Geschichte des Christentums IV,2 - Hans-Martin Kirn - E-Book

Geschichte des Christentums IV,2 E-Book

Hans-Martin Kirn

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Beschreibung

A complex process of transformation creating the breakthrough into the modern age, with effects that are still formative today, took place in the history of the Western church in the seventeenth and eighteenth centuries. The most important semantic elements in it, which gradually separate out into the Age of Denominations, Pietism and the Enlightenment, describe three forms of Christian life and thought that overlap in many ways and only produce a sufficiently nuanced overall picture of early modern church history when they are viewed as forming a complete whole. This second sub-volume introduces the Enlightenment and Pietism, currents that had a lasting influence on intellectual and religious history in Europe, and also examines the development of the Orthodox churches in the seventeenth and eighteenth centuries.

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Theologische Wissenschaft Sammelwerk für Studium und Beruf

Herausgegeben von:

Traugott JähnichenAdolf Martin RitterUdo RüterswördenUlrich SchwabLoren T. Stuckenbruck

Band 8.2

Hans-Martin KirnAdolf Martin Ritter

Geschichte des Christentums IV,2

Pietismus und Aufklärung

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033678-0

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-033679-7

epub: ISBN 978-3-17-033680-3

mobi: ISBN 978-3-17-033681-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

In der abendländischen Kirchengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts vollzog sich ein vielschichtiger, zur Neuzeit durchbrechender und deshalb in seinen Folgen bis heute prägend gebliebener Umformungsprozess. Die wichtigsten Sinneinheiten, die dabei als Konfessionelles Zeitalter, Pietismus und Aufklärung auseinandertreten, bezeichnen drei christliche Lebens- und Denkformen, die einander vielfältig überlagern und erst in der Zusammenschau ein zureichend differenziertes Gesamtbild der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte ergeben. Dieser zweite Teilband stellt die die Europäische Geistesgeschichte nachhaltig prägenden Strömungen der Aufklärung und des Pietismus vor und beleuchtet auch die Entwicklung der Orthodoxen Kirchen im 17. und 18. Jh.

Prof. Dr. Hans-Martin Kirn, Protestantische Theologische Universität Amsterdam - Groningen /NL. Prof. Dr. Adolf Martin Ritter, Universität Heidelberg.

