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In diesem Buch finden sich die gesammelten Vorlesungen, die der deutsche Schriftsteller und Professor zu diesem Thema an der Universität Tübingen hielt. Beleuchtet werden u.a. die Themen Die Heldensage, Heiligensagen und Rittergedichte, Minnesang, Lehr- und Leitgedichte.
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Seitenzahl: 518
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Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter
Ludwig Uhland
Inhalt:
Johann Ludwig Uhland – Biografie und Bibliografie
Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter
Einleitung
Erster Hauptabschnitt: Die Heldensage.
I. Inhalt der Heldensage im Umriß
A. Deutsche Gestaltung der Sage
1. Die Amelunge
Rother.
Otnit
Hugdietrich
Wolfdietrich
Dietrich von Bern
Sigenot
Ecke
Biterolf und Dietleib
Laurin
Der Rosengarten zu Worms
Dietrichs Flucht
Alphart
Schlacht vor Raben
Hildebrand und Alebrand
2. Die Nibelunge.
Walther
Hörnen Siegfried. (Siegfrieds Drachenkampf.)
Lied der Nibelunge. (Siegfrieds Tod.)
Der Nibelunge Not
3. Die Hegelinge
Hagen von Irland
Horand und Hilde
Gudrun
B. Nordische Gestaltung der Sage.
Der Hort
Sigurd
Atlis Gastmahl
Schwanhild
Gudruns Söhne
Aslög
Hilde
II. Erklärung der Heldensage
Das Ethische
Die Könige
Die Meister
Die Recken
Heergesellen
Wolfhart
Der Spielmann
Der streitbare Mönch
Rumolt
Rüdeger.
Waffen und Rosse
Die Ungetreuen
Ermenrich
Sibich
Hagen
Die Frauen
Helche
Ute
Gudrun
Kriemhild
Stil
Zweiter Hauptabschnitt: Heiligensagen und Rittergedichte.
Anno
Orendel und Breide
Der arme Heinrich
Gregor vom Steine
Engelhart und Engeldrut
Der Gral
Titurel
Umfortas
Sigune
Parzival
Ferafis
Lohengrin
Des Grals Zug nach Indien
Dritter Hauptabschnitt: Geschichte der deutschen Dichtkunst im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert
Der Meistergesang.
1. Entstehung, Ausbreitung und Zweck der Singschulen.
2. Einrichtung und Satzungen der Singschulen.
3. Leistungen der Singschulen
Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter, L. Uhland
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849637934
www.jazzybee-verlag.de
Hervorragender Dichter und Literaturforscher, geb. 26. April 1787 in Tübingen, gest. daselbst 13. Nov. 1862, besuchte Gymnasium und Universität seiner Vaterstadt und studierte 1802–1808 die Rechte, neben diesem Studium das der mittelalterlichen Literatur, namentlich der deutschen und französischen Poesie, pflegend. Schon damals veröffentlichte er einzelne Gedichte (zum Teil unter dem Pseudonym Volker). 1810 unternahm er eine mehrmonatige Reise nach Paris, wo er auf der Bibliothek dem Studium altfranzösischer und mittelhochdeutscher Manuskripte jedenfalls eifriger oblag als dem des Code Napoléon, das der ursprüngliche Zweck seiner Reise war. Heimgekehrt, widmete er sich dann, wenn auch halb mit innerem Widerstreben, in Stuttgart der Advokatur. Sein patriotischer Sinn jauchzte den Ereignissen der Befreiungskriege, die er als rheinbündischer Württemberger nur mit Wünschen und Hoffnungen begleiten konnte, freudig entgegen. Bald darauf veröffentlichte er die erste Ausgabe seiner »Gedichte« (Stuttg. 1815), die in den späteren Auflagen noch durch wertvolle Stücke bereichert wurde. U. erscheint hier als der Vollender der glücklichsten und heilsamsten Bestrebungen der jüngeren Romantik. Nicht nur die Vorliebe für mittelalterliches Leben und das Beste der mittelalterlichen Anschauungen, nicht nur die nationale, sondern vor allem die echt volkstümliche Gesinnung übernahm er von dieser, und in der wunderbar tiefen und poetischen Erfassung des Volkstümlichen liegt vor allem das Geheimnis von Uhlands unvergänglicher Wirkung. Hiermit verband er eine einfache, höchst knappe Prägnanz der Form, die so wie er nur noch Goethe und Heine erreicht haben. U. ist aber keine so ausgeprägte Individualität wie diese Dichter; durch seine unbedingte Hingabe an das Denken und Fühlen der Gesamtheit sind die individuellen Züge zurückgedrängt; es fehlen die leidenschaftlichen Erschütterungen seines Ich; dafür aber fesselt er uns durch Geradheit, Treue und Klarheit des Charakters, die ihn als einen edlen Typus des germanischen Menschen erscheinen lassen; nur ist er, besonders in seiner Frühzeit, von einem gewissen Hinneigen zu altfränkisch spießbürgerlicher Rührseligkeit nicht freizusprechen. Mit all diesen Eigenschaften hängt es zusammen, dass U. ein viel größerer Romanzen- als Liederdichter ist. Seine Romanzen bilden einen der köstlichsten idealen Schätze unsers Volkes; seine Lieder sind knapp, tief, wahr, von zartem Naturgefühl durchweht, aber an Zahl und an Mannigfaltigkeit des Inhalts etwas spärlich. Als Dramatiker ist U. ohne größere Bedeutung. Seine beiden dramatischen Werke: »Ernst, Herzog von Schwaben« (Heidelb. 1818) und »Ludwig der Bayer« (Berl. 1819), denen bei allen dichterischen Vorzügen die Energie spannender, vorwärts drängender Leidenschaft abgeht, errangen nur einen mäßigen Erfolg. Seit 1816 begannen die politischen Kämpfe und die ausgebreiteten wissenschaftlichen Forschungen den Dichter von größeren Schöpfungen abzuziehen, und verhältnismäßig früh erlosch sein dichterisches Schaffen vollständig. U. beteiligte sich an dem Ringen um die württembergische Verfassung und gehörte später als Abgeordneter zur Ständekammer der freisinnigen Partei an. Seine Schrift über »Walter von der Vogelweide« (Stuttg. 1822) bekundete ihn als so feinsinnigen Kenner und Forscher der mittelalterlichen Literatur, dass bei vielen der Wunsch immer lebhafter wurde, ihn auf einem Lehrstuhl für seine Lieblingswissenschaften zu erblicken. Mit seiner 1829 erfolgten Ernennung zum Professor der deutschen Literatur an der Universität Tübingen ward dieser Wunsch erfüllt. Uhlands Lehrtätigkeit erfreute sich der reichsten Wirkung. Aber bereits 1832, als ihm die Regierung den Urlaub zum Eintritt in die Ständekammer verweigern wollte, legte er seine Professur nieder. Vor äußern Lebenssorgen namentlich auch seit seiner sehr glücklichen Ehe mit Emilie Vischer völlig gesichert, teilte er fortan seine Zeit zwischen der ständischen Wirksamkeit und seinen wissenschaftlichen Arbeiten. 1839 legte er sein Mandat als Abgeordneter nieder, und erst die Bewegungen des Jahres 1848 rissen ihn wieder aus seiner frei erwählten Zurückgezogenheit. Als Abgeordneter zur ersten deutschen Nationalversammlung der Linken angehörig, stimmte er gegen das Erbkaisertum, hielt auf seinem Posten bis zur Auflösung der Nationalversammlung aus und begleitete noch das Rumpfparlament nach Stuttgart. Von 1850 an zog er sich wieder nach Tübingen zurück, eifrig mit der Vollendung jener wissenschaftlichen sagen- und literaturgeschichtlichen Arbeiten beschäftigt, als deren Zeugnisse die Schriften »Über den Mythus von Thor« (Stuttg. 1836) und »Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder« (das. 1844, 2 Bde.; 3. Aufl. 1893, 4 Bde.) hervorgetreten waren. Alle äußern Ehrenbezeigungen konsequent ablehnend, in der schlichten Einfachheit seines Wesens und der fleckenlosen Reinheit seines Charakters von allen Parteien hochgeachtet, verlebte U. ein glückliches kräftiges Alter. Seine poetischen Werke wurden wiederholt als »Gedichte und Dramen« (Jubiläumsausgabe, Stuttg. 1886), seine wissenschaftlichen, geordnet und revidiert von Adalb. v. Keller, W. Holland und Franz Pfeiffer, als »Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage« (das. 1866–1872, 8 Bde.) herausgegeben. Die letzteren brachten zum ersten mal jene vorzüglichen Tübinger Vorlesungen, die U. zwischen 1829 und 1832 über die »Geschichte der altdeutschen Poesie«, die »Geschichte der deutschen Dichtung im 15. und 16. Jahrhundert« und die »Sagengeschichte der germanischen und romanischen Völker« gehalten hatte. Alle diese Arbeiten lassen beim höchsten wissenschaftlichen Ernste den Dichter erkennen, der neben der wissenschaftlichen Methode und dem Forschereifer das künstlerische Verständnis und die feinste Mitempfindung für Volks- und Kunstdichtung, für den Zusammenhang von Dichtung und Mythe besaß. Eine neue Ausgabe von Uhlands »Gesammelten Werken« (nur eine Auswahl der wissenschaftlichen Arbeiten enthaltend) besorgte H. Fischer (Stuttg. 1892, 6 Bde.), eine gute Ausgabe der »Werke« (gleichfalls nur Auswahl), mit Biographie und Anmerkungen L. Fränkel (Leipz. 1893, 2 Bde.), andre: v. Gottschall (das. 1899), Holthof (Stuttg. 1901) u. a., eine kritische Ausgabe der »Gedichte« auf Grund des handschriftlichen Nachlasses Erich Schmidt und Jul. Hartmann (Stuttg. 1898, 2 Bde.). Uhlands »Tagebuch 1810–1820« gab J. Hartmann (Stuttg. 1897) heraus. Eine Statue (von G. Kietz) wurde U. 1873 in Tübingen errichtet. Vgl. K. Mayer, L. U., seine Freunde und Zeitgenossen (Stuttg. 1867, 2 Bde.); »Uhlands Leben«, aus dessen Nachlaß und eigner Erinnerung zusammengestellt von seiner Witwe (das. 1874); die biographischen Schriften von O. Jahn (Bonn 1863), Fr. Pfeiffer (Wien 1862), Notter (Stuttg. 1863), Dederich (Gotha 1886), Holland (Tübing. 1886), H. Fischer (Stuttg. 1887); Hassenstein, Ludwig U., seine Darstellung der Volksdichtung und das Volkstümliche in seinen Gedichten (Leipz. 1887); Weismann, L. Uhlands dramatische Dichtungen erläutert (Frankf. 1863); Düntzer, Uhlands Balladen und Romanzen (2. Aufl., Leipz. 1890); Eichholtz, Quellenstudien zu Uhlands Balladen (Berl. 1879); Keller, U. als Dramatiker, mit Benutzung seines handschriftlichen Nachlasses (zahlreiche dramatische Entwürfe enthaltend, Stuttg. 1877); Maync, Uhlands Jugenddichtung (Berl. 1899); Moestur, Uhlands nordische Studien (das. 1902); A. Schmidt, Zur Entwickelung des rhythmischen Gefühls bei U. (Altenb. 1904); G. Schmidt, Uhlands Poetik (Frankf. a. M. 1906); Haag, Ludwig U. Die Entwickelung des Lyrikers etc. (Stuttg. 1907).
