals derart gezielter und brutaler. Als die Angreifer versuchten, ihnen die Gebetsschals zu entreißen, wehrten sich die Opfer. Bald war eine Schlägerei im Gang, die erst ein Ende nahm, als die Polizei einschritt und Recht und Ordnung wiederherstellte.
Zerschrammt und mit zerrissenen Kleidern fuhr Moshe Stolowitzky nach Hause. Der Vorfall an sich beunruhigte ihn nicht allzu sehr. Er zog es vor zu glauben, dass vereinzelte Übergriffe auf Juden noch lange kein Beweis für eine gefährliche Entwicklung waren. Am meisten Sorgen bereitete ihm, dass seine Frau solche Dinge ernster nahm als er, und so erzählte er ihr, er sei vor der Synagoge gestürzt. Sie ließ sofort einen Arzt kommen, der seine Wunden verband und ihm zwei Tage Bettruhe verordnete.
Eine Woche darauf in der Synagoge verkündete der Rabbiner, dessen gebrochener Arm in der Schlinge an die gewaltsamen Ausschreitungen erinnerte, nach Beendigung der Gebete von der Kanzel: „Ich habe beschlossen, das Land zu verlassen und mit meiner Familie nach Jerusalem zu gehen. Polen ist für uns Juden eine tödliche Falle. Wem sein Leben lieb ist, der tut gut daran, seine Sachen zu packen und auszuwandern, bevor es zu spät ist.“
Moshe Stolowitzky wünschte ihm alles Gute. Zu Hause erzählte er seiner Frau von der Entscheidung des Rabbiners, Polen zu verlassen. „Vielleicht hat er recht“, antwortete sie nachdenklich.
„Unsinn!“ Moshe erhob seine Stimme. „Es besteht keinerlei Grund zur Panik.“
Der 28. Juni 1924 war ein strahlender, heißer Sommertag. Die Warschauer Bürger flanierten durch die Grünanlagen, die das Flussufer säumten. An jenem Nachmittag stellte Jacob Stolowitzky seinen Eltern seine Verlobte Lydia vor. Er war damals zweiundzwanzig und seine zukünftige Braut war zwanzig Jahre jung, ein schlankes, hübsches Mädchen, Tochter eines jüdischen Offiziers aus Krakau, die in Warschau Politikwissenschaften studierte. Sie hatten sich auf einem Fest bei gemeinsamen Freunden kennengelernt, und es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Hava und Moshe Stolowitzky empfingen die Verlobte ihres Sohnes im Festsaal ihres Palais und unterhielten sich mit ihr über ihre Familie und über ihr Studium. Sie fanden die junge Frau sehr sympathisch und sahen geflissentlich darüber hinweg, dass ihre Eltern weniger begütert waren als sie selbst. Sie war Jüdin und ihr Sohn liebte sie, alles andere würde sich finden. Bei dem festlichen Bankett, das sie für Lydia und ihre Eltern gaben, tranken die Gäste auf das junge Paar, und noch am selben Abend wurde das Hochzeitsdatum verkündet.
Drei Monate später war die gesamte Elite Warschaus Zeuge einer unvergesslichen Zeremonie. Mitglieder der Regierung, Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft, Großindustrielle, Künstler und Intellektuelle strömten in das herrschaftliche Haus und gratulierten dem frisch vermählten Paar und den glücklichen Eltern. Dutzende von Hausangestellten reichten Tabletts mit erlesenen Köstlichkeiten herum und schenkten Champagner nach. Das Orchester spielte, bis der letzte Gast gegangen war.
Das junge Paar verbrachte die Flitterwochen in der Schweiz. Als Jacob und Lydia nach Warschau zurückkehrten, überraschte Moshe Stolowitzky sie mit dem Vorschlag, ebenfalls in dem großzügigen Palais zu wohnen. Die Jungvermählten willigten gerne ein, und Moshe stellte ihnen einen geräumigen Seitenflügel zur Verfügung.
Jacob und Lydia fanden in dem großen Haus allen Komfort, den sie sich wünschen konnten. Lydia kümmerte sich um die Inneneinrichtung und ließ Möbel aus Italien kommen. Sie beaufsichtigte die Angestellten in ihrem Flügel – eine Haushälterin, einen Koch, zwei Putzfrauen und einen Chauffeur. Jacob bekam einen leitenden Posten in der Firma seines Vaters, und die Geschäfte florierten wie nie zuvor. Er reiste geschäftlich durch ganz Europa, unterzeichnete Verträge mit verschiedenen Staaten und verdiente gutes Geld.
Mehr als alles andere wünschten sich die beiden ein Kind. Lydia träumte davon, dass ihr Sohn einmal Arzt werden würde, Jacob dagegen wünschte sich, dass er in seine Fußstapfen treten, später die Firma übernehmen und somit eines Tages das Stolowitzky-Imperium erben würde. Obwohl sie darin unterschiedlicher Meinung waren, waren sie sich in den meisten Dingen einig und glaubten, dass ihnen eine herrliche, sorgenfreie Zukunft beschieden war, in der ihr Kind stets auf Rosen gebettet sein würde.
Sie sollten sich irren.
Karl Rink hatte schon immer mehr vom Leben erwartet. Er war Junggeselle, vierundzwanzig Jahre alt, mit blauen Augen und kurz geschorenem Haar und arbeitete als Buchhalter bei dem Chemieunternehmen I.G. Farben in Berlin. Sein mageres Gehalt reichte kaum aus, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sein Büro war klein und dunkel und seine Arbeit langweilte ihn. Karl träumte von einer anderen Karriere, von einem Beruf, der lukrativer und interessanter war und in dem er wirklich erfolgreich sein konnte. Hin und wieder nahm er einen Anlauf und machte sich auf die Suche nach einer neuen Arbeit, doch die einzigen Stellen, für die er qualifiziert zu sein schien, waren in der Buchhaltung. Sehr schnell hatte er begriffen, dass sich Hunderte von Bewerbern auf die interessanten Stellenangebote stürzten, darunter viele, die besser und qualifizierter waren als er. Mit der Zeit hatte er nur noch wenig Hoffnung, dass sich jemals etwas ändern würde.
