Geschichte der Juden in Deutschland 1781-1933 - Andreas Reinke - E-Book

Geschichte der Juden in Deutschland 1781-1933 E-Book

Andreas Reinke

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Beschreibung

In dem Zeitraum von der Spätaufklärung im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich, geprägt von den Bemühungen und Auseinandersetzungen um Emanzipation und Akkulturation, das moderne deutsche Judentum. Religiöse und weltanschauliche Vielfalt kennzeichneten diese neu entstandene deutsch-jüdische Öffentlichkeit, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend antisemitischen Vorbehalten ausgesetzt sah. Andreas Reinke analysiert jüdisches Leben im wechselvollen Prozess von Anpassung, Ausgrenzung und schöpferischer Selbstbehauptung, wobei er die Geschichte der Juden in Deutschland als integralen Bestandteil der allgemeinen deutschen Geschichte begreift.

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Andreas Reinke

Geschichte der Juden in Deutschland 1781-1933

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Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-534-15445-6 © 2007 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Redaktion: Rebecca Schaarschmidt, Berlin eBook ISBN 978-3-534-71530-5 (epub) Als epub veröffentlicht 2010.

www.wbg-wissenverbindet.de

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Geschichte kompakt

Vorwort des Autors

Einleitung

I. Vom Schutzjuden zum Staatsbürger: Der Beginn der Emanzipation der Juden in Deutschland 1780–1847

1. Die rechtlichen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen der jüdischen Bevölkerung im ausgehenden 18. Jahrhundert

a) Absolutistischer Staat und jüdische Minderheit

b) Die Anfänge der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Deutschland

c) Rückschritte und Stagnation während der Restauration und im Vormärz

2. Demografische und soziale Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

3. Die jüdischen Gemeinden zwischen Tradition und Reform

a) Wandel durch Annäherung

b) Haskala: Die jüdische Aufklärung

c) Reform und Orthodoxie

d) Der Wandel der jüdischen Gemeindeorganisation im Vormärz

II. Zwischen Revolution und Reichsgründung: Verzögerte Gleichstellung und wirtschaftlicher Aufstieg

1. Von der Revolution zur Gleichstellung: Der widersprüchliche Weg der Emanzipation 1848–1871

a) Die Revolution von 1848

b) Antijüdische Ausschreitungen während der Märzrevolution

c) Die Emanzipationsgesetzgebung in der Periode zwischen Revolution und Reichsgründung

2. Demografische und soziale Entwicklung

a) Das Wachstum der jüdischen Bevölkerung

b) Berufsstruktur und sozialer Aufstieg

3. Annäherung und Distanz: Die widersprüchliche Integration der jüdischen Minderheit

a) Politische und gesellschaftliche Akzeptanz

b) Grenzen der Integration

4. Konsolidierung und wachsendes Selbstbewusstsein: Jüdisches Selbstverständnis nach 1848

a) Von der Einheit zur Vielfalt: Jüdisches Gemeindeleben zwischen Traditionalismus und liberaler Reform

b) Konfessionalisierung und Institutionalisierung: Synagogen – Ausbildung – Wohlfahrtspflege

c) Wissenschaft des Judentums und populäre Kultur

III. Vollständige Emanzipation und Antisemitismus: Die Juden im Kaiserreich

1. Die demografische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Juden im Kaiserreich

a) Quantitative und demografische Entwicklung

b) Urbanisierung und sozialer Aufstieg

2. Tradition im Umbruch: Die Rolle jüdischer Frauen in Familie, Erwerbsleben und Öffentlichkeit

3. Die Modernisierung des jüdischen Gemeindelebens

a) Religiöses und soziales Leben in den Gemeinden

b) Die jüdische Wohlfahrtspflege

4. Judenfeindschaft und Antisemitismus

5. Reaktionen auf den Antisemitismus: Deutsch-jüdische Identitätsbildung zwischen Abwehr und Zionismus

a) Studentische Vereinigungen und der Orden B’ nai B’ rith

b) Die Abwehr des Antisemitismus: Der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“