Inhalt

A  Pietismus

Hans-Martin Kirn

Begriff und Bedeutung

Zur Forschungsgeschichte

1  Strukturelemente

2  Philipp Jakob Spener und die Anfänge des lutherischen Pietismus

3  August Hermann Francke und der Hallische Pietismus

3.1  Keimzelle der Reformprojekte im Weltmaßstab: Die Glaucha’schen ­Anstalten

3.2  Hallischer Pietismus und absolutistischer Staat

3.3  Religiöse Praxis. Kommunikation

3.4  Weltmission, Juden- und Islammission, Judenpolitik

3.5  Ausstrahlung und Ausbreitung

4  Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine

4.1  Von der Gründung Herrnhuts zur weltweiten Brüderunität

4.2  Ämter und Institutionen. Religiöse Praxis

4.3  Zinzendorfs Kreuzestheologie

4.4  Weltmission, Judenmission

4.5  Ausbreitung in England und Nordamerika. Heimische Entwicklungen

4.6  Globale Kommunikations- und Erinnerungskultur

4.7  Exkurs: Zinzendorfs Ehen

5  Württembergischer Pietismus

5.1  Ausbreitung. Kirchliche Reformen

5.2  Radikaler Pietismus

5.3  Bedingte Toleranz: Das sog. Pietisten-Reskript von 1743

5.4  Kirchlicher Pietismus: Positionen

5.5  Pietistischer Patriotismus

6  Reformierter Pietismus

6.1  Grundlegende Impulse: Theodor Undereyck und seine Schüler

6.2  Klärungsprozesse

6.3  Radikaler Pietismus

6.4  Positionen

7  Der radikale Pietismus und die Separation

7.1  Charismatisch-enthusiastische Aufbrüche

7.2  Philadelphismus

7.3  Der radikale Pietismus am Rande der Konfessionskirchen

7.4  Separatistische Pietisten im Wittgensteiner Land und in der Wetterau

7.5  Radikalpietistisch-täuferisches Christentum

7.6  Inspirationsgemeinden

7.7  Radikaler Glaubensindividualismus: Johann Konrad Dippel

7.8  Späte Blüte der philadelphischen Bewegung: Berleburg

7.9  Radikalpietisten in Nordamerika: Johannes Kelpius und Georg Conrad Beissel

8  Übergänge: Spätaufklärerischer Pietismus und der frühe ­Schleiermacher

B  Aufklärung

Hans-Martin Kirn

Begriff und Bedeutung

Zur Forschungsgeschichte

1  Die Aufklärung als europäische Bildungs- und Reformbewegung

2  Trägerschichten, Kommunikationsmedien, Organisationsformen

3  Die Aufklärungsbewegung in den Ländern Europas

3.1  Westeuropa: Niederlande, England, Schottland und Irland, Frankreich

3.2  Mitteleuropa: Altes Reich, Schweizerische Eidgenossenschaft

3.3  Nordeuropa: Dänemark, Norwegen, Finnland, Schweden

3.4  Südeuropa: Italien, Spanien, Portugal, Kolonien

3.5  Osteuropa

4  Philosophische Aufklärung in Europa – Positionen

4.1  Wegbereiter

4.2  Bibelkritik und radikale Aufklärung: Baruch de Spinoza

4.3  Das »vernünftige Christentum« der englischen Aufklärung: John Locke und der Deismus

4.4  Kirchen- und christentumskritische Aufklärung in Frankreich

4.5  Deutsche Aufklärungsphilosophie: Gottfried Wilhelm Leibniz, ­Christian Thomasius und Christian Wolff

4.6  Kritische Philosophie als Höhe- und Wendepunkt der Aufklärung: ­Immanuel Kant

5  Die Aufklärung als Bildungs- und Reformbewegung im ­Protestantismus

5.1  Theologische Aufklärung

5.2  Kirchliche Aufklärung

5.3  Staatliche Aufklärung

5.4  Aufklärung in Pädagogik, Literatur und Kunst

5.5  Gestalten der »Gegenaufklärung«: kirchlich-theologischer und staatlicher Traditionalismus

5.6  Grundprobleme religiös-kultureller Pluralität: Antikatholizismus, Judenemanzipation, Frauenrechte, Wahrnehmung des außereuropäischen »Fremden«

6  Die Aufklärung als Bildungs- und Reformbewegung im ­Katholizismus

6.1  Theologische Aufklärung

6.2  Kirchliche Aufklärung

6.3  Staatliche Aufklärung

7  Die Aufklärung (Haskala) als Bildungs- und Reformbewegung im Judentum

7.1  Die Haskala als kultureller Vergesellschaftungsprozess

7.2  Die Haskala als Bildungs- und Reformbewegung im Zeichen des ­»vernünftigen« Judentums

8  Die fundamentale Politisierung der Aufklärung: Amerikanische und Französische Revolution

8.1  Amerika und die »Morgenröte der Demokratie«

8.2  Das Zeitalter der Französischen Revolution

C  Orthodoxe Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert

Adolf Martin Ritter

Einführendes

1  Die byzantinisch-orthodoxen Kirchen

1.1  Konstantinopel und die anderen östlichen Patriarchate

1.2  Die Balkan-Orthodoxie unter der Türkenherrschaft am Beispiel ­Bulgariens und Rumäniens

1.3  Die orthodoxe Kirche in Russland

1.4  Die Georgisch-Orthodoxe Kirche

2  Die von Byzanz getrennten Nationalkirchen

2.1  Die »Heilige Apostolische Katholische Assyrische Kirche des Ostens«

2.2  Die »Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochia und dem ganzen ­Orient«

2.3  Die armenische Nationalkirche

2.4  Die koptische Kirche

2.5  Die äthiopische Kirche

2.6  Die Thomaschristen in Indien

3  Die mit Rom unierten Ostkirchen

3.1  Die Unionen von Brest (1595/1596) und von Užhorod (1646)

3.2  Die Union in Siebenbürgen

3.3  Die Union der Maroniten

3.4  Die unierten Thomaschristen

Abbildungsverzeichnis

Ortsregister

Personenregister

Sachregister

A  Pietismus

Hans-Martin Kirn

Literatur

Zum weiteren Kontext siehe auch Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018.

Veronika Albrecht-Birkner, »Reformation des Lebens« und »Pietismus« – ein historiographischer Problemaufriss, in: PuN 41 (2015), 126–153. – Martin Brecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Göttingen 1993–2004 (Bd. 1, 2 und 4). – Wolfgang Breul, Marcus Meier, Lothar Vogel (Hg.), Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung, 2. Aufl. (AGP 55), Göttingen 2011. – Wolfgang Breul, Jan C. Schnurr (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung (AGP 59), Göttingen 2013. – Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts (VMPIG 129), Göttingen 1997. – Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert (Bürgertum NF 2), Göttingen 2005. – Ulrike Gleixner, Erika Hebeisen (Hg.), Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus (Perspektiven in der neueren und neuesten Geschichte 1), Korb 2007. – Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850 (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 20), Bd. 2, Kap. 6. – Per Ingesman (Hg.), Religion as an Agent of Change. Crusades – Reformation – Pietism (BSCH 72), Leiden 2016. – Martin Jung, Pietismus, Frankfurt/M. 2015. – Carter Lindberg (Hg.), The Pietist Theologians. An Introduction to Theology in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Malden/MA 2005. – Chi-Won Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts (TVG 466), Gießen 2001. – Hans-Georg Kemper, Hans Schneider, Goethe und der Pietismus (Hallesche Forschungen 6), Halle 2001. – Thomas K. Kuhn, Religion und neuzeitliche Gesellschaft. Studien zum sozialen und diakonischen Handeln in Pietismus, Aufklärung und Erweckungsbewegung (BHTh 122), Tübingen 2003. – Hartmut Lehmann, Heinz Schilling, Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Jansenismus, Quietismus, Pietismus (AGP 42), Göttingen 2002. – Hartmut Lehmann, Die Geschichte der Erforschung des Pietismus als Aufgabe, in: PuN 32 (2006), 17–36. – Ders., Transformationen der Religion in der Neuzeit (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 20). – Frederik A. van Lieburg (Hg.), Confessionalism and Pietism. Religious Reform in Early Modern Europe (VIEG Beih. 67), Mainz 2006. – Frederik A. van Lieburg, Daniel Lindmark (Hg.), Pietism, Revivalism and Modernity, 1650–1850, Newcastle 2008. – Frederik A. van Lieburg, Piety or Pietism? A Comparison of Early Modern Danish and Dutch Examples of Interconfessional Religiosity, in: Per Ingesman (Hg.), Religion as an Agent of Change. Crusades – Reformation – Pietism (BSCH 72), Leiden 2016, 189–210. – MacCulloch, Die Reformation (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 20), ch. 20. – Dietrich Meyer, Geist-reiche Lieder – der Pietismus als breite Singbewegung, in: Peter Bubmann, Konrad Klek (Hg.), Davon ich sing und sagen will (s. Literatur in Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 125), 119–134. – Wolfgang Miersemann, Gudrun Busch (Hg.), Pietismus und Liedkultur (Hallesche Forschungen 9), Halle 2002. – Irina Modrow, Frauen im Pietismus. Das Beispiel der Benigna von Solms-Laubach, Hedwig Sophie von Sayn-Wittgenstein-Berleburg und Erdmuthe von Reuß-Ebersdorf als Vertreterinnen des frommen Adels im frühen 18. Jahrhundert, in: Michael Weinzierl (Hg.), Individualisierung, Rationalisierung, Säkularisierung. Neue Wege der Religionsgeschichte (WBGN 22), Wien 1997, 186–199. – Irmtraut Sahmland, Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache (AGP 61), Göttingen 2016. – Peter Schicketanz, Der Pietismus von 1675 bis 1800 (KGE 3,1), Leipzig 2001. – Pia Schmid (Hg.), Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen (Hallesche Forschungen 40), Halle 2015. – Douglas H. Shantz, Peter C. Erb, An Introduction to German Pietism. Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe, Baltimore 2013. – Douglas H. Shantz (Hg.), A Companion to German Pietism, 1660–1800 (BCCT 55), Leiden 2014. – Christian Soboth, Udo Sträter (Hg.), »Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget«. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus (Hallesche Forschungen 33.1–2), Halle 2012. – Christian Soboth, Thomas Müller-Bahlke (Hg.), Reformation und Generalreformation. Luther und der Pietismus (Hallesche Forschungen 32), Halle 2012. – Markus Steinmayr, Menschenwissen. Zur Poetik des religiösen Menschen im 17. und 18. Jahrhundert (Communicatio 35), Tübingen 2006. – Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 2005. – Johannes Wallmann, Gesammelte Aufsätze, 3 Bde., Tübingen 1995–2010.

