Geschichte der Kulturwissenschaft - Gerhard Katschnig - E-Book

Geschichte der Kulturwissenschaft E-Book

Gerhard Katschnig

0,0
28,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kultur ist jene grundlegende und umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und die Welt als solche erfahrbar macht. Das vorliegende Buch beschreibt dieses weite Feld anhand von entscheidenden historischen Semantiken, Kulturrevolutionen, kulturkritischen Zeitdiagnosen und ausgewählten Kulturtheoretikern in einem Überblick von der Antike bis in die Gegenwart.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 429

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Katschnig

Geschichte der Kulturwissenschaft

Vom Gilgamesch-Epos bis zur Kulturpoetik

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Dr. Gerhard Katschnig ist Kulturwissenschafter und Lehrbeauftragter am Institut für Kulturanalyse an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

 

Umschlagabbildung: Robert de Baudous (1574/75–1659), „Prometheus Making Man and Animating Him with Fire from Heaven“, Ailsa Mellon Bruce Fund, Courtesy National Gallery of Art, Washington, Creative Commons Zero (CC0).

 

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838560960

 

© UVK Verlag 2023— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 6096

ISBN 978-3-8252-6096-5 (Print)

ISBN 978-3-8463-6096-5 (ePub)

Inhalt

VorwortEinleitung oder Krux der SelbstthematisierungNun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft?I Ecce homoa) Gilgamesch und die Anfängeb) Mythen und wahre Erzählungenc) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und BarbareiII Glaube und Wissen – Imperium und Sacerdotiuma) Christentum und Mönchskultur im Westenb) Organisiertes Wissen und Kulturtransferc) Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher DichtungIII Zwischen Humanismus und Renaissancea) Ad fontesb) Buchdruck, Selbstfindung und Bildungsbedürfnisc) Florentinische Selbstbilder der RenaissanceIV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichtea) Neue Alteritätserfahrungenb) Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschungc) Souverän der eigenen ExistenzV Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibunga) Von den Utopien zu den Universalgeschichtenb) Kultur und Selbsterkenntnisc) Kultur und GeschichteVI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärunga) Kulturgenussb) Kultur als Verderbnisc) Kompensation durch KunstVII Kulturphilosophie – zwischen Industrialisierung und Naturwissenschafta) Industrie – Technik – Kunstb) Naturwissenschaft – Geisteswissenschaft – Kulturwissenschaftc) Der Preis der KulturVIII Vom Pessimismus zum Kompromissa) Objektivität und Gegenstand der Kulturwissenschaftb) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900c) Kultur zwischen Heuchelei und KompromissIX Der Weg in die Internationalisierunga) Kulturwissenschaftliche Institutionalisierungb) Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismusc) Kultur als ProtestAusblick – Kulturwissenschaft heutea) Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschungb) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft?AbbildungsnachweisLiteraturverzeichnisPersonenregister

Vorwort

Der vorliegende Band stützt sich auf zahlreiche, intensive Vorarbeiten der letzten Jahre. Am Institut für Kulturanalyse an der Universität Klagenfurt halte ich Lehrveranstaltungen zur Geschichte der Kulturwissenschaft, welche die neun Hauptkapitel sowie den Ausblick als Abschluss widerspiegeln. 2015 bis 2017 erschienen in der Zeitschrift Kultursoziologie, herausgegeben von Wolfgang Geier et al. in Potsdam, die überarbeiteten und in eine wissenschaftliche Form gebrachten ersten sieben Kapitel, ehe die Zeitschrift Mitte 2017 eingestellt wurde. Für das vorliegende Buch wurden diese Kapitel – wie der Rest des Bands – deutlich überarbeitet und erweitert.

Für ausführliche Gespräche, Vorschläge und schriftliche Hinweise, denen manche Korrektur und Erweiterung folgte, danke ich Reinhard Kacianka (†), Johann Strutz (†), Klaus Schönberger, Harald Krahwinkler, Mario Rausch (alle Klagenfurt am Wörthersee), Ingo Meyer (Bielefeld), Richard Saage (Berlin) sowie Stefan Selbmann vom Narr Francke Attempto Verlag. Großer Dank gilt außerdem Wolfgang Geier (Leipzig), der das Konzept dieses Buches geprägt sowie von Anfang an begleitet und unterstützt hat.

Wo es aufgrund von sprachlicher Präzisierung oder fehlender Übersetzung angebracht scheint, werden fremdsprachige Quellen im Original zitiert, ansonsten folgt eine deutschsprachige Übersetzung.

Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung

Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft?

Die Frage „Nun sag’, wie hast du’s mit der Kulturwissenschaft?“ klingt teils vertraut, geht sie doch auf eine bekannte Szene in Faust. Der Tragödie erster Teil zurück:

„Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub‘, du hältst nicht viel davon.“1

Gretchens Frage an Faust bildet einen Störfaktor inmitten der konstruierten Intimität zwischen einem Gelehrten, der mit dem Teufel paktiert, und einer Jugendlichen, die nicht leicht verführt werden will. Fausts Antwort verweist auf die Schwierigkeit, Anfang und Ende einer Argumentationskette zu benennen, die vor Jahrhunderten entwickelt wurde, und fordert ein Bekenntnis heraus, zu dem man, sollten erhebliche Reflexionsstandards fehlen, nicht ohne Weiteres bewegt wird.2 Ähnlich verhält es sich bei der an den Leser wie an den Autor des vorliegenden Bands gestellten Gretchen-Frage nach dem Verhältnis zur Kulturwissenschaft – vor allem, wenn wir nach den Anfängen, methodischen Grundlagen sowie Quellen und Gegenstandsfeldern fragen.

Kultur ist jene ebenso grundlegende wie umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und seine Welt als solche erfahrbar macht. Es gibt nichts Komplexeres, das der Mensch untersuchen kann. Zugleich gibt es für den methodischen Umgang mit Kultur – und das markiert die Kernkompetenz der Kulturwissenschaft – keine verbindliche disziplinäre Zuschreibung, die eine rasche Selbstklärung garantiert. Wenn wir auf die terminologische Erstnennung im deutschsprachigen Raum rekurrieren wollen, so ist der Befund recht eindeutig: am Ausgang der von dem Historiker Reinhart Koselleck als heuristischen Vorgriff auf das Grundlagenwerk Geschichtliche Grundbegriffe benannten Sattelzeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als nach dem Ende der Aufklärung und der Französischen Revolution ein neues Verhältnis des Menschen zu politischen/ideologischen, religiösen und sozialen Zuordnungen sowie Erfahrungen ausgebildet wurde.3 Der aus Preußen stammende, heute weitgehend unbekannte Politiker und wissenschaftliche Autodidakt Moritz von Lavergne-PeguilhenLavergne-Peguilhen, Moritz von4 veröffentlichte 1838 bis 1841 sein auf drei Bände angelegtes Hauptwerk Grundzüge der Gesellschaftswissenschaft. Darin plante er, die Gesellschaftswissenschaft als universitäres Verbindungsglied zwischen Staatswissenschaft und Nationalökonomie anzulegen. Im zweiten Band Die Kulturgesetze (1841) kam er auf die Kulturwissenschaft zu sprechen, deren Rolle und Bedeutung in der Gesellschaft er kühn und verheißungsvoll wie folgt ausformulierte:

Die Kulturwissenschaft steht in der Mitte zwischen den rein philosophischen und den rein practischen Wissenschaften, […] Abgesehen von der erhöheten Intelligenz, die aus der Beschäftigung mit einer so umfassenden Wissenschaft unausbleiblich hervorgeht, gewährt diese, wie die Gesellschaftswissenschaft überhaupt, zugleich eine klare Anschauung des gesellschaftlichen Gesammtorganismus, sie lehrt das Verhältnis des individuellen Wirkungskreises zu dem der Nation, die Richtung beider kennen, und giebt dadurch die Mittel an die Hand, beide in Einklang ihrem gemeinsamen Ziele entgegen zu führen.5

Lavergne-PeguilhensLavergne-Peguilhen, Moritz von Einschätzung liest sich wie ein curriculares Wunschprospekt: Zwischen philosophischer Theorie und wissenschaftlicher Praxis vermittelnd, sucht den Studierenden nicht nur unweigerlich die erhöhte Intelligenz heim, sobald er sich dem Studium der Kulturwissenschaft hingibt. Vielmehr solle es das studierende Individuum schulen, um über die Vervollkommnung des Menschen zu wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichem Fortschritt beizutragen. Im weiteren Verlauf war Lavergne-Peguilhen darum bemüht, die Erreichung eines kulturellen Idealzustands über einzelne Entwicklungsstufen zu skizzieren.