c) Der Zionismus

IV. Zwischen Gleichberechtigung, Ausgrenzung und Gewalt: Juden in der Weimarer Republik

1. Juden in Krieg und Revolution

a) Vom „Burgfrieden“ zur „Judenzählung“

b) Revolution und zunehmender Antisemitismus

2. Die Juden als sozioökonomische Minderheitsgruppe in der Weimarer Republik

a) Die demografische Entwicklung

b) Wirtschafts- und Sozialstruktur

3. Jüdisches Leben zwischen Gemeinde und Gemeinschaft

a) Die jüdische Gemeinde

b) Organisatorischer Zusammenhalt: Das jüdische Organisations- und Vereinsleben

c) Neue Wege jüdischer Kultur

4. „Entscheidungsjahr 1932“

Schlussbetrachtung

Auswahlbibliografie

Personenregister

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Geschichte kompakt

Herausgegeben von

Kai Brodersen, Gabrielle Haug-Moritz,

Martin Kintzinger, Uwe Puschner

Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:

Uwe Puschner

Berater für den Bereich 19./20. Jahrhundert:

Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze

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Geschichte kompakt

In der Geschichte, wie auch sonst,

dürfen Ursachen nicht postuliert werden,

man muss sie suchen. (Marc Bloch)

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind jüngere, in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

Kai Brodersen

Gabriele Haug-Moritz

Martin Kintzinger

Uwe Puschner

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Vorwort des Autors

Es ist erfreulich, dass die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in ihrer Reihe „Geschichte Kompakt“ auch die Geschichte der Juden in Deutschland zum Gegenstand der Vermittlung historischen Grundlagenwissens über europäische Geschichte macht. Mit dieser Entscheidung wird dem in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden Wandel in der akademischen wie auch in einer breiteren Öffentlichkeit Rechnung getragen, sich verstärkt Themen der deutschen und europäischen Geschichte zuzuwenden, die lange Zeit als eher marginal oder lediglich im Hinblick auf einzelne Aspekte als bedeutend angesehen wurden. Hierzu gehört ohne Zweifel die Geschichte der Juden, die, nachdem sie lange Zeit vor allem im Hinblick auf ihr durch die Nationalsozialisten gewaltsam herbeigeführtes Ende thematisiert worden war, seit einiger Zeit aber eine neue und intensivere Beachtung in der Öffentlichkeit erfährt. Dies war auch die Erfahrung des Autors, der bei einer Reihe von Lehrveranstaltungen an den Universitäten Leipzig und Halle zu diesem Thema auf eine Resonanz stieß, die in ihrer Breite und Vielfalt überraschte. Den an diesen Lehrveranstaltungen teilnehmenden Studierenden verdankt die vorliegende Darstellung zur Geschichte der Juden in Deutschland zahlreiche Anregungen und Anstöße.

Um in dem durch die Vorgaben der Reihe begrenzten Rahmen die wesentlichen Strukturen und Entwicklungen der in Deutschland lebenden Juden konzise und zusammenfassend darzustellen, mussten Schwerpunkte gesetzt werden. Eine solche Auswahl ist zwangsläufig immer auch subjektiv geprägt und liegt in der alleinigen Verantwortung des Verfassers. Wichtige Anregungen hierfür ergaben sich aus den Diskussionen des von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojekts „Die ‚Judenfrage‘ im europäischen Vergleich. Gesellschaftliche Debatten über die Stellung der Juden im mittleren und östlichen Europa vom 18. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre“. Im Rahmen dieses Vorhabens ist auch die vorliegende Darstellung als eine von mehreren geplanten Studien entstanden, die die Situation der Juden in den ausgewählten Ländern (Böhmische Länder/Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Deutschland) zum Thema haben. In diesem Zusammenhang sei auch Prof. Dr. Manfred Hettling an der Universität Halle für sein stetiges und kritisches Interesse an dem Manuskript gedankt.

Den entscheidenden Anstoß dafür, das vorliegende Buch zu verfassen, gab Dr. Stefanie Schüler-Springorum. Zu danken habe ich außerdem dem Herausgeber für den Bereich Neuzeit der Reihe „Geschichte kompakt“, Herrn PD Dr. Uwe Puschner, für seine sorgfältige Lektüre des Manuskripts, sowie dem betreuenden Lektor Daniel Zimmermann von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die geduldige und angenehme Kooperation in allen Phasen des Vorhabens.

Mich bei Barbara und Kira Welker zu bedanken, wäre angesichts des Ausmaßes an kritischer und alltäglicher Hilfe und Unterstützung, das ich von ihnen bei der Arbeit an dem vorliegenden Buch bekommen habe, weit mehr als zu wenig. Ihnen ist es daher gewidmet.