Neuere Ausgaben von Quellentexten bieten: Kleine Texte des Pietismus (KTP), Leipzig 1999–2008, die Edition Pietismustexte (EPT), Leipzig 2010ff., und Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul u. a. (Hg.), Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts, Leipzig 2017.

Begriff und Bedeutung

Pietismus als Programm und Epoche

In der gegenwärtigen Forschung wird der Begriff des Pietismus meist in einem engeren und einem weiteren Sinne für religiöse Erneuerungsbewegungen im Raum des frühneuzeitlichen Protestantismus gebraucht, die sich programmatisch für eine Subjektivierung und Verinnerlichung des Glaubens (Buße und Bekehrung als innere [geistliche] Erfahrung), Sammlung der Gläubigen (Konventikel) und eine intensivierte Spiritualisierung des Alltags (Lebensheiligung) einsetzten. Zwischen Erneuerungsbewegungen und von spezifischen Frömmigkeitsstilen getragenen Erneuerungsbestrebungen wird dabei oft nicht hinreichend unterschieden. Im engeren klassischen Sinn bezeichnet der Begriff die bedeutendste religiöse Reformbewegung des kontinentaleuropäischen Protestantismus, wie sie im späteren 17. Jahrhundert in der lutherischen und in der reformierten Kirche entstand und in Fortbildung und Abkehr von der altprotestantischen Orthodoxie breite gesellschaftliche Wirkung entfaltete. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet sie gegenüber der Aufklärungsbewegung in die Defensive. Zeitgleich mit dem kirchlichen Pietismus entstand der sog. radikale Pietismus mit heterodoxen und separatistischen Zügen, der als eine Ausdrucksform des charismatisch-mystischen Christentums im weiteren Sinne betrachtet werden kann.

Die Bezeichnung »Pietisten« (lat. pietas, Frömmigkeit) kam vor 1680 im gegnerischen Umfeld des von Philipp Jakob Spener begründeten lutherischen Pietismus im abwertend-spöttischen Sinne von »Frömmlern« auf. Mit den ersten großen Auseinandersetzungen um die Bewegung (Leipziger Unruhen 1689/1690) verbreitete sich die Bezeichnung und verwandte Wortbildungen (Pietisterey, Pietismus) deutschlandweit, bis sie schließlich, wenngleich mit allerlei Bedenken, zur Selbstbezeichnung wurde (vgl. das bekannte Sonett des pietistischen Leipziger Poesie-Professors Joachim Feller aus dem Jahr 1689, wo es zum inzwischen »weltbekannten« Namen eines Pietisten hieß: »Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert, und nach demselben auch ein heilges Leben führt«).

Die Geschichte des Pietismus im engeren Sinne lässt sich in drei Abschnitte gliedern: eine Frühphase der Anfänge und Ausbreitung von den ersten Erbauungsversammlungen (Konventikeln) 1670 bis etwa 1690, der Hauptphase zwischen etwa 1690 und 1740, gekennzeichnet von den langdauernden pietistischen Streitigkeiten, dem Aufstieg Halles zu einem Zentrum des Pietismus und der vermehrten Durchsetzung der Bewegung gegenüber Orthodoxie und Aufklärung sowie der Ausbreitung des radikalen Pietismus, und einer Spätphase zwischen etwa 1740 und 1780, als die Aufklärung zur bestimmenden geistigen Kraft wurde, auch der radikale Pietismus an Kraft verlor und mit der Gründung der Deutschen Christentumsgesellschaft 1780 der Grundstein für die kommenden Erweckungsbewegungen gelegt wurde.

