Geschichte des Christentums IV,1 - Hans-Martin Kirn - E-Book

Geschichte des Christentums IV,1 E-Book

Hans-Martin Kirn

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Beschreibung

A complex process of transformation creating the breakthrough into the modern age, with effects that are still formative today, took place in the history of the Western church in the seventeenth and eighteenth centuries. The most important semantic elements in it, which gradually separate out into the Age of Denominations, Pietism and Enlightenment, describe three forms of Christian life and thought that overlap in many ways and only produce a sufficiently nuanced overall picture of early modern church history when viewed as forming a complete whole. This first sub-volume discusses the development of a denominationally plural Christianity in Europe in the Age of Denominations.

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Theologische Wissenschaft Sammelwerk für Studium und Beruf

Herausgegeben von

Traugott JähnichenAdolf Martin RitterUdo RüterswördenUlrich SchwabLoren T. Stuckenbruck

Hans-Martin Kirn

Geschichte des Christentums IV,1

Konfessionelles Zeitalter

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031034-6

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-031035-3

epub: ISBN 978-3-17-031036-0

mobi: ISBN 978-3-17-031037-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

In der abendländischen Kirchengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts vollzog sich ein vielschichtiger, zur Neuzeit durchbrechender und deshalb in seinen Folgen bis heute prägend gebliebener Umformungsprozess. Die wichtigsten Sinneinheiten, die dabei als Konfessionelles Zeitalter, Pietismus und Aufklärung auseinandertreten, bezeichnen drei christliche Lebens- und Denkformen, die einander vielfältig überlagern und erst in der Zusammenschau ein zureichend differenziertes Gesamtbild der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte ergeben. Dieser erste Teilband behandelt die Entwicklungen eines konfessionell pluralen Christentums in Europa im Konfessionellen Zeitalter.

Prof. Dr. Albrecht Beutel, Universität Münster. Prof. Dr. Hans-Martin Kirn, Protestantische Theologische Universität Amsterdam - Groningen /NL

Inhalt

Vorwort

Konfessionelles Zeitalter

Begriff und Bedeutung

Zur Forschungsgeschichte

1  Konfessionslandschaften und Konflikte

1.1  Mittel-, Ost- und Westeuropa

1.2  Nordeuropa und die Baltischen Länder

1.3  Südeuropa

1.4  Europäische Kolonisierung und Immigration: Amerika, Asien und Afrika

2  Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

2.1  Politische Herrschaft

2.2  Ständegesellschaft

2.3  Weltwirtschaft und Sklavenhandel

2.4  Bildung und Wissenschaft

2.5  Kommunikation

3  Konfessionskulturen und -gesellschaften zwischen Uniformierung und Pluralisierung

3.1  Hexenverfolgungen

3.2  Disziplinierung

3.3  Identitätsverpflichtung und Koexistenz

3.4  Konfessionstheologien und allgemeine Wissenschaftsentwicklung

3.5  Volksfrömmigkeit

3.6  Konfessionsmigration und Konversion

3.7  Europa- und Toleranzdiskurse

3.8  Internationale Beziehungspflege. Dynastische Heiratspolitik

4  Luthertum

4.1  Kirche und Staat. Kirchliche Ämter und Institutionen

4.2  Kirchliches Leben und religiöse Praxis

4.3  Theologie als Wissenschaft. Positionen und Konflikte

4.4  Irenik und Kirchenunion

4.5  »Übergangstheologie«

4.6  Exkurs: Orthodoxe Judenmission

4.7  Reformbestrebungen und -bewegungen: J.V. Andreae und die Rosenkreuzer, Arndtianismus und Weltmission

4.8  Kulturelle Praxis

5  Reformiertentum

5.1  Kirche und Staat. Kirchliche Ämter und Institutionen

5.2  Kirchliches Leben und religiöse Praxis

5.3  Theologie als Wissenschaft. Positionen und Konflikte

5.4  Exkurs: Die Niederländische reformierte Kirche in den Kolonien

5.5  Übergänge zur Frühaufklärung

5.6  Irenik und Kirchenunion

5.7  Reformbestrebungen und -bewegungen: »Nadere Reformatie«, Labadismus, »Weltreformation«

5.8  Kulturelle Praxis

6  Church of England

6.1  Staatskirche. Puritanische Revolution und Restauration

6.2  Episkopalismus. Kirchliche Richtungen

6.3  Kirchliches Leben und religiöse Praxis

6.4  Theologie als Wissenschaft. Positionen und Konflikte

6.5  Reformbestrebungen und -bewegungen: Puritanismus und Methodismus

6.6  Nonkonformismus (Dissentertum)

7  Römischer Katholizismus

7.1  Kirche und Staat. Papsttum und nachtridentinische Kirche

7.2  Kirchliches Leben und religiöse Praxis

7.3  Ordensgründungen und -reformen

7.4  Theologie als Wissenschaft. Positionen und Konflikte

7.5  Weltmission

7.6  Oppositionelle Reformbestrebungen und -bewegungen: Jansenismus und Quietismus

7.7  Kulturelle Praxis

8  Religiöser Nonkonformismus

8.1  Alternative Grundkräfte: Mystischer Spiritualismus und Böhmismus

8.2  Radikale Arndtianer, Böhmisten, Chiliasten und Kabbalisten

8.3  Täuferische Gemeinschaften: Mennoniten und Hutterische Brüder (Hutterer)

8.4  Waldenser, Böhmische Brüder, Schwenckfelder, Quäker

8.5  Sozinianer

9  Judentum

Ortsregister

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Der erste Teilband der »Geschichte des Christentums IV« nimmt die durch G. Seebaß im dritten Band eingeführten Themen von Konfessionalisierung bzw. Konfessionellem Zeitalter (Abschn. III) auf und führt sie mit eigenen Akzentuierungen weiter. Die Darstellung findet ihre Fortsetzung im zweiten Teilband zu Pietismus und Aufklärung (IV.2). Dabei geht es nicht um eine strenge Folge epochaler Einheiten, sondern um kirchen- und christentumsgeschichtlich relevante Sinneinheiten, d. h. um in sich plurale Lebens- und Denkwelten des 17. und 18. Jahrhunderts, die in vielfältiger Wechselwirkung miteinander standen und nur in der Zusammenschau ein Gesamtbild des frühneuzeitlichen Christentums auf dem Weg in die Moderne ergeben. Der Schwerpunkt liegt auf dem Alten Reich, doch in europäischer Weite. Auch die Geschichte des Ostkirchentums und die des Judentums kommen zur Sprache. Der Beitrag von A.M. Ritter zu den orthodoxen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert findet sich im zweiten Teilband.

Nachdrücklich empfohlen wird das begleitende Studium der Texte in der Reihe »Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen« (KTGQ), auf die im laufenden Text hingewiesen wird. Die weiteren knappen Quellenverweise informieren in der Regel über Erstausgaben, die in dieser oder anderer (digitaler) Form zusammen mit der Sekundärliteratur Vertiefungen erleichtern sollen.

Unser Dank gilt den (Mit-)Herausgebern der Reihe »Theologischen Wissenschaft« und dem Herausgeber der Teilbände zur Geschichte des Christentums (17.–19. Jahrhundert), Herrn Prof. Dr. A. Beutel, sowie dem Lektorat des Kohlhammer-Verlags. Die Zusammenarbeit mit Herrn J. Schneider, der das Projekt in seiner Anfangsphase begleitete, und den Herren Dr. S. Weigert und D. Wünsch in der Abschlussrunde war stets konstruktiv und vertrauensvoll. Herrn Wünsch sei ausdrücklich für seine wertvollen Anmerkungen und seine technische Hilfestellung gedankt.

Groningen/Neckargemünd, im August 2017

Hans-Martin Kirn

Adolf Martin Ritter

Konfessionelles Zeitalter

Begriff und Bedeutung

Mit dem Begriff »konfessionelles Zeitalter« wird die nachreformatorische Epoche in der Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit bezeichnet, in welcher die Konfessionskulturen römisch-katholischer, lutherischer, calvinistisch-reformierter und frühnational-englischer (anglikanischer) Gestalt als miteinander konkurrierende, aber auch vielfach ineinander verwobene Größen zu dominanten Kräften der gesellschaftlichen Entwicklung wurden. Als Eckdaten des konfessionellen Zeitalters werden in mitteleuropäischer Perspektive meist der Augsburger Religionsfriede 1555 und das Ende des Dreißigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Frieden 1648 genannt, doch sind dies nur ungefähre Hinweise auf eine Kernzeit, die mit »weichen«, je nach konfessions- und länderspezifischer Perspektive unterschiedlich akzentuierbaren Übergängen zu versehen ist.

Die vorliegende Darstellung schließt so weit wie möglich an G. Seebaß’ ›Geschichte des Christentums III‹ (III. Konfessionelles Zeitalter) an, greift aber einzelne Themen nochmals auf, wo dies sinnvoll erscheint.

Kirchen- und theologiegeschichtlich spricht vieles für eine Ausdehnung der Epoche des konfessionellen Zeitalters bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein. Erst danach gewannen Pietismus und Aufklärung zunehmend an Einfluss. Ebenso wichtig ist die Einsicht in die sachliche innere Verschränkung der religiös-kulturellen Prozesse konfessioneller, pietistischer und aufklärerischer Identitätsfindung, die sich nicht rein chronologisch ordnen lassen. Was aus der Perspektive der jeweils dominanten Kräfte verkürzt als Abfolge von Konfessionellem Zeitalter, Pietismus und Aufklärung erscheint, soll in Wahrheit unterschiedliche Denktraditionen und Deutungshorizonte von Gott, Welt und Mensch auseinanderhalten und in Beziehung zueinander setzen. Nur so lässt sich jene Dynamik verstehen, welche die Transformation des frühneuzeitlichen Christentums in die Moderne vorantrieb.

Die Gliederungseinheit »konfessionelles Zeitalter« überschneidet sich teilweise mit herkömmlichen Konzepten wie »Reformation und Gegenreformation« (bzw. »katholischer Reform«), »Zeitalter der Glaubenskämpfe«, »Zeitalter der Glaubensspaltung«, dem »Barock« sowie dem inzwischen allgemein akzeptierten und umfassend gebrauchten Terminus der »Frühen Neuzeit« für die Epoche zwischen Spätmittelalter und Moderne.