Berlin, im Februar 2007

Andreas Reinke

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Einleitung

Geschichte und Kultur der Juden in Deutschland erfreuen sich seit geraumer Zeit eines wachsenden Interesses in der Öffentlichkeit. Sie sind Thema einer seit Jahren ständig steigenden Zahl von Forschungen und Publikationen, die sich in vielfältiger Weise mit den unterschiedlichen Aspekten jüdischen Lebens in Deutschland von dessen Anfängen bis in die Gegenwart hinein befassen. Waren jüdische Geschichte und Kultur lange Zeit in Deutschland ein Thema, das vorwiegend am Rande oder außerhalb der akademischen Forschung betrieben wurde, so hat sich dies spätestens seit den beginnenden Neunzigerjahren des zurückliegenden Jahrhunderts deutlich verändert. In dieser Zeit wurden eine Reihe von Einrichtungen begründet, die sich der Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur sowie der Vermittlung dieser Erkenntnisse in eine breitere Öffentlichkeit hinein widmen. Diese Einrichtungen orientieren sich an den in den USA entwickelten „Jewish Studies“ und setzen sich aus eigenen Studiengängen oder auch speziell ausgerichteten Professuren sowie eigenständigen Forschungseinrichtungen zusammen. Breite Resonanz und ständig steigende Besucherzahlen verzeichnen auch die in jüngerer Zeit gegründeten jüdischen Museen, deren Anliegen es ist, einem vornehmlich nichtjüdischen Publikum Kenntnisse über jüdische Kultur, Tradition und Geschichte zu vermitteln.

Dies ist weniger selbstverständlich als es auf den ersten Blick scheinen mag. Vor 1933 war die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte das Arbeitsgebiet einiger weniger jüdischer Spezialisten, die – zumeist von der nichtjüdischen Öffentlichkeit wenig beachtet – sich der Erforschung jüdischer Vergangenheit in ihren vielfältigen Erscheinungen widmeten. In einer nichtjüdischen Öffentlichkeit und unter nichtjüdischen Historikern wurde die Geschichte der Juden in Deutschland erst nach 1945 allmählich zu einem interessanten und gewichtigen Thema, „nachdem – und weil – Deutsche versucht hatten, die Juden auf dem europäischen Kontinent auszurotten“ (Trude Maurer). Insofern ist, um eine Formulierung von Reinhard Rürup aufzugreifen, ein „unbefangener Blick auf die deutsch-jüdische Geschichte heute nicht mehr möglich“ und jede Beschäftigung mit ihr kann von deren gewaltsamem Ende im Nationalsozialismus nicht absehen. Dies sollte jedoch nicht zu einer deterministisch geprägten Sichtweise verleiten, die die über Jahrhunderte währende Geschichte der Juden in Deutschland lediglich als „Vorgeschichte“ der Shoah interpretiert und sie gleichsam zwangsläufig in Auschwitz enden lässt.

Dies gilt auch, und vielleicht in besonderem Maße für den Zeitraum, der hier in den Blick genommen werden soll. Die Geschichte der Juden in Deutschland vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts gilt – auch im europäischen Vergleich – als eine Erfolgsgeschichte, war sie doch vor allem mit der Emanzipation, d. h. der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung verbunden. Nirgendwo sonst gelang einer über Jahrhunderte hinweg marginalisierten und am Rande der Gesellschaft lebenden Bevölkerungsgruppe innerhalb von zwei oder drei Generationen ein solch rasanter sozialer Aufstieg wie den in Deutschland lebenden Juden. Spätestens im Kaiserreich bildeten sie eine der Kerngruppen des städtischen Bürgertums in Deutschland, die sich rasch und in hohem Maße akkulturierte. Aus Juden in Deutschland wurden sehr schnell deutsche Juden, deren Selbstverständnis gleichermaßen durch ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation wie auch zur jüdischen Religion und Kultur geprägt war.