Pietismus als Strukturanalogie

In einem weiteren frömmigkeitstypologischen Sinne der intensivierten Subjektivierung des Glaubens und seiner Praxis umfasst der Begriff des Pietismus zunächst den für die Genese des Pietismus im engeren Sinn zentralen Arndtianismus in seinen unterschiedlichen Strömungen sowie den vielschichtigen mystischen Spiritualismus des 17. Jahrhunderts mit unter anderem Schwenckfeldern und Böhme-Anhängern (Böhmisten). Sodann können dem Pietismus im weiteren Sinne der englische Puritanismus und die puritanisch inspirierten niederländischen Frömmigkeitsbestrebungen des 17. Jahrhunderts wie die »Nadere Reformatie« zugerechnet werden. Sie alle sind Teil der Pluralisierung des Protestantismus in der Frühen Neuzeit. Weiter ausgreifend finden sich strukturelle Analogien im römisch-katholischen Jansenismus und Quietismus sowie im jüdischen Chassidismus (vgl. hierzu Hans-Martin Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Konfessionelles Zeitalter, Stuttgart 2018, 303-309; 327-333).

Ähnlich wie die Aufklärungsbewegung, doch unterschiedlich motiviert und strukturiert, brachte der Pietismus im engeren Sinne, auf den wir uns im Folgenden konzentrieren, die Entdogmatisierung und Entkonfessionalisierung der herrschenden Kirchentümer und die Herausbildung des neuzeitlichen, in der Subjektivität verorteten Verständnisses von Religion und Religiosität entscheidend voran. Beide teilten in ihren kirchlichen Formen das Grundanliegen einer Weiterführung der in ihrer Sicht im konfessionellen System unvollendet gebliebenen Reformation, einmal – kurz gesagt – im Sinne der Subjektivierung, einmal im Sinne der Rationalisierung des Glaubens und seiner Praxis. Beide widersprachen radikaleren Kräften, welche von einem hoffnungslosen Scheitern der Reformation ausgingen und sich für konfessionsunabhängige Neugestaltungen des Christlichen oder für religionskritische Alternativen einsetzten.

Die Anzeichen einer Interessengemeinschaft zwischen Pietismus und früher Aufklärung erwiesen sich als trügerisch. Viele Pietisten kritisierten die Aufklärungsbewegung zunehmend wegen ihrer historischen Bibelkritik und ihrem angeblich offenbarungskritischen Vernunftgebrauch, wie umgekehrt auf Seiten der Aufklärungsbewegung der theologische Konservatismus, verbunden mit einer asketischen und stark gefühlsorientierten Spiritualität, als nicht zeitgemäß und wenig kompatibel mit einem »vernünftigen Christentum« empfunden wurde. Die strikt antiaufklärerische Haltung in weiten Teilen des kirchlichen Pietismus wurde an die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhundert weitergegeben, wo sich neue Allianzen mit dem (lutherischen) Konfessionalismus ergaben.

Obwohl der kirchliche Pietismus den Anspruch erhob, seine Konzeption von Erfahrung und Verinnerlichung des Glaubens im Rahmen der Lehrorthodoxie zu entfalten, rückten das gläubige Subjekt und seine Selbstwahrnehmung mehr als bislang in den Vordergrund. Dies bot Anlass zu theologischer Kritik von Seiten der strengen Orthodoxie. In deren Augen stand zu befürchten, dass der pietistische Erfahrungsbegriff in letzter Konsequenz dazu führte, die Konstitution der Glaubensinhalte der Erfahrung selbst zuzuschreiben und damit den bibel- und bekenntnisorientierten Offenbarungsbegriff aufzuheben. Faktisch fand im kirchlichen Pietismus die der Orthodoxie in ihrer ganzen Breite selbst innewohnende Dynamik verstärkter Subjektivierung zu einer neuen Ausdrucksform.

Der Pietismus hat auf vielfältige direkte und indirekte Weise gesamtgesellschaftlich gewirkt. Dies gilt für das Bildungswesen, die Pädagogik und die Literatur mit ihren jeweiligen anthropologischen Neuakzentuierungen und Verschiebungen. So erhielten im Bereich der Literatur beispielsweise (Auto-)Biographik und Bildungsroman nennenswerte Anregungen aus dem Raum des Pietismus. Die Wendung zur religiösen Innerlichkeit, zum Erweckungserlebnis und zur Selbstbeobachtung des gläubigen Ich und seiner Gefühlswelt bereiteten der eigenständigen psychologischen Wahrnehmung auch ohne oder gegen direkte religiöse bzw. kirchliche Bindungen den Weg. Die religiöse Sensibilisierung wirkte zudem auf anderen Gebieten weiter, etwa auf dem der Wahrnehmung der Natur und ihrer Ästhetik. Dabei finden sich in der Aufklärungsbewegung früh analoge Suchbewegungen der Innerlichkeit, um die Welt der Gefühle und Empfindungen zu erhellen. Strömungen wie die sog. Empfindsamkeit müssen also nicht einseitig als pietistisch inspiriert gedeutet werden. Gleichwohl kann der Pietismus im Blick auf einige seiner Wirkungen im Bereich religiöser Subjektivierung und Individualisierung sowie der formalen wie charakterlichen Bildung als eine Form des Kulturprotestantismus »avant la lettre« betrachtet werden, ohne sich darauf beschränken zu lassen. Die folgende Darstellung bietet einen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der einzelnen Gruppierungen und Richtungen. Auf eine gesonderte thematische Zusammenschau musste verzichtet werden.