Das konfessionelle Zeitalter wurde nach einer breit getragenen Überzeugung wesentlich durch den Prozess der sog. Konfessionalisierung bestimmt. Dies historiographische Paradigma war anfangs stark etatistisch geprägt, hat sich aber inzwischen so geweitet, dass nicht nur Akteure »von oben«, sondern auch solche »von unten« angemessen berücksichtigt werden. Konfessionalisierung in diesem Sinne meint die auf unterschiedlichen Ebenen angestrebte und teilweise erfolgreich durchgesetzte Ausbildung distinkter Konfessionskulturen in Gesellschaften, in denen die Konfession zu einer prägenden Kraft religiöser und religiös motivierter Praxis und Reflexion wurde (»Konfessionskulturen in Konfessionsgesellschaften«).

Die in den Konfessionskulturen im Interesse deutlicher Markierung von Differenz ausgebildete exklusive Identität musste sich im Spannungsfeld interner und externer Gegenkräfte jeweils neu behaupten und definieren. So setzten die Traditionen des (Spät-)Humanismus Kräfte frei, die sich der strikten Konfessionalisierung aller Lebensbereiche widersetzten, wie umgekehrt die philologischen und pädagogischen Impulse des europäischen Humanismus die Ausgestaltung der Konfessionskulturen dauerhaft mitbestimmten. Der (Spät-)Humanismus blieb in Teilen eine die Konfessionsgrenzen transzendierende kritische Größe, auch wenn eine klare Abgrenzung als »dritte Kraft« zwischen den Großkirchen oder gar als »dritte [nichtkirchliche oder gar nichtchristliche] Konfession« (F. Heer) unmöglich erscheint.

Der Prozess der Konfessionalisierung war eng mit anderen fundamentalen frühneuzeitlichen Vorgängen verwoben, so mit der frühmodernen Staatsbildung, der zunehmenden Zentralisierung, Bürokratisierung und Professionalisierung obrigkeitlicher Aktivitäten, der verstärkten Reglementierung und Disziplinierung der Untertanen zur Formung einer gesellschaftlichen Einheit und der Förderung frühkapitalistischer ökonomischer Strukturen sowie der fortgesetzten Pluralisierung christlicher Glaubens- und Lebenswelten im weiteren Gefolge der Reformation. Auch wenn somit die Konfessionalisierung nicht die einzige treibende Kraft der Entwicklung von Konfessionskulturen in Konfessionsgesellschaften war, übte sie doch auf diese einen starken Einfluss aus. Ein bedeutsames Element im Spannungsfeld von konfessioneller Uniformierung und Pluralisierung blieb daher auch die Frage von religiösen Toleranz und Repression im Umgang mit anderskonfessionellen und nonkonformistischen christlichen Minoritäten sowie mit dem Judentum.

Die folgende Überblicksdarstellung mit Schwerpunktsetzungen im Alten Reich nimmt zunächst die konfessionellen Entwicklungen auf der Ebene der europäischen Länder und Territorien (Konfessionslandschaften), die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und markante, konfessionell unterschiedlich stark geprägte Themenfelder wie Hexenverfolgungen, obrigkeitliche Disziplinierungsmaßnahmen, Theologien und Wissenschaftsentwicklung, Volksfrömmigkeit und Migration in den Blick. Sodann widmet sie sich den einzelnen Konfessionen. Leitend sind dabei das Verhältnis von Kirche und Staat, die kirchlichen Institutionen und Ämter, die Frömmigkeitspraxis und -literatur, die wissenschaftliche Theologie und die intra- wie interkonfessionellen Auseinandersetzungen und Reformbestrebungen. Weitere Felder kultureller, konfessionell mitgeprägter Praxis wie Dichtung und Bildende Kunst werden eher knapp behandelt. Des weiteren kommen der religiöse Nonkonformismus und das Judentum zur Sprache.

Zur Forschungsgeschichte

Das konfessionelle Zeitalter wurde in der älteren Forschung hauptsächlich in seiner theologischen Gestalt lutherischer und reformierter Orthodoxie thematisiert (hier wie in den folgenden Überblicken zur Forschungsgeschichte liegt der Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Protestantismus). Das Spektrum der Interpretation bewegte sich dabei – je nach länder- und konfessionsspezifischen Interessen – zwischen entgegengesetzten Polen: einerseits betonte man die bleibende Bedeutung der Orthodoxie als legitimer Fortentwicklung und Vollendung der Reformation, andererseits sah man, vor allem auf Seiten der pietistischen und aufklärerischen Historiographie, die Orthodoxie als Rückschritt gegenüber dem reformatorischen Aufbruch.

Neue historiographische Anstöße gingen im frühen 19. Jahrhundert von August Neander aus, der von Johann Gottfried Herders und Friedrich Schleiermachers Geschichtsauffassung inspiriert war. Seine erweckliche »Herzens-Theologie« lenkte das Interesse auf die frömmigkeitsgeschichtliche Erforschung von Einzelbiographien, in denen sich die epochenübergreifend wirksamen Gegensätze von Glaube und Unglaube bzw. Zweifel studieren ließen. Neanders am (frommen) Individuum orientierter Ansatz wirkte weiter bei Karl August von Hase, August Tholuck und Richard Rothe.

Einen sowohl die individualisierende wie die pragmatische Sichtweise überbietenden Weg historisch-kritischer Geschichtsforschung wies Ferdinand Christian Baur mit seinem von Friedrich Schleiermacher und Georg Wilhelm Friedrich Hegel befruchteten Gedanken organischer historischer Entwicklung in einem universell-objektiven Sinn.

Die Reformation blieb für Baur die eigentliche epochale Wende von der Welt des Mittelalters hin zu einer höheren Realisierung der christlichen »Idee« von Kirche. Hier wurzelten ihm zufolge die in der Folgezeit wirksamen tragenden protestantischen Prinzipien, die »Freiheit des Subjekts« und die »Autonomie des Staats«. Andere namhafte Theologen des 19. Jahrhunderts wie der von Immanuel Kant, G.W.F. Hegel und F. Schleiermacher beeinflusste Isaak August Dorner und der Lutherforscher Julius Köstlin würdigten die Orthodoxie als legitime, wenngleich defizitäre »scholastische« Fortsetzung der Reformation, ohne freilich der Aufklärung eine besondere Bedeutung zuzumessen.

Im breiteren Spektrum des (neu-)lutherischen Konfessionalismus etablierte sich mit dem Fortschreiten historischer Forschung das Interesse an der geschichtlichen Entwicklung des orthodoxen Lehr- und Kirchenbegriffs, eingebunden in Versuche zur moderaten zeitgemäßen Fortbildung einzelner Dogmen wie in der von Johann Christian Konrad von Hofmann ausgehenden Erlanger theologischen Schule (Gottfried Thomasius). Im strengen Neuluthertum betonte man die Einheit und Normativität des orthodoxen Bekenntnisses und seiner dogmatischen Grundlagen, auch wenn man – wie etwa Theodor Kliefoth – die ganze Geschichte der Kirche jener Zeit erforscht sehen wollte.

Ähnliche antimodern angelegte Forschungsstrategien zur Legitimierung der jeweils eigenen »Orthodoxie« fanden sich auf reformierter Seite im sog. Neocalvinismus in den Niederlanden, der die normative Bedeutung von Schrift und Bekenntnis in einer vom Staat »freien« Kirche einforderte (Abraham Kuyper, Herman Bavinck). Die Orthodoxie des 17. Jahrhundert bekam als »protestantische Scholastik« eine zentrale Stellung als Vollgestalt der Reformation. Für die hier skizzierten Linien lassen sich auch Analogien in den anderen Konfessionen finden. So gingen im 19. Jahrhundert von Seiten der Jesuiten und des sog. Ultramontanismus Impulse zur Erforschung der sog. Neuscholastik in antiliberaler Absicht aus.

Für die konfessionelle Dogmengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und ihren harmonisierenden Blick auf die orthodoxen Theologien charakteristisch waren die dogmatischen Quellenauszüge nach der Ordnung einzelner Loci (Heinrich Schmid, Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, zuerst 1843, und ihr Gegenstück von Heinrich Heppe, Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, zuerst 1861). Diese Werke bereicherten nicht nur die detailliertere Kenntnisnahme orthodoxen Denkens, sondern inspirierten auch die dogmatische Arbeit über die eigenen Kreise hinaus. – Eigene Beiträge zur lehrmäßigen und kirchenrechtlichen Erforschung der Orthodoxie leisteten die im weiteren Umfeld der kirchlichen Unionsbemühungen im 19. Jahrhundert angestellten vergleichenden Untersuchungen zu lutherischer und reformierter Entwicklung auf dem Gebiet der Lehre (»komparative Dogmatik«) und der kirchlichen Verfassung. Hierzu zählen die wegweisenden Arbeiten des seit 1834 in Bern wirkenden Baur-Schülers Matthias Schneckenburger, der die Differenzen auf der Ebene des religiösen Subjekts und seiner Gestimmtheit fand und dazu neben gelehrten Texten auch Katechismen und Gebetbücher als Quellenmaterial heranzog. Für die reformierte Seite sei hier auf die Schriften Alexander Schweizers und die von Karl Bernhard Hundeshagen hingewiesen. Auch die umfängliche ›Dogmengeschichte des Protestantismus‹ von Wilhelm Gaß, die mit der historischen Rechtfertigung der Union diente, knüpfte bei Schneckenburger und Schweizer an, um den »geistigen Parallelismus in der Entwicklung der [protestantischen] Confessionen« (Gaß, Dogmengeschichte, Bd. 1 (1854), XI), soweit vorhanden, darzustellen. Hilfreich war auch seine Beobachtung vom Einfluss der katholischen jesuitischen Scholastik (Francisco Suárez) auf die protestantische Orthodoxie.

Zur Festigung eines negativen Bildes von der historischen Orthodoxie trugen insbesondere Albrecht Ritschl und seine Schule bei.

Ritschl erneuerte die These von der Orthodoxie als Rückfall in die katholische Scholastik bzw. Metaphysik und deren spekulatives »Räsonieren«. Das systematische Ordnungsdenken als solches wusste er zu würdigen. Diese Linie setzte sich in der Ritschl-Schule, so bei Adolf von Harnack und Karl Müller, in variierter Form fort. Das Interesse galt einer nichtspekulativen Offenbarungstheologie, die das reformatorische Christentum hauptsächlich vom jungen Luther verkörpert sah. Auf Seiten der »positiven« Theologie konservativen Zuschnitts versuchte der national-völkisch ausgerichtete Reinhold Seeberg mit seinem ›Lehrbuch der Dogmengeschichte‹ ein geschichtliches Verständnis der Typen des religiösen und kirchlichen Lebens im Sinne einer Morphologie von Religion und Kirchentum zu befördern.