Emanzipation, Akkulturation und Konfessionalisierung sind die zentralen Leitbegriffe, mit denen sich die wesentlichen Merkmale der Entwicklung der jüdischen Minderheit im Deutschland des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beschreiben lassen. Die Emanzipation der Juden stand in vielen europäischen Staaten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf der politischen Tagesordnung. Im europäischen Kontext der Emanzipation der Juden nahm Deutschland in mehrfacher Hinsicht eine besondere Rolle ein. Nicht nur wurde hier erstmals der Gedanke der Beseitigung des „minderen Status“ der jüdischen Bevölkerung formuliert und umzusetzen versucht. Anders als in anderen, zumeist westeuropäischen Staaten wurde in Deutschland fast über ein Jahrhundert lang eine intensive Auseinandersetzung über diese Frage geführt, die wohl wie kaum eine andere die politische Öffentlichkeit teilte und auch innerhalb der verschiedenen politischen Lager heftig umstritten war. Die Voraussetzungen, unter denen die rechtliche Gleichstellung und soziale Integration der Juden in den einzelnen deutschen Ländern im Verlaufe des 19. Jahrhunderts vollzogen wurden, waren allerdings sehr unterschiedlich. So gab es Länder mit einem vergleichsweise hohen Anteil an Juden, während in anderen kaum oder gar keine Juden lebten. Auch im Hinblick auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung differierten die Länder häufig; während in einigen noch im Vormärz weitgehend traditionelle agrarische Strukturen vorherrschten, hatten sich in anderen bereits protoindustrielle und zunehmend auch industrielle Produktionsweisen durchgesetzt. Der Einfluss dieser Faktoren auf den Verlauf der Debatten und Auseinandersetzungen um die Emanzipation der Juden war erheblich, und sollte in seiner Wirkkraft keinesfalls unterschätzt werden.

Mit der schrittweise eingeführten Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ging ein grundlegender Wandel des Selbstverständnisses dieser Bevölkerungsgruppe einher. Für die Emanzipation der Juden in Deutschland charakteristisch war die Tatsache, dass sie an Voraussetzungen und Bedingungen geknüpft war, deren Erfüllung der Gewährung der Gleichstellung vorausgehen sollten. Bereits die ersten (nichtjüdischen) Befürworter der Emanzipation, wie etwa der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm, sahen in der weitgehenden Anpassung der Juden an ihre nichtjüdische Umwelt eine wesentliche Voraussetzung für die Gewährung gleicher Rechte. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung wurde dies – trotz mancher Zweifel – von einem wachsenden Teil akzeptiert und auch praktisch umgesetzt. Juden suchten in zunehmendem Maße am wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Leben ihrer nichtjüdischen Umwelt zu partizipieren und deren (vornehmlich in bürgerlichen Lebenswelten definierten) Normen und Werte zum zentralen Bestandteil der eigenen Lebensführung zu machen. Dieser Prozess der Adaption soziokultureller Werte und Verhaltensweisen, in der älteren Forschung lange Zeit mit dem Begriff der „Assimilation“ belegt, wird mittlerweile zunehmend als ein sich wechselseitig beeinflussendes Verhältnis beschrieben, das sich treffender mit dem Begriff der „Akkulturation“ fassen lässt. In dem Maße, in dem Juden Normen und Verhaltensweisen bürgerlicher Lebensführung übernahmen, waren sie nicht nur passiv, sondern auch aktiv an der Herausbildung entsprechender Lebensformen und kultureller Verhaltensweisen in Deutschland beteiligt.

Im Zuge des durch die Emanzipation in Gang gesetzten Akkulturationsprozesses unterlag auch das traditionelle, primär religiös geprägte Selbstverständnis der in Deutschland lebenden Juden einem grundlegenden Wandel. Die über Jahrhunderte hinweg an den Bestimmungen des Religionsgesetzes ausgerichtete Lebensführung wurde zunehmend in Frage gestellt, erwies sie sich doch in den Augen vieler nur noch als schwer vereinbar mit den Ansprüchen und Herausforderungen, die sich aus den veränderten politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen ergaben. In vielen jüdischen Gemeinden kam es daher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen um die tradierten religiösen Bestimmungen, in deren Gefolge sich unterschiedliche religiöse Strömungen herausbildeten. Radikalen Reformern stand eine traditionsorientierte Neoorthodoxie gegenüber, während sich die überwiegende Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden der liberalen bzw. der konservativen Strömung verbunden fühlte, die beide eine eher als moderat zu bezeichnende Reform praktizierten. Eine zunehmende Pluralisierung kennzeichnete mithin das religiöse Leben der jüdischen Gemeinden Deutschlands im 19. Jahrhundert, in denen wesentliche, bis in die Gegenwart hinein einflussreiche Positionen religiösen Selbstverständnisses formuliert und praktiziert wurden. Sowohl die Reformbewegung als auch das konservative Judentum, die heute vor allem im religiösen Leben der amerikanischen Juden eine wesentliche Rolle spielen, haben ihre Wurzeln im Deutschland des 19. Jahrhunderts.