Zur Forschungsgeschichte

Die Anfänge der neueren wissenschaftlichen Erforschung des Pietismus liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Allerdings reichen die Bemühungen um eine quellenorientierte, allen Parteien Gerechtigkeit widerfahren lassende Darstellung bis in frühaufklärerische Zeit zurück. Ein Beispiel hierfür sind die Berichte über die »pietistischen Streitigkeiten« in Johann Georg Walchs ›Einleitung in die Religions-Streitigkeiten der Evangelisch-Lutherischen Kirche‹ (5 Bde., 1733–1739, Neudr. 1972–1985, Bd. 1, Kap. 5). Auch andere, eher apologetisch, kontroverstheologisch oder polemisch angelegte Darstellungen blieben bei hohem Informationsgehalt von Bedeutung.

Dies gilt etwa für die frühe Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine des »Insiders« David Cranz aus dem Jahr 1771, den dritten Band der ›Kritischen Geschichte des Chiliasmus‹ von 1783 aus der Hand des Semler-Schülers Heinrich Corrodi und dem von Ludwig Timotheus Spittler begründeten und von Gottlieb Jakob Planck bis zum Ende des 18. Jahrhundert weitergeführten ›Grundriss der Geschichte der christlichen Kirche‹ (1782, 5. Aufl. 1812). Erbaulichen Zwecken dienten die Versuche historischer Vergewisserung bei den »Vätern«, wie sie im 19. Jahrhundert die Württemberger Albert Knapp und Christian Gottlob Barth in populären Darstellungen vorlegten. Einen Schritt weiter führte Ferdinand Christian Baurs Skizze in seinen ›Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung‹ (1852). Ihm zufolge brach sich die »Starrheit der alten Dogmatik« am Spener’schen Pietismus und machte Raum für ein freieres, von religiöser Innerlichkeit bestimmtes dogmatisches Bewusstsein. Schon Gottfried Arnolds originelle ›Unpartheiische Kirchen- und Ketzerhistorie‹ sicherte der »Spener’schen Epoche« ihre Bedeutung. Bereits 1839 hatte der Baur-Schüler Christian Märklin eine ›Darstellung und Kritik des modernen Pietismus‹ vorgelegt, in welcher er das Bündnis des »modernen« Pietismus insbesondere württembergischer Prägung mit der Orthodoxie kritisierte. Das Wesen und damit den bleibenden Wert des Pietismus fand er in der älteren, ursprünglichen Form des Spener’schen Pietismus, den er im Gegensatz zur Lehrorthodoxie als Ausdruck »lebendiger innerlicher Aneignung« des Christentums sah.

Zu den wegweisenden Werken der historischen Pietismusforschung seit Ende der 1840er Jahre zählen Max Goebels materialreiche dreibändige ›Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche‹ (1849–1860, unvollendet; Neudr. 1992) und Heinrich Schmids ›Geschichte des Pietismus‹ von 1863. Der Pietismus war hier ein im Wesentlichen von Spener ausgehendes lutherisches Phänomen.

Analoge Erscheinungen im reformierten Bereich bezeichnete Goebel als »Labadismus« . Für ihn und andere, etwa den Lutheraner Theodor Kliefoth, lagen die Wurzeln der Spener’schen Konventikel (collegia pietatis) und der diesen zugrunde liegende Kirchenbegriff im Reformiertentum. Auch Schmid nahm Spener nicht von der Tendenz aus, durch die einseitige Betonung der Frömmigkeit das lutherische Kirchenverständnis geschwächt und damit die Indifferenz gegenüber der Lehre und der Theologie als Wissenschaft gestärkt zu haben. Andere Akzente setzte Friedrich August Tholuck, der seine ›Geschichte des Rationalismus‹ (1865) mit einem Abschnitt zur »Geschichte des Pietismus und des ersten Stadiums der Aufklärung« beginnen ließ. Demnach folgte die »biblische Orthodoxie« des Pietismus der nach dem Dreißigjährigen Krieg dahinsterbenden kirchlichen Lehrorthodoxie nach. Mit Pietismus und theologischer Aufklärung traten zwei neue »Parteien des Fortschritts« auf. Der Separatismus wurde unter die mystizistischen »Ausartungen« des Pietismus subsumiert, denen – wie in »reinster Konsequenz« bei Johann Christian Edelmann zu sehen – eine enge Verwandtschaft zum Rationalismus und damit zur Aufklärung attestiert wurde.

Die für längere Zeit wichtigste Gesamtdarstellung legte Albrecht Ritschl mit seiner dreibändigen ›Geschichte des Pietismus‹ (1880–1886, Neudr. 1966) vor. Sein Pietismusbegriff weitete sich über den lutherischen hin zum reformierten Bereich der niederländischen pietistischen Frömmigkeitsbewegung (»Nadere Reformatie«) und zum Separatismus, so dass auch der radikale Pietismus integraler Teil der Bewegung wurde. Die kritische theologische Gesamtwürdigung des Pietismus gründete sich auf dessen Herleitung: Ritschl führte ihn auf die weltflüchtige mittelalterlich-bernhardinische Jesusfrömmigkeit zurück, die in den Protestantismus eingedrungen und durch die Rückbesinnung auf die Reformation zu bestreiten war. Der Pietismus konnte mithin nicht als genuin lutherisch akzeptiert werden.