Folgenreiche Anregungen zum Verständnis des konfessionellen Zeitalters jenseits partikularkirchlicher historiographischer Interessen gingen von Ernst Troeltsch aus, der in religions- und kulturgeschichtlicher Perspektive dieser Epoche des protestantischen Christentums in europäischer Weite eine bestimmende Funktion im Übergang von der römisch-katholischen Einheitskultur des Mittelalters zur Neuzeit der pluralen »modernen Welt« attestierte.

Troeltsch widersprach sowohl der Ansicht, die Orthodoxie sei ein Rückfall in die (römisch-katholische) Scholastik, wie der These, deren Fortentwicklung zu einer protestantischen »Glaubensmetaphysik« sei noch für die Gegenwart relevant. Zwar lagen für Troeltsch die Anfänge der neuzeitlichen Moderne mit ihrer autonom-rationalen Signatur vorwiegend in Aufklärung und Pietismus, doch dies bedeutete keine Abwertung der vorausgehenden Epochen, im Gegenteil: Gerade die von Troeltsch »konfessionelles Zeitalter« (oder »konfessionelle Periode«) genannte Epoche offenbarte die dem Protestantismus von der Reformation mitgegebene Kraft zur Fortentwicklung und Transformation des Eigenen in Wechselwirkung mit den jeweiligen kulturellen Kräften der Zeit. Altprotestantismus und altprotestantische Theologie wurden als spezifische Gestalt christlicher Theologie gewürdigt. Ihre dogmatische Leistung bestand im grundsätzlichen Zusammenhalt von allgemeiner und religiöser Bildung sowie einer gleichzeitig »dualistischen« (wohl im Sinne von Troeltsch besser: dialektischen) Verhältnisbestimmung von weltlicher Wissenschaft (»Gesetz« in Gestalt der Vernunft) und biblischer Offenbarung (»Evangelium«). Das altprotestantische oder konfessionelle Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts erschien dabei als reformatorisch umgeformte, aber in wesentlichen Teilen die mittelalterliche Einheitskultur fortsetzende epochale Größe. Diese endete mit den Religionskriegen auf dem Kontinent und in England. Ihr folgte im 18. und 19. Jahrhundert, erwachsend aus Aufklärung und Pietismus, die Epoche des Neuprotestantismus bzw. des modernen Protestantismus. Nicht die dominanten reformatorischen und orthodoxen Bewegungen, sondern Renaissance-Humanismus und (radikalreformatorischer) Spiritualismus wiesen demnach auf die Neuzeit voraus. Troeltsch bestritt somit nicht die These von der inneren Einheit von Reformation und Orthodoxie, wohl aber die Ansicht, Pietismus und Aufklärung seien nur vorübergehende Episoden, welche die bleibende Bedeutung der reformatorischen Anfänge verstellten. Weder sollte wie bei Ferdinand Christian Baur und der Tübinger Schule bis hin zu Isaak August Dorner der »Altprotestantismus« gegenüber der Reformation unterschätzt, noch dessen mittelalterliche Signatur und sein Gegensatz zur modernen Welt wie bei Ritschl und in der Ritschl-Schule aus einseitig lutherischer Perspektive nivelliert werden.

Von kirchengeschichtlicher Seite bereitete Karl Holl im Zeichen der »Lutherrenaissance« des frühen 20. Jahrhunderts in Abgrenzung von Troeltsch einer neuen Würdigung der Orthodoxie als lebendiger Frömmigkeitsbewegung mit beachtlichem Reformpotential den Weg. Die Denkansätze wurden in der Holl-Schule aufgenommen, so durch Hans Leube, Heinrich Bornkamm und Hanns Rückert.

Vor allem Leube bemühte sich, mehr noch als Holl, um eine grundlegend positive Würdigung der Orthodoxie, was seinen Ausdruck in der Profilierung der sog. Reformorthodoxie und deren Bedeutung als Vorläufer des lutherischen Pietismus innerhalb der Orthodoxie fand. Holls Nachfolger in Halle, der Kirchenhistoriker Erich Seeberg, sollte die Fixierung auf Luther als Zentrum deutscher Frömmigkeitsgeschichte fortführen und nationalkirchlichen wie nationalsozialistischen Erwartungen anpassen. – Zur Vertiefung des bei Tholuck im erweckungstheologischen Kontext angelegten frömmigkeitsgeschichtlichen Ansatzes trug neben A. Ritschl aus lutherischer Perspektive Paul Althaus d.Ä. mit seinen ›Forschungen zur Geschichte der evangelischen Gebetsliteratur‹ (1927, repr. 1966) bei. Sowohl bei Ritschl als auch bei Althaus d.Ä. wurde die im Luthertum seit der Mitte des 16. Jahrhunderts reichlich rezipierte altkirchliche, mittelalterliche und zeitgenössische katholische meditative Gebets- und Frömmigkeitsliteratur als dem Luthertum fremde Mystik kritisiert. Fortschritte brachte erst Winfried Zeller Anfang der 1970er Jahre. Er konstatierte das Aufkommen einer »neuen Frömmigkeit« religiöser Innerlichkeit im Luthertum um 1700, repräsentiert durch Philipp Nicolai, Johann Arndt und Valerius Herberger. Sie galt ihm als Antwort auf eine durch Veräußerlichung der reformatorischen Botschaft und Verflachung des Bußernstes zustande gekommenen Frömmigkeitskrise der Zeit. Anders als bei A. Ritschl und P. Althaus d.Ä. wurde hier eine positive Wertung der Mystik im Luthertum vorgenommen. – Zu den Systematikern, die sich intensiv um ein besseres Verständnis der lutherischen Orthodoxie in Aufnahme des Tholuck’schen Erbes bemühten, gehört der Martin Kähler-Schüler Hans Emil Weber. Seine Hauptaufgabe sah er darin, die harte Abwertung der Orthodoxie bei Ritschl und seinen Schülern zu überwinden und die wesentliche Kontinuität mit dem dogmatischen Denken der Reformation aufzuzeigen.

In den Bahnen von A. Ritschl setzte Emanuel Hirsch die Kritik am lehrmäßigen Denken alter und neuer Orthodoxien fort. In aller Deutlichkeit markierte Hirsch die epochale »Umformungskrise«, welche der Protestantismus auf dem Weg in die Neuzeit und im Abschied vom supranaturalistischen Weltbild der alten Orthodoxie durchschritt.

Neue Perspektiven in der Weiterentwicklung der Erlanger Theologie nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte Werner Elert mit seiner von Oswald Spenglers Konzept einer Kulturmorphologie inspirierten und durch die Auseinandersetzung mit Troeltsch bestimmten Arbeit zur ›Morphologie des Luthertums‹ (2 Bde, 1931–1932, verb. Nachdr. 1952–1953; 3. Aufl. 1965). Sie dokumentierte die hohe theologische wie soziale und kulturelle Bedeutung der Orthodoxie in der engen Verflechtung von Kirche und Staat.

Ebenfalls in Auseinandersetzung mit Troeltsch formulierte der Kirchenhistoriker Heinrich Hermelink aus lutherischer Perspektive die Bedeutung von Reformation, Gegenreformation und Orthodoxie zwischen Mittelalter und Neuzeit im namhaften ›Handbuch für Kirchengeschichte‹ (1911). In der zweiten Auflage des Handbuchs von 1931 übernahm Wilhelm Maurer die Darstellung von Gegenreformation und Orthodoxie. Die (deutsche) Orthodoxie erschien hier zwar im Gegenüber zu den »großen und farbensatten Schauspielen« des interkonfessionellen Ringens im westlichen Europa als »unfruchtbar« und »kleinkreisig«, doch auch sie galt es als wesentliches Element für die Epoche zwischen 1560 und 1689 wahrzunehmen und jenseits dogmatischer oder polemischer Interessen als positiven Beitrag zum »Heraufkommen des klassischen Zeitalters des Geistes und der Persönlichkeit« in Pietismus und Aufklärung zu würdigen (2. Aufl. 1931, 238f.).

Die seit Leopold von Ranke zunehmend für die Kirchengeschichtsforschung fruchtbar gemachten allgemeinhistorischen Methoden und Grundsätze sowie die Einbettung der Kirchen in die politische Geschichte Europas waren zunächst vor allem der Reformationsgeschichtsschreibung zugutegekommen (Lutherjubiläum 1883), beeinflussten aber auf Dauer auch das Bild der späteren Epochen, etwa im Blick auf den Dreißigjährigen Krieg. Ähnliches gilt für die zunächst auf die Renaissance gerichteten sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen. Die nähere Profilierung von katholischer Reform und Gegenreformation, ausgehend von der allgemeinen Geschichtsschreibung, beförderte ebenfalls das Interesse am konfessionellen Zeitalter.