Der vorliegende Überblick zur Geschichte der Juden in Deutschland orientiert sich an den genannten Leitbegriffen, mit deren Hilfe sich die Entwicklung der jüdischen Minderheit im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert strukturieren lässt. Die Darstellung ist chronologisch aufgebaut, wobei der zeitliche Rahmen sich im Wesentlichen an der für die soziale und politische Geschichte Deutschlands gängigen Periodisierung orientiert, in Einzelfällen jedoch etwas andere Akzente setzt, die der Geschichte der Juden angemessener erscheinen. Das Jahr 1780, das hier als Einstieg gewählt wurde, stellt in der allgemeinen Geschichte Deutschlands sicherlich keinen markanten Einschnitt dar. Innerhalb der Geschichte der Juden in Deutschland jedoch kann es als ein wichtiger Wendepunkt zwischen vormoderner jüdischer Existenz und den Anfängen ihrer Modernisierung angesehen werden, die einen grundlegenden Wandel jüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert zur Folge hatte.

Die Zeit zwischen 1780 und der Revolution von 1848, die Thema des ersten Kapitels ist, stand ganz im Zeichen der beginnenden Emanzipation der jüdischen Minderheit. Die ersten Maßnahmen einzelner deutscher Staaten, Juden im Rahmen einer grundsätzlichen politischen und sozialen Erneuerung der bestehenden Verhältnisse gleichzustellen, waren begleitetet von heftigen öffentlichen Debatten um Ziele und Maßnahmen der angestrebten „bürgerlichen Verbesserung“ der Juden. Das im Gefolge des Wiener Kongresses in Deutschland dominierende restaurative politische Klima brachte es mit sich, dass weite Teile der in den Jahren nach 1800 eingeführten emanzipatorischen Maßnahmen wieder zurückgenommen wurden. Mehrfach kam es in diesem Zeitraum zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden in Deutschland, in denen sich auch der Protest gegen die beginnende Gleichstellung der jüdischen Minderheit artikulierte. Erst seit den 1830er-Jahren wurde in der Öffentlichkeit sowohl von nichtjüdischer wie von jüdischer Seite wieder verstärkt die Forderung nach einer vollständigen Emanzipation erhoben, die aber erst während der 1848er-Revolution wenigstens teilweise in die Tat umgesetzt wurde.

Das Leben in den jüdischen Gemeinden im ausgehenden 18. Jahrhundert sowie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war bestimmt von den Aktivitäten der jüdischen Aufklärungsbewegung bzw. der sich seit den 1830er-Jahren formierenden Reformbewegung. Auf ihre Initiative hin waren bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts neue jüdische Schulen gegründet worden, in denen anders als in den traditionellen jüdischen Schulen nicht mehr ausschließlich religiöses, sondern weltliches Wissen vermittelt wurde. Im Umfeld dieser Schulen wurden dann seit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch die ersten Gottesdienstreformen eingeführt, die den jüdischen Gottesdienst in seinem äußeren Ablauf stärker am Vorbild des christlichen Gottesdienstes ausrichten wollten und auch einige liturgische Elemente, die als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden, beseitigten bzw. durch andere ersetzten. Sowohl die Gründung der Reformschulen als auch die nach und nach in einzelnen Synagogen eingeführten Gottesdienstreformen lösten in einigen Gemeinden Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern der Reformen aus, in denen Letztere vor allem einen Verstoß gegen Tradition und Überlieferung sahen. Im Verlauf dieser Konflikte begann sich auch die Rolle und Funktion der jüdischen Gemeinde allmählich zu verändern, deren traditionelle religiöse und soziale Autorität angesichts der beginnenden Pluralisierung des religiösen Lebens im Abnehmen begriffen war.