Kurz zuvor hatte Heinrich Heppe mit seiner ›Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformi[e]rten Kirche, namentlich der Niederlande‹ von 1879 einen nennenswerten Beitrag zum Verständnis der »Nadere Reformatie« einschließlich des Labadismus geleistet und dabei den Pietismus bis auf den Puritaner William Perkins zurückgeführt.

Um die Jahrhundertwende und danach nahm die Kritik an Ritschls Negativzeichnung des Pietismus von allgemein- und kirchenhistorischer Seite zu. So stellten Carl Mirbt und Horst Stephan den Pietismus als Träger religiös-kirchlicher Erneuerung und kulturellen Fortschritts vor. Auch andere Disziplinen meldeten sich zu Wort. Max Weber und Ernst Troeltsch betonten die Kulturbedeutung des Pietismus und wiesen auf die Verwandtschaft mit dem Puritanismus, dem Methodismus und den aus dem Täufertum hervorgegangenen Gruppierungen hin. Für Troeltsch spielte der Pietismus als Kraft des Übergangs vom Alt- zum Neuprotestantismus eine Schlüsselrolle, repräsentierte er doch ein konsequent reformatorisches Bibelchristentum, das sich der (orthodoxen) Traditions- und Staatstheologie widersetzte und dem kritischen historischen Verständnis des Christentums in der Aufklärung vorarbeitete (Troeltsch, Leibniz und die Anfänge des Pietismus, 1900).

Andere zeitgenössische Kritiker Ritschls und der Ritschlschule mit weniger direktem Einfluss wie Franz Overbeck warfen dem »Pietistenhammer« Ritschl einen von dogmatischem Vorurteil bestimmten Umgang nicht nur mit dem Thema, sondern mit der ganzen Kirchengeschichte vor. Selbst bemaß sich für Overbeck der Wert des Pietismus darin, dass er der Welt die Aufklärung als Vermächtnis hinterließ. In der »Erzeugung der Aufklärung« sei sich der Pietismus »bis zur Selbstüberwindung« treu geblieben (Overbeck, Werke und Nachlass 5, 253).

Zu einer neuen, mit Ritschls Werk vergleichbaren Gesamtdarstellung kam es trotz aller Kritik nicht, doch erschienen weiterhin bemerkenswerte Einzelstudien.

So legte Paul Grünbergs dreibändige Studie zu Philipp Jakob Spener und seiner Rezeption, veröffentlicht zwischen 1896 und 1906, den Grund für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem »Vater« des lutherischen Pietismus. Wilhelm Goeters richtete mit seiner Arbeit ›Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krise 1670‹ (1911, Neudr. 1974) den Blick nochmals auf den breiteren Kontext des Pietismus über das deutsche Luthertum hinaus, betonte aber gegen Ritschl, dass erst bei Jean de Labadie und im separatistischen Labadismus im engeren Sinne von Pietismus gesprochen werden könne.

Von den 1920er bis zum Ende der 1950er Jahre bestimmten zahlreiche, zum Teil wegweisende Einzelstudien unterschiedlicher Disziplinen das Bild der noch weithin disparaten Forschung. Erstmals wurden sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen schwerpunktmäßig behandelt (vgl. L. Wacker, Die Sozial- und Wirtschaftsauffassungen im Pietismus, 1922; O. Uttendörfer, Alt-Herrnhut, 2 T., 1925–1926; Neudr. 1984). Voran kam vor allem die regionale Erforschung des Pietismus. Anthologien zur Frömmigkeitsgeschichte und Biographik setzten neue Akzente, so die ›Sammlung von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen‹ des deutschen Pietismus von Werner Mahrholz aus dem Jahr 1921, mit Texten von Johann Arndt über August Hermann Francke bis hin zu Johann Caspar Lavater. Von den wichtigeren Studien im deutschsprachigen Bereich seien genannt: Erich Seebergs Arbeit zur Historiographie und Mystik bei Gottfried Arnold (1923, Neudr. 1964), die ihre Weiterführung unter anderem in katholischer Perspektive durch Kurt Reinhardts ›Mystik und Pietismus‹ (1925) fand, Heinrich Leubes ›Reformideen‹ von 1924, die den lange attraktiven Begriff der »Reformorthodoxie« für die Vorläufer des Pietismus innerhalb der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts in die Debatte zum Verhältnis von Pietismus und Orthodoxie einführten, Karl Hermanns Biographie von Johann Albrecht Bengel (1937, 2. Aufl. 1987), Kurt Alands Spenerstudien (1943), Carl Hinrichs und Klaus Deppermanns Arbeiten zu den Beziehungen zwischen dem Hallischen bzw. Halleschen Pietismus – der Begriff des Hallischen Pietismus meint dabei den im weiteren Sinne von Halle ausgehenden, der Begriff des Halleschen Pietismus den im engeren Sinne in Halle realisierten Pietismus – und Brandenburg-Preußen, sowie August Langens ›Wortschatz des deutschen Pietismus‹ (1954, 2. Aufl. 1968). Letzterer machte die sprachlichen Vermittlungs- und Umformungsleistungen des Pietismus zwischen mittelalterlicher Mystik und der »Sprache der Seele« bei Friedrich Gottlieb Klopstock und der Empfindsamkeit sichtbar.