Nachhaltig auf die Erforschung des Zusammenhangs von Konfession und Ökonomie wirkte Max Webers klassischer Aufsatz ›Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus‹ (2 Teile, 1904–1905, überarb. Fassung 1920). Er präsentierte den Protestantismus und dabei insbesondere den Calvinismus aufgrund seines rationalen, auf »innerweltliche Askese« angelegten Berufsethos als entscheidenden Katalysator (nicht: Ursache) für die Entwicklung des modernen, von rationaler Arbeitsorganisation und rastloser Arbeit zum Zwecke der Kapitalakkumulation beherrschten Kapitalismus. Weber setzte sich darin kritisch mit Werner Sombart auseinander, der von einem größeren Einfluss des spätmittelalterlichen Katholizismus und einer für spezifisch jüdisch ausgegebenen Erwerbsethik überzeugt war. Webers These entfachte unmittelbar nach ihrem Erscheinen heftige Debatten, kam aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu breiterer Wirkung. Neben grundsätzlicher Kritik blieb kaum ein Teilbereich der These auf Dauer unangefochten. Kritisiert wurden etwa die Unklarheiten in der Begrifflichkeit von Protestantismus, Calvinismus und Puritanismus, die konfessionelle Engführung des Problems und die unkritischen Rückschlüsse von theologischen Lehrinhalten auf die Handlungsmotivation breiterer Schichten. Neben dem Calvinismus hatte Weber zwar gleichgerichtete Einflüsse von Pietismus, Methodismus und anderen Bewegungen wie den Quäkern benannt, doch war er diesen nicht weiter nachgegangen. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass Webers Konzept wenig Raum bot für die Würdigung des mittelalterlichen Erbes, etwa der humanistischen Hochschätzung weltlicher Arbeit oder des Ethos der stadtbürgerlichen Erwerbswirtschaft jener Zeit. Demnach setzte der »Prozess der Verfleißigung« (Paul Münch) schon lange vor dem konfessionellen Zeitalter ein. Am Ende blieb die Frage offen, ob der Protestantismus als solcher überhaupt etwas mit dem Gang ökonomischer Entwicklung zu tun hatte, zumal sich konfessionsspezifische Einflüsse im Sinne Webers bislang nicht wirklich verifizieren ließen. Jedenfalls findet sich der von Weber behauptete Zusammenhang zwischen dem »Geist des Kapitalismus« und der calvinistischen Prädestinationslehre erst bei einzelnen englischen Puritanern nach etwa 1660. Die Förderung des Kapitalismus verdankt sich nach gängiger neuerer Auffassung mehr der Aufklärung als dem puritanischen Calvinismus. Darauf weisen das nachhaltige Lob des Marktes und des freien Handels als zivilisatorischer Kraft, die Geschäft und Moral wie von selbst zum Ausgleich bringen würden (Montesquieu, Adam Smith). Wichtig geworden sind in diesem Bereich inzwischen Fragen nach den konfessionsübergreifenden Faktoren ökonomischer Dynamisierung, der Rolle religiöser Minoritäten wie der Juden und der Hugenotten, und der Bedeutung der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Kontexte. – Als Beispiele zügiger wirtschaftlicher Entwicklung gelten die Niederlande und England, während Länder wie Frankreich, Spanien und weite Teile des Alten Reiches vergleichsweise lange rückständig blieben.

Für Kurt Dietrich Schmidt, dessen ›Grundriss der Kirchengeschichte‹ (1949, 5. Aufl. 1964) nach dem Zweiten Weltkrieg die Ausbildung zahlreicher Theologen begleitete, blieb der »lebendig quellende Glaube Luthers« die kritische Instanz gegenüber der in der Orthodoxie sichtbar werdenden »Verhärtung« bzw. »Lehrverengung«, die sich aus der strikten Bekenntnisbindung ergab. Entsprechend marginal fiel die Behandlung der Orthodoxie aus. Ausdrücklich anerkannt wurde ihr Beitrag zur Festigung des konfessionellen Bewusstseins, ihr hohes intellektuelles Niveau und die trotz allem in ihrer Mitte weiterhin fortlebende »ernste Herzensfrömmigkeit« (Paul Gerhardt, Johann Sebastian Bach).

Im Bereich der dialektischen Theologie wollte man das relative Recht klassisch protestantischer Lehrformen der Orthodoxie nicht bestreiten, doch mit Orthodoxie im Sinne von formelhaftem Intellektualismus naturgemäß nichts zu tun haben. Die frühe Sorge von Emil Brunner, dass sich Karl Barth und Eduard Thurneysen in die Richtung einer »neuen Orthodoxie« (1919) bewegten, sollte sich für Kritiker wie Leonhard Ragaz im Nachhinein für die gesamte dialektische Theologie bestätigen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Epochenbegriff »Orthodoxie« zunehmend als ungenügend empfunden. Auch von systematischer Seite plädierte man schließlich für den weiteren Begriff »konfessionelles Zeitalter« als Phase zwischen Reformation und Aufklärung bzw. Pietismus (Jörg Baur, Walter Sparn 1992).

Für die Deutung der (lutherischen) Orthodoxie in ihrer inneren Dynamik und ihrem Verhältnis zum Pietismus sind immer wieder Krisentheorien bemüht worden. So sah W. Zeller das Aufkommen des Arndtianismus (der sog. Arndtschen Frömmigkeitsbewegung) als Antwort auf eine Krise der Orthodoxie gegen Ende des 16. Jahrhunderts. Hartmut Lehmann erweiterte im Anschluss an die nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommenden Krisentheorien, welche die bedrängenden Erfahrungen von Ernährungskrisen – unter anderem durch die Verschlechterung des Klimas in der »Kleinen Eiszeit« –, Kriegen und Epidemien und deren mentale Auswirkungen im Blick hatten, die »Frömmigkeitskrise« zu einer allgemeinen Strukturkrise des 17. Jahrhunderts. In erster Linie dürfte in unserem Kontext von einer dauerhaften, wenngleich unterschiedlich intensiv wahrgenommenen und markierten »Strukturkrise der (Volks-)Kirchlichkeit« bzw. des Traditionschristentums auszugehen sein, die Reforminitiativen und -bewegungen unterschiedlicher Art freisetzte. Wie Ulrich Sträter in seiner Studie zu ›Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts‹ (1995) deutlich machte, durchlief die um 1700 bei Johann Arndt einsetzende explizite innerlutherische Kirchenkritik das ganze Jahrhundert.

Einen Schritt über die konfessionelle und politische Geschichtsbetrachtung hinaus tat Ernst Walter Zeeden mit seinem komparativ angelegten, religions- und kulturgeschichtlich offenen Konzept der Konfessionsbildung im »Zeitalter der Glaubensspaltung«. Demnach vollzogen sich im nachtridentinischen Katholizismus, im Calvinismus und im Luthertum vergleichbare, durch die Staatsgewalt wesentlich beeinflusste Prozesse hin auf die Verfestigung der unterschiedlichen Kirchentümer. Zeedens Impulse gingen in das bislang ausgesprochen produktive Paradigma der »Konfessionalisierung« ein, wie es in den 1980er Jahren von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard entwickelt wurde. Charakteristisch für das Konzept ist sein Anspruch auf eine umfassende sozialgeschichtliche Deutungskraft in europäischer Weite. Im Zentrum des Interesses standen die frühmoderne Staatsbildung in Europa und der gesamtgesellschaftliche Wandel, bei dem im Anschluss an Gerhard Oestreichs Konzept der Sozialdisziplinierung die Anstrengungen zur obrigkeitlich gelenkten Uniformierung des Untertanenverbandes eine maßgebliche Rolle spielen.

Die Konfessionalisierung wurde definiert als »gesellschaftliche[r] Fundamentalvorgang, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte und zwar in meist gleichlaufender, bisweilen auch gegenläufiger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates und mit der Formierung einer neuzeitlichen disziplinierten Untertanengesellschaft, die anders als die mittelalterliche Gesellschaft nicht personal und fragmentiert, sondern institutionell und flächenmäßig organisiert war« (Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich, 6).

Die Konfessionalisierung wurde auf diese Weise zur wichtigsten Antriebskraft im frühneuzeitlichen Transformationsprozess der altständischen hin auf die moderne demokratische Gesellschaft und war damit auch universalhistorisch von Interesse. Im Blick auf Religion und Kirche bedeutete Konfessionalisierung die institutionelle Ausbildung und Etablierung miteinander konkurrierender Konfessionskirchen mit jeweils eigenen, gesamtgesellschaftlich formativ wirkenden Konfessionskulturen. Diese betrieben in engem Wechselverhältnis mit dem Staat eine religiös-weltanschauliche Uniformierung der Gesellschaft nach je eigenen Grundsätzen in Lehre, Frömmigkeit – gegenwärtig auch »Spiritualität« genannt – und Alltagsleben. Sie legten einen strikten Willen zur Integration nach innen wie der Abgrenzung nach außen an den Tag.

Das anfänglich stark etatistisch geformte Konzept der Konfessionalisierung erfuhr mit der Zeit dank der breiteren Rezeption sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen zahlreiche Anpassungen. Zum einen weiteten sich die Forschungsinteressen neben der reformierten, lutherischen und katholischen Konfessionalisierung auf vergleichbare Phänomene im Anglikanismus und im osteuropäischen Christentum. Zum anderen kamen stets mehr spezifische Fragestellungen zum Tragen, welche die Komplexität des Konzepts deutlich machten. So präzisierte sich die Frage nach den Akteuren der Konfessionalisierung und deren Zielsetzungen über den Staat als eigentlichem Träger und »Gewinner« der Konfessionalisierung hinaus. Neben den Institutionen der staatlichen Obrigkeit wurden die internen kirchlichen, kommunalen und familialen Ebenen verstärkt in den Blick genommen. Auch die Gegenkräfte auf unterschiedlichen Gebieten von Kultur und Religion, welche die Uniformierungsstrategien unterliefen oder sich ihnen zu entziehen wussten, wie auch die intra- und interkonfessionellen Pluralisierungsprozesse etwa im Blick auf die keineswegs monolithisch, sondern begrenzt plural angelegten Orthodoxien gehören zum Gesamtpanorama. Zur Erforschung der Grenzen und Grenzüberschreitungen zwischen den Konfessionen leistet beispielsweise die Konversionsforschung, welche die bis ins 18. Jahrhundert hinein zuweilen dramatischen Wechsel des religiösen Bekenntnisses als strukturelles Merkmal der Konfessionskultur studiert, weiterführende Beiträge. In jedem Fall legt es die Erweiterung der Perspektiven nahe, das Konzept der Konfessionalisierung auf das der Konfessionskulturen bzw. -gesellschaften (Thomas Kaufmann u. a.) hin zu öffnen und beide idealtypisch zu fassen. Dabei ist von vielseitigen Wechselwirkungen zwischen den Konfessionen und ihrer jeweiligen Kraft zur Ausbildung konfessionsübersteigender Perspektiven sowie von stets präsenten Gegenkräften auszugehen, die nur teilweise domestiziert werden konnten.

Besondere Aufmerksamkeit wird inzwischen den »Verlierern« der Konfessionalisierung geschenkt, den von Repressionen bedrängten Andersgläubigen. Die Konfessionsmigration, d. h. die Vertreibung und Neuansiedlung von Glaubensflüchtlingen aus religiösen wie ökonomischen Motiven, war ein übergreifendes Problem. Von ihr waren in der gesamten Frühen Neuzeit schätzungsweise etwa eine Million Menschen aller religiösen Überzeugungen betroffen. Zum konfessionell mitgeprägten, aber keineswegs konfessionell dominierten Umgang mit religiöser Devianz zählen auch die inzwischen nachhaltig erforschten Hexenverfolgungen.