In der Periode zwischen der 1848er-Revolution und der Gründung des Deutschen Reiches (1869/71), die im zweiten Kapitel behandelt wird, stand erneut die Frage der Emanzipation der Juden auf der politischen Tagesordnung. So kam es in den ersten Wochen und Monaten der Revolution noch einmal zu einer Welle antijüdischer Ausschreitungen, in denen sich der (zumindest regional begrenzte) Protest gegen die in Aussicht genommene Gleichstellung artikulierte. Im weiteren Verlaufe der Revolution war in einer Reihe von deutschen Staaten die Emanzipation der Juden eingeführt worden, die jedoch schon bald wieder zurückgenommen oder eingeschränkt wurde. Erst in den 1860er-Jahren begannen einzelne Länder, nach und nach noch bestehende Beschränkungen aufzuheben, und mit der Gründung des Norddeutschen Bundes bzw. des Deutschen Reiches wurden Juden in ganz Deutschland formal gleichgestellt. Trotz dieser zögerlichen Emanzipationspolitik begannen Juden sich seit dieser Zeit verstärkt am öffentlichen Leben zu beteiligen. Die beginnende Industrialisierung ermöglichte einem wachsenden Teil der jüdischen Bevölkerung den sozialen Aufstieg in das untere und mittlere Bürgertum. Wirtschaftliche und soziokulturelle Verbürgerlichung waren hierbei eng miteinander verknüpft und prägten in zunehmendem Maße die Lebenswelt der deutschen Juden.

Nach den heftigen religiösen Auseinandersetzungen während der Dreißiger- und Vierzigerjahre konsolidierten sich die Verhältnisse in den jüdischen Gemeinden in der Folgezeit. Die wesentlichen religiösen Strömungen (Liberale, Konservative und (Neo-)Orthodoxie) richteten in den großen Gemeinden eigene Gottesdienste ein und stellten Rabbiner ihrer Wahl an. Parallel hierzu eröffneten sie in der Zeit zwischen 1854 und den beginnenden 1870er-Jahren jeweils eine eigene Lehranstalt zur Ausbildung von Religionslehrern und Rabbinern. Die Verwaltungen der jüdischen Gemeinden versuchten in religiösen Fragen eine neutrale Haltung einzunehmen und konzentrierten sich in ihrer Tätigkeit zunehmend auf den Auf- und Ausbau des Kultus- und des Wohlfahrtswesens. Die nach der Jahrhundertmitte erkennbare Ausdifferenzierung und Institutionalisierung dieser Bereiche wurde durch das Engagement der Gemeindemitglieder ermöglicht, die durch regelmäßige Beiträge und Spenden die Arbeit solcher Einrichtungen wie der Rabbinerseminare erst ermöglichten. In ihnen manifestierte sich sowohl der Stolz auf den erreichten sozialen Erfolg, wie auch ein neues Selbstverständnis als Deutsche jüdischer Konfession, das in der jüdischen Öffentlichkeit zunehmend dominierte.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches begann eine bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges reichende neue Phase in der Geschichte der deutschen Juden, die Gegenstand des dritten Kapitels ist. In dieser Zeit erreichte der soziale Aufstiegsprozess der jüdischen Bevölkerung seinen Höhepunkt. Juden gehörten nunmehr in überdurchschnittlichem Maße zu den Kerngruppen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums und nahmen aktiv am politischen, sozialen und kulturellen Leben dieser Sozialgruppen teil. Mehr Juden als jemals zuvor strebten an die Universitäten, um eine akademische Ausbildung zu absolvieren, auch wenn ihnen – wie etwa in Preußen – der Zugang zu staatlichen Ämtern weiterhin versperrt blieb. Zwar waren im Zuge der Reichsgründung die meisten noch bestehenden rechtlichen Einschränkungen gegenüber Juden aufgehoben worden, doch galt dieses Prinzip nicht in allen Ländern des Reiches. Hinzu kam, dass sich nur wenige Jahre nach der Reichsgründung unter dem Eindruck der so genannten Gründerkrise die antisemitische Bewegung formierte, die die vollzogene Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung radikal in Frage stellte und dies mit einer antiliberalen Grundhaltung verknüpfte. Auch wenn es dem Antisemitismus im Kaiserreich nicht gelang, sich als dauerhafter politischer Faktor in der Öffentlichkeit zu etablieren, so zeigte sich doch, dass antijüdische Ressentiments in weiten Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung auf Resonanz stießen und besonders in krisenhaften Situationen leicht zu mobilisieren waren.