Die Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter vorzutragen ist die Aufgabe, die ich in diesem Semester zu lösen übernommen habe.
Es erscheint angemessen, mittels einer kurzen Einleitung die Aufgabe selbst näher zu bestimmen und den Weg, der zu ihrer Lösung eingeschlagen werden soll, zu bezeichnen.
Das Mittelalter ist der weltgeschichtliche Zeitraum, aus welchem die Erscheinungen hervorgegangen sind, die den Gegenstand unserer Betrachtung und Darstellung ausmachen. Aus der allgemeinen Geschichte ist bekannt, daß man unter dem Mittelalter die Zeit von der großen Völkerwanderung oder vom Untergange des weströmischen Reichs bis zum Beginn der Reformation, also vom fünften bis in das fünfzehnte Jahrhundert zu verstehen pflegt. Die Grenze wird bald enger, bald weiter gezogen, je nachdem man mehr nur die volle Erscheinung dessen, was man für das Charakteristische des Mittelalters annimmt, oder zugleich auch das Werden und den Zerfall, die Übergänge von einer Zeit in die andere, im Auge hat, vorzüglich aber, je nachdem man den Charakter dieses Zeitalters selbst so oder anders bestimmt. Das innere Wesen eines tausendjährigen, vielgestaltigen Völkerlebens läßt sich nicht in einigen Worten definieren. Eine ausführlichere Charakteristik aber würde vorgreifend Ergebnisse darlegen, die erst aus der historischen Entwicklung auch unsres Gegenstandes zutage treten sollen. Wir beschränken uns deshalb hier darauf, die Faktoren anzugeben, aus denen der Befund gezogen werden muß, die Elemente dieser Zeitschöpfung und die Grundkräfte, welche schaffend in ihnen gewirkt haben. Das europäische Mittelalter bildet sich in dem Zusammenstoß und der Verschmelzung des germanisch-heidnischen Lebens mit dem romanisch-christlichen. Der jugendlich-kräftige Germanenstamm zerbricht das morsche Römerreich und gründet auf den Trümmern desselben neue, eigentümliche Staatenbildungen. Aber die Kultur der Besiegten, noch nicht die literarische, sondern die bürgerlich-gesellige, übt rückwirkend ihre Macht auf die Sieger aus. Und eben im Zerfall der alten Welt ist ein neues, geistiges Licht angezündet worden, das Christentum, vor dessen aufglänzendem Strahl die heidnischen Eroberer sich niederwerfen. Die Geisteskräfte nun, welche aus dem Kampf und der Vermittlung jenes weitgreifenden Gegensatzes ein neues Weltalter erschaffen, sind diejenigen, deren vorherrschende Wirksamkeit überall der wissenschaftlichen Bildung, dem Reiche des Gedankens vorangeht, dieselben, welche vorzugsweise das dichterische Vermögen ausmachen, die Kräfte der Phantasie und des Gemüts. Alle größern Erscheinungen des Mittelalters zeigen uns diesen Charakter des Phantastisch-Gemütlichen. Nehmen wir die Kreuzzüge, welche jahrhundertelang die Völker aufgeregt, so werden uns die politischen Triebfedern, welche dabei mitunterliefen, doch nimmer ausreichend bedünken, diese große Bewegung hervorzubringen; selbst die religiösen Antriebe dieser kriegerischen Wallfahrten setzen einen auf das Phantastische gerichteten Glauben voraus. Aber auch die ruhigern Zustände, die bestehenden politisch-kirchlichen Systeme tragen den bezeichneten Charakter. Die Poesie im germanischen Rechte, das sinnliche Element desselben, das Anschauliche und Gemütliche seiner Formen und Symbole, wie solches von den ältesten Zeiten des Mittelalters hindurch noch bis in unsre Zeit seine Spur zieht, ist neuerlich in J. Grimms Deutschen Rechtsaltertümern (Göttingen 1828) trefflich dargelegt worden. Wir sehen hier über dem steinernen Richterstuhl die blühende Linde. Das deutschrömische Kaisertum des Mittelalters war häufig mehr ein glänzendes Bild in der Vorstellung, als eine Gewalt in der Wirklichkeit. Die Hierarchie der römischen Kirche, welche von allem am meisten das Gepräge der Berechnung an sich trägt, hätte doch ohne eine gläubige Begeisterung ihrer Begründer und der Völker, die ihr huldigten, niemals so feste Wurzeln schlagen und so mächtig heranwachsen können. Endlich der religiöse Glaube selbst, der diese Herrschaft möglich machte, das Christentum des Mittelalters, war wesentlich in der Phantasie gestaltet: das Hervortreten des Gedankens in Beziehung auf die Gegenstände des Glaubens war ein Hauptmerkmal des Anbruchs der neuen Zeit, das zunächst und hauptsächlich im Protestantismus sich geäußert: aber auch den Katholizismus unserer Zeit sehen wir mehr vor, als in das Mittelalter sich stellen.
Indem wir jedoch Phantasie und Empfindung, die wir als dauernde, konstante Seelenstimmung Gemüt nennen, für die auszeichnenden Bestandteile des Dichtervermögens erklärt haben, für diejenigen, wodurch es sich von andern Fähigkeiten und Richtungen des Geistes eigens unterscheidet, so war es keineswegs die Absicht, dem Dichter die Denkkraft abzusprechen oder zu erlassen. Ebensowenig sind wir gemeint, zu behaupten, daß im Mittelalter, das wir mit denselben Eigenschaften charakterisiert, darum der Gedanke brach gelegen, so wie auch umgekehrt unsere philosophische Zeit niemals auf ihr Anrecht an die Poesie verzichten wird. Man hat in der Lehre von den Sinnen die Ansicht geltend gemacht, daß es eine allgemeine Sinnenkraft sei, welche in den verschiedenen Sinnwerkzeugen nach außen wirke: es ist auch eine bekannte Erfahrung, daß bei der Mangelhaftigkeit des einen Sinnes die Wahrnehmungen des andern um so feiner und schärfer sich erweisen. Auf ähnliche Weise sind die verschiedenen geistigen Vermögen Ausstrahlungen des einen Geistes, und noch weit mehr, als bei den Sinnen, ist es hier der Fall, daß die geistige Gesamtkraft sich dem einzelnen Organe zuwendet und mittels dieses auch die übrigen Vermögen in Wirkung treten. Wenn wir bei dem einzelnen Menschen fast immer irgend eine bestimmte Geistesrichtung vorwaltend finden, die philosophische, künstlerische, praktisch-verständige usf., so hört er darum nicht auf, ein ganzer Mensch zu sein. Ebenso kann bei den Völkern zu verschiedenen Zeiten diese oder jene geistige Regsamkeit die vorwiegende sein, die poetische, wissenschaftliche, politische usw., ohne daß darum in ihnen jemals die volle Menschheit verloren wäre. Das vollständige Gepräge des Menschlichen kommt allerdings bei den einzelnen und bei den Völkern am einleuchtendsten da zur Erscheinung, wo die verschiedenen Vermögen und Richtungen gleichzeitig und harmonisch zusammenwirken. Gleichwohl würde die schaffende Kraft in ihrer ganzen Stärke niemals sichtbar werden, wenn sie nicht auch jene ausschließlichern Richtungen nähme, in welchen alle Geistesvermögen sich unter die Fahne der einzelnen sammeln. Im allgemeinen pflegt die innere Geschichte der Völker einen natürlichen Stufengang zu befolgen, in welchem sich die eine Bildungsform aus der andern entwickelt, in der Art, daß eine poetische Blütezeit dem gereiftern Alter der Reflexion vorangeht. Der Zusammenhang und Fortschritt der Zeiten aber wird uns nicht zu der lieblosen und einbildischen Ansicht der Weltgeschichte verleiten, als wäre je die frühere Periode nur vorhanden gewesen, um die spätere zur Reife zu bringen, so daß gerade nur um unsertwillen, die wir jetzt über dem Boden stehen, alle die gelebt hätten, die darunter liegen. Wir müssen in jedem einzelnen und in jedem Geschlechte der Menschen den Selbstzweck anerkennen; ihre Bahn geht nicht bloß im Zuge der Zeiten über die Erdfläche hin, diese wagrechte Bahn ist stets von einer andern geschnitten, die nach oben führt. Wenn wir aber auch gänzlich bei den Erfahrungen der Geschichte, so wie sie vor uns offen liegt, stehen bleiben und den geistigen Ertrag der Zeiten vergleichend prüfen, so zeigt sich uns, daß doch jede ihren besondern Gehalt entfaltet hat, daß jeder irgend etwas von der andern zu eigen ward, daß die vielseitigste, harmonische Bildung doch niemals den Kreis des geistigen Lebens abgeschlossen hat, und daß der göttliche Keim, der in der Menschheit liegt, unerschöpflich ist in der Mannigfaltigkeit seiner Entwicklungen. Eine solche war denn auch die Periode des Mittelalters. Man hat dasselbe sonst wohl eine tausendjährige Nacht genannt. Diese Nacht war wenigstens eine sternhelle. Sternbilder stiegen in ihr auf und nieder, welche nicht sichtbar sind, wenn die schattenlose Mittagssonne scheitelrecht auf die Häupter der Menschen leuchtet.