Trotz Fortschritten in der Erforschung der Konfessionskulturen bzw. -gesellschaften herrscht nach wie vor Bedarf an territorialer und thematischer Einzelforschung, ohne die es keine sinnvollen komparatistischen Konzepte in europäischer oder gar globaler Weite geben kann. Dies gilt auch für die weitere Erforschung der »materialen Religion« (Ikonographie, Architektur, Kunstgegenstände usw.). Auch die Integration anderer Forschungsansätze wie die der historischen (Kultur-)Anthropologie und der Alltagsgeschichte bleibt eine wichtige Aufgabe zum besseren Verständnis dessen, was nur unzureichend mit der Unterscheidung von Popular- und Elitenkultur erfasst wird.

Die Kritik am Konfessionalisierungsparadigma ist trotz seiner Weiterentwicklung über die etatistische Schwerpunktsetzung der Anfänge hinaus und unbestreitbar großer historiographischer Produktivität nie ganz verstummt. Als problematisch gelten die umfassenden epochalen Deutungsansprüche, die andere zeittypische, keineswegs einheitlich konfessionell markierte Faktoren wie die Territorialisierung, die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und die Entwicklung frühkapitalistischer ökonomischer Strukturen nicht hinreichend würdigten bzw. die begrenzten Möglichkeiten einer Wechselwirkung mit der Konfessionalisierung unterbelichtet ließen.

Es spricht einstweilen wenig dafür, das Konfessionalisierungsparadigma aufzugeben oder den Begriff des konfessionellen Zeitalters gänzlich durch die breitere Rede vom »frühmodernen« Protestantismus und Katholizismus zu ersetzen. Auch ein von 1550 bis 1870 oder gar bis nach dem Zweiten Weltkrieg andauerndes »konfessionellen Zeitalter« wird den inneren Entwicklungen nicht gerecht. – Andere inzwischen in die Geschichtswissenschaft eingeführte interdisziplinär anregende Paradigmen wie des Kulturtransfers und der »histoire croisée« (»gekreuzte Geschichte«; Michael Werner, Bénédicte Zimmermann) unterstreichen die Notwendigkeit erweiterter transnationaler Forschungshorizonte. Als besonders flexibel für unterschiedliche religions-, kultur- und sozialgeschichtliche Ansätze erwies sich bislang das Konzept des Kulturtransfers, das – grob gesprochen – auf den dynamischen Austausch mit dem »Anderen« und die schöpferische Anverwandlung bzw. Akkulturation an das jeweils »Eigene« zielt und weniger statisch vorgehen will als die herkömmliche historische Komparatistik. Die Forschungsschwerpunkte lagen freilich lange auf Deutschland und Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert. Die »histoire croisée« verspricht dagegen mehr Aufmerksamkeit für die Verwobenheiten und Überschneidungen von Kulturen über die Transferanalyse hinaus. Mehr noch als die Transferforschung hat diese bislang eher programmatische als praktische Bedeutung für die Historiographie. Ansatzpunkte für die Anwendung des Kulturtransferkonzepts bieten das konfessionelle Zeitalter wie auch Pietismus und Aufklärung in europäischer und (nord-)amerikanischer Weite zur Genüge. Man denke nur an den internationalen Charakter des Calvinismus, die entsprechenden Aktivitäten der Jesuiten im römischen Katholizismus, die grenzüberschreitenden Verflechtungen und dynamischen Wechselwirkungen mit anderen Konfessionen in Luthertum und Anglikanismus, sowie an die Migrations- und Kolonialgeschichte. Entsprechend ergiebig dürften weitere Untersuchungen zur Geschichte der Predigt- und Erbauungsliteratur, des Kommunikationswesens und der Mission sein.

Die auf innere Kohärenz und äußere Differenz bzw. Distanzierung vom Anderen setzenden konfessionellen Kräfte blieben naturgemäß weit hinter ihren Einheitsidealen zurück. Was sich an äußerer Dramatik in Migration, Diaspora, Exil und Konversion darstellt, spiegelt sich zu einem guten Teil in den internen Spannungen und Auseinandersetzungen auf theoretischer und praktischer Ebene, aber auch in den vielfachen Grenzüberschreitungen, wie sie für »poröse« oder »hybride« Identitäten kennzeichnend sind. Bedeutsam bleiben in diesem Zusammenhang Fragen religiös-kultureller Interaktion, Exklusion und Vorurteilsbildung, der Fremd- und Selbstwahrnehmung religiöser Minderheiten, der Genderproblematik und der außereuropäischen »Anderen« und »Fremden«, sowie die grundlegenden Fragen konfessionskultureller Praxis in gesamtgesellschaftlicher Breite (vgl. die Ansätze interkultureller Hermeneutik bzw. komparatistischer oder kultureller Imagologie).

Im Zeichen der Globalisierung werden europäische, konfessionsübergreifende, interreligiöse und interkulturelle Horizonte eine zunehmend bedeutende Rolle spielen. Auch der bei M. Weber angelegte, in der Konfessionalisierungsforschung bislang eher implizit präsente universalhistorische Deutungsrahmen (»Zivilisationstyp [Alt-]Europa«), welcher die Gesamtleistungen der mit der Konfessionalisierung verbundenen Prozesse auf dem Weg in die Moderne zu würdigen versucht, wird dabei weiter zu entwickeln sein.

Der bisherige Forschungsstand erlaubt es nicht, die frühneuzeitliche europäische Geschichte konfessioneller Kulturen und Landschaften einschließlich des Nonkonformismus und des Judentums und die Transformationen von Pietismus und Aufklärung in gesamtgesellschaftlicher Perspektive umfassend zu beschreiben, geschweige denn, eine integrative Gesamtdeutung zu versuchen. Weitere Fortschritte in multiperspektivisch-komparatistischer Hinsicht werden unabdingbar sein, um der Großepoche »Frühe Neuzeit« und damit auch der spät- (für manche: post-)modernen Gegenwart neue Deutungshorizonte zu erschließen.

Literatur

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Auf folgende Quellensammlungen wird im Text verwiesen: Volker Leppin (Hg.), Reformation, 2. Aufl. (KTGQ 3), Neukirchen-Vluyn 2012; Martin Greschat (Hg.), Vom Konfessionalismus zur Moderne, 5. Aufl. (KTGQ 4), Neukirchen-Vluyn 2015, und Klaus Koschorke, Frieder Ludwig, Mariano Delgado (Hg.), Außereuropäische Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 1450–1990, 4. Aufl. (KTGQ 6), Neukirchen-Vluyn 2012.

Konfessionen in Europa 1570 (Peter Palm, Berlin)

1  Konfessionslandschaften und Konflikte

Die konfliktreiche Geschichte Europas im 17. und 18. Jahrhundert blieb eng mit der Konfessionsfrage verbunden, auch wenn sich deren praktische Bedeutung auf den Ebenen politischer Machtausübung unterschiedlich darstellte und konfessionelle Exklusivitätsansprüche im Laufe der Zeit an Plausibilität verloren. Das Luthertum etablierte sich neben Deutschland insbesondere in den skandinavischen Ländern. Das Reformiertentum festigte sich, vornehmlich in Gestalt des Calvinismus, in den Niederlanden, der Schweiz, Schottland, am Niederrhein und in der Pfalz sowie in Frankreich (Hugenotten), beeinflusste aber auch die Entwicklung der Kirche von England (Church of England). Frankreich und die süd- und südwesteuropäischen Länder wie Italien und Spanien blieben vom römischen Katholizismus bestimmt (zu den orthodoxen Kirchen des 17. und 18. Jahrhunderts in Ost- und Südosteuropa siehe den Beitrag von A.M. Ritter im folgenden Teilband).

Im Folgenden sollen, ausgehend vom Alten Reich und dem Dreißigjährigen Krieg, die konfessionellen Verhältnisse in verschiedenen Ländern Europas und deren Kolonien umrissen werden (zu den jeweiligen Vorgeschichten s. Seebaß, GdChr III, Teil D: Die konfessionellen Konflikte).

1.1  Mittel-, Ost- und Westeuropa

Die zentrale reichsrechtliche Bezugsgröße zur Regelung der politisch-konfessionellen Verhältnisse blieb im Herrschaftsbereich des Heiligen Römischen Reiches (deutscher Nation), dem bis 1806 bestehenden sog. Alten Reich, der Augsburger Religionsfriede von 1555. Die Auslegung seiner Bestimmungen war bei den Reichsständen allerdings umstritten. Der Reichstag erwies sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch die konfessionelle Polarisierung praktisch als handlungsunfähig. Die beiden höchsten Gerichte, Reichskammergericht und Reichshofrat, waren mit der Schlichtung konfessioneller Konflikte überfordert. Der Kaiser zeigte sich, nicht zuletzt aufgrund dynastischer Spannungen, zu schwach, die durch ihn und die Kurfürsten symbolisierte Reichseinheit friedlich zu organisieren und die Militarisierung der Politik zu verhindern. Das komplizierte Mit-, Neben- und Gegeneinander von Protestanten und Katholiken in Städten und Territorien führte immer wieder zu regionalen und lokalen Reibereien und zunehmend heftigen Zerwürfnissen.

Ein markantes Beispiel für die wachsende Konfliktbereitschaft beider Lager und das Versagen reichsrechtlicher Institutionen im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges bietet die Reichsstadt Donauwörth, wo es 1606 und 1607 zu schweren Auseinandersetzungen zwischen protestantischer Mehrheit und katholischer Minderheit kam. Anlass war das auf protestantischer Seite als Provokation aufgefasste selbstbewusste Auftreten der Katholiken bei einer Prozession durch die Stadt, was Rat und Bürgerschaft zu Störungen veranlasste und mit der Ausweisung beteiligter Katholiken endete. Der Protest Kaiser Rudolf II. beim Reichshofrat führte zur Verhängung der Reichsacht über die Stadt. Diese wurde entgegen den reichsrechtlichen Regelungen – Maßnahmen gegen die Stadt hatten durch den schwäbischen Reichskreis zu erfolgen, dem sie angehörte – zum Entsetzen der Protestanten durch den katholischen Herzog Maximilian I. von Bayern vollstreckt: Die Stadt wurde faktisch annektiert und gezielt rekatholisiert. Im Gefolge der Ereignisse kam es zur Bildung der beiden konfessionellen militärischen Bündnisse, der protestantischen »Union« lutherischer und reformierter Reichsstände unter der Leitung des reformierten Friedrich V. von der Pfalz im Jahre 1608, und ein Jahr später der »Liga« katholischer Stände unter Führung Maximilians I. von Bayern.