Schwieriger wird es, wenn wir nach den methodischen Grundlagen und Quellen, nach dem Forschungsprogramm einer Kulturwissenschaft fragen. Zu einer diesbezüglich akademischen Bestimmung setzte der heutzutage fast ebenso wenig bekannte Ethnologe und Archäologe Gustav KlemmKlemm, Gustav an. In den Grundideen zu einer allgemeinen Cultur-Wissenschaft, die er als Abhandlung 1851 der philosophisch-historischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Wien zum Vorlesen geschickt und für den Abdruck bestimmt hatte, skizzierte er in Abgrenzung zur Kulturgeschichte und zur Naturwissenschaft für die Kulturwissenschaft folgenden dreiteiligen Forschungsfokus:6

Die Culturwissenschaft beginnt mit den materiellen Grundlagen des menschlichen Lebens, mit der Darstellung der körperlichen Bedürfnisse, den Mitteln zu deren Befriedigung und den daraus entspringenden Erzeugnissen. Sie stellt sodann die menschlichen Verhältnisse in der Familie und in ihrer Erweiterung zum Staate dar. Der letzte Abschnitt derselben aber hat die Betrachtung der Ergebnisse menschlicher Erforschung und Erfahrung, so wie die geistigen Schöpfungen des Menschen in der Wissenschaft und Kunst zu entwickeln.7

Der im Wiener Sitzungsbericht als Bibliothekar zu Dresden titulierte KlemmKlemm, Gustav versuchte es somit zehn Jahre nach Lavergne-PeguilhenLavergne-Peguilhen, Moritz von mit einer etwas bescheideneren Formulierung, in der von intellektueller Attraktivität und gesellschaftlicher Gesamtgenesung keine Rede mehr war. Kulturwissenschaft zu betreiben, hieß für Klemm, sich den materialen Grundlagen des Menschen zu widmen, den Verhältnissen der Menschen zueinander in Kleingruppen sowie in größeren Verbänden/Gesellschaften Beachtung zu schenken sowie das von Menschen aus allen Zeiten Geschaffene bzw. Produzierte, das nach dieser Formulierung die Gnade Gottes ebenso einschloss wie den Klassenkampf oder ein nach standardisierten Maßstäben geschaffenes Kunstwerk, zu inkludieren. Als Quellen einer solcherart verstandenen Kulturwissenschaft waren „sämmtliche Denkmale menschlicher Thätigkeit“ zu bezeichnen:

[…] alle von den Menschen für seine Nahrung, Kleidung, Wohnung veränderte und bearbeitete Naturstoffe, oder […] Gefässe, Werkzeuge, Maschinen u.s.w. Dann aber sind vornehmlich für die höhern Culturstände die Berichte und Urkunden von Verträgen, Verordnungen, Einrichtungen zu nennen, sowie die Berichte jeglicher Art, die über menschliche Zustände vorhanden sind, nebst den Erzeugnissen der Wissenchaft und Kunst. Diese Denkmale werden aber erst geniessbar, belehrend und beweisend, wenn sie je nach ihrer Entwicklung aus den ersten Anfängen auf einem Puncte vereinigt sind.8

In moderne Termini übertragen, fokussierte KlemmKlemm, Gustav auf Materialität und Überlieferung, auf die materiale und die mentale Dimension von Kultur sowie auf den Gesamtkomplex kollektiver Sinnkonstruktionen, der sich in alltäglichen Handlungsformen ebenso wie in übergreifenden Normenhorizonten widerspiegelt. Vergleichbares findet sich in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Studienprogrammen – so etwa am Institut für Kulturanalyse mit dem Studiengang Angewandte Kulturwissenschaft an der Universität Klagenfurt:

Kulturanalyse: In diesem Schwerpunkt setzen Sie sich mit unterschiedlichen kulturellen Phänomenen auseinander. Unter kulturellen Phänomenen verstehen wir alltägliches Handeln genauso wie Kunst, Musik und Literatur. Sie lernen qualitative, insbesondere ethnographische Methoden (z. B. Interview, teilnehmende Beobachtung, visuelle Methoden) sowie hermeneutisch-interpretative und quantitative Methoden kennen […]. Sie erproben diese methodischen Zugänge an gegenwärtigen sowie historischen Themen.9

Es spricht viel dafür, den Ansatz KlemmsKlemm, Gustav für eine Geschichte der Kulturwissenschaft zu verfolgen, wenngleich eine Spezifizierung notwendig ist, um nicht in den Versuch einer Weltgeschichte abzugleiten, der einer Nabelschau menschlicher Leistungen gliche. Betrachtet man die heute gängigen und zentralen Einführungsbände zum Thema Kulturwissenschaft, so fällt auf, dass es sich dabei überwiegend um gelungene Lehr- bzw. Nachschlagewerke zu den zahlreichen Facetten und Standortbestimmungen des akademischen Fachs handelt. Sie erörtern und diskutieren, wenn die historische Genese der Methodologie bzw. des Untersuchungsgegenstands eruiert wird, nach unterschiedlichen Schwerpunkten Geschichten der Kulturwissenschaft und werden im Folgenden ab Kapitel VIII gebührend zitiert. In der Regel reicht dabei der inhaltliche und zeitliche Fokus aber nicht weiter als bis ins 18. Jahrhundert zurück, da mit diesem Zeitrahmen der Beginn der modernen Kulturtheorien, folglich der Kulturwissenschaft, angesetzt wird. Kurze Verweise auf antike Begriffsmuster bei PlatonPlaton, AristotelesAristoteles oder CiceroCicero, Marcus Tullius runden den Blick ab. Während der Vorzug dieser Einführungsbände in der konzisen Beschreibung von drei Jahrhunderten liegt, wird der Nachteil darin ersichtlich, dass Zeiträume und Phasen von über 2000 Jahren sowie epochenübergreifende kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsperspektiven ausgeklammert und damit unweigerlich den akademischen Nachbardisziplinen (Kunst-)Geschichte, Theologie, Philosophie, Germanistik etc. überlassen werden. Ausnahmen bilden jene Werke, bei denen es sich zumeist um Sammelbände handelt, die einen historischen Beitrag zum (Selbst-)Verständnis der Kulturwissenschaft leisten. Wenngleich es sich dabei um zum Teil disparat verfasste Einzelstudien handelt, die in einem thematisch breit gefächerten Band lose zusammengehalten werden, zielen sie darauf ab, wesentliche Aspekte des Forschungsbereichs Kulturwissenschaft von den Anfängen der Schriftkultur im griechischen Altertum bis in die Gegenwart der Cultural Studies und der deutschsprachigen Kulturwissenschaft(en) sichtbar zu machen. Die Vorzüge beider Ansätze sind schwierig zu vereinen, dennoch soll hier der Versuch aufgegriffen werden.

Das Potenzial zur Originalität des folgenden Versuchs liegt darin, dass die Kulturwissenschaft nicht erst ab dem mehr oder minder bekannten Traditionsbestand aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, sondern in ihrer historischen Genese aus antiker Philosophie wie den späteren Geisteswissenschaften aufgegriffen und als transdisziplinäres Forschungsfeld behandelt wird, das es gilt, vom Gilgamesch-Epos bis zur amerikanischen Kulturpoetik zu bearbeiten. Nach einem Wort von Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller fehlt der Kulturwissenschaft, wie sie im Folgenden dargestellt sowie analysiert werden soll, die „Archäologie“ ihrer eigenen disziplinären Herkunftsgeschichte.10 Verfügt die Kulturwissenschaft über eine solche Erzählung, die von den antiken Anfängen bis in die Gegenwart geschrieben und argumentiert werden kann? Eine derartige konzise und repräsentative Geschichte der Kulturwissenschaft, die einerseits zur Selbstbegründung der disziplinären Identität, andererseits als programmatische Umrisszeichnung gegenüber einem universitär verankerten Fächerspektrum fungiert, ist als Monografie, so Lutz Musner, Gotthart Wunberg und Christina Lutter im Geleitwort zu ihrem Sammelband,11 noch nicht geschrieben worden. Was folgen soll, ist jedoch kein systematischer Anspruch à la Systemtheorie an sich oder gar eine definitorische Bestimmung der Kulturwissenschaft, die ein einheitliches Fachverständnis verlangt. Vielmehr wird über weite Teile ein Dialog mit den benachbarten geisteswissenschaftlichen Fächern geführt, um das komplexe Feld kulturwissenschaftlicher Erkenntnisinteressen und Forschungsperspektiven im Sinne einer methodischen und theoretischen Selbstklärung sowie Standortprofilierung zu erschließen.