Soviel vom Mittelalter überhaupt. Wir kommen zu der Poesie desselben. Es ist zum voraus anzunehmen, daß eine Zeit, in deren ganzer Gestaltung die poetischen Kräfte die Oberhand hatten, auch in der dichterischen Produktion im eigentlichen Sinn fruchtbar werde gewesen sein. Dieses ist wirklich in hohem Maße der Fall. Alles geistige Erzeugnis in den europäischen Landessprachen, mit geringen Ausnahmen, ist Gedicht; selbst auf Gegenstände, welche nicht unmittelbar der Poesie angehören, auf erbauliche, lehrhafte, historische Arbeiten, wird die poetische Form und Behandlung angewendet. Daß ein Zeitalter, in welchem die Poesie eine so bedeutende Stelle einnimmt, ohne die Bekanntschaft mit ihr nicht gehörig erkannt und beurteilt werden könne, ist von selbst klar. Schöpfen wir unsere Kenntnis des Mittelalters nur aus den lateinischen Chroniken, so sehen wir den Dornstrauch ohne die Rose. Dieselben Kräfte, die in der Poesie das Staunenswerte zu leisten vermögen, müssen, wenn sie sich ungebändigt auf das Leben werfen, das Verderblichste wirken. Dann bricht die jugendliche Naturkraft der Völker in rohe Gewalttat aus, die Gemütskraft wird zur wilden Leidenschaft, die Phantasie zum Fanatismus. Von dieser Seite, die auch ich nicht verhüllen will, ist die Geschichte des Mittelalters längst zur Genüge erörtert. Aber man hat doch mehr und mehr auch die historische Pflicht anerkannt, eben in der wildest bewegten Zeit den unerloschenen Himmelsfunken nachzuweisen. Wir müssen dem tobenden Strom auch dahin folgen, wo er sanfter fließt und eine blühende Gegend um sich erschafft. Auch unsere Zeit wird von der historischen Gerechtigkeit verlangen, daß einst nicht bloß ihre Kriegs- und Revolutionsgeschichte beachtet werde. Das Höchste, was eine Zeit in sich trägt und was sie niemals ganz verwirklicht, ist ihre Ideenwelt: das Mittelalter hat die seinige in der Poesie niedergelegt, nur diese also kann uns seinen innern Gehalt erschließen.
Was nun die deutsche Poesie insbesondere betrifft, so unternehmen wir die Charakteristik derselben nicht in der Einleitung, denn sie macht eben unsre Hauptaufgabe aus. Wir bezeichnen dieselbe hier bloß in ihrer äußern Stellung zu dem gesamten poetischen Betriebe des Zeitraums. Sie ist, in Vergleichung mit dem poetischen Vorrat der übrigen europäischen Völker, dem Umfange nach unstreitig die reichste. Denn sie hat zu den eigenen Erzeugnissen sich auch einen großen Teil dessen angeeignet, was die andern Völker hervorgebracht. Die beiden Elemente des Lebens im Mittelalter, das germanisch-heidnische und das romanisch-christliche, scheiden und verbinden sich auch in der Poesie. Das erstere war den Deutschen, das heimische, angestammte. Aus ihm ist vorzüglich eine große Heldensage, die wieder mehrere besondere Sagenkreise in sich schließt, herausgewachsen. Auf dieser Seite hängt Deutschland mit dem skandinavischen Norden zusammen, mit dem es nach Stamm, Glauben und Sitte verwandt ist und mit dem es einen großen Teil der Heldensage gemein hat. Manches, was in den deutschen Liedern, unter dem Einfluß des andern Elements, mangelhaft oder verdunkelt ist, kann aus der Poesie des Nordens, der dem Heidenglauben und der ältesten Sitte länger getreu blieb, ergänzt und erklärt werden. So wie nun die deutsche Poesie in diesem ersten Bestandteile ursprünglich und selbstschaffend sich darstellt, so hat sie dagegen den andern, den romanisch-christlichen, zunächst von der Seite des aufgelösten Römerreiches her empfangen. Von dieser Seite kam den Deutschen das Christentum selbst und in der lateinischen Kirchensprache die Muster des geistlichen Gesangs und der Legendendichtung. Aus dem nördlichen Frankreich teilte sich ihnen ein neues, christliches Heldentum und dessen Sagenkreise, die Rittergedichte, mit: ans dem südlichen Frankreich unmittelbar oder durch Vermittlung des nördlichen, erhielten sie den Minnesang in derjenigen konventionellen Gestalt, welche er dort unter den Einflüssen einer frühern, geselligen Bildung angenommen hatte. Die alten Sagen des keltischen Stammes waren, nach dem Untergange der römischen Geistesherrschaft in Gallien und Britannien, wieder hervorgedrungen und wurden in jenen französischen Gedichten, ritterlich-christlich verarbeitet, den Deutschen bekannt. Auch manches von den Märchen und Apologen des Morgenlandes fand bei ihnen meist durch Vermittlung der romanischen Völker Eingang. Die ältern, tiefern Spuren der Urverwandtschaft unsres Stammes mit denen des Orients müssen dagegen in der einheimischen Sage gesucht werden. Ein bloßes Empfangen jedoch war jene Aufnahme romanischer Poesie in der deutschen keineswegs; die Aneignung war mehr und mehr eine freie, wie sie dem Gefühl des eigenen poetischen Vermögens zukam, die dichterische Individualität trat sogar in der Bearbeitung dieser fremden Stoffe stärker hervor, als es die altüberlieferte Heldensage zuzulassen schien. Und zum voraus schon war ja die romanische Poesie unter germanischem Einfluß entstanden. Die Eroberung der römischen Provinzen durch die deutschen Volksstämme hatte überall, wo die Eroberer nicht ihre eigene Sprache geltend zu machen wußten, doch die Folge, daß das Latein zum Roman wurde, d. h. daß aus der allgemeinen Herrschaft der alten römischen Sprache sich mehr und mehr die besondern Landessprachen ablösten, welche wir jetzt die romanischen nennen. Der Einfluß dieser deutschen Eroberer, sowie nachher in Frankreich und England, insbesondere der normannischen, auf Sitte und Poesie der neugebildeten Reiche kann leicht nachgewiesen werden. So haben die Deutschen in den fremden Erzeugnissen zum Teil nur zurückempfangen, was sie selbst ausgesät hatten.
Eine gewisse Universalität der poetischen Tätigkeit war nach dem Obigen den Deutschen schon in jener Zeit eigen und hat den mannigfaltigsten Vorrat dichterischer Erzeugnisse angehäuft. Einheimische und fremde Sagenkreise, Legenden, geistliche und weltliche Liederdichtung, lehrhafte, polemische, scherzhafte Gedichte, Erzählungen aus dem täglichen Leben, Reimchroniken usw. bilden die große und vielgestaltige Masse der deutschen Poesie im Mittelalter.
Eine geschichtliche Darstellung dieser Poesie zu geben, ist unser Vorhaben. Die Geschichte der Poesie hat wesentlich die poetischen Ideen, Gebilde und Formen selbst, die sich in der Zeit und bei dem Volke, wovon sie handelt, entwickelt haben, und den Gang dieser Entwicklung zur Anschauung zu bringen. Es genügt ihr also weder die bloß literarische Aufzählung der Dichterwerke nach ihren Klassen, noch die Darlegung der allgemeinen und besondern Zustände und Einwirkungen, unter welchen diese Werke hervorgegangen sind, noch endlich die kritisierende Übersicht derselben. All dieses ist teils Mittel, teils Ergebnis der eigentlichen Geschichte. Die Hauptaufgabe der letztern ist stets die Veranschaulichung des dichterischen Schaffens und Gestaltens in den größern, gemeinsamen Kreisen sowohl, als in den einzelnen bedeutendern Erzeugnissen.
Können aber Werke der Dichtung anders, als durch sich selbst, zu einer klaren Anschauung gebracht werden? Allerdings nur annähernd; aber dieses hat die Geschichte der Poesie mit jeder andern historischen Darstellung gemein; keine wird jemals ihren Gegenstand vollständig wiedergeben. Dagegen aber ist es auch der Geschichte möglich, manche Verdunklung zu heben, die in der Gegenwart selbst vorhanden war; die geschichtliche Auffassung kennt das Werden und das Gewordene, sie unterscheidet das Wesentliche von dem Zufälligen, sie verbindet, was in der Wirklichkeit durch Zeit und Raum getrennt war. Diese Vorteile kommen auch der Geschichte der Poesie, namentlich derjenigen eines entferntern Zeitalters, zustatten; hier ist sogar das unmittelbare Verständnis der Dichterwerke oft nur dann ein richtiges und vollständiges, wenn erst jenes historische Sondern, Zusammenstellen und Konzentrieren vorangegangen ist. In vorzüglichem Grade muß dieses von unsrer ältern poetischen Literatur behauptet werden; hier erscheint so häufig die Dichtung, wie sie gerade in der Schrift vorliegt, nur in einer zufälligen oder willkürlichen Gestalt, hier muß dann das Ursprüngliche von der entstellenden Einkleidung abgelöst, das Gediegene aus der weitschweifigen Umhüllung ausgeschieden werden. Überhaupt aber kann der Wert und die Wirkung eines Dichterwerkes doch nicht lediglich auf die gegenwärtige Erscheinung, auf den unmittelbaren Genuß desselben beschränkt sein. Es war, bevor es in die Erscheinung trat, in der poetischen Konzeption vorhanden, und es wird nachwirken in der Erinnerung des Lesers oder Hörers. Dieser, wenn er irgend lebendig aufgefaßt hat, wird sich auch imstande finden, andern vom Wesen und selbst von der Form des Werkes eine Vorstellung zu geben. Und das ist es auch, was wir vom Geschichtschreiber der Poesie für einen größern Zusammenhang dichterischer Erzeugnisse verlangen. In der persischen Glaubenslehre hat jedes erschaffene Ding seinen Ferwer, den Grundkeim und die innere Einheit seines Wesens, der jedoch für sich zur Erscheinung gelangen kann. Die Ferwer der dichterischen Schöpfungen sind es, was die Geschichte der Poesie aufzufassen und auf ihre Weise zur Erscheinung zu bringen hat.