Der Dreißigjährige Krieg

Der folgenreichste in Mitteleuropa aus konfessionspolitischen Gegensätzen erwachsene Konflikt der Zeit war der Dreißigjährige Krieg (1618–1648). Was als regionaler Aufstand der mehrheitlich protestantischen böhmischen Stände im Streit um freie Religionsausübung gegen die Habsburger begann, wurde schnell zu einem Konflikt europäischen Ausmaßes im Kampf hegemonialer Mächte, bei dem Konfessionsfragen eng mit machtpolitischen Interessen verbunden oder von diesen dominiert waren. Er wurde vor allem auf dem Gebiet des Alten Reiches geführt. Betroffen waren insbesondere Nord-, West- und Mitteldeutschland, doch spätestens seit 1630 war, da alle Eindämmungsversuche scheiterten, ein Ende nur noch im Rahmen einer europäischen Friedensordnung möglich.

Der Krieg lässt sich weder auf die Jahre 1618–1648 begrenzen noch mit klaren Fronten verbinden. Zum einen hing die »Kriegsverdichtung« (J. Burkhardt) im Zeichen der Staatenbildung zwischen 1618 und 1648 eng mit vorangehenden Grundkonflikten wie dem Freiheitskampf der Niederlande gegen Spanien zusammen, welcher nach einer Zeit des Waffenstillstands seit 1609 im Jahr 1621 erneut begann. Auch setzten sich die europäischen Großmachtkonflikte nach dem Westfälischen Frieden 1648 fort. Zum anderen lassen sich die Phasen und Konfliktlinien im Einzelnen nur schwer übersehen. Machtpolitische Interessen wurden schnell gewichtiger als konfessionelle Solidarität. Da die Hauptschauplätze des Krieges mit seinen teilweise verheerenden Bevölkerungsverlusten im Bereich des Alten Reiches lagen, wurde er von Zeitgenossen schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts als ein zusammenhängender »Dreißigjähriger Krieg« oder auch als »Teutscher Krieg« wahrgenommen. Im politischen Diskurs galt der Krieg allen Beteiligten als »gerechter Krieg« . So betonten die Schweden ihre defensive Grundhaltung im Gegensatz zum aggressiven Auftreten der Habsburger, verschwiegen aber ihre eigenen expansionistischen Interessen.

Den Auftakt zum ersten Teilkonflikt des Krieges, der Konstituierung einer eigenen ständischen Verfassung und der Krönung des Anführers der protestantischen »Union«, des Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. zum König von Böhmen, bildete die gezielte politische Provokation des »Prager Fenstersturzes« : Bewaffnete der böhmischen Stände warfen zwei kaiserliche Statthalter zusammen mit einem Schreiber aus einem Fenster im Prager Hradschin (diese landeten unsanft, aber unverletzt im Burggraben). Das Abenteuer der Königskrönung endete mit der Flucht Friedrichs V. (»Winterkönig«) nach der Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg (1620), bei der sich die Böhmen dem Anführer der »Liga«, dem bayerischen Feldherrn J. Tserclaes (t’Serclaes) Graf von Tilly geschlagen geben mussten. In der Folgezeit wurde die Zentralgewalt der Habsburger unter Kaiser Ferdinand II. als König von Böhmen im Zeichen strikter römisch-katholischer Konfessionalität wiederhergestellt und das Land rekatholisiert. Die Anführer des böhmischen Aufstands wurden hingerichtet (»Prager Blutgericht«), die Hälfte des adligen Landbesitzes enteignet, Deutsche und Tschechen vertrieben und protestantische Pfarrer ausgewiesen. Insgesamt wanderten rund 150.000 Protestanten aus.

Tilly setzte seinen Siegeszug gegen die Protestanten fort. Die Pfalz wurde besetzt und Maximilian I. erhielt 1623 die Pfälzer Kurwürde (Böhmisch-Pfälzischer Krieg, 1618–1623). Bei der Eroberung Heidelbergs 1622 ließ Tilly die weltberühmte Bibliotheca Palatina beschlagnahmen. Sie ging über Herzog Maximilian I. von Bayern an Papst Gregor XV. als Geschenk und ist seitdem in der vatikanischen Bibliothek beheimatet. Einen ähnlich rigiden Umgang mit Beutekunst pflegten auch die anderen Kriegsparteien. So rächte sich Gustav II. Adolf für die Demütigung Friedrichs V. 1632 durch die Beschlagnahme der Gemäldesammlung des bayerischen Herzogs.

Schon 1631 hatte Gustav Adolf begonnen, Bücher aus Bibliotheken katholischer Bistümer wie Mainz, Bamberg und Würzburg nach Schweden abtransportieren zu lassen. Dort gingen sie in den Besitz der Universität Uppsala und anderer Bildungsinstitutionen über. Nach der Schlacht von Nördlingen, als sich Tübingen der katholischen Liga kampflos ergeben musste, ließ Maximilian I. 1635 entgegen anfänglicher vertraglicher Festlegungen einen Großteil der Bücher der wertvollen Tübinger Schlossbibliothek nach München bringen (heute Teil der Bayerischen Staatsbibliothek). Nicht weniger rücksichtslos verhielt sich die schwedische Königin Christina, die noch vor Abschluss der Friedensverhandlungen 1648 namhafte Kunstschätze aus Prag, darunter die bekannte Kunstkammer Kaiser Rudolphs II., nach Schweden verfrachten ließ. So bereicherte sie wie ihr Vater das Land mit Kulturschätzen humanistischer Tradition. Die Einverleibung der bei den Gegnern gemachten Beutekunst in die Sammlungen der siegreichen Parteien war durch das Kriegsrecht, genauer das Beuterecht, im Gefolge des römischen Rechts legitimiert. Es blieb im Alten Reich trotz einzelner kritischer Stimmen im 18. Jahrhundert, etwa bei Jean Jacques Rousseau, unangetastet. Das Westfälische Friedenswerk hatte die Restitution von verschlepptem Kulturgut vereinbart, doch erwies sich eine konsequente Umsetzung als unrealistisch.

Die Rekatholisierungsmaßnahmen stießen immer wieder auf erbitterten Widerstand, so im Falle Oberösterreichs (habsburgisches Erbland Ob der Enns), das vom bayerischen Kurfürsten auf kaiserlichen Befehl hin gewaltsam rekatholisiert werden sollte, ähnlich wie zuvor schon die Steiermark, Kärnten und Krain.

Die von einer Reformations-Kommission 1624 beschlossene Vertreibung evangelischer Pfarrer und Schullehrer und die Ersetzung der Pfarrer durch Südtiroler Priester sorgte 1625 für Unruhen, die in den sog. oberösterreichischen Bauernkrieg bzw. -aufstand von 1626 mündeten. An ihm waren nicht nur Bauern, sondern auch Handwerker und städtische Bürger beteiligt. Die Führung lag in den Händen eines Adligen. Im Aufstand halfen (geistliche) Volkslieder, Bekenntnislieder und Gedichte, den Zusammenhalt der Evangelischen zu festigen. Texte des politischen Widerstands wurden auf gängige Kirchenliedmelodien gesungen, bekannte Kirchenlieder wie »Ein feste Burg« und »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« stärkten das konfessionelle Bewusstsein bei Gottesdiensten im Freien. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands besetzten bayerische Truppen Oberösterreich, das Reparationszahlungen leisten musste.

Nach der ersten Phase böhmisch-pfälzischer Auseinandersetzungen traten gegen den Vormarsch der Habsburger weitere europäische Mächte auf den Plan. Dies führte zu einer Eskalation im Dänisch-Niedersächsischen Krieg (1625–1629). Zusammen mit Dänemark, das die führende militärische Rolle auf Seiten der Protestanten einnahm, und dem Niedersächsischen Reichskreis waren England, die Niederlande und Frankreich in einer antihabsburgischen Allianz miteinander verbunden. Doch auch hier siegte die katholische »Liga« unter Tilly, unterstützt von einem Söldnerheer des A. von Wallenstein, der zum Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen aufstieg. Durch die militärischen Siege ermutigt, versuchte Kaiser Ferdinand II. im sog. Restitutionsedikt von 1629, die katholische Lesart des Augsburger Religionsfriedens von 1555 gegen allen protestantischen Widerstand durchzusetzen.

Demnach sollte die sog. Declaratio Ferdinandea – die nicht in den damaligen offiziellen Reichstagsabschied aufgenommene, aber schriftlich gegebene kaiserliche Zusicherung der Bekenntnisfreiheit für landsässige evangelische Ritter und Städte in geistlichen katholischen Territorien – endgültig unwirksam werden. Auch wurde festgehalten, dass nur die Anhänger des Augsburger Bekenntnisses, der Confessio Augustana (CA), nicht aber die Reformierten, am Religionsfrieden von 1555 teilhatten. Reichsständen, die nicht lutherisch oder katholisch waren, wurde mit Reichsacht gedroht. In der Konsequenz bedeutete dies, dass alle nach dem Passauer Vertrag von 1552 protestantisch gewordenen Erzbistümer – Bremen und Magdeburg –, Bistümer und Klöster wieder rekatholisiert werden sollten.

Die Umsetzung des Edikts gelang zwar nur teilweise – in Württemberg wurden zahlreiche Klöster restituiert –, doch die Protestanten fürchteten nicht ohne Grund weitere existenzbedrohende Maßnahmen von kaiserlicher Seite. Daher baten sie Gustav II. Adolf von Schweden um Hilfe. Dieser trat 1630 in den Kampf gegen Kaiser und »Liga« ein, nicht zuletzt getrieben von der Hoffnung auf territoriale Zugewinne für sein expandierendes Reich an der Ostsee. Widerspruch gegen das Restitutionsedikt gab es freilich nicht nur von protestantischer Seite. Auch die katholischen Reichsstände fürchteten eine zu große Machtfülle des Kaisers. Der Prager Friede von 1635 setzte das Edikt außer Kraft, der Westfälische Friede hob es 1648 schließlich auf.

Mit dem Kriegseintritt Gustav Adolfs von Schweden eskalierte der Konflikt weiter (Schwedischer Krieg, 1630–1634). Die Berichte über die Eroberung und Zerstörung der Stadt Magdeburg durch Tilly 1631 – Gustav Adolf fehlte es nach der Einnahme von Frankfurt/O. an der nötigen militärischen Kraft, der Stadt zu Hilfe zu kommen – wurden über Ländergrenzen hinaus zum Symbol für die Schrecken des Krieges.