Das mag wie ein kühner Ansatz wirken, der zum fröhlichen Eklektizismus einlädt, doch wissen wir spätestens seit Clifford GeertzGeertz, Clifford, dass es nicht nur eine Richtung gibt, die einzuschlagen wäre, sondern sehr viele, zwischen denen man eine Wahl treffen muss.12 Folglich kann der Band nicht anders denn als Überblick angelegt sein und aus Platz- sowie vor allem aus Kompetenzgründen keine erschöpfende Darstellung beanspruchen. Er richtet sich dabei sowohl an Studierende als Orientierungshilfe, um grundlegende Themenbereiche und Fragestellungen der Kulturwissenschaft anzuführen sowie zentrale kulturtheoretische Begrifflichkeiten zu benennen, als auch an Kultur- und Geisteswissenschaftler als Reflexionsangebot. In Anlehnung an KlemmsKlemm, Gustav dreigeteilten Forschungsfokus werden pro Kapitel historische Semantiken (z. B. cultura animi, Tragödie der Kultur), Untersuchungsfelder (z. B. Kultur als Hinweis auf die Pflege und das Gepflegte des Menschen, Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung), Kulturrevolutionen (z. B. karolingische Bildungsreform, industrielle Revolution), kulturkritische Zeitdiagnosen (z. B. Kompensation durch Kunst, Kultur als Protest) sowie ausgewählte Vertreter der Kulturtheorien (z. B. Giambattista VicoVico, Giambattista, Max WeberWeber, Max) in ihre historischen und disziplinären Kontexte eingebettet, um einen fächerübergreifenden Bezugsrahmen herzustellen. Kultur wird demnach sowohl als eigentlicher Untersuchungsgegenstand innerhalb eines spezifischen Themenfeldes als auch als explanative Kategorie verwendet, um im Gefüge geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen, die an der Universität zum Teil seit über 100 Jahren das weite Feld ‚Kultur‘ miteinander konkurrierend wissenschaftlich bearbeiten, auf den gemeinsamen Nenner ‚Kulturwissenschaft‘ zu rekurrieren.13 Persönliche Schwerpunkte, die manche Gemeinplätze behandeln, aber auch Auslassungen bedingen und ausschnitthaft wirken können, sind in einem Überblicksband unvermeidlich, da jegliche Methoden- und Standortwahl nicht nur aus Gründen der Darstellbarkeit ihren eigenwilligen Exklusionscharakter besitzt. Da die Kulturwissenschaft jedoch über keine verbindliche Tradition historischer Textlektüre und damit über keinen Kanon verfügt, dessen Lektüre eine Methodik des Fachs akademisch zwingend voraussetzt, soll dies keinen Makel darstellen.14

Für die Kulturwissenschaft, wie sie im Folgenden vertreten und dargestellt wird, gilt jene unhintergehbare Sinndimension, die uns vor knapp 300 Jahren Giambattista VicoVico, Giambattista in der Dämmerung der historischen Hermeneutik zum Nachlesen und Nachdenken hinterlassen hat:

[…] in solch dichter Nacht voller Finsternis, mit der die erste von uns so weit entfernte Urzeit bedeckt ist, erscheint dieses ewige Licht, das nicht untergeht, folgender Wahrheit, die auf keine Weise in Zweifel gezogen werden kann: daß diese politische Welt [mondo civile] sicherlich von den Menschen gemacht worden ist; deswegen können (denn sie müssen) ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.15

Die ersten vier Kapitel werden sich in unterschiedlichen Perspektiven mit VicosVico, Giambattista angesprochenem Wirkungszusammenhang in der mondo civile zwischen Natur, Kultur und Gesellschaft beschäftigen, ehe ab Kapitel V moderne Ansätze und Kulturtheorien analysiert werden. Im Anschluss daran wird der konkrete Argumentationsstrang zum akademischen Terminus Kulturwissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts eröffnet. Wenngleich somit erst ab Kapitel V die für viele vertrautere Annäherung an das Fach Kulturwissenschaft bis in die Gegenwart erfolgt, dürfen dessen kultur- und wissenschaftshistorische Ursprünge als Vorgeschichte – besser gesagt: als Vorbedingung – nicht übersehen werden.

Kapitel I beginnt folglich bei den Ursprüngen des modernen Menschen. Diese verlaufen innerhalb eines Zeitbereiches, der für Kulturwissenschaftler eher an die Fantasie als an eindeutige Fakten appelliert, sowie entlang einer Quellenlage, die auf Kulturreste angewiesen ist, deren Aussagewert zwischen zäher Hypothesenbildung und vager Nachweisbarkeit pendelt – wohin der Blick heutiger Archäologen und Paläoanthropologen im Wesentlichen gerichtet ist: auf eine Welt, die sicherlich von den Menschen gemacht worden ist. Die vom dritten vorchristlichen Jahrtausend bis in die Zeit des römischen Altertums entstandenen Auffassungen, die Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur, Vorgegebenem und menschlich Gesetztem (Gilgamesch, HesiodHesiod, HomerHomer, PlatonPlaton, AristotelesAristoteles, CiceroCicero, Marcus Tullius, VergilVergil) formulierten, schließen das Kapitel ab.

Die kulturwissenschaftlich-begriffliche Grundlegung ging, so Kapitel II, mit dem Zerfall des römischen Weltreichs zu einem Gutteil verloren und geriet zum überwiegenden Teil in Vergessenheit, ehe sie in einer kurzen, aber transkulturell äußerst fruchtbaren Phase der convivencia aller drei Abrahamitischen Religionen auf der Iberischen Halbinsel und in Süditalien erneuert wurde. Der Versuch des Imperium Romanum, eine transkulturelle Einheit mit Hunderten Sprachen und beinahe ebenso vielen Kulturen/Ethnien auf geopolitischer Basis in Europa durchzusetzen, wurde von den juristisch festgesetzten Stellvertretern Christi auf Erden mit einer deutlichen Akzentverschiebung weitergeführt: verschiedene Herrscher, verschiedene Kulturen/Ethnien, eine Gelehrtensprache, ein Glaube.

Nachdem DanteDante Alighieri Alighieri – als Abschluss von Kapitel II – seiner Gegenwart mit den Stilmitteln hochmittelalterlicher Vorstellungswelten zu neuen (Glaubens-)Horizonten verholfen hatte, griff Francesco PetrarcaPetrarca, Francesco (Kapitel III) auf die griechische und römische Antike zurück, deren Lebensweise und Sprache er, ohne Konkurrenz zur christlichen Leitkultur, aktualisieren wollte. Entgegen der hochmittelalterlichen Ausrichtung, die Schriften der kirchlichen Autoritäten durch Rückgriffe auf AristotelesAristoteles zu vermitteln, begründeten Humanismus und Renaissance des 14. bis 16. Jahrhunderts das moderne Selbstbewusstsein auf der Antikenverehrung, welche sie in unterschiedlicher Funktionalität mit der Konstitution des Menschseins verbanden. Ausgewählte Beispiele aus der Malerei (MasolinoMasolino da Panicale da Panicale, MasaccioMasaccio), der Kunstgeschichtsschreibung (Giorgio VasariVasari, Giorgio) und der Moralphilosophie (Giovanni PicoMirandola, Pico della della Mirandola) entfalten dies.

Die in der Renaissance profilierte Hinwendung zur Welt und zum Menschen wurde im Übergang zum 17. Jahrhundert (Kapitel IV) durch säkularisierende Diskurse erweitert. Die Entdeckung einer neuen Welt ließ Gesellschaften fernab des christlichen Glaubens in das Licht der europäischen Geschichte und kulturellen Normierung eintreten (Christoph KolumbusKolumbus, Christoph, Bartolomé de las Casas). Diese Neuskizzierung des geografischen und kulturellen Weltbildes richtete die Aufmerksamkeit auf das eigenmächtige Handlungsmoment, das Bestehen und Gedeihen von Gesellschaft der freien Konstruktion zu unterwerfen: in Form von Utopien (Thomas MorusMorus, Thomas, Francis BaconBacon, Francis), die eine in sich geschlossene Gruppe mit kontrollierbarer Genese formulierten. Die aufstrebenden Naturwissenschaften lehrten eine neue Auslegung der menschlichen Natur sowie eine neue Sichtweise auf den Lauf der Gestirne (Nikolaus KopernikusKopernikus, Nikolaus, Galileo GalileiGalilei, Galileo). Die Rückbindung letztgültiger Erkenntnisgewissheit auf den Menschen forderte die Bereitschaft zur Konzeption eines innerweltlichen Zukunftsraums und zur Kontingenz der eigenen Kulturwelt (René DescartesDescartes, René, Thomas HobbesHobbes, Thomas, Isaac La PeyrèrePeyrère, Isaac La).

Die historisch-anthropologischen Erstversuche, die im 17. Jahrhundert als Ausfluss aus der Geometrisierung der Natur auf die Kulturwelt des Menschen ausgelegt worden waren, erfuhren im Zeitalter der Aufklärung (Kapitel V) jenen weiterführenden Wandel, der an die Stelle der theologischen Dauerbegründungen epochenübergreifende Zusammenhänge inmitten der Auseinandersetzung mit Kirche und Staat, Monarchie und Despotie setzte. Aus dem Aufschreiben säkularer Geschichte wurde ein Umschreiben durch universalgeschichtliche sowie kulturkomparatistische Zugriffe, die sämtliche Tätigkeitsbereiche des Menschen als Formen ausschlaggebender Selbstermächtigung zwischen Gegenwart und Zukunft einbezogen (Jacques Bénigne BossuetBossuet Jacques, Bénigne, Giambattista VicoVico, Giambattista, VoltaireVoltaire, Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried). Der Erkenntnisgewinn von der Historizität vergangener Lebensbereiche ließ eine normative Kulturentwicklung in den Hintergrund treten, während der Kern eigentlicher Menschwerdung deutlicher denn je mit Kultur in Verbindung gebracht wurde (Johann Christoph AdelungAdelung, Johann Christoph).