Für Emanuel Hirsch blieb der Pietismus als theologische wie kirchliche Reformbewegung im Kern eine lutherische, von Spener herkommende Erscheinung, deren Bedeutung in der Wegbereitung für die Aufklärung und der Überwindung der unfruchtbar gewordenen altprotestantischen Orthodoxie lag (Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 1949–1954, Bd. 2, Kap. 20–24). Das von Karl Barth bestimmte Bild des Pietismus war eher negativ: Pietismus und Aufklärung teilten demnach im Kern das Anliegen, Gott vom menschlichen Selbstbewusstsein her zu denken. Der radikale Pietismus verkörperte am deutlichsten diesen Grundzug der von Barth kritisierten neuzeitlichen Theologie seit Friedrich Schleiermacher.

Seit den 1960er Jahren nahm die Pietismusforschung einen merkbaren Aufschwung. In den 1990er Jahren erstarkte das Interesse am radikalen Pietismus, an der Gender-Problematik, an Fragen der Netzwerkbildung und der Kommunikation sowie an weniger prominenten Vertretern der Bewegung. Zunehmend international ausgerichtet und inter- wie transdisziplinär erweitert, veränderten sich Perspektiven und Themenstellungen in globaler Weite. Über die Grenzen der Kirchen- und Theologiegeschichte hinaus kam die Bedeutung des Pietismus im Bereich der Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte, der Politik-, Wirtschafts- und Medizingeschichte sowie der Kolonial- und Missionsgeschichte zur Geltung. Auch die noch stets schwierige Verhältnisbestimmung zwischen Pietismus und verwandten Bewegungen wie Puritanismus und Jansenismus wurde anhand rezeptionsgeschichtlicher Fragestellungen weiter bearbeitet sowie die Frage des Verhältnisses von Pietismus, Orthodoxie und Frühaufklärung neu erörtert.

Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatte die Gründung der landeskirchlich gestützten »Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus« (Pietismuskommission) durch die führenden Pietismusforscher Kurt Aland, Martin Schmidt, Winfried Zeller und Erhard Peschke im Jahr 1964. In ihrem Auftrag erschienen bzw. erscheinen unter anderem die ›Arbeiten zur Geschichte des Pietismus‹ (AGP 1967ff.) und das Jahrbuch ›Pietismus und Neuzeit‹ (PuN 1974ff.).

Nach wie vor fehlt es an historisch-kritischen Ausgaben der Werke namhafter Pietisten. Ausnahmen bilden die Editionen der Briefe Philipp Jakob Speners (Johannes Wallmann), der Tagebücher Philipp Matthäus Hahns (Martin Brecht, Rudolf F. Paulus) und der Korrespondenzen Heinrich Melchior Mühlenbergs (Kurt Aland). Seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienen mehrere kompakte Gesamtdarstellungen zum Pietismus (Fred E. Stoeffler, 1965, Martin Schmidt, 1972, 2. Aufl. 1983, Erich Beyreuther, 1978). 1990 folgte Johannes Wallmanns Pietismus-Beitrag im Handbuch ›Die Kirche in ihrer Geschichte‹, 2005 erschien eine separate aktualisierte Darstellung. Stoeffler vertrat einen weiten, die erwecklichen Teile des Puritanismus und die »Nadere Reformatie« wie andere an der praxis pietatis orientierten Gruppen im nachreformatorischen Protestantismus einschließenden Pietismusbegriff. Das schon bei W. Goeters sichtbare Interesse an einer deutlichen Unterscheidung zwischen dem Pietismus im engeren und weiteren Sinn wurde in neuerer Zeit von Hans Schneider und, besonders profiliert, von Johannes Wallmann weitergetragen. Nach Wallmann ist der Pietismus im engeren und einzig präzisen Sinn zu definieren als die im deutschen Luthertum von Philipp Jakob Spener und im Reformiertentum von Theodor Undereyck ausgehende innerkirchliche Frömmigkeitsbewegung. Ihr trat mit Jean de Labadie eine radikale separatistische Bewegung an die Seite. Der weitere Pietismusbegriff bezieht sich dann auf unterschiedliche, der Vorgeschichte des Pietismus im engeren Sinne zugeschriebene »pietistische« Frömmigkeitsbewegungen der Frühen Neuzeit, möglicherweise über den Raum des Protestantismus hinaus, etwa im Blick auf den Quietismus.

Die neueste umfassende Gesamtdarstellung, die von Martin Brecht, Klaus Deppermann, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann herausgegebene ›Geschichte des Pietismus‹ (4 Bde., 1993–2004) folgt in der Konzeption dem von Fred E. Stoeffler vorgezeichneten Weg eines erweiterten Pietismusbegriffs, geht aber über die epochal eingegrenzte Behandlung des Pietismus als gesamteuropäischer protestantischer Frömmigkeitsbewegung der Frühen Neuzeit hinaus. Nicht nur der englische Puritanismus und die niederländischen pietistischen Frömmigkeitsbestrebungen, sondern auch die Weiterentwicklungen des älteren Pietismus in den Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegungen bis hin zum Evangelikalismus des 19. und 20. Jahrhunderts gehen mit in die teilweise unterschiedlich konzipierten Darstellungen ein. Nicht eigens verhandelt werden hier die neuere Geschichte der Freikirchen und der Pfingstbewegungen in Asien, Afrika und Amerika, und die immer wieder als verwandt wahrgenommenen, doch noch wenig komparativ näher untersuchten Bewegungen von Jansenismus, Quietismus und Chassidismus.