Neben den unmittelbaren Kriegshandlungen und den Seuchen waren Raubzüge, Brandschatzungen, Massaker und Vergewaltigungen zu beklagen, welche die Zivilbevölkerung mit Tausenden von Opfern schwer trafen. Hinzu kam die Belastung der Bevölkerung durch Kontributionen für die in ihren Gebieten stationierten Armeen. Ursprünglich waren dies Lebensmittel und Unterkunft, doch zunehmend wurden weitere Naturalleistungen und Bargeld und damit direkte Kriegssteuern erpresst. Die durch Ausbeutung der Bevölkerung besser gefüllten Kriegskassen trugen mit zur Ausweitung des Krieges bei.

Gustav Adolfs militärischer Vormarsch verlief zunächst siegreich. Das Ziel zur Errichtung eines protestantischen Reiches in Deutschland schien näher zu rücken. Ende 1631 wurde Mainz erreicht und besetzt. Den Katholiken sicherte man trotz Zerstörungen, Kunstraub – drei Domaltäre von Matthias Grünewald wurden nach Schweden verschifft, gingen allerdings durch Schiffbruch verloren – und hohen Abgaben unter evangelischer Verwaltung die freie Religionsausübung zu. Gustav Adolf starb 1632 in der für beide Seiten verlustreichen Schlacht von Lützen, ohne dass die Schweden besiegt worden wären. 1634 wurde Wallenstein im Auftrag des Kaisers ermordet, da er diesem mit seinen eigenmächtigen Friedenssondierungen zu einflussreich geworden war. Der Sieg der kaiserlichen Truppen in der Schlacht bei Nördlingen 1634 machte schließlich den Niedergang der schwedischen Macht und der mit ihnen verbündeten Protestanten deutlich.

Wie erbittert der Streit der Konfessionen um die jeweilige Vorherrschaft in bikonfessionellen Reichsstädten ausgetragen wurde, zeigen die Beispiele Augsburg und Erfurt. In Augsburg kam es zwischen 1629 und 1631 zu kämpferischen Rekatholisierungsversuchen, um das Luthertum in der Stadt auszulöschen. Die lutherischen Pfarrer wurden vertrieben, die Kirchen geschlossen. Zahlreiche Gemeindeglieder formierten sich zum (passiven) Widerstand. Unter Führung von Laien bildeten sich Konventikel, in denen Erbauungsschriften gelesen wurden. Besondere Gelegenheiten wie Beerdigungen mussten als Ersatz für gottesdienstliche Zusammenkünfte dienen. In Erfurt enthielt man sich 1631 unter dem Schutz der schwedischen Truppen vergleichbarer Gewalt gegen die Katholiken, doch zelebrierte man den Machtwechsel nicht weniger deutlich. Im Dom wurde der lutherische Gottesdienst eingeführt, die Universität unter protestantischem Vorzeichen neu gegründet. Beim Besuch des schwedischen Kanzlers Axel Gustavsson Oxenstierna in der Stadt im Jahr 1634 kam es zum Aufsehen erregenden Angriff auf die sog. »gebackenen Bischöfe«, die Statuen der beiden Ortsheiligen St. Adalbert und St. Ethelbert (Adolar und Eoban genannt), die für die katholische Volksfrömmigkeit eine wichtige Rolle spielten. Um den katholischen »Aberglauben« zu entlarven, wurden die Statuen auf Befehl des Kanzlers vor Zeugen zerlegt.

1635 erklärte Frankreich Spanien aus Sorge um eine Habsburger Übermacht den Krieg. Vorausgegangen war der Prager Friede im selben Jahr, in welchem Ferdinand II. mit dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. mit Erfolg unter bestimmten Bedingungen die vierzigjährige Aussetzung des Restitutionsedikts von 1629 vereinbart hatte. Zu den Bedingungen zählten der Schutz der Katholiken und die Aufhebung der »Liga« und der »Union«. Die im Vertrag von Wismar geschlossene Allianz zwischen dem katholischen Frankreich und dem protestantischen Schweden zeigte, wie die konfessionellen Grenzziehungen im machtpolitischen Interesse überschritten wurden. Wenig später kam es zur Kriegserklärung Kaiser Ferdinands II. an Frankreich wegen des »stillen Bündnisses« mit Schweden. Frankreich wiederum suchte militärische Unterstützung bei deutschen Fürsten. Der sog. Schwedisch-Französische Krieg (1635–1648), auch »Europäischer Krieg« genannt, bei dem Frankreich aus Sorge vor einem separaten Frieden zwischen dem Kaiser und den Schweden den Krieg auf deutsches Reichsgebiet trug, blieb ohne klaren Sieger.

Der Prager Friede von 1635, formal nur zwischen dem Kaiser und Kursachsen geschlossen, war von vornherein auf eine umfassende Beilegung des konfessionell-politischen Konflikts und damit als Vorbereitung einer allgemeinen Friedensordnung angelegt, ohne allerdings ein umfassendes Programm dafür zu enthalten.

Deutlich formuliert waren die Bestimmungen zur Reorganisation des Militärwesens im Reich, um die Schweden und Franzosen zum Rückzug aus dem Reich zu bewegen. Deutlich waren auch die konfessionspolitischen Grundlinien, nämlich die Festschreibung der Verhältnisse auf den Stand von 1627 auf 40 Jahre. Die Reformierten blieben weiterhin aus dem Frieden ausgeschlossen. Für das Reichskammergericht war eine paritätische Besetzung durch Katholiken und Protestanten vorgesehen.

Der Prager Friede stieß im Reich auf breite Akzeptanz. Hierzu trugen neben der Kriegsmüdigkeit auch der konfessionsübergreifend erstarkende, an Kaiser und Reich orientierte Reichspatriotismus bei. Eine Anerkennung des Prager Friedens durch Schweden und Frankreich war freilich nicht zu erwarten. In der Tat scheiterten die Verhandlungen, die 1635/1636 mit Frankreich und Schweden geführt wurden. Kaiser und Kurfürsten suchten eine Festigung ihrer Position durch die Annäherung an Spanien, was wiederum dem Bündnis zwischen Frankreich und Schweden in die Hände arbeitete.

Nach dem Scheitern des Prager Friedens 1637/1638 nahm der Konflikt vollends die Form eines »europäischen Krieges in Deutschland« (K. Repgen) an. Dem Reich blieben nur begrenzte Einflussmöglichkeiten.

Die Krise der spanischen Monarchie seit 1639/1640 führte zu einer dauerhaften Schwächung der Position des Kaisers. Die Schweden dagegen erstarkten wieder dank französischer Unterstützung und Maßnahmen zur Reorganisation des Heeres. Schwedische Truppen drangen vom Norden her in Deutschland vor, die Franzosen kamen von Westen. Von Durchzug und Einquartierung sowie Belagerungen durch die Schweden waren nun insbesondere Böhmen, Bayern und Südwestdeutschland betroffen. Wie wenig konfessionelle Bindungen noch zählten, zeigt das Vorgehen der schwedischen Truppen gegen Dänemark Ende 1643, bei dem auch die Stifte Verden und Bremen besetzt wurden.

Die letzten dreizehn Jahre des Dreißigjährigen Krieges wurden die schlimmsten für die deutschen Territorien. Die Kriegshandlungen mit vielen grausamen Übergriffen der mehrheitlich aus Söldnern unterschiedlicher Konfessionen bestehenden Truppen zogen sich scheinbar endlos hin. Missernten, Hungersnöte und Seuchen vermehrten die Leiden der Bevölkerung zusätzlich. Spätestens in dieser Phase zeigte sich, dass die machtpolitischen Interessen und die »Staatsräson« mehr zählten als Religions- und Konfessionsfragen. Nun kämpften auch Katholiken gegen Katholiken und Lutheraner gegen Lutheraner.

Zur Verlängerung des Krieges trugen die inneren Zwänge der Kriegsökonomie bei. Noch stets machten die Truppenführer als »Gewaltunternehmer« profitable Geschäfte, wie schon Wallenstein bis zu seiner Ermordung 1634 (vgl. die Sentenz »der Krieg ernährt den Krieg«, die F. Schiller einem Söldnerführer in seinem ›Wallenstein‹ in den Mund legte). Auch die Handelsstädte profitierten vom Krieg mit ihrer Lieferung von Versorgungsgütern an die Kriegsparteien. Wie untere und mittlere Bevölkerungsschichten den Dreißigjährigen Krieg in ihrem Alltag erlebten, zeigen Selbstzeugnisse der Zeit. Sie enthalten beeindruckende Schilderungen zum Familienleben, zu Frömmigkeit und Kirchlichkeit, belegen aber auch die Präsenz einer deutlichen Sozialkritik an Teuerung und Egoismus der Reichen und Mächtigen.

Mit der zunehmenden Kriegsmüdigkeit erstarkte die Antikriegspropaganda, an der sich viele Geistliche und Dichter beteiligten.

Der aus einer niederländischen Kaufmannsfamilie stammende lutherische Geistliche A. Mengering wandte sich in seinem ›Kriegs-Belial oder Soldaten-Teuffel‹ (1631) gegen die Gräueltaten marodierender Soldaten, die er in einen apokalyptisch-endzeitlichen Deutungshorizont vom Wirken des päpstlichen Antichristen rückte. Damit unterstrich er sein Hauptanliegen von der Dringlichkeit der Gewissensprüfung und der Buße, dem der Ausblick auf den himmlischen Lohn ewiger Seligkeit entsprach. Ein Anzweifeln der Theorie vom »gerechten Krieg« war damit nicht verbunden. – Andreas Gryphius beklagte in seinen ›Tränen des Vaterlands‹ (1636, → KTGQ 3, Nr. 62c) in Sonettform die Verwüstungen, die Seuchen und das Blutvergießen des Krieges, nicht ohne den geistlichen Schaden zu benennen (»Doch schweig ich noch von dem, was ärger als der Tod / Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot / Dass nun der Seelen Schatz so vielen abgezwungen«).