Die kultur- und universalgeschichtlichen Grundlagenwerke eröffneten ein breites Feld des sittlichen wie zivilisatorischen Versprechens, das in einer Zukunft als planbare Jetztzeit eingelöst werden sollte. Zugleich erstarkten, wie Kapitel VI zeigt, Zweifel am aufgehobenen Spannungsfeld zwischen Natur- und Kulturzustand, die im Zeitalter der Aufklärung die kulturellen Errungenschaften im Namen und Betätigungsfeld ihrer eigenen Prinzipien kritisch infrage stellten (Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques) oder zur Kompensation anregten (Friedrich SchillerSchiller, Friedrich).

Die Säkularisierungs- sowie Rationalisierungstendenzen der Aufklärungszeit wurden, so führt Kapitel VII aus, im 19. Jahrhundert durch den Aufstieg des Bürgertums auf breitere Bevölkerungsteile ausgeweitet. Infolge des Scheiterns der Französischen Revolution verloren geschichtsphilosophisch begründete Fortschrittsideen ihre Anziehungskraft. Die einsetzende industrielle Revolution schien dagegen einige Versprechen einzulösen, die seit den Utopien und Universalgeschichten des 16. bis 18. Jahrhunderts formuliert worden waren (Gottfried SemperSemper, Gottfried, John RuskinRuskin, John). Während sich Vertreter des süddeutschen Neukantianismus (Heinrich RickertRickert, Heinrich, Wilhelm WindelbandWindelband, Wilhelm) darum bemühten, die methodologischen Anforderungen eines kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldes in deutschsprachiger Tradition gegenüber naturwissenschaftlichen Ausrichtungen (Charles DarwinDarwin, Charles) zu profilieren, wurde der bei RousseauRousseau, Jean-Jacques und SchillerSchiller, Friedrich ebenso prestigeträchtig wie sprachmächtig formulierte Zweifel an der Vernunftorientierung der menschlichen Kulturentwicklung durch die skeptische Kulturphilosophie des 19. Jahrhunderts (Georg SimmelSimmel, Georg) wieder aufgegriffen.

Die bei WindelbandWindelband, Wilhelm und RickertRickert, Heinrich begründeten wissenschaftstheoretischen Konzepte durch die Unterscheidung zwischen der nomothetischen Perspektive der Naturwissenschaften, die Ereignisse und Handlungen durch den Rückgriff auf allgemeine Gesetze erklärt, und der idiografischen Perspektive der Kulturwissenschaft, die auf das Verstehen spezifischer Sinnzusammenhänge abzielt, wurden von Max WeberWeber, Max und Ernst CassirerCassirer, Ernst (Kapitel VIII) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Relativität aller wissenschaftlichen Analysen des Kulturlebens sowie auf die methodische Eigenständigkeit des Gegenstands Kulturwissenschaft als wissenschaftstheoretische Bestimmung ausgelegt. Alle methodologischen Bemühungen verblassten jedoch hinter der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, der zahlreiche Errungenschaften und Folgeerscheinungen des Industriezeitalters in ihren Destruktivkräften pervertierte. Während Wien um 1900 Glanz (Stefan ZweigZweig, Stefan) und Prekariat (Ivan CankarCankar, Ivan, Max WinterWinter, Max) erprobte, gelangten Sigmund FreudFreud, Sigmund und Albert EinsteinEinstein, Albert zu nüchternen Einschätzungen über das Los einer destruktiven (Kultur-)Gemeinschaft.

Als im ausgehenden 19. Jahrhundert innerhalb etablierter Disziplinen (Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaften) eine Verschiebung des Gegenstandsinteresses auf kulturelle Phänomene erfolgt war, kam es, darauf verweist Kapitel IX, zu institutionellen Neuausrichtungen und einer Ausweitung des Kulturbegriffes – so etwa in Nordamerika mit der Ethnologie (Clifford GeertzGeertz, Clifford), in Frankreich mit der Mentalitätsforschung (Lucien FebvreFebvre, Lucien, Marc BlochBloch, Marc) oder in Großbritannien am Centre for contemporary cultural studies (Raymond WilliamsWilliams, Raymond, Richard HoggartHoggart, Richard und Stuart HallHall, Stuart). Der politisch desaströsen Wucht der 1930er- und 40er-Jahre konnte man mit medialen Praktiken des performativen Widerstands (Federico García LorcaLorca, Federico García), mit einer späten Nachbearbeitung in Form der Analyse des Geschehenen zur Verhütung für die Zukunft (Max HorkheimerHorkheimer, Max, Theodor W. AdornoAdorno, Theodor W.) oder in Form der aufgebrochenen Verdrängung zwischen kollektiver Identität und nationaler Erinnerungspolitik (Thomas BernhardBernhard, Thomas) begegnen.

Das Kapitel Ausblick hebt aus der Fülle gegenwärtiger Ansätze mit der Kulturpoetik (Stephen GreenblattGreenblatt, Stephen) und dem Konzept des Schwellenraums (Homi BhabhaBhabha, Homi) in Verbindung mit Maurits EschersEscher, Maurits Cornelis unmöglicher Figur des Treppenhauses zwei aktuelle bzw. für die Gegenwart international anschlussfähige Perspektiven der Kulturwissenschaft heraus. Den Abschluss bildet ein Blick auf das Studium und das kulturwissenschaftliche Arbeiten selbst: die Infragestellung der Skepsis gegenüber der Praxis- und Berufsorientierung der Kulturwissenschaft. Dabei wird erörtert, ob eine historisch argumentierende Kulturwissenschaft kritische Einsichten in aktuelle Problemfelder aufzeigen und zu einer aufschlussreichen Analyse des Kulturlebens beitragen kann.

Abb. 1:

Computergenerierte Wortwolke der Duden-Redaktion zum Begriff „Kultur“

Kultur entsteht als Ausdruck des Menschen im historischen wie im tagtäglichen Prozess und ist zugleich Reflexion des Menschen über diesen Prozess, womit sie stets einen unerwarteten Schritt weiter zu sein scheint, als der kulturwissenschaftliche Theoretiker dies erwartet – nach Hartmut Böhme Objektebene und Metaebene in einem, innerhalb derer sich die Kulturwissenschaft bewegt und zugleich reflexiv selbst bestimmt. Wie bereits die von der Duden-Redaktion computergenerierte Wortwolke zum deutschsprachigen Begriff „Kultur“ (Abb. 1), welche die relative Häufigkeit des Begriffs im Zusammenhang mit Kontextwörtern angibt, zeigt, kann man das Monopol der legitimen Auslegung von Kultur bzw. Kulturwissenschaft als Krux der Selbstthematisierung nicht beanspruchen, ohne in gravierende Erklärungsnöte zu geraten, warum welcher Kontext in welchem Umfang benutzt, aber ein anderer weniger deutlich beschrieben oder gar ausgespart wurde etc.

Der Hang zur Kontroverse liegt wohl in der definitorischen Offenheit des Begriffs Kultur begründet, der konkurrierende Entwürfe von Eingrenzungen oder Schwerpunkten geradezu herausfordert. Der Begriff und der methodische Umgang mit Kulturtheorien kennt keine verbindliche disziplinäre Zuschreibung. Keine neue Forschungsrichtung, kein neuer kulturwissenschaftlicher Ansatz, kein neuer Einführungsband, auch nicht dieser, hat den Goldstandard zur Erkundung und Beschreibung der sozialen Welt, unserer Kulturwelt, sehr wohl aber eine Verpflichtung zur Transdisziplinarität, die als Forschungsvorgabe Rücksicht auf die Eigenarten des zu untersuchenden Gegenstands nimmt. Wir sollten diesbezüglich fachliche und disziplinäre Engführungen aussparen und nach bestem philosophischen Vorbild anerkennen, dass wir alle in einer langen Reihe der Wissenschaftsgeschichte gleichsam auf den Schultern vieler Vordenker stehen, die sich verbinden lassen und uns einen weiten wissenschaftstheoretischen und forschungspraktischen Blick gewähren, um der Komplexität des Gegenstands Kultur weitere Rezeptionsvorgänge zu bieten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger soll hier geboten werden: entscheidende historische Semantiken, Untersuchungsfelder, Kulturrevolutionen, kulturkritische Zeitdiagnosen und Vertreter der Kulturtheorien als im Folgenden zusammenhängende, über 3000 Jahre umspannende Gesamtschau, welche nicht die, sondern eine Geschichte der Kulturwissenschaft liefert, um sich eingedenk der Methodendiskussionen und der Standortbestimmung der Gretchen-Frage unseres Fachs zu stellen.