Indem ich so die Aufgabe stelle, will ich nur das Ziel bezeichnen, nach welchem zu streben ist, keineswegs die Erreichung desselben erwarten lassen. Die Schwierigkeiten, die für jetzt noch in der Sache liegen, und die ich nachher bemerklich machen werde, sind wohl auch die Ursache, warum noch keine geschichtliche Darstellung unfrei älteren Poesie in dem angegebenen Sinne, noch überhaupt eine umfassendere Geschichte derselben, in welchem Sinn es sei, unternommen worden ist.
Bis hierher von der Aufgabe. Wir fragen nun um den Weg ihrer Lösung, um die Methode.
Ist es unsre Aufgabe, die Gestaltungen der Poesie soviel möglich zur Anschauung zu bringen, so finden wir uns einfach darauf hingewiesen, dem Vortrag diejenige Anordnung zu geben, nach welcher der poetische Bildungstrieb selbst seine Formationen aufgestellt und abgeteilt hat. Auf ähnliche Weise, wie die gesellschaftliche Verfassung des Mittelalters sich in mannigfache Genossenschaften verzweigt und gruppiert hat, scheidet und ordnet sich auch die Poesie dieses Zeitraums in mehrere, nach Inhalt und Form in sich abgeschlossene Gliederungen, welche durch langen Zeitverlauf und unter allen Wechseln ihr selbständiges Leben behauptet haben. Diesen Gliederungen, wie sie schon gebildet vor uns stehen, folgend, teilen wir unsre Darstellung in vier Hauptabschnitte:
Die Heldensage,Heiligensagen und Rittergedichte,Minnesang,Lehr- und Leitgedichte.In jedem dieser Hauptteile ist eines der beiden Elemente des mehrgedachten großen Gegensatzes oder irgend eine besondere Weise ihrer Verschmelzung vorherrschend, so daß wir mittels der hiernach gesonderten Betrachtung die vollständigste Rechenschaft über das Ganze zu gewinnen hoffen. Ich finde, daß der Verfasser des neusten Lehrbuchs der Geschichte des Mittelalters, Professor H. Leo (2 Tle. Halle 1830), sich veranlaßt gesehen hat, auch für die allgemeine, politisch-kirchliche Geschichte dieser Zeit nicht die ethnographische oder synchronistische Methode, sondern, nach Gibbons Vorgang, eine Anordnung nach geistigen Richtungen zu befolgen. Für die Geschichte der Poesie, wo jede bedeutendere Geistesrichtung sich in bestimmten Bildungen so augenfällig ausgeprägt hat, ist mir die Anordnung nach diesen immer unerläßlich erschienen.
Die vorgezeichnete Abteilung muß zwar in der Darstellung selbst ihre Rechtfertigung finden. Eine vorläufige Verständigung darüber scheint mir am zweckmäßigsten dadurch erzielt zu werden, daß ich die Beziehungen andeute, in welchen sie zu den übrigen Methoden steht, welche sonst in der Geschichte der Literatur und einzelner Zweige derselben beobachtet werden. Diese sind: die synchronistische oder die chronologische mit der Abteilung in Perioden; die ethnographische, hauptsächlich auf umfassendere literarhistorische Werke anwendbar; die systematische, für die Geschichte der Poesie die Einteilung nach den Dichtarten. Letztere pflegt man in der Art mit der synchronistischen zu verbinden, daß in jeder Periode die beachtungswerten Werke nach dem Schema der Dichtarten abgehandelt werden. Die Methode, welche wir einzuhalten gedenken, möchte ich die organische nennen.
Wenn wir aber gleich keine jener andern Methoden als solche auf den Gegenstand unsrer Darstellung anwendbar finden, so kommen sie uns doch als Gesichtspunkte, als schematische An- halte in Betracht, welche für jede historische Arbeit ihre Geltung haben.
Der chronologisch-synchronistische Gesichtspunkt, die Rücksicht auf Zeitfolge und Gleichzeitigkeit der vorzutragenden Tatsachen, liegt allzusehr in der Natur geschichtlicher Entwicklung, als daß sie nicht auch bei unsrer Einteilung im allgemeinen und in den größern Zügen sollte beachtet sein. Der erste Abschnitt behandelt das älteste Erbteil der deutschen Poesie, die Heldensage, das Epos, tief im heidnischen Glauben und in der angestammten germanischen Sitte wurzelnd. Der zweite gibt uns in den Heiligensagen und Rittergedichten Erzeugnisse des eingeführten Christenglaubens und seiner Verbindung mit den Begriffen und Angewöhnungen der bekehrten Völker. Der dritte zeigt uns im Minnesang eine Verschmelzung des Naturgefühls und Naturdienstes mit den geistigen Einflüssen des Christentums und den geselligen der romanischen Bildung. Im vierten endlich, unter dem Namen der Lehr- und Zeitgedichte, fassen wir alles das zusammen, was eine unmittelbare praktische Richtung auf das Leben hat: Spruchgedichte, Lehrfabeln, politisch-kirchliche Streitgedichte, Satiren und Schwanke, Sittenschilderungen nach den verschiedenen Ständen und hieran angereiht auch die Lebensverhältnisse der Dichter selbst. Hier werden wir erkennen, wie der Gedanke, die Betrachtung, der gesunde Haus- und Welt- Verstand mitten unter den phantastischen Stimmungen des Mittelalters sein Recht behauptet, wie er mehr und mehr über diese das Übergewicht erlangt hat, und so wird uns dieser letzte Abschnitt den natürlichen Übergang des Mittelalters in die neuere Zeit ausmachen. Aber eben mit dieser Anlage im Größern ist die chronologische Anreihung der einzelnen vorhandenen Werke nicht verträglich. Eine solche literarische Chronologie hat zwar auch ihr besondres Interesse. Sie kann uns zeigen, wie zuerst die Geistlichkeit, der christliche Priesterstand, sich im ausschließlichen Besitze der Schrift befand, so daß alle Schriftwerke von der frühesten Zeit bis in das letzte Viertel des zwölften Jahrhunderts, mit ganz seltener Ausnahme, von Geistlichen verfaßt, daher auch meist geistlichen Inhalts sind oder, sofern ihr Inhalt ein weltlicher ist, die Spur der geistlichen Hand an sich tragen, wie dann um die bemerkte Zeit die Handhabung der Schrift, wenigstens mittels des Diktierens, allmählich auch auf die Laien, den Ritterstand, überging und zuletzt, bei zerfallender Bildung des Adels, der Bürgerstand sich der Literatur bemächtigte. Diesen Gang der literarischen Ausbildung werden wir zwar stets im Auge haben, aber er kann die Anordnung eines Vortrags nicht bestimmen, dem es hauptsächlich um den innern Bestand der Dichtungskreise zu tun ist. In Beziehung auf diesen ist es nun einleuchtend, daß der heidnisch-germanische Zyklus, dem wir den ersten Abschnitt angewiesen, vor die christlichen Dichtungen des darauffolgenden gehört, wenngleich der letztere die ältesten Schriftdenkmäler darbietet. Das Heldenlied wurde durch den ganzen Zeitraum vom Volke gesungen; die schriftlichen Auffassungen desselben erstrecken sich über wenigstens sieben Jahrhunderte, sie sind von Geistlichen, Rittern, bürgerlichen Meistersängern bearbeitet und in den spätesten bemerken wir doch oft die ursprüngliche Gestalt der Sage richtiger und vollständiger, als in den vorhergegangenen. Beweises genug, daß uns die Zeitfolge der schriftlichen Aufzeichnung nicht zur Norm der Darstellung dienen kann.
Wir werden ferner zwar im ganzen und in den einzelnen Abteilungen ein Werden und Wachsen, eine Blüte und einen Verfall darzulegen haben; das ist ja überhaupt die Geschichte. Der Zweck der Veranschaulichung aber wird uns darauf führen, daß wir bedeutendere Kreise der Dichtung zuerst in ihrer vollen Erscheinung geben und erst von dieser aus einerseits auf ihren Ursprung und ihre allmähliche Entwicklung zurückgehen, anderseits zu ihren Auswüchsen und ihrem Zerfalle herabsteigen.
Dieses Auffassen der Erscheinungen in ihrer Mitte setzt auch den Anhaltspunkt unsrer Betrachtung in die Mitte des Zeitraums selbst, in den innern Kreis desselben, in welchem wir alle Richtungen zusammenlaufend, alle Eigentümlichkeiten des deutschen Mittelalters und so auch seiner Poesie am vollständigsten vereinigt und am glänzendsten entfaltet finden. Es ist dieses die Periode von der Mitte des zwölften bis nach der des dreizehnten Jahrhunderts, welche, nicht bloß zufällig, mit der hundertjährigen Herrschaft des schwäbischen Kaiserhauses zusammenfällt. In dieser Periode hat jeder der Dichtungskreise, nach denen wir unsre Darstellung abteilen, seine letzte und vollste Ausbildung erlangt, hat jede Hauptrichtung sich in ihren bedeutendsten Werken gesammelt und festgestellt. Hier ist der Vollschein, in welchem Zunahme und Abnahme verschwimmen. Blicken wir in die vorhergegangene Zeit, so zeigen sich allerdings in ihr die Spuren einer ursprünglichern Sage, eines volksmäßigern Gesangs, aber es fehlt dafür an größern Schriftdenkmälern, und erst aus der Zeit, die uns solche darbietet, können wir auf die früheren Zustände zurückgreifen; blicken wir vorwärts, so bemerken wir, daß schon das vierzehnte Jahrhundert, bloß nachbildend und ausspinnend, von dem früheren Reichtume zehrt.