Die durch Krieg, Hunger und Seuchen – man denke nur an die Pestepidemien der Jahre 1624–1626 und 1634–1636 – verursachten Nöte und Ängste stellten eine besondere Herausforderung dar, auf welche die weltlichen Obrigkeiten wie die Kirchen praktische Antworten zu geben suchten. Die Obrigkeiten erließen Pestmandate und Pestordnungen, um der Krankheit entgegenzutreten, meist verbunden mit wenig wirksamen diätetischen Anweisungen und Vorschriften zur Isolierung der Kranken und Kenntlichmachen der mit Kranken in Berührung Gekommenen. Daneben mussten die organisatorischen Schwierigkeiten bewältigt werden, die das Massensterben mit sich brachten, vom Anlegen neuer Friedhöfe bis hin zum Gebrauch von Mehrfachsärgen. Auf kirchlicher Seite kamen konfessionsspezifische Formen von Buße, Dank und diakonischer Hilfe zum Tragen, um sich der göttlichen Hilfe zu versichern bzw. für das Nachlassen der Gefahr zu danken und den Opfern zu helfen.

Auf katholischer Seite stifteten Vermögende Pestkelche, mit denen den Pestkranken die Kommunion gespendet werden konnte. Obrigkeiten und Bruderschaften engagierten sich für die Errichtung von Pestkapellen – Schutzheilige waren häufig der Hl. Rochus oder der Hl. Sebastian – und Pestmonumenten, sog. Pestsäulen, um einen herausgehobenen Ort der liturgischen Fürbitte und des Dankes anzuweisen.

Für die kirchlich-konfessionellen Akteure blieb der Dreißigjährige Krieg vom oft endzeitlich-apokalyptisch akzentuierten Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube bzw. Ketzerei bestimmt. Auf dem Schlachtfeld wurden die Grenzen von den Geistlichen aller Konfessionen klar gezogen.

So feuerte der spanische Karmelit Dominicus a Jesu Maria, Begleiter der Truppen von Herzog Maximilian I. von Bayern, die Feldherren der katholischen Liga vor der Schlacht am Weißen Berg 1620 zum entschlossenen Kampf gegen den protestantischen Unglauben an. Der charismatische Prediger segnete die Truppen mit seinem Kreuz und zeigte dabei ein Gnadenbild von Maria mit dem Jesuskind vor, das er in den Ruinen eines böhmischen Schlosses aufgefunden hatte. Den darauf abgebildeten Personen waren – außer dem Jesuskind – offenbar im Zuge bilderstürmerischer Aktivitäten protestantischer Soldaten die Augen ausgestochen worden. Entsprechend wurde der schnelle Sieg über die Protestanten unter dem Schlachtruf »Santa Maria« als göttliches Wunder im Zeichen von Maria gefeiert und propagandistisch ausgewertet. Das Gnadenbild wurde nach Rom gebracht und in der nach dem Bild benannten Barockkirche Santa Maria della Vittoria ausgestellt. Ein anderes vom Pater aufgefundenes und restauriertes Marienbild fand in der kaiserlichen Kapelle der Wiener Hofburg seinen Platz, von Kaiser Ferdinand II. verehrt. Damit bekundete dieser seinen Glauben an Maria als Beschützerin von Österreich (zur Pietas Austriaca vgl. unten S. 289f.). Entsprechende Beispiele lassen sich auf protestantischer Seite finden, wo die Truppen nach Sündenbekenntnis und Gebet mit dem Schlachtruf »Gott mit uns« in den Kampf zogen.

Nach innen mangelte es nicht an Selbstkritik bzw. an kritischen Äußerungen zu den volkskirchlichen Zuständen. Konfessionsübergreifend wurde zu mehr Buße und zu eifrigerem Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde des (eigenen) Glaubens aufgerufen, um das göttliche Strafgericht des Krieges zu beenden bzw. abzukürzen.

Im Luthertum der 1620er Jahre verwies man neben M. Luther unter anderem auf Philipp Nicolais Schrift ›De regno Christi‹ (1596/1597; dt. 1598, wieder 1628), welche für die Jahre zwischen 1625 und 1629 die Verfolgung der Lutherischen durch den römischen Antichristen und dessen Niederlage einschließlich des Falls von Rom angekündigt hatte. Danach sah Nicolai, der neben der zentralen Gestalt von Johann Arndt als Wegbereiter des Pietismus gilt, die Autorität der Bibel bis zum vermutlichen Ende der Weltgeschichte mit dem Jüngsten Gericht 1670 wieder anwachsen und die Gottesfürchtigen triumphieren, bot also durchaus eine begrenzte Hoffnungsperspektive jenseits chiliastischer Erwartungen.

Der Vormarsch Gustav Adolfs wurde von (sächsisch) lutherischer Seite als Eingreifen Gottes zur Rettung der Protestanten begrüßt und der schwedische König mit dem Sieg über das kaiserliche Heer unter Tilly in der (ersten) Schlacht bei Breitenfeld 1631 zur Erlösergestalt stilisiert (der unbesiegbare »Leu aus Mitternacht« [Löwe aus dem Norden]; zu Gustaf Adolf als »des Reiches Licht-Putzer« → KTGQ 3, Nr. 62b, vgl. ebd., Nr. 62a). Ähnliche Erlösungshoffnungen hatten sich schon auf Friedrich V. als Vernichter des römischen Katholizismus gerichtet. Nach dem Tod von Gustav Adolf in der Schlacht von Lützen 1632 nahm dessen Verehrung geradezu kulthafte Züge an.

So wurden in großer Anzahl Münzen, Büsten und Skulpturen zu Ehren von Gustav Adolf produziert. In protestantischen Reichsstädten wie Augsburg und Nürnberg kam die Massenherstellung von Kleinbildern in bemaltem Wachs für ein breites Publikum in Gang, was an den Gebrauch von Bildnissen in der katholischen Heiligenverehrung und im Wallfahrtswesen erinnert.

Zur endzeitlichen Deutung der kriegerischen Ereignisse gehörte deren Verbindung mit auffälligen Naturerscheinungen. So sah man im Auftauchen eines Kometen im Winter von 1618/1619 ein göttliches Wunderzeichen, welches das kommende Kriegsunheil ankündigte. Die Erinnerung an diesen angeblichen Fingerzeig Gottes wurde während des ganzen Krieges in Flugschriften, Zeitungen und Predigten lebendig gehalten.

Zahlreiche Berichte von spektakulären Naturereignissen vom Erdbeben – das auf die kommende Öffnung der Gräber beim Jüngsten Gericht verwies – bis zum Blutregen und vom Himmel fallenden Feuerkugeln als Zeichen des nahen Weltendes fanden als Himmelswunder Eingang in die Publizistik der »Neuigkeiten«.

In vielen konkreten Konfliktfällen vor Ort traten die Geistlichen nicht nur als Prediger und Seelsorger, sondern auch als Anwälte der einfachen Bevölkerung auf, so etwa in Norddeutschland mit der öffentlichen Kritik am sog. Kipper- und Wipperwesen in der Anfangszeit des Dreißigjährigen Krieges.

Städte und Fürsten verpachteten ihre Münze an Privatpersonen, die ihren Gewinn durch Münzverschlechterung maximierten. Die daraus resultierende Geldentwertung führte zur Verarmung von Teilen der Bevölkerung. So kam es 1622 in Magdeburg zu Volksaufständen. Der in Wittenberg ausgebildete Paul Röber, zu dieser Zeit Pfarrer am Halleschen Dom, später Theologieprofessor in Wittenberg, hatte die Missstände in seinen Landtagspredigten (1621) angeprangert. Andere verfassten kritische Traktate, so der wirtschaftstheoretisch interessierte Ch.G. de Spaignart, Pfarrer an der St. Ulrichskirche in Magdeburg, zur ›Theologischen Münzfrage‹ (1621). Das »Kipperwesen« konnte 1622/1623 durch Vereinbarungen beendet werden.

Mit den kirchlichen Buß- und Umkehrmahnungen im endgeschichtlichen Horizont einher ging der Wunsch nach einer konsequenteren Christianisierung der Gesellschaft. Diese Haltung korrespondierte offenbar zu einem gewissen Teil mit den Erwartungen breiterer Bevölkerungskreise, die Obrigkeit müsse tatkräftiger gegen die »inneren Feinde« vorgehen und damit die Ursachen der gestörten Weltordnung beseitigen. Das theologische Ringen um die Klarheit konfessioneller Identität auf der Basis von Bekenntnis und »reiner Lehre« und die Versuche zur Durchsetzung einer kirchlichen Maßstäben entsprechenden Frömmigkeitspraxis sind ähnlich wie die obrigkeitlichen Verordnungen gegen Fluchen und Gotteslästerung und die Erlasse zum Abhalten öffentlicher Bitt- und Bußgottesdienste jedenfalls nicht nur als »Diktate von oben« zu sehen.

Ebenfalls konfessionsübergreifend bedeutsam für den Umgang mit Todesangst und Tod waren die Produktion einer reichen Trost- und Erbauungsliteratur und geeignetem Liedgut sowie der Ausbau der praktischen Seelsorge. Einerseits kämpfte man gegen die Angst vor Tod und Teufel an und förderte Meditation und Gotteslob, andererseits benötigte man die Teufelsangst, um innere Anfechtungen zu benennen und Distanzierung von »Ketzern« einzufordern. Die auf verstärkte Individualisierung und Verinnerlichung setzende kirchliche Frömmigkeitspraxis und das barocke Lebensgefühl mit seinem spannungsreichen Mit- und Nebeneinander von Todesgedenken (memento mori) und Genuss im Hier und Jetzt (carpe diem) dürften in lebendiger Wechselwirkung mit einander zu sehen sein.

Die Jahre nach 1638 waren vom Ringen um endgültige Friedensverhandlungen bestimmt. Seit 1643 wurden multilaterale Verhandlungen geführt. 1644 begannen die Friedensgespräche im protestantischen Osnabrück (Kaiser und Schweden) und im katholischen Münster (Kaiser und Frankreich) unter Beteiligung von Gesandten fast aller europäischen Mächte. Da kein Waffenstillstand vereinbart werden konnte, gingen die Kämpfe vielerorts weiter. Die Schweden konnten aufgrund der Schwäche des kaiserlichen Heeres noch 1648 bis nach Prag vordringen. Erst nun kamen die Friedensverhandlungen zum Durchbruch.

Das vom Westfälischen Friedenskongress 1648 verabschiedete Vertragswerk umfasste europäische Friedensschlüsse zwischen Kaiser und Reichsständen einerseits und europäischen Mächten andererseits, so zwischen Spanien