I Ecce homo

a) Gilgamesch und die Anfänge

Die Kulturwissenschaft ist ein vergleichsweise junges Universitätsfach, doch setzen die Ursprünge ihrer Forschungstradition am Beginn der Menschwerdung an. Die Anfänge des reflektierenden Existierens streifen am Horizont der Kulturbedingtheit des Menschen. Dieser gehört zu den Primaten und ist aus ihnen hervorgegangen – zugleich ist er von Natur aus ein Kulturwesen.1 Die Rekonstruktion der Anfänge dieser Kultur ist eine Geschichte der Formen des menschlichen Verstandes und seiner handelnden Erscheinungen in den beiden wesentlichsten Stützen (prä-)historischer Nachvollziehbarkeit: Materialität und Überlieferung. Da das menschliche Maß der Vorstellungskraft für einen Zeitraum von Millionen von Jahren aber die Grenzen der Referenzialität erreicht, interessieren hier weniger die konstruierten Stadien und Übergänge der frühen Hominiden bis zum Homo sapiens, sondern ausgewählte Kulturformen und Sinnkonzepte, welche das ursprünglich willkürliche Ankommen in der Wildnis des Seins mit der Frage konfrontierten, wer der Mensch ist und wie er leben soll.2 Was wir von der Entwicklung dieses Verhältnisses des Menschen zum eigenen Sein wissen, erschließt sich uns entweder aus seinen sterblichen Überresten oder aus den Elementen der materialen Kultur – beides ist zwar weltweit, aber lediglich in Bruchstücken vorhanden, die keine detaillierten Rückschlüsse auf die Struktur und Komplexität früher Gesellschaften, die man als Entwicklungslinie deuten könnte, zulassen.3 Bestenfalls kann auf eine Bearbeitung sowie Optimierung der unmittelbaren Umgebung geschlossen werden. Diese ältesten menschlichen Spuren erinnern dabei an die durch Samuel Johnson überlieferte Definition Benjamin FranklinsFranklin, Benjamin – der Mensch als „a tool-making animal“4 – und deuten auf Kulturgüter zur Existenzsicherung innerhalb der Anfordernisse der segmentierten Gesellschaften als Jäger-und-Sammler-Kulturen.

Da sich der Mensch durch seine natürlichen Anlagen trotz Gemeinschaftsstruktur in der Umwelt nur mäßig behaupten konnte, war er auf materiale Kompensationen angewiesen, die er selbst erfand: Technik (τέχνη). Der zentrale Unterschied zu den Menschenaffen, die den Gebrauch von Technik ebenso kannten, liegt in der Qualität des Planungsvermögens begründet.5 Werkzeuge, Waffen und der zunächst wahrscheinlich zufällige, später gezielte Gebrauch des Feuers ermöglichten Ersatz, Entlastung und Überbietung menschlicher Fertigkeiten,6 um die Vorgaben der Natur besser und anders zu nutzen, als es die biologische Ausstattung des Menschen erlaubt hätte. Die erzwungene Flexibilität barg eine gehaltvolle Horizonterweiterung in sich: Vom Feuersteinsplitter über den Städtebau bis zum Smartphone begann sich zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten das Maß einer Instrumentalisierung der Natur zu entwickeln, das den Menschen in die planbare Geschichte seiner selbst eintreten ließ – aus Naturräumen wurden Kulturräume.

Während der Gebrauch von Werkzeug und Feuer die Existenzsicherung verbürgte, bildeten sich mit den komplexer werdenden Gemeinschaftsstrukturen zwischen Ackerbau und Viehzucht erweiterte Formen von Technik, die durch ihren potenziellen Selbstbezug als Kulturtechniken der Selbstthematisierung und der Identitätsbildung fungierten:7 komplexe Sprache, Ich-Bewusstsein und Religiosität. Gegenüber der zunächst mimetischen Mitteilung über Gebärden und der einfachen Ausdrucksweise durch spontane Artikulationen ließ die Weiterentwicklung der Sprache dem Menschen die Wahrnehmung seiner Welt benennen. Dadurch wurde eine geistige Auseinandersetzung forciert, die sich in zweierlei Hinsicht fundamental vom Verhalten des Tiers unterscheidet: Einerseits wurde durch die Möglichkeit, Vergangenes mitzuteilen und über Zukünftiges zu diskutieren, das Haften am anschaulich Gegenwärtigen überwunden, andererseits gestattete Sprache die Manipulation der Wahrnehmung. Sprecher wie Hörer verständigen sich über eine gemeinsame Sache und sind nicht länger der Reaktion auf die Umwelt ausgeliefert. Sie referieren vielmehr auf einzelne Gegenstände und Gefühlslagen, die in Raum und Zeit identifiziert werden.8 Eine derart konzentrierte Kommunikation und Interaktion mit anderen ermöglicht eine Spiegelfunktion (reflexio) im Umgang mit uns selbst und führt gleichsam zur Herausbildung von kultureller Identität, welche die Teilhabe an einer Gruppe sichert.9 Ob dadurch von anthropomorphen Gottheiten, von Warentausch oder von Gewohnheitsrecht erzählt wird, das zur Voraussetzung für die dauerhafte Bildung von Sippen anzusehen ist – die Funktion bürgt für anthropologische Signifikanz: ohne Sprache kein Mensch.

Damit einher gehen vermutlich erste Formen praktizierter Religiosität, obgleich der Ursprung religiöser Empfindungen älter ist und im Unklaren liegt. Anzeichen für die Beschäftigung mit einem Sinngehalt, der über den rein praktischen Problemhorizont des Überlebens weit hinausgeht, lassen sich Zehntausende von Jahren zurückverfolgen. Sie finden sich einerseits in den Höhlenmalereien und vergleichbaren symbolischen Darstellungen wie in der sogenannten Höhle der Hände (Cueva de las manos)10 im Südwesten Argentiniens (Abb. 2), deren Abdrücke zum Teil bis zu 9000 Jahre alt sind, andererseits in körperbezogenen Objektivationen nichtsprachlicher Art wie Ritual, Tätowierung und Schmuck, die mit dem Gebrauch von Werkzeug nichts zu tun haben, vielmehr auf ein Verhältnis zur Natur hindeuten, das einer magischen Funktionalität entspricht und ein wesentliches Kommunikationsmedium darstellt.11

Abb. 2:

Cueva de las manos (Höhle der Hände) in Argentinien (ca. 7000 v. Chr.)

Alle uns bekannten archaischen Kulturen haben sich mit der dezidiert menschlichen Kontingenzerfahrung, mit dem Tod des (Mit-)Menschen, auseinandergesetzt. Menschen werden zu Zeugen anderer Menschen, wenn deren Gegenwart aufgehoben wurde, ohne ein untrügliches Wissen darüber zu haben, wohin sie entschwunden sind und was zurückgelassen wurde. Die ältesten verlässlich datierbaren Gräber, welche die Seele als das Lebensende überdauernden Wesenskern andeuten, verweisen auf den wichtigsten und zugleich beunruhigendsten Dialog des Menschen, den er in den Nischen der psychischen Nichtfassbarkeit je führte und je führen wird: zwischen dem Nichts und der Ewigkeit.12 Reste von Tempelanlagen oder eines als sakral empfundenen Geländes ergänzen die bewussten Bestattungen und weisen als (steinerne) Manifeste der Erinnerung auf einen religiösen Bezugspunkt hin. Nach ihrem indoeuropäischen Wortursprung – *temn-, τέμενος, templum13 – zeigen sie einen aus der Landschaft ausgesonderten Bereich aus dem antiken Alltag an, der als heiliger Raum zur kultischen Selbstvergewisserung verwendet wurde. Doch den Beginn dieser unterschiedlichen Formen von religiösen Merkmalen verstehen zu wollen, heißt, Handlungen der Menschen in ihrem denkgeschichtlichen Horizont zu erfassen. Publius StatiusStatius, Publius führt in seiner Thebais (ca. 92 n. Chr.) eine gängige Erklärungsformel an, die zum Topos der bekannten Kulturgeschichten in der frühen Neuzeit wurde: „primus in orbe deos fecit timor – Furcht schuf zuerst auf der Welt die Götter.“14 Naturereignisse wie Erdbeben, Blitz und Donner seien als göttliche Machterweise betrachtet worden, vor deren Gewalt und Unberechenbarkeit man sich gefürchtet habe. So sei es die autosuggestiv anregende Furcht vor diesen unerklärlichen Naturschauspielen gewesen, welche die Religion geschaffen habe. Zwar lässt sich damit das religiöse Gefühl verstandesgemäß nicht erschließen, doch expandiert nach Statius der Verlauf von Kultur mit dieser sinnlichen Erfahrung, die dem Menschen die Kräfte der Naturgewalten angstbehaftet ahnen, aber im Zeichen von Strafe und Sühne moralisierend deuten lässt.