Als Antwort auf die vorhandenen antisemitischen Exklusionsstrategien in der Gesellschaft des Kaiserreichs gründeten Juden eine Reihe von eigenen Organisationen, um sich damit weitere Handlungsspielräume im sozialen und politischen Gefüge des Wilhelminischen Reiches zu schaffen. Waren es anfangs kleinere Vereinigungen wie etwa studentische und gesellige Vereine, die vor allem das jüdische Selbstbewusstsein stärken wollten, so entstand mit dem 1893 gegründeten „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) die größte jüdische Vereinigung in Deutschland. Ihr zentrales Anliegen war die Bekämpfung und Abwehr des Antisemitismus. Während der CV die Gleichstellung der Juden im Kaiserreich mit politischen und juristischen Mitteln zu erreichen versuchte, sah die fast gleichzeitig sich formierende zionistische Bewegung die Lösung der „Judenfrage“ in der Schaffung eines eigenen jüdischen Staates. Damit standen sich zwei diametral entgegengesetzte Konzepte jüdischer Identität gegenüber, die das Leben in den jüdischen Gemeinden in der Folgezeit zunehmend bestimmten: Bot der CV vor allem denjenigen eine politische und organisatorische Heimat, die sich vorrangig als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens verstanden, sahen sich die Mitglieder der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vorrangig als Juden an. Neben die Pluralisierung des religiösen Lebens trat somit zunehmend auch eine weltanschaulich-ideologische Differenzierung der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland, die ihren Niederschlag in einer Vielzahl von Vereinen und Organisationen fand, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene agierten.

In der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933, die im vierten Kapitel behandelt wird, sahen sich die in Deutschland lebenden Juden mit widersprüchlichen Entwicklungen konfrontiert. Einerseits waren mit der Ausrufung der Weimarer Republik erstmals alle noch bestehenden rechtlichen Einschränkungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung beseitigt worden. In einem bis dahin nicht gekannten Ausmaße nahmen Juden nun an vielen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens der Republik aktiv teil, und dies zum Teil an prominenter Stelle. Andererseits erlebte die antisemitische Bewegung seit Kriegsbeginn einen erheblichen Aufschwung und konnte sich in der Folgezeit als politische Kraft dauerhaft etablieren, indem sie eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Republik mit einer durch und durch antisemitisch geprägten Sichtweise verband. Anders als im Kaiserreich griffen antisemitische Kräfte nunmehr auch zum Mittel der Gewalt und sahen sich hierin durch die passive oder manchmal auch aktive Zustimmung wachsender Teile der nichtjüdischen Öffentlichkeit bestätigt. Ein Indikator, an dem diese Entwicklung erkennbar wird, sind die in der Endphase der Weimarer Republik zunehmenden Wahlerfolge der NSDAP, der Partei, die den Antisemitismus zu einem zentralen Anliegen ihres politischen Programms erklärt hatte.

Vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Entwicklung gestaltete sich das Leben in den jüdischen Gemeinden und der jüdischen Öffentlichkeit. Auch wenn viele, die dem Judentum durch ihre Herkunft verbunden waren, sich vom Judentum ab- und anderen Identitätsentwürfen zuwandten, so gewann gleichzeitig in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und den beginnenden Dreißigerjahren das Leben in den jüdischen Gemeinden und der jüdischen Öffentlichkeit eine neue Dynamik und Intensität. Eine jüngere, von den Erfahrungen des Krieges geprägte Generation deutscher Juden wollte sich ihrer durch Religion, Geschichte und Kultur geprägten jüdischen Herkunft vergewissern und hieraus eine moderne jüdische Identität gewinnen. Dieses „jüdische Projekt der Moderne“ (Shulamit Volkov) nahm Bezug auf eine Vielzahl von Quellen: religiöse, kulturelle und historische Elemente hatten ebenso wie moderne Konzepte von Ethnizität, Gemeinschaft und Geschlecht ihren Platz in diesen Prozessen. Den Gemeinden kam darüber hinaus aufgrund der wachsenden Verarmung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung in den Jahren zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik mit ihren Einrichtungen der Sozialfürsorge neue Bedeutung zu. In zunehmendem Maße sahen ihre Mitglieder sich gezwungen, die Leistungen und Angebote der innerjüdischen Wohlfahrtspflege in Anspruch zu nehmen, die in dieser Periode zwangsläufig expandierte und ihr Angebot an Hilfsmaßnahmen modifizierte und differenzierte.