Der ethnographische Gesichtspunkt, die Abgrenzung nach Völkern, ist uns in zweifacher Beziehung wichtig, für die Sagenbildung und für die Sprache. In der erstern Beziehung wird uns vorzüglich die Ausmittlung des Anteils beschäftigen, welcher den verschiedenen germanischen Volksstämmen an der zum epischen Zyklus ausgebildeten Heldensage zukommt. Wir werden dabei solche wirksam finden, welche längst im Sturm der Zeiten zerstreut sind oder sich unter andern verloren haben, z. B. die Ostgoten, Burgunden. Die Geschichte der deutschen Sprache, ihre historische Grammatik, kann nur ethnographisch, nach den Volksstämmen und ihren Mundarten zweckmäßig behandelt werden, wie es neuerlich in dem großen, noch unvollendeten Sprachwerke von Jakob Grimm (Deutsche Grammatik) geschehen ist. Die germanische Sprachfamilie teilt sich in vier Hauptstämme, den gotischen, den hochdeutschen (welchen die Bayern, Burgunden, Alemannen und Franken bilden), den niederdeutschen (Sachsen, Westfalen, Friesen und Angeln) und den nordischen oder skandinavischen, der auch für sich den andern, deutschen, entgegengestellt werden kann. (D. Gramm. T. I. Ausg. 1. Göttingen 1819. Einleit. in die gebrauchten Quellen und Hilfsmittel, S. L f.) Für die meisten dieser Hauptsprachstämme ergeben sich dann weitere Abteilungen nach den besondern Mundarten und nach den Perioden ihrer Entwicklung. Da es nicht unsre Aufgabe ist, eine Geschichte der gesamten germanischen Poesie zu geben, sondern wir uns auf Deutschland beschränken, so berührt uns, für den gewählten Zeitraum, unmittelbar nur das Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche, das Alt- und Mittelniederdeutsche. Die ältere Periode geht in den Denkmälern beider Sprachstämme vom achten bis ins elfte, die mittlere von da an bis in das vierzehnte Jahrhundert. Nach dieser Zeit entwickelt sich mehr und mehr die jetzt lebende Sprache mit ihren Mundarten. Geographisch gehören dem Hochdeutschen diejenigen Sprachquellen an, welche in Schwaben, Bayern, Österreich, der Schweiz und dem Elsaß, Franken, Thüringen, Hessen und am Oberrhein entsprungen sind; dem Niederdeutschen, was von Sachsen, Engern, West- und Ostfalen und dem Niederrhein ausgegangen ist. (Grimm a, a. O. LII. LXV. LXIX. LXXI.) Die übrigen Stämme und Verzweigungen der germanischen Gesamtsprache dienen uns in ihren Denkmälern nur mittelbar zur Erläuterung des eigentlichen Gegenstandes unserer Darstellung. Fragt es sich nun aber um den Vorrat dieser verschiedenen Sprachbildungen an dichterischen Erzeugnissen, welche für unsern Zweck hauptsächlich oder erläuternd in Betracht kommen, so erscheint zuvörderst die nordische Poesie sehr reichhaltig und sachverwandt: ihr folgt, doch in beträchtlichem Abstand, die angelsächsische, die in der Reihe ihrer meist geistlichen Produkte nach neuern Auffindungen auch einige bedeutendere, den Heldenkreisen angehörende Dichtungen aufzuweisen hat. In gotischer Sprache ist nichts Poetisches auf uns gekommen. Die althochdeutschen Denkmäler in poetischer Form sind fast durchaus streng geistlichen Inhalts; ebenso die seltenern altniederdeutschen. Während daher diese ältern Perioden für die deutsche Sprachgeschichte von größter Wichtigkeit sind, erscheinen sie in der Geschichte der Poesie ziemlich unergiebig, und schon hiernach muß die Methode für die beiden Fächer eine verschiedene sein. Mittelniederdeutsche Gedichte sind nicht in bedeutender Zahl vorhanden und manche derselben sind nur der Widerschein hochdeutscher Poesie. Neuerlich hat zwar Scheller in seiner Bücherkunde der sassisch-niederdeutschen Sprache (Braunschweig 1826) einen großen Reichtum dieser Sprache an Schriftdenkmälern darzutun sich bemüht; er zählt nicht weniger als 1851 Nummern auf. Allein da er für die ältere Periode viel Fremdartiges, namentlich entschieden hochdeutsche Werke, z. B. Notker, die Nibelungen usw. herbeizieht und für die neuere Zeit kleine Flugschriften, Gelegenheitsgedichte u. dgl. aufführt, so kann sein Unternehmen nicht für gelungen angesehen werden. Wir werden die erheblichern niederdeutschen oder doch an diese Mundart streifenden Gedichte an ihrer Stelle bemerken, und es wird sich uns insbesondere zeigen, daß von dieser Seite her zum Teil die Bekanntschaft der Deutschen mit der nordfranzösischen Ritterdichtung vermittelt worden ist. Im ganzen aber kann das Niederdeutsche mit jener reichen Blüte der Poesie in den mittelhochdeutschen Werken der schwäbischen, bayerischen, österreichischen und schweizerischen Dichter, hauptsächlich aus der vordern Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, durchaus nicht gleichgestellt werden. Nach all diesem finden wir uns auch von dem ethnographisch-linguistischen Gesichtspunkt aus wieder auf die Zeit und das Gebiet der hohenstaufischen Herrschaft hingewiesen.
Was endlich die Einteilung nach den Dichtarten betrifft, die wir auch die systematische Methode genannt, so ist dieselbe insofern berücksichtigt, als in den zwei ersten Abschnitten die epische, im dritten die lyrische und im vierten die didaktische Weise vorherrschen wird. Eine speziellere Klassifikation würde in den Organismus der poetischen Bildungen nur störend eingreifen und selbst jene allgemeinere durfte nicht streng die Anordnung bestimmen. So lassen sich zwar, wie schon erwähnt, der erste und zweite Hauptabschnitt beide unter die epische Grundform einreihen, aber die Heldensage und das christliche Rittergedicht sind nach Geist und Inhalt so wesentlich verschieden, und selbst in formeller Beziehung ist das volksmäßige Epos so sehr ein andres, als die absichtliche Bearbeitung welscher Ritterpoesien, daß bei diesen Verschiedenheiten die allerdings mögliche Unterordnung unter eine gemeinschaftliche Grundform eine leere Abstraktion sein würde. Dramatische Dichtung, zum Schauspiel ausgebildet, war im deutschen Mittelalter nicht vorhanden. Lateinische Dramen, von geistlichen Personen verfaßt, können nur als gelehrte Übungsstücke, geistliche Aufzüge mit Gesängen u. dgl. höchstens als rohe Anfänge der Bühne, deren Gestaltung einer spätern Zeit angehört, betrachtet werden. Nehmen wir aber das Dramatische allgemeiner, als eine von den Grundformen des poetischen Wirkens überhaupt, so wird es keiner dichterisch bewegten Zeit gänzlich mangeln und mitten in der Lyrik oder im Epos erscheinen. So auch in unsrer ältern Poesie. Lyrische Gedichte sind durch Wechselrede und Wettgesang in Handlung gesetzt; in epischen, namentlich dem Nibelungenliede, wird oft die Handlung durch den in Rede tretenden Kampf der Gesinnungen und Gemütskräfte vergeistigt.
Dieses ist, was wir von der Methode zu sagen hatten, soweit sie in der Anordnung des gegebenen Stoffes besteht. Wir ordnen diesen, wie er sich selbst geordnet hat. Das weitere Verfahren, wodurch wir in den angegebenen Abschnitten die Kreise der Dichtung und die Beschaffenheit der einzelnen Werke zu veranschaulichen suchen werden, läßt sich nicht wohl im allgemeinen bezeichnen, sondern muß sich je nach der Natur des Gegenstandes richten. Diese muß entscheiden, ob durch Auszüge, Stellen der Gedichte, allgemeinere Charakteristiken, ob mehr im Wege der Darstellung oder in dem der Untersuchung ein Bild der Sache gegeben werden soll. Zu dieser Verschiedenheit, die in den Gegenständen selbst liegt, wird sich aber eine andre Ungleichheit gesellen, die in dem gegenwärtigen Stande der altdeutschen Studien ihren Grund hat. Viele und bedeutende Quellen dieser Literatur sind gar nicht oder sehr ungenau in den Druck gegeben, die Handschriften liegen in den verschiedensten deutschen und auswärtigen Bibliotheken zerstreut, die Benutzung derselben ist bald mehr, bald weniger erleichtert, und so ist es schon aus äußern Gründen dem einzelnen nicht wohl möglich, eine vollständige und gleichmäßige Geschichte der ältern deutschen Poesie zu bearbeiten. Eine solche haben Sie daher auch von mir nicht zu erwarten, und ich werde manche bedeutende Lücke selbst zu bemerken haben. Dennoch ist auch jetzt schon des allgemeiner Zugänglichen so viel, daß die Hauptpartien entweder hell hervortreten oder, wo sie noch verdunkelt stehen, doch in den Umrissen erkennbar sind. Gerade bei diesem Stand der Sache scheint es an der Zeit, die Rechnung über das Ganze zu ziehen, das Ermittelte darzulegen und, was weiter zu erforschen ist, zu bezeichnen.
Was die Literatur, die Handschriften- und Bücherkunde anbelangt, so werde ich mich darin auf das Nötige und Wichtigere beschränken. Ich werde jedesmal die Hauptausgabe der Gedichte, oder die Sammlung, wo solche gedruckt sind, anzeigen. Ebenso die bedeutendern Erläuterungsschriften. Bei ungedruckten Werken werde ich mich auf die Handschriften beziehen und insbesondere bemerken, wenn sich auf den Stuttgarter Bibliotheken ein Gedicht handschriftlich befindet (in Tübingen ist bloß die vom Renner), um dadurch zu eigner Ansicht der alten Handschriften Gelegenheit zu geben. Denjenigen, welche über irgend einen Gegenstand dieses Faches speziellere Literarnotizen zu erhalten wünschen, werde ich solche mit Vergnügen mitteilen.