Wenn Sprache neben Religion für die kulturelle Entwicklung des Menschen maßgeblich wird, setzt die Schrift den abschließenden Schritt für unser Verständnis früher Kulturen. Gesprochenes in Zeichen aufzubereiten und diese als Bilder bzw. Begriffe mitzuteilen, kann seit dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend nachgewiesen werden. An den Stätten der alten Donauzivilisation setzte dieser frühe Gebrauch von Schrift ein, um Kultobjekte wie Tonstatuetten mit rituellen Formeln zu beschriften oder mit Weihinschriften zu versehen.15 Im Gegensatz zur Assoziierung des Schriftgebrauchs mit religiösen Praktiken dürften am Beginn des dritten Jahrtausends v. Chr. bei den Sumerern im Handelsraum Ägyptens und Mesopotamiens ansteigende Handelstätigkeiten und die Zunahme städtischer Strukturen, die mit administrativen und wirtschaftlichen Drehpunkten erste Formen von Staatlichkeit erkennen ließen, den Anstoß zur Schaffung eines Schriftsystems gegeben haben.16 Die anfänglich als reine Bilderschrift (piktografisch) verwendete Keilschrift in Mesopotamien und die Hieroglyphenschrift in Ägypten wurden auf Tontafeln, später auf Papyrusrollen verewigt und nur von wenigen ausgewählten Schreibern im Bereich der Tempelwirtschaft beherrscht.

Die mediale Revolution durch die Schrift ist kaum zu überschätzen:17 Zeichen entwickelten sich zum materialen Korrelat der Sprache, um die Welt zu erfassen. Was Menschen sagten und dachten, war nicht länger an Schall und Rauch als ephemeren Sprechakt gebunden, sondern wurde dauerhaft konserviert. Damit konnten Informationen zu Wirtschaft und Gesellschaft, zu Königen und Göttern unabhängig von Raum und Zeit gespeichert sowie weitergegeben werden. Zunächst als Mittel der politischen Kontrolle eingesetzt, um Güterlisten und Steuerabgaben zu regeln, erweiterte sich die Anwendungsmöglichkeit zu einem Florilegium von Königsinschriften und einzelnen Gebeten/Beschwörungsformeln bis zu den heute maßgebenden Formen der Wissensordnung: Tabelle und Diagramm sowie Archiv und Bibliothek. Damit schließt sich der Kreis des sprachförmigen Zugangs zu jener Form der Modellbildung, die den Weltzugang in der Kulturwissenschaft vermittelt. Am vorläufigen Höhepunkt des Übergangs von Piktogrammen über Silbenformen zu einem vollständigen Alphabet stehen neben Handelsaufzeichnungen Rechtskodizes, die den geregelten Ablauf menschlichen Miteinanders per definitionem festzulegen beginnen, frühe literarische Artikulationen sowie die bekannteste Erzählung des Alten Orients, auf die alle kommenden (Altes Testament, Ilias, Odyssee, Theogonie, …) referieren werden: das Gilgamesch-Epos.

b)Mythen und wahre Erzählungen

Das Gilgamesch-Epos weist eine mündlich wie schriftlich ebenso komplexe wie weit zurückreichende Überlieferungsgeschichte auf: in mehreren Sprachen vom 21. bis zum 6. vorchristlichen Jahrhundert und von Südbabylonien bis Kleinasien. Daraus lässt sich beispielhaft schlussfolgern, dass in verschiedenen archaischen Kulturen prägende Wahrnehmungen von natürlichen Erscheinungen sowie Fragen nach dem Ursprung der Welt und nach dem verborgenen Sinnkonzept menschlicher Kulturgüter Denkbilder hervorgerufen haben, die als Mythen neue Vorstellungswelten eröffneten.1 Zwischen Göttergenealogie und Weltentstehungsgeschichte vermittelten Mythen differenzierte Lebensentwürfe mit zum Teil heroischer Überhöhung. Sie markierten die Leitlinien der Enkulturation und prägten die Einzigartigkeit der Völker durch deren eigene, genuine Gründungserzählungen. Im Gilgamesch-Epos ist es das von den Göttern aus Lehm geschaffene, menschenähnliche Wesen Enkidu, das zunächst in der Wildnis mit den Tieren zusammenlebt, ehe es, aus Gründen späterer narrativer Nützlichkeit für den Fortgang der Heldentaten Gilgameschs, Kultivierung durch Sesshaftwerdung in einem Hirtenlager erfährt. Ecce homo:

Sie setzten ihm Speise vor, er sah genau hin, […] Nicht weiß Enkidu Brot zu essen, Rauschtrank zu trinken ward er nicht gelehrt! […] „Iß das Brot, Enkidu, das gehört zum Leben! Trink den Rauschtrank, wie’s Brauch ist im Lande!“ […] Mit Wasser wusch er ab seinen haarigen Leib: Er salbte sich mit Öl und wurde dadurch ein Mensch. Ein Gewand zog er an, wie die Männer ist er nun.2

So führen uns Mythen zu den Quellen antiker Denktradition sowie zu den Motiven ritueller/sittlicher Handlungen zurück und ermöglichen eine Erinnerung an die Genese der Grundbegriffe europäischer Geistesgeschichte. In Dichtungen übertragen, verdeutlichen diese frühen Zeugnisse des menschlichen Geistes die Artikulation des Verhältnisses zur Natur und zugleich zur verewigten Vergewisserung menschlicher Herkunft und Identität. Im Gilgamesch-Epos sind es die Kulturprodukte Brot und Bier, welche die Teilhabe an einer sesshaften Gruppe sichern und damit die früheste uns bekannte Handlungsanleitung für das Gelingen der Menschwerdung anzeigen. Kultur stiftet Gemeinschaft und geteilte Lebenspraxis, sie kennzeichnet die daran Teilhabenden über Sprache, Glaube, Sitten, Traditionen sowie Normen. Somit wird beides, der Zugang des Einzelnen zur Natur und der Ausdruck des Verhältnisses zur Gruppe, zu mehr als nur einer Handhabe des mitteilenden Ausdrucks: zu einem Konstitutiv der Menschwerdung.

Im antiken Griechenland wurden diese Dichtungen durch mündliche Aufführungen im Rahmen einer festlichen Rezitationskultur vermittelt.3 Wir können heute davon ausgehen, dass Rhapsoden, Kitharoden und Auloden als fahrende Sänger/Dichter die uns bekannten epischen und volkstümlichen Dichtungen, inszeniert mit Phorminx, Kithara oder Aulos, einem interessierten Publikum bei diversen Polisfesten in Gesängen und Tänzen vortrugen. Die griechische Aufführungspraxis dieser Zeit war überwiegend mündlich. Die Dramatiker lehrten ihren Schauspielern die Rollen von Angesicht zu Angesicht mit der richtigen Intonation, Bewegung und Musik. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Akteure jemals Skripten oder schriftliche Notizen erhielten.4 Literatur war dort, wo der Dichter sich aufhielt und sie als Sänger darbot – nicht litterae im schriftlichen Sinn, sondern eine sich stets durch den Dichter aktualisierende Aufführung an einem bestimmten Ort.5

Von phönizischen Städten übernahmen die Griechen im neunten Jahrhundert v. Chr. die Konsonantenschrift und erweiterten sie zur Vollschrift mit einem Alphabet aus Konsonanten und Selbstlauten. Wenngleich die Dominanz der oral-auditiven Kultur bis ins 5. Jahrhundert erhalten blieb, versprach die schriftliche Übermittlung von mythischem Wissen um eine vergangene Welt, über die Erinnerung hinaus neue Zeiträume zu erschließen und Generationen überdauern zu können. Des Weiteren erlaubte die Umstellung von der Keil- und Hieroglyphenschrift auf die Vollschrift, die heutigen Menschen mit griechischer/lateinischer Sprachstruktur vertrauter erscheint, eine Form der abstrakten zeichenhaften Repräsentation des Lautkörpers, welche die überwiegend bildliche Repräsentation nicht erreichte.6 Obwohl die Motivation der Griechen für die Übernahme und Weiterentwicklung der Schrift ebenso durch die Erfordernisse des Handels begründet wurde, finden wir bei HomerHomer und HesiodHesiod bereits ein Jahrhundert später die für die europäische Kultur grundlegenden Mythen: Ilias und Odyssee sowie Theogonie und Werke und Tage.