Der einzige Ausgleich zu seinem eintönigen Alltag war der Sport. Rink war ein ausgezeichneter Radrennfahrer – hier konnte er sein echtes Talent zeigen. Er gehörte dem firmeneigenen Sportverein an, trainierte jedes Wochenende und bei jedem Wetter, quälte sich im Gebirge auf steilen Pfaden bergan. Im Regal seiner kleinen Wohnung reihten sich die Pokale. Darüber hing in einem Rahmen ein Artikel aus einer Lokalzeitung über seinen Sieg in einem regionalen Radrennen.
Am 12. September 1924 hatte er es besonders eilig, nach der Arbeit nach Hause zu kommen. In seiner Einzimmerwohnung in einer trostlosen Arbeitersiedlung im Berliner Westen zog er seinen dunklen Anzug an, band sich eine Krawatte um und holte seine Eltern ab, die in einem entfernten Vorort wohnten. Mit dem Bus fuhren sie zu dritt zum Standesamt, wo Mira, ihre Eltern und eine Handvoll Freunde schon auf sie warteten.
Mira, ein Mädchen von einundzwanzig Jahren mit dunklem Haar, heller Haut und molliger Figur, war beim Justizministerium in der Abteilung für Testamente als Bürokraft beschäftigt. Arm in Arm stand sie mit Karl in ihrem weißen Kleid vor dem Standesbeamten, der ihre Trauung vollzog.
Dass Mira Jüdin war, stand ihrer Liebe nicht im Wege. Karls Eltern – sein Vater war Lastwagenfahrer und seine Mutter Hausfrau – kümmerten sich nicht um kulturelle oder religiöse Unterschiede und liebten Mira wie eine Tochter. Miras Eltern besaßen ein Lebensmittelgeschäft und lebten streng nach den jüdischen Gesetzen und Bräuchen. Auch wenn Ehen zwischen Juden und Christen in Berlin keine Seltenheit waren, hatten sich Miras Eltern entschieden gegen eine Verbindung mit einem Nicht-Juden ausgesprochen. Karl und Mira hatte lange Zeit versucht, mit ihnen zu reden und sie umzustimmen. Und Mira hatte so lange gebeten, ihren Verlobten heiraten zu dürfen, bis ihre Eltern sich geschlagen gaben.
Das junge Paar bekam ein paar wenige Hochzeitsgeschenke, vorwiegend Gläser und Porzellan. Karls Kollegen hatten eine kleine Summe gesammelt, und sein Chef überreichte ihm einen Umschlag mit einem Wochenlohn. Die Eltern des Hochzeitspaares gaben einen bescheidenen Empfang und schenkten den Frischvermählten ein Doppelbett.
Verliebt und glücklich verbrachten Mira und Karl ihre zweitägige Hochzeitsreise in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Mit dem Rad fuhren sie auf verschlungenen Wegen durch die Wälder, aßen Blutwurst und tanzten bis in die frühen Morgenstunden zur Musik einer einheimischen Kapelle in einem örtlichen Gasthof. Wieder in Berlin, zog Mira in Karls Wohnung ein, und als das Jahr zu Ende ging, wurde ihre Tochter Helga geboren. Die stolzen Eltern standen stundenlang vor der Wiege und konnten sich nicht sattsehen an dem kleinen Wesen.
Ihr Leben war ruhig und beschaulich. Sie liebten einander und ihre kleine Tochter und spazierten gern an warmen Wochenenden mit dem Kinderwagen durch den Park. Mira wurde im Justizministerium befördert, und Karl gab die Hoffnung nicht auf, eines Tages endlich seine Traumstelle zu finden. Beide blickten sie der Zukunft zuversichtlich entgegen und freuten sich auf ein Leben voll Glück, Wohlstand und beruflicher Erfüllung.
Sie sollten sich irren.
Im Frühling des Jahres 1931, als der Winter sich mit Regen und Schneeschauern verabschiedet hatte und die ersten warmen Sonnenstrahlen zaghaft durch die Wolken brachen, wurde Karl Rink in die Zentrale der nationalsozialistischen Partei geladen. Er wusste, dass der Sportverein seiner Firma, wie viele andere Sportvereine, unter der Schirmherrschaft der SS stand – der „Schutzstaffel“, einer Eliteeinheit der Partei. Die SS war berüchtigt für ihre Disziplin und ihre strengen, brutalen Methoden. Karl hatte sich nie besonders für Politik interessiert. Alles, was er wollte, war Rad fahren, Rennen gewinnen, neue Rekorde aufstellen und eines Tages eine bessere Arbeit finden. Die Nationalsozialisten interessierten ihn nur in einer einzigen Hinsicht: Sie pumpten Geld in den Sportverein, förderten die Sportler und stifteten Preise und Pokale. Er war noch nie zuvor in der Parteizentrale gewesen und neugierig auf das bevorstehende Treffen.
Ein stämmiger Mann in SS-Uniform begrüßte ihn mit einem festen Händedruck und stellte sich als Sportbeauftragter der Partei vor. Mit einem gewinnenden Lächeln überreichte er Karl einen Silberpokal als Anerkennung für seine Leistungen im Radrennsport im vergangenen Jahr mit den Worten: „Machen Sie weiter so, Rink. Die Partei schätzt Männer wie Sie.“
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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