Das ausführlichste Verzeichnis der Handschriften, Ausgaben, Bearbeitungen, Erläuterungsschriften usw. ist:
Literarischer Grundriß zur Geschichte der deutschen Poesie von der ältesten Zeit bis in das sechzehnte Jahrhundert durch Fr. v. d. Hagen und Joh. Gust. Büsching. Berlin 1812.
Seit dem Jahr 1812, in welchem dieses Werk erschienen, ist jedoch so vieles neu entdeckt und herausgegeben, so manches berichtigt und durch spätere Bemühungen überflüssig geworden, daß eine neue Bearbeitung des Buches oder ein Supplement, wovon auch schon lang die Rede ist, großes Bedürfnis wäre. Als geschichtliches Handbuch sehr empfehlenswert ist:
Grundriß zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen von Aug. Koberstein, Professor an der Königl. Landesschule zu Pforta. Leipzig 1827.
Es ist allerdings schon seinem Umfange nach nur Grundriß, gibt aber eine sehr brauchbare, gedrängte Übersicht der Zeitverhältnisse, unter welchen sich die schöne Literatur der Deutschen in ihren verschiedenen Perioden bis auf die neueste Zeit entwickelt hat, sowie der wichtigern Denkmäler selbst aus dem Fache der Poesie und Beredsamkeit nach den Hauptdichtarten mit gesundem Urteil und zweckmäßiger Auswahl der Literarnotizen. Der Zeitraum, welcher uns angeht, ist in den drei ersten Perioden abgehandelt, und der Verfasser zeigt hier die eigne Bekanntschaft mit der Poesie des Mittelalters, aus deren Gebiet er auch einige verdienstliche monographische Arbeiten herausgegeben gegeben hat. Auch für die folgenden Perioden wird das Buch mit Nutzen gebraucht werden.
Nicht zu verwechseln ist die angezeigte Schrift mit dem von demselben Verfasser etwas später herausgegebenen Leitfaden beim Vortrage der Geschichte der deutschen Nationalliteratur. Leipzig 1828.
Dies ist, was ich über die Aufgabe und das Verfahren zu sagen hatte. Es war sonst gebräuchlich; in den Einleitungen historischer Lehrbücher und Lehrvorträge auch einiges über den Nutzen der abzuhandelnden Geschichte zu bemerken. In jetziger Zeit scheint mehr die Ansicht zu gelten, daß das rechte Wissen für sich ein Gewinn sei, und die mittelbar daraus sich ergebenden mannigfaltigen Vorteile nicht an den Fingern abgezählt zu werden brauchen. Gewiß muß es in der Geschichte vor allem um die richtige Auffassung der gegebenen Zustände zu tun sein; aber eine solche Auffassung ist doch nur eine anschaulich lebendige, also nur dann möglich, wenn der Historiker von seinem Gegenstande geistig ergriffen ist; nur so wird er die Mühen der Forschung, die Schwierigkeiten der Verarbeitung und der Darstellung für andre siegreich bestehen. In diesen muß dieselbe Teilnahme geweckt werden, die in ihm wirksam war, wenn irgend eine fruchtbare Mitteilung, eine wahre Verständigung zwischen Geschichtschreiber und Leser, zwischen Lehrer und Hörer stattfinden soll. Beiden also tritt die objektive Wahrheit in subjektive Beziehungen und die vergangenen Zustände erlangen eine Bedeutung für die Gegenwart.
Wenden wir dieses auf unsern Gegenstand, die »deutsche Poesie im Mittelalter«, an, so ist uns die Bedeutung derselben eine dreifache: die historische, die poetische und die vaterländische.
Schon die historische Erkenntnis an sich steigt an Wichtigkeit, wenn sie eine größere Periode im Leben der Völker umfaßt, sie regt den Geist tiefer an, wenn sie über geistige Zustände sich erstreckt. Welch bedeutende Stellung die Poesie in dem Zeitraum einnehme, von dem wir handeln, ist bereits erörtert worden. Die Geschichte des Mittelalters und des deutschen Volkes in diesem ist nicht geschrieben, solange nicht seine Poesie erschlossen ist. Ich achte sehr den gewissenhaften Ernst der Historiker, welche nichts in ihre Werke aufnehmen, was nicht mit den zuverlässigsten Zeugnissen und Urkunden belegt werden kann. Nur glaube man nicht, daß mit den Annalen und Diplomen des Mittelalters die Quellen der urkundlichen Geschichte erschöpft seien! Sind denn die Erzeugnisse des schaffenden Geistes, die Eröffnungen des bewegten Gemütes, das nicht lügen kann, minder verlässige Urkunden vom Leben jener Zeit?
Das rechte geschichtliche Wissen aber ist auch die notwendige Bedingung des Urteils. Hier tritt es in genaue Beziehung mit der Gegenwart. Das Mittelalter und der Stand seiner Bildung gehören zu den vielbestrittenen Gegenständen einer bedeutenden Meinungsverschiedenheit. Man hat in dieser Sache seit etwa fünfundzwanzig Jahren in Deutschland die entgegengesetztesten Erfahrungen gemacht. Erst die begeisterte Anpreisung, dann die herabsehende Gleichgültigkeit oder der feindselige Tadel, Selbst wissenschaftliche Bestrebungen, dem Mittelalter zugewendet, werden von manchen entweder bloß geduldet, oder sogar als gefährlich für politische und religiöse Freiheit und für den richtigen Kunstgeschmack verdächtigt. An der ruhigen Pflegstätte wissenschaftlich-universeller Bildung kann nicht davon die Rede sein, irgend einen Zweig des Wissens gegen den Vorwurf der Schädlichkeit zu verteidigen. Hier darf als anerkannt vorausgesetzt werden, daß das Erkennen dem Urteile vorangehen müsse. Was man für schädlich hält, muß man am schärfsten ins Auge fassen; was dem ersten Anblick schmeichelt, muß man am strengsten prüfen. Die historische Einsicht zeigt am überzeugendsten, daß die Formen einer vergangenen Zeit nicht auf eine nachfolgende anwendbar seien: sie zeigt aber auch, daß in den mannigfachsten und fremdartigsten Formen ein Gehalt wohnen könne, der für alle Zeiten gültig ist. Die vorgefaßte Meinung, das Vorurteil, spiegelt nur immer sich in der Oberfläche der Geschichte, die Parteiung streift nur wie ein Sturmvogel den Rand der Wellen; die Forschung senkt sich in die Tiefe und durchspäht ihren innersten Grund. So haben mitten durch den Widerspruch der Zeitansichten unverdrossene Männer, an deren Spitze die Brüder Grimm zu nennen sind, mit stiller Treue und geistreichem Fleiße der deutschen Altertumskunde die umfassendsten Forschungen gewidmet, deren Früchte jetzt in gediegenen Werken überraschend zutage treten; für Erkenntnis, Darstellung und Urteil ist eine haltbare Grundlage gewonnen, und diejenigen werden leicht durchschaut, welche den Mangel an Sachkenntnis durch allgemeines Raisonnement ersetzen oder bemänteln wollen.
Die poetische Bedeutung beruht in dem freien Genusse, den unsre alten Dichtungen als solche und unabhängig von ihrem geschichtlichen Interesse gewähren können. Hierüber wird, auch die Bekanntschaft mit der Sache und die Erläuterung vorausgesetzt, deren jedes Kunstwerk aus einem vergangenen Zeitalter in gewissem Maße bedarf, das Urteil doch immer der Verschiedenheit in den Grundsätzen und in der subjektiven Genußfähigkeit unterliegen, die im Gebiete des Schönen überhaupt noch niemals ausgeglichen worden ist. Ich versuche auch nicht, Ihr Urteil über den Wert dieser Poesie zum voraus zu bestimmen, sondern wünsche vielmehr, daß solches ohne theoretische Ausführungen überall soviel möglich aus der Darstellung selbst sich ergeben möge. Das jedoch glaube ich vorerst nur als individuelle Ansicht aussprechen zu dürfen, daß, was auch die Poesie andrer Völker und Zeiten in sich Vollendetes darbieten mag, doch diese einheimische Poesie auch ihrerseits Saiten anschlage, welche vorher nicht geklungen haben, Bedürfnisse, Ahnungen der Phantasie und des innigern Gemüts befriedige, welche anderwärts nicht oder nicht in gleichem Maße befriedigt werden. Eine Vergleichung nach außen gehört übrigens nicht zu unsrer Aufgabe. Soll die altdeutsche Poesie nach ihrer Eigentümlichkeit richtig gewürdigt werden, so dürfen wir auch nicht überall den Maßstab anlegen, den wir von dem klassischen Altertum auf die nach diesem gebildete neuere Literatur zu übertragen pflegen, ich meine das Ebenmaß jedes einzelnen Dichterwerks, die harmonische Verbindung seiner Teile zu einem Ganzen, die Übereinstimmung von Inhalt und Form. Prüfen wir nach diesem Maßstab, der, richtig angewendet, allerdings ein gültiger ist, unsre ältere poetische Literatur als solche, d.h. als eine Sammlung von Schriftwerken, so wird das Urteil im ganzen sehr ungünstig ausfallen. Wir werden zwar einer Anzahl von Dichtwerken begegnen, denen die ebenmäßige Ausbildung zu einem wohlgeordneten Ganzen, sowie eine der Natur des Gegenstandes vollkommen angemessene Darstellung nicht abzusprechen ist. Aber eine nicht minder große Masse poetischer Produkte wird uns durch Mangel an Einheit und künstlerischer Abrundung, durch ermüdende Weitschweifigkeit in der Ausführung unangenehm auffallen. Finden wir nun gleichwohl, daß diese geringern Werke oft mit den besten in einem genauen innern Zusammenhange stehen, daß in den erstern unter der abstoßenden Schale oft ein ebenso poetischer Kern verhüllt liege, als in den letztern, so wird uns gerade dieses Mißverhältnis des gediegenen Inhalts und der zerfließenden Darstellung, der Trefflichkeit einzelner Bestandteile und der Gehaltlosigkeit andrer darauf hinführen, daß nicht beides aus derselben bildenden Kraft gleichzeitig hervorgegangen sein könne, daß also der wahre Wert dieser Poesie nicht nach der zufälligen Auffassung in den vorhandenen einzelnen Schriftwerken, nicht nach der künstlerischen Vollendung dieser letztern bemessen werden dürfe. Diese und ihre Verfasser fallen allerdings jener speziellen Kritik anheim. Aber was im zwölften und dreizehnten Jahrhundert in die Schrift niedergelegt und für sie bearbeitet wurde, war großenteils nicht ein Stoff, der jetzt zuerst seine poetische Behandlung erhielt; es war reife Poesie, die sich zuvor schon in größern Gestaltungen entfaltet, in andern, ursprünglichern Formen ausgeprägt hatte. Wo nun diese Poesie durch die spätern und letzten Bearbeitungen gefesselt, zerstückelt und verschwemmt ist, da muß unser Bestreben sein, ihre Geister zu entbinden, ihre Zusammenhänge herzustellen, ihre Gestalten und Formen klarer und echter heraufzuführen. Dann erst fragt es sich, ob in dieser geläuterten Poesie das große Gesetz des Schönen bemerkbar sei, das naturkräftig aus dem Keime die riesenhafte Eiche in freien und doch geregelten Umrissen erwachsen läßt.