Während die Existenz HomersHomer in seinen ihm zugeschriebenen Texten hinter traditionellen politischen Eliten und Gottheiten mythisch verankert bleibt, gilt HesiodHesiod, dessen Lebensdaten (740–670 v. Chr.) einigermaßen gesichert nachweisbar sind, als der erste in den Vordergrund gerückte, didaktische Erzähler der europäischen Geschichte.7 Bereits am Beginn seiner Theogonie erfahren wir Grundlegendes über das Verständnis epischer Dichtung:

So aber sprachen die Göttinnen zuerst zu mir, die olympischen Musen, Töchter des aigisführenden Zeus: „[…] vielen Trug verstehen wir zu sagen, als wäre es Wahrheit, doch können wir, wenn wir es wollen, auch Wahrheit verkünden.“ So sprachen die beredten Töchter des großen Zeus […] und hauchten mir göttlichen Sang ein, damit ich Künftiges und Vergangenes rühme.8

Die Stelle verdeutlicht auf zweierlei Weise, worauf es in den mündlichen Überlieferungen der großen Mythen von Gilgamesch bis zum Alten Testament ankam. Erstens wird die mediale Zugänglichkeit des Wissens über Anfang und Zukunft der Welt von jenen höheren Kräften bereitgestellt,9 die Töchter nicht nur des Zeus, sondern auch der Mnemosyne, der Erinnerung, sind. HomersHomerOdyssee beginnt mit: „Sage mir, Muse“10 – in Werke und Tage heißt es am Beginn: „Musen […] kündet von Zeus.“11 Sie hauchen dem entlaufenen Schafhirten HesiodHesiod Pneuma ein, damit er über die Entstehung der Welt und das alltägliche Leben in ihr zwischen Vergangenem und Künftigem berichte. Die Stimme des Sängers konturiert den Horizont des dichterisch Sagbaren über Natur und Kultur, Götter und Menschen. Bei HomerHomer ist dies stärker auf die politischen Eliten ausgerichtet, bei HesiodHesiod mit Blick auf das alltägliche Leben.12 Bei beiden stehen die Musen als Töchter der Erinnerung – oder profaner: bei Polisfesten als Menschen in ihrer künstlerischen Darbietung, die an einen Gott adressiert ist13 – am Anfang aller Kultur. Enkulturation durchläuft von den frühesten Erzählungen älterer Völker bis zu den Flötenspielen der Griechen einen langen Weg und ist ohne Erinnerung zwischen Tradition und Gedächtnis nicht möglich.

Zweitens erlaubt die Stelle Rückschlüsse auf den enigmatischen Wahrheitsgehalt der Mitteilung.14 Das waren nicht bloß Geschichten von erfundenen Göttern, mediterranen Königreichen und kriegerischen Auseinandersetzungen, um tradierte Berichte realer Ereignisse der Menschheitsgeschichte auszuschmücken. Der Mythos repräsentierte die menschliche Form der Daseinsbewältigung.15 Die Stimmigkeit des Handlungsgefüges übermittelte durch den poetischen Wirklichkeitsbezug die Evidenz des Geschehens. Die spätere Verschriftlichung mag vieles verändert haben,16 doch die von diesen Ursprungsdichtungen ausgehende Präsenz ist von größerer Bedeutung als die Quellenfrage. Es war AristotelesAristoteles, der im Gegensatz zur Ablehnung der Dichtung bei PlatonPlaton und zur Mythenkritik der Vorsokratiker in seiner Poetik knapp vier Jahrhunderte nach HesiodHesiod die bis in die jüngste Vergangenheit geltenden Grundregeln zur Dramengestaltung niederschrieb (Einheit von Zeit und Handlung). AristotelesAristoteles stammte aus der nordgriechischen Stadt Stageira und verbrachte einen Gutteil seines Lebens in Athen, einem der kulturellen Zentren der griechischen Stadtstaaten – zunächst als Schüler PlatonsPlaton an der Akademie, später als Lehrender am Lyzeum. Im Gegensatz zu PlatonPlaton war AristotelesAristoteles ein Universalgelehrter, der sich mit allen Wissensbereichen beschäftigte und Arbeiten auf vielen Gebieten hinterließ. Seine Strukturierung menschlichen Wissens wurde grundlegend für das europäische Denken im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In seiner Poetik beschäftigte er sich mit dem Wesen von Dichtung an sich sowie mit dem Handlungsaufbau und der sprachlichen Form von Epik und Tragödie. Kunst war nach AristotelesAristoteles eine Frage der Nachahmung der Wirklichkeit menschlichen Lebens und menschlicher Handlungen.17 Dabei verwies er mit Vehemenz auf das metaphysisch Wahre der Mythen:

Was die Erfordernisse der Dichtung betrifft, so verdient das Unmögliche, das glaubwürdig ist, den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist. […] es ist ja wahrscheinlich, daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt.18

Die großen Werke der Poeten müssen nicht wie moralisierende Modelle mit ethischem Fingerzeig, sondern nach der Kohärenz ihrer Handlungen verstanden werden. Die Faktizität des Geschehens wird durch das Medium der Überlieferung stilisiert und konzentriert, bleibt in ihrer Grundbeschaffenheit aber unberührt. Es kommt der archaischen Dichtung nicht darauf an, lediglich Merkmale der Wirklichkeit nachzubilden, sondern strukturell in sich verständliche Handlungsabläufe und Charaktere darzustellen.19 Die poetische Sprache stellt als Quelle der Mythen somit den Zugang zu den Anfangsgründen der kulturellen Menschheitsentwicklung dar. Gleichsam ist mit der Übernahme der Schrift der Übergang von der archaischen Erklärung der Welt (μῦθος) zu ihrer vernunftmäßigen Interpretation (λόγος) als letztes Prinzip der rationalen Ordnung des Universums vorgezeichnet: In kultischer Erinnerung an ein mythisches Zeitalter beginnt mit der Durchsetzung der Buch- und Wissenschaftskultur die koordinierte Sammlung, Reflexion, Organisation und Verwaltung von literarischen und wissenschaftlichen Texten – so etwa im Mouseion von Alexandria mit seiner berühmten Bibliothek.20

c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei

Die antiken Schöpfungsmythen und Göttergeschichten repräsentieren Erzählungen über eine vergangene Zeit, in der der Mensch daran glaubte, die Bedingungen seiner Existenz nicht in der eigenen Hand zu haben.1 Sie berichten, wie und woraus der Mensch erschaffen wurde, welche Chancen der Entwicklung ihm entlang des noch unbesetzten Horizonts der Möglichkeiten zuteilwurden und an welchen Herausforderungen er scheiterte. Zugleich spiegelten sie den Wunsch nach einem menschlichen Autonomiegewinn gegenüber Natur und Umwelt wider, der in Hybris und Frevel übergehen konnte. Jene archaischen Momente des menschlichen Selbstbewusstseins, die von einer tiefen Zwiespältigkeit gegenüber diesem Kulturprozess gekennzeichnet sind, liefern der Prometheus-Mythos und der biblische Sündenfall.2

HesiodHesiod und AischylosAischylos schrieben aufschlussreiche Varianten über die religiöse und kulturelle Stellung des Prometheus. In der Theogonie gehört die Erzählung zum Höhepunkt, bei AischylosAischylos ist von der Trilogie nur Der gefesselte Prometheus (ca. 470 v. Chr.) erhalten geblieben, der HesiodsHesiod Darstellung aufgreift. Bei beiden verbürgt Prometheus den Menschen die Unverwehrbarkeit ihrer Kultur, indem er ihnen durch den göttlichen Feuerraub zum dauerhaft kulturellen Entwachsensein aus dem schutzbedürftigen Naturzustand verhilft.3 Pathetisch heißt es bei AischylosAischylos:

Sterblichen erwirkt’ ich Gaben, dafür trag ich solches Joch. Im hohlen Stengel trug ich fort des Feuers Quell […] Und manche Künste werden lernen sie davon.4

Die einzelnen Varianten von HesiodHesiod bis AischylosAischylos handeln von Schuld und List, Unsterblichen und Menschen. Ihnen gemein ist, dass Prometheus zum Kulturstifter der Menschen wird, indem er sie Künste – im weitesten Sinn: τέχνη – lehrt. Gleichsam werden er und die Menschheit für den Feuerraub bestraft, wenn der Preis zu Fortschritt und Wissen den Zorn des obersten Gottes einschließt. Zeus selbst zeigt die kulturelle Relevanz von Abweichung und Devianz an anderer Stelle auf: mit dem Raub der phönizischen Königstochter Europa, deren sodomitischer Spross Minos zum Begründer der kretisch-minoischen und damit europäischen Kultur wird.

Im Alten Testament wird das Schema der prometheischen Auflehnung ähnlich behandelt, wenngleich in dieser Erzählung den Menschen kein unsterblicher Feuerbringer zur Seite steht. Der Sündenfall berichtet von einem mythischen Urzustand im Garten5 von Eden, einem für die ersten Menschen abgesonderten Bereich, in dem ein gehorsamer Wille vorausgesetzt wird, der eine Hinterfragung nicht kennt. Wissen, Erinnerung und Technik sind jedoch Kulturmerkmale, die eine Restitution des Willens fordern und das Wunschland bearbeiten. Der Fall des Menschen wird zum Gründungsmythos, als sich Eva entgegen dem Verbot die Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse einverleibt und Adam davon kosten lässt.6

Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt! Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war.7

Die Vertreibung aus dem Paradies steht einerseits im Zusammenhang mit den grundlegenden Bedingungen und Herausforderungen dauerhaft menschlichen Zusammenlebens: Wir erkennen und definieren, welche Handlungen erwünscht (gut), welche unerwünscht (böse) sind und stellen uns damit Fragen nach moralischem Handeln in einer Gemeinschaft, ersetzen Gehorsam durch Bewusstsein sowie sorgenfreies Leben durch Arbeit und bedrohende Sterblichkeit. Andererseits unterstreichen die alttestamentarischen Erzählungen im Gegensatz zu den von Leidenschaften, Wettspielen und Abenteuern geprägten griechischen Epen einen Anspruch auf religiös-geschichtliche Wahrheit,8 wenngleich deren strukturelle Logik wie bei den griechischen Erzählungen dem bestimmenden Charakteristikum mythologischen Denkens folgt: es werden Identitäten behauptet. Der poetische Wirklichkeitsbezug hinterfragt nicht, warum Prometheus den Menschen hilft und dadurch riskiert, was ihn nicht interessieren muss, warum Eva und Adam sich versündigen, obschon das Paradies keine Grundlagen bot, die als Bedingungen der Möglichkeit eines Problems hätten gedacht werden können.9 In beiden Erzählungen erscheint das Charakteristische des Menschen, seine Kultur, als Strafe, wenngleich mit den Diebstählen als Auflehnung die menschliche Selbstsetzung im Kosmos begründet wird. Prometheus und Eva werden zu archaischen Heroen unserer Kulturmerkmale.