Es waren somit sowohl innere wie äußere Faktoren, die das Leben der in Deutschland lebenden Juden in den Jahren zwischen 1914 und 1933 nachhaltig prägten. Der Einfluss der jüdischen Deutschen auf die weiteren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen blieb gering, obgleich sie von diesen in einem weitaus stärkeren Maße als die meisten nichtjüdischen Deutschen betroffen waren. Stellte der Antisemitismus das Zusammenleben von deutschen Juden und Nichtjuden stärker und radikaler als in dem vorangegangenen Jahrhundert in Frage, so ahnte vermutlich im Jahre 1933 kaum jemand von ihnen, dass dies nur wenige Zeit später in der Shoah enden würde.

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I. Vom Schutzjuden zum Staatsbürger: Der Beginn der Emanzipation der Juden in Deutschland 1780–1847

1750

Generaljudenreglement für Preußen

 

1778

Gründung der Jüdischen Freischule in Berlin

 

1781

Christian Wilhelm (Konrad) von Dohm „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“

 

1781/82

Toleranzpatent(e) Joseph II.

 

1783

Gründung der jüdischen Aufklärungszeitschrift „Ha-Me’asef“ (Der Sammler)

 

1791

Gleichberechtigung aller französischen Juden durch die Constituante

 

1806

Gründung der in Dessau herausgegebenen deutsch-jüdischen Zeitschrift „Sulamith“ (erscheint bis 1848)

 

1809

Infolge der Preußischen Städteordnung erstmals Wahl von jüdischen Stadtverordneten und -räten

 

1809

Erlass des „Konstitutionsedikts der Juden“ im Großherzogtum Baden

 

1812

Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate

 

1813

Bayerisches Judenedikt

 

1815

Bundesakte des Wiener Kongresses

 

1819

Gründung des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden in Berlin

 

1819

Ausschreitungen gegen Juden vor allem in Süddeutschland

 

1828

Errichtung der Israelitischen Oberkirchenbehörde in Württemberg

 

1837

Erstmals erscheint die von Ludwig Philippson herausgegebene „Allgemeine Zeitung des Judenthums“

 

1845

Gründung der „Genossenschaft für Reform im Judenthum“ in Berlin

 

1847

Gesetz über die Verhältnisse der Juden in Preußen

 

Die Achtzigerjahre des 18. Jahrhunderts markieren den Beginn der neueren Geschichte der Juden im deutschsprachigen Raum. Diese Zäsur gründet jedoch nicht, wie man vielleicht vermuten kann, in einem einzelnen Ereignis, den Aktivitäten einer einzelnen Persönlichkeit oder einem einzelnen herausragenden Datum. Vielmehr wirkte eine Vielzahl von Faktoren, Vorgängen und Ereignissen zusammen als strukturierender Einschnitt in der Entwicklung der in den deutschen Territorialstaaten lebenden Juden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern setzte zu diesem Zeitpunkt eine öffentliche Debatte um die Lage der Juden ein, in deren Zentrum die Frage nach der „Verbesserung“ der Lage und Lebensumstände dieser ethnisch-religiösen Minderheit innerhalb der christlich dominierten Staaten Europas stand. An dieser Debatte, die im Kern auf eine soziale, rechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung der Juden hinauslief, beteiligten sich Juden wie Nichtjuden, Philosophen, Gelehrte, Pädagogen und Kaufleute – mit anderen Worten: Angehörige der führenden Trägergruppen der (Spät-)Aufklärung in Deutschland.

In Deutschland kam es – zunächst unter dem Eindruck der Französischen Revolution, dann im Gefolge der Napoleonischen Herrschaft – seit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch zu ersten praktischen Maßnahmen einer Emanzipationspolitik gegenüber den Juden, die das Gefüge der traditionellen jüdischen Gesellschaft nachhaltig veränderten. Die beginnende Emanzipation schuf nicht nur neue Betätigungs- und damit auch Aufstiegsmöglichkeiten für Juden in der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands. Verbunden waren diese Veränderungen auch mit Transformationsprozessen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die aus dem wachsenden Bedürfnis nach Akkulturation und Partizipation heraus begann, neue Konzepte und Wege eines modernen jüdischen Selbstverständnisses zu erproben.