Dieses Verfahren, das besonders auf die größern Sagenkreise Anwendung findet, wird auch für das klassische Altertum nicht ganz zu umgehen sein. Soll die griechische Heldensage vollständig dargelegt werden, so wird man sich nicht auf die beiden homerischen Epopöen beschränken dürfen, der epische Zyklus in allen seinen Überresten muß sich ausschließen, die Heldengedichte der Alexandriner müssen gesichtet, die Tragiker, die Lyriker, die Mythologen zu Rate gezogen werden und so aus den verschiedenen Formen die gesamte Heroenwelt aufsteigen.
Kehren wir zum deutschen Altertum zurück, so ergibt sich aus dem Bisherigen von selbst, daß wir in jenem keine Musterbilder für die Poesie unsrer Zeit zu suchen haben. Um die Nachahmung der Werke vergangener Zeiten ist es überall eine bedenkliche Sache. Aber die Macht geistiger Anregung wird auch der Poesie des Mittelalters nicht zu bestreiten sein. Die Erscheinung einer reichen Phantasie, mächtiger Gestalten, großer Sagenzüge erweitert den Blick und kräftigt die Gesinnung in Sachen der Poesie. Sie wirkt dem Tändeln und Prunken mit den Nebenwerken der Dichtkunst wohltätig entgegen. Sie macht den Anspruch fühlbar, bedeutenden Hervorbringungen einer früheren Zeit auch nur Bedeutendes und Würdiges im Geiste der eigenen gegenüberzustellen. Das Auge hat ein verstärktes Höhenmaß, wenn wir vom Anblick der Alpen zurückkommen.
Endlich die vaterländische Bedeutung. Im Reiche des Geistes gibt es keine Landesgrenzen. Wo wir das Vortreffliche finden, in der Ferne der Völker und Zeiten, machen wir unser Bürgerrecht geltend. Vor jedem andern Volke üben wir Deutsche diese universelle Gesinnung. Wir kennen die Eigentümlichkeiten und Vorzüge jeder fremden Literatur; es ist nur folgerecht, wenn wir die eigene kennen lernen. Den Wert der Vaterlandsliebe zu beweisen, ist nicht meine Absicht. Das aber lehrt uns die Kenntnis jener mannigfachen Entwicklungen, daß das Vortreffliche nirgends bodenlos erwachsen, daß es überall aus nationalen Elementen am kräftigsten hervorgegangen ist. Die Poesie vor allem wurzelt in den eigentümlichsten Zuständen des Volkslebens. Wenn selbst die Philosophie, die doch nach der Einheit und Allgemeinheit gerichtet ist, bei den verschiedenen Völkern ein nationales Gepräge zeigt, um wieviel mehr die Poesie, in der sich der Geist nach dem Mannigfaltigen und Besondern entfaltet. Der Weltbürgersinn soll uns daher nicht abhalten, in unser Eigenstes zu gehen, dieses zu erkennen und zu entwickeln. Von ihm aus bringen wir am besten dem geistigen Gemeinleben unsern Beitrag.
Was es sei um das Gefühl des Vaterländischen, ist schmerzlich und tröstend zugleich in jener Zeit empfunden wurden, als eine ausgleichende Weltherrschaft alles Nationale zu ersticken drohte. Damals suchten wir in den tiefsten Fasern unsers Daseins die Gewährschaft eines eigentümlichen Lebens und Bestandes. Dieses Nationalgefühl, diese innere Sammlung ist in Taten lebendig geworden.
Auch im vaterländischen Altertum suchte man damals Trost und Anhalt. Es entzündete sich eine Begeisterung für dasselbe, welche bei vielen mit den Stimmungen der Zeit vorübergehend war, bei andern, von denen wir schon gesprochen, nachhaltig wirkte. Daß eine Gemeinschaft unsrer Vorzeit mit der Gegenwart bestehe, wurde damals lebhaft empfunden. Heimatklänge, hoffe ich, sollen uns noch jetzt dort ansprechen.
Der Beruf, der mir als Lehrer der deutschen Literatur angewiesen ist, fordert mich auf, dem geistigen Leben unsrer Nation in den verschiedenen Perioden seiner Entwicklung nachzugehen. Wenn ich mit der frühesten Periode beginne, so geschieht es nicht bloß, weil sie der Zeit nach vorangeht; sie ist auch die am wenigsten allgemein bekannte. Die neuere Literatur bietet sich unmittelbar zugänglich dem Genusse und somit auch der Beurteilung dar. Nur allzuleicht nehmen es manche, dieses Urteil stets fertig zu verkünden und im Garten der Poesie, wie Tarquinius, die höchsten Mohnhäupter abzuschlagen. Die Kenntnis jener ältern Periode aber bedarf der wissenschaftlichen Forschung und der Lehre.
Wenn ich dieser Kenntnis Wert beilege, wenn ich in der Poesie des Mittelalters eine sehr merkwürdige Entwicklung des deutschen Geistes nachzuweisen versuchen werde, so ist es doch nicht meine Absicht, diesen Studien Anhänger zu werben. Mein Vortrag soll allerdings darauf berechnet sein, denjenigen, welche sich zu der Erforschung unsrer älteren Poesie hingezogen finden, eine Übersicht zu geben, mittels welcher sie das Einzelne, mit dem sie sich zunächst beschäftigen, in seine größern Zusammenhänge einreihen können, häufig bemerkt man bei sonst verdienstlichen Bestrebungen in diesem Fache eine Vereinzelung, einen Mangel an Übersicht des Ganzen, wodurch das Studium an dem minder Bedeutenden festgehalten wird, welches bei einem weitern Umblick sogleich als solches erkannt werden würde. Aufzumuntern zu einem umfassender Betrieb dieser Studien muß ich aber billig Anstand nehmen. Sie sind von keinem eigentlich praktischen Vorteil, sind im allgemeinen wenig anerkannt, dabei aber mühsam und schwierig, und können auch bei der bemerkten Beschaffenheit eines großen Teils der einzelnen Dichtwerke nur in der Durchdringung des Ganzen den rechten Genuß gewähren. Um so mehr jedoch scheint es angemessen, daß die Resultate der bisherigen Forschungen in einer für sich verständlichen Darstellung zusammengefaßt werden, daß auch denjenigen, die sich nicht selbsttätig in das vaterländische Altertum versenken wollen, die Gelegenheit gegeben sei, das Bedeutendste kennen zu lernen, was Jahrhunderte hindurch den Geist und das Gemüt unsrer Vorfahren beschäftigt und bewegt hat.
Wir stehen hier mitten im schwäbischen Lande, das einst ein Saal des Gesanges war. Sollen wir über alles Bescheid wissen, nur nicht über das, was auf dem eigenen Boden geistig geblüht hat?
Am östlichen Ende unsrer Alb springt der Rosenstein hervor, ein sagenreicher Berg, frisch bewaldet und mit wilden Rosen blühend bekränzt. Auf seinem Rücken zieht sich eine blumige Waldwiese hin, wo die Jugend der Umgegend ihre Maienfeste feiert. Am Rande des Berges ragen die Trümmer einer Burg, durch deren Fensterhöhlen die Vögel streichen. Gegenüber schwingt sich der schlanke Berg empor, auf dessen Gipfel einst das Stammhaus der Hohenstaufen sich erhoben; weithin, bis zum fernen Horizont, überschaut man das gesegnete Schwaben. In der schroffen Felswand aber, die, aus der buschigen Bergseite aufschießend, die Burgreste des Rosensteins trägt, öffnet sich nach der Gegend hin eine hochgewölbte Grotte. In ihrer Mitte grünt ein Strauch und blühen wilde Blumen, von den Tropfen des Gesteins sich nährend. An den Seiten liegen breite Felsstufen, von der Natur zu Sitzen aufgeschichtet. Hier, dacht' ich mir wohl sonst, möcht' ich, mit einigen Freunden gelagert, wahrend die Maienlust nur fern ertönte und der Blick in die weite Gegend hinausschweifte, hier möcht' ich den Freunden die Dichtergebilde der vergangenen Zeit farbenhell, wie sie mir vor der Seele schwebten, vorüberführen. Aber was, einmal aufgefaßt, dem innern Schauen in raschem Fluge vorüberzieht, soll es andern mitgeteilt werden, so muß die langsame Bahn der Untersuchung, der Entwicklung, der allmählich fortschreitenden Darstellung betreten werden. Diese betreten wir auch jetzt: möchten auf ihr jene dichterischen Gestaltungen Ihnen so anschaulich und vertraut werden können, daß es in Ihrer Macht stände, dieselben auch künftig auf jeder schönen Stelle des deutschen Landes vor das geistige Auge zurückzurufen!