Zwischen HesiodHesiod und AristotelesAristoteles liegt eine Zeitspanne, in der das politische und geistige Leben in den griechischen Poleis eine rege Entfaltung erreichte. Während die meisten der heutigen Weltreligionen entstanden, wurde die Welt des Mittelmeerraumes mit Athen als Zentrum von Wissenschaften, Künsten und gesellschaftspolitischen Vorstellungen geprägt, die ein soziokulturell bestimmtes Selbstbild – Hellenentum als Kultur – fundierten.10 Die prunkvollen Feste, die wie die Großen Dionysien seit der zweiten Hälfte des 6. vorchristlichen Jahrhunderts Göttern und Heroen gewidmet waren, konnten durch Kultlieder und Dichtungen einen Bezugspunkt zwischen Mythos und Gegenwart herstellen und damit die kulturelle sowie politisch-militärische Bedeutung Athens akzentuieren. So konnte in der Tragödie Die Perser (472 v. Chr.) des AischylosAischylos der Ausgang der historischen Seeschlacht von Salamis angeführt werden, um den Sieg einer der führenden Mächte Griechenlands als Identitätsfindung der jungen athenischen Demokratie zu präsentieren.11 Analog dazu verwies das Nichtgriechentum auf die beanspruchte Eigenheit, später Überlegenheit griechischer Wissenschaften, Künste und Lebensweisen in Form der Ausgrenzung als Kulturgefälle. Die griechischen Ansichten und Erkenntnisse über Kultur verbanden das Fremdbild mit Barbarei. So heißt es im Proömium der Historien (ca. 430 v. Chr.) von HerodotHerodot:

Was Herodotos von Halikarnassos erkundiget, das hat er hier aufgezeichnet, auf daß nicht mit der Zeit verlösche, was […] die Hellenen nicht minder als Barbaren vollbracht, vor allem aber, warum sie wider einander Krieg geführet.12

HerodotsHerodot Hauptbezugspunkt bildet die Auseinandersetzung mit den Persern, die er als Barbaren subsumierte und ethnozentrisch abwertete.13 Die zur vielfältigen Abgrenzung einsetzbare Sprachfigur des Barbaren blieb bis in die frühe Neuzeit erhalten und beanspruchte mit dem Aufkommen des Imperium Romanum sowie später im Christentum diverse Fremdbilder als Heterostereotype (Nichtrömer, Heiden).

Der Begriff ‚Kultur‘ selbst ist jüngeren Ursprungs. Er überträgt die griechische Auffassung von παιδεία – in PlatonsPlatonPoliteia im Sinne aktiver geistiger Selbstformung: „das Herausführen der Seele aus einer Art nächtlichem in den wirklichen Tag“14 – und enthält als Lehnwort die lateinischen Wurzeln von colere, cultura sowie cultus, die einen komplexen Bedeutungsreichtum entfalten. Colere kann von pflegen und bewohnen bis hin zu anbeten und beschützen vieles bedeuten, das wohl ursprünglich im Zusammenhang mit Feldarbeit und Pflege des natürlichen Wachstums ausgesprochen wurde. Von colere führt der Weg über recolere (wiederherstellen) und colonus (Ansiedler) zu cultura (Bearbeitung, Anbau, Pflege) und cultus (Gewohnheit, Kult). Damit wird die folgenreiche Dialektik zwischen dem Gemachten und dem Natürlichen, zwischen dem, was wir mit und in der Welt tun, sowie dem, was die Welt mit uns tut,15 aufgeworfen. Entsprechend den griechischen Vorbildern verfassten Gelehrte im römischen Staatswesen der letzten vor- und ersten nachchristlichen Jahrhunderte kulturbegriffliche Grundlagenwerke, in denen Kultur auf alle menschlichen Handlungen verweist, welche das Vorgefundene der Natur, das den Menschen selbst nicht ausschließt, pflegen, erhalten oder verbessern.16

Eine der ältesten und bekanntesten historischen Semantiken der Kulturwissenschaft findet sich bei Marcus Tullius CiceroCicero, Marcus Tullius,17 dessen Bildungsgang entschieden durch die Rezeption von griechischer Kunst, Literatur sowie Philosophie geprägt war und in einer Synthese mit römischer Gerichtspraxis Entfaltung fand. Im Gegensatz zu AristotelesAristoteles, der durch seine Lehre zwar in der Öffentlichkeit gestanden, aber keine politischen Ämter bekleidet hatte, durchlief CiceroCicero, Marcus Tullius, nachdem er sich als Anwalt in diversen Prozessen bereits einen Namen gemacht hatte, die römische Ämterlaufbahn vom Finanz- und Verwaltungsbeamten (Quaestur) bis zum höchsten Staatsamt (Konsulat). CicerosCicero, Marcus Tullius machtpolitischer Ehrgeiz, mit einer stabilen Grundordnung des Staates egoistischen Einzelinteressen entgegenzuwirken, kollidierte mehrfach mit innerrömischen Agitationen und dem politisch wenig zimperlichen Tagesgeschäft einer Weltmacht vor dem Ende ihrer republikanischen Ausprägung. Den Gegenpol zum Forum Romanum bildete das Tusculanum, eine von mehreren Villen CicerosCicero, Marcus Tullius, die südöstlich von Rom lag, wo er, umgeben von Büchern und Kunstwerken, philosophische Studien betreiben und rhetorische Anleihen für die politische Bühne entwickeln konnte, auf die er je nach Status quo regelmäßig zurückkehrte. Durch seine Übertragung griechischer Philosophie in die römisch-lateinische Gedankenwelt wurde er zu einem der maßgebenden Vermittler für die vielen klerikalen Gelehrten aus der Frühzeit des Christentums, die PlatonPlaton oder AristotelesAristoteles nicht im Original lesen konnten oder dies, wie AugustinusAugustinus von Hippo von Hippo, ignorierten. So schrieb CiceroCicero, Marcus Tullius 45 v. Chr. in seinem philosophischen Refugium unter anderem die nach aristotelischem Vorbild aufgebauten Tusculanae disputationes in fünf Büchern. Im zweiten Buch treffen wir auf die klassische Metapher der (Geistes-)Kultivierung,18 die in diesem Zusammenhang verdient, ausführlich zitiert zu werden:

[…] ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sine doctrina animus; ita est utraque res sinealtera debilis. cultura autem animi philosophia est;

[…] wie ein Acker, mag er auch noch so fruchtbar sein, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Unterweisung; beides ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele aber ist die Philosophie.19

CicerosCicero, Marcus Tullius von griechisch-römischer Akkulturation geprägter Vergleich zwischen der Pflege der Landwirtschaft und der Pflege der Seele greift die antike Differenzierung zwischen Natur und Kultur auf, erscheint aber nur auf den ersten Blick profan. In vielen Kulturen war die Aussaat nicht nur mit Wissen um Zeit und Wachstum, sondern stets mit dem Kult verbunden, dass man mit dem Säen der KörnerKörner, Christian Gottfried zugleich einen Teil den Göttern opferte, um den Rhythmus der Natur mit religiösem Glauben zu verbinden. Mit cultura fructuosus und cultura animi erscheint Kultur als Inbegriff aller Arbeits- und Lebensformen des Menschen, zugleich werden erstmals kategoriale Unterscheidungen von materieller und geistiger Kultur, von Rohstoff und Selbstkultivierung eingeführt. VergilVergil schaffte 29 v. Chr. mit seinem landwirtschaftlichen Lehrgedicht Georgica weitere kulturbegriffliche Grundlagen: colere und cultum, cultura agri und cultura animi führen die Zusammenhänge von Natur und Kultur, Mensch und Gesellschaft fort. VergilsVergil Lob auf das Landleben verbindet Mythen und poetische Reflexionen mit landwirtschaftlichen Themen. Der Hinweis auf die Pflege und das Gepflegte des Menschen als bewusster Weg des guten Lebens und der Selbstformung baut, wie bei CiceroCicero, Marcus Tullius, auf dem griechischen παιδεία