Um der Betrachtung dieses ältesten und ursprünglichst-einheimischen Kreises deutscher Dichtung freie Bahn zu öffnen und zum voraus jede Beschränkung wegzuräumen, welche aus der herkömmlichen Lehre von der Epopöe als einer Kunstform hervorgehen könnte, sprechen wir zuerst vom Wesen der Volkspoesie im allgemeinen.
Wie über einer großen Bergkette, aus dem Schoße derselben und ihrem Zuge folgend, nur mit kühneren Zacken und Zinnen, ein leuchtendes Wolkengebirge emporsteigt, so über und aus dem Leben der Völker ihre Poesie. Der Drang, der dem einzelnen Menschen innewohnt, ein geistiges Bild seines Wesens zu erzeugen, ist auch in ganzen Völkern als solchen schöpferisch wirksam, und es ist nicht bloße Redeform, daß die Völker dichten. Darin eben, in dem gemeinsamen Hervorbringen, nicht in dem nur äußerlichen Merkmale der Verbreitung, haftet der Begriff der Volkspoesie, und aus ihrem Ursprung ergeben sich ihre Eigenschaften.
Wohl kann auch sie nur mittels einzelner sich äußern, aber die Persönlichkeit der einzelnen ist nicht wie in der Dichtkunst literarisch gebildeter Zeiten vorwiegend, sondern verschwindet im allgemeinen Volkscharakter. Auch aus den Zeiten der Volksdichtung haben sich berühmte Sängernamen erhalten, und wo dieselbe noch jetzt blüht, werden beliebte Sänger namhaft gemacht.
Meist jedoch sind die Urheber der Volksgesänge unbekannt oder bestritten, und die Genannten selbst, auch wo die Namen nicht ins Mythische sich verlieren, erscheinen überall nur als Vertreter der Gattung, die einzelnen stören nicht die Gleichartigkeit der poetischen Masse, sie pflanzen das Überlieferte fort und reihen ihm das Ihrige nach Geist und Form übereinstimmend an, sie führen nicht abgesonderte Werke auf, sondern schaffen am gemeinsamen Bau, der niemals beschlossen ist. Dichter von gänzlich hervorstechender Eigentümlichkeit können hier schon darum nicht als dauernde Erscheinung gedacht werden, weil die mündliche Fortpflanzung der Poesie das Eigentümliche nach der allgemeinen Sinnesart zuschleift und nur ein allmähliches Wachstum gestattet.
Vornehmlich aber läßt ein innerer Grund die Überlegenheit der einzelnen nicht aufkommen. Die allgemeinste Teilnahme eines Volkes an der Poesie, wie sie zur Erzeugung eines blühenden Volksgesanges erforderlich ist, findet notwendig dann statt, wenn die Poesie noch ausschließlich Bewahrerin und Ausspenderin des gesamten geistigen Besitztums ist. Eine bedeutende Abstufung und Ungleichheit der Geistesbildung ist aber in diesem Jugendalter eines Volkes nicht gedenkbar; sie kann erst mit der vorgerückten künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung eintreten. Denn wenn auch zu allen Zeiten die einzelnen Naturen mehr oder weniger begünstigt erscheinen, die einen gebend, die andern empfangend, die geistigen Anregungen aber das Geschäft der Edleren sind, so muß doch in jenem einfacheren Zustande die poetische Anschauung bei allen lebendiger, bei den einzelnen mehr im allgemeinen befangen gedacht werden. Die Harfe geht noch von Hand zu Hand wie bei den Gastmahlen der Angelsachsen; die ganze Masse ist noch wie ein Zug von Wandervögeln in der poetischen Schwebung begriffen, und die einzelnen fliegen abwechselnd an der Spitze. Die geistigen Richtungen sind noch ungeschieden und darum der Eigentümlichkeit keine besondern Bahnen eröffnet; das künstlerische Bewußtsein steht noch nicht dem Stoffe gegenüber, darum auch keine absichtliche Mannigfaltigkeit der Gestaltung; der Stoff selbst, im Gesamtleben des Volkes festbegründet, durch lange Überlieferung geheiligt, gibt keiner freieren Willkür Raum. Und so bleibt zwar die Tätigkeit der Begabteren unverloren, aber sie mehrt und fördert nur unvermerkt; die reichste Quelle, die den Strom des Gesanges schwellt, ist doch in ihm nicht auszuscheiden.
Auf keiner Stufe der poetischen Literatur, selbst nicht bei dem schärfsten Gepräge dichterischer Eigentümlichkeiten, kann der Zusammenhang des einzelnen mit der Gesamtbildung seines Volkes völlig verleugnet werden. Erscheinungen, die in Nähe und Gegenwart schroff auseinanderstehen, treten in der Ferne der Zeit und des Raumes in größern Gruppen zusammen, und diese Gruppen selbst zeigen unter sich einen gemeinsamen Charakter. Stellt man sich so dem gesamten poetischen Erzeugnis eines Volkes gegenüber und vergleicht man es nach außen mit den Gesamtleistungen andrer Völker, so betrachtet man dasselbe als Nationalpoesie; für unsern Zweck war es um den innern Gegensatz zu tun, um die Volkspoesie in ihrem Verhältnisse zur dichterischen Persönlichkeit.
Daß die Volkspoesie nur in mündlichem Vortrag lebe, ist bereits angedeutet worden. Man könnte sagen: aus dem einfachen Grunde, weil solche Völker die Schrift noch gar nicht kennen oder nicht allgemeiner zu gebrauchen wissen. Aber wessen der menschliche Geist bedarf, das erfindet oder erlernt er; reicht ihm Sang und Sage nicht mehr aus, so erfindet er die Schreibkunst; bei gesteigertem Bedürfnis erfand er den Bücherdruck. Auf derjenigen Bildungsstufe nun, auf welcher der Volksgesang gedeiht, wird der Buchstabe gar nicht vermißt. Hier gilt einzig die große Bilderschrift mächtiger Gestalten der Natur und des Menschenlebens. Die Betrachtung der Welt geschieht nicht mit dem Meßnetze des Gedankens, sondern mit dem Spiegel der Phantasie; was vor dieser in klarem Bilde steht, wird im tönenden Worte weiter und weiter mitgeteilt. Wie sollte das volle, farbige Lebensbild in den toten Schriftzug zusammenschrumpfen? Die Rune, wenn sie auch bekannt ist, wird mit Scheu betrachtet als ein bannender Zauber. Noch grünt die Aesche, die im Runenalphabet zum A erstarrt.
Das nun, daß die Gebilde der Volkspoesie lediglich mittels der Phantasie und des angeregten Gemütes durch Jahrhunderte getragen werden, bewährt dieselben als probehaltig. Was nicht klar mit dem innern Auge geschaut, was nicht mit regem Herzen empfunden werden kann, woran sollte das sein Dasein und seine Dauer knüpfen? Die Schrift, die auch das Entseelte in Balsam aufbewahrt, die Kunstform, die auch dem Leblosen den Schein des Lebens leiht, sind nicht vorhanden. Auch nicht Wort und Tonweise, im Gedächtnis festgehalten, können das Nichtige retten; denn das schlichte Wort ist in jenen Zeiten keine Schönheit für sich, es lebt und stirbt mit seinem Gegenstande; die einfache Tonweise, wenn sie selbst Dauer haben soll, muß ursprünglich einem Lebendigen gedient haben. Je fester und lebensvoller jene echten Gebilde dastehen, je weniger kann das Scheinleben in ihrem Kreise aufkommen und geduldet werden.
Worin liegt aber der Gehalt und die Kraft, vermöge deren sie durch viele Geschlechter unvertilgbar fortbestehen? Ohne Zweifel darin, daß sie die Grundzüge des Volkscharakters, ja die Urformen naturkräftiger Menschheit wahr und ausdrucksvoll vorzeichnen. Naturanschauungen, Charaktere, Leidenschaften, menschliche Verhältnisse treten hier gleichsam in urweltlicher Größe und Nacktheit hervor! unverwitterte Bildwerke, gleich der erhabenen Arbeit des Urgebirgs. Darum kann gerade den Zeiten, welche durch gesellige, künstlerische und wissenschaftliche Verfeinerung solchen ursprünglichern Zuständen am fernsten und fremdesten stehen, der Rückblick auf diese lehrreich und erquicklich sein; so ungefähr wie der größte der römischen Geschichtschreiber aus seinem welken Römerreich in die frischen germanischen Wälder, auf die riesenhaften Gestalten, einfachen Sitten und gesunden Charakterzüge ihrer Bewohner vorhaltend und weissagend hinüberzeigte.
Wenn wir uns im bisherigen die Volkspoesie nach ihrem vollsten Begriffe gedacht haben, so ist doch leicht zu erachten, daß sie in ihrer geschichtlichen Erscheinung bei verschiedenen Völkern, nach Gehalt und Umfang, in sehr mannigfachen Abstufungen und Übergängen sich darstelle. Wie das Leben jedes Volkes wird auch das Bild dieses Lebens, die Poesie, beschaffen sein. Ein Hirtenvolk, in dessen einsame Gebirgstäler der Kampf der Welt nur fernher in dumpfen Widerhallen eindringt, wird in seinen Liedern die beschränkten Verhältnisse ländlichen Lebens, die Mahnungen der Naturgeister, die einfachsten Empfindungen und Gemütszustände niederlegen; sein Gesang wird idyllisch- lyrisch austönen.
Ein Volk dagegen, das seit unvordenklicher Zeit in weltgeschichtlichen Schwingungen sich bewegt, mit gewaltigen Schicksalen kämpft und große Erinnerungen bewahrt, wird auch eine reiche und großartige Heldensage, voll mächtiger Charaktere, Taten und Leidenschaften, aus sich erschaffen, und wie sein Leben weitere Kreise zieht und größere Zusammenhänge bildet, wird auch seine Sage sich zum Epos, zum epischen Zyklus, verknüpfen und ausdehnen. Diese Entfaltung zu einem umfassenden Epos, das Bedeutendste, was die Volkspoesie erzeugen kann, ist uns nun auch in den Heldenliedern des deutschen Mittelalters aufbewahrt.