Für die künftige Forschung stellt sich die Aufgabe, die Grundunterscheidung von Pietismus im engeren und weiteren Sinne so zu konkretisieren, dass sowohl epochal-frühneuzeitliche wie frömmigkeitstypologische Deutungsansprüche befriedigt werden. Ein Ende der Arbeit an der Klärung der Begriffe und des historiographischen Umgangs mit dem Phänomen des Pietismus ist nicht in Sicht, doch die internationale Forschung tendiert deutlich zu einem weiten Pietismusbegriff. Mit der Spezialisierung der jeweiligen Fachgebiete nimmt die Multiperspektivität in der Pietismusforschung weiter zu. Neben den begrifflichen und konzeptuellen Grundfragen bleiben solche nach der Rolle von Pietismus und Aufklärung in einer Theoriebildung der Moderne bestehen.

1  Strukturelemente

Zu den Strukturelementen des Pietismus zählen die Sammlung der wahrhaft Gläubigen in Konventikeln vor Ort als Kerngruppe kirchlicher Reform wie im Spener’schen Pietismus oder in der Separation wie meist im radikalen Pietismus, sowie die Pflege von geistlichen Freundschaften und der Aufbau von länderübergreifenden Netzwerken mit intensiver Kommunikation durch Gespräche, Publikationen (Erbauungsschriften, erbauliche Zeitschriften), Korrespondenzen und Besuche, hinzu kommt ein reformerischer Aktivismus wie im kirchlichen Pietismus oder ein eher charismatisch-ekstatisches Christentum wie im radikalen Pietismus. Damit verbunden waren auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität chiliastische Hoffnungen. Der Reformaktivismus nahm im Hallischen Pietismus dank obrigkeitlicher Unterstützung feste institutionelle Formen mit weitreichendem gesellschaftlichem Einfluss an. Als beachtlich innovativ in der Entwicklung von neuen internen Gemeinschaftsformen erwiesen sich die Herrnhuter und verschiedene radikalpietistische Gruppierungen.

Der unter Gelehrten und Dichtern in humanistischer und barocker Tradition gepflegte Freundschaftskult wurde im Pietismus unter dem Vorzeichen der geistlichen Freundschaft egalisiert und in eine intensive Besuchs- und Korrespondenzkultur eingebettet. Standes- und Geschlechtergrenzen wurden dabei relativiert (Brüder und Schwestern »in Christus«, Martin Luthers Konzept des »allgemeinen Priestertums aller Gläubigen«). Dies schlug sich zum Beispiel in einem vermehrten Engagement von Laien in der Sterbebegleitung nieder. Nichtadelige Frauen hatten es mit dem Aufbau eigener Freundschafts- und Korrespondenznetze schwerer als Männer. Doch auch verheiratete bürgerliche Pietistinnen überschritten zuweilen die traditionellen Grenzziehungen in eigenen Formen der Freundschaftspflege.

Vor allem die Konventikelbildung und die Rezeption chiliastischer Motive unterschieden den Pietismus von der klassischen Orthodoxie und ihren Frömmigkeitsidealen. Anderes hatte orthodoxe Vorbilder im kirchlichen Arndtianismus, so die biblisch orientierte Frömmigkeitspraxis (praxis pietatis) zur Heiligung des Alltags und der »Reformation des Lebens«, die Kritik an der als »verweltlicht« kritisierten Traditionskirchlichkeit, die Individualisierung des Glaubens in der Pflege eines vertieften Sünden- und Erlösungsbewusstseins um Buße und Bekehrung bzw. Wiedergeburt sowie eine rigorose Handlungsethik.

Bei der frühen Ausbreitung der Bewegung und der Organisation der Konventikel kam Geistlichen und Angehörigen des gehobenen Bürgertums sowie unterstützungswilligen Obrigkeiten eine tragende Rolle zu. Mit ihrer Hilfe fasste der Pietismus in allen Bevölkerungsschichten Fuß. Eine eigene Rolle bei der Ausbreitung der Bewegung und insbesondere der Umsetzung von Reformen spielte der sog. Adelspietismus an verschiedenen Höfen. Er half bei der strategischen Besetzung kirchlicher Ämter. Diese war von der zeittypischen Protektion bestimmt. So waren in Württemberg und in Hessen-Darmstadt – beide Herrscherhäuser waren eng miteinander verwandt – einflussreiche Fürstenmütter tätig, welche die junge pietistische Bewegung in ihren Ländern unterstützten. Nicht wenige Pietisten kamen nur dank der Fürsprache von Fürstenfrauen und -müttern, die eng mit pietistischen Hofpredigern verbunden waren, zu ihren Professuren. Bei radikalpietistischen Gemeinschaftsbildungen spielten enthusiastische Prediger(innen) und Prophet(inn)en eine tragende Rolle, wie überhaupt die religiöse Selbständigkeit der Frau in diesen Kreisen weiter entwickelt wurde als im kirchlichen Pietismus.

Die Konventikelbildung wurde durch die weltlichen und geistlichen Obrigkeiten im Alten Reich in aller Regel bekämpft, wenngleich unterschiedlich streng. Lutheraner, Reformierte und Katholiken sahen hier eine neue schwärmerische »Sekte« aufkommen, die keiner der reichsrechtlich tolerierten Konfessionen zugeordnet werden konnte. Mit sog. Pietisten-Edikten bzw. -Reskripten versuchten die weltlichen Obrigkeiten, der Bewegung Einhalt zu gebieten oder sie zumindest effektiv zu kontrollieren (→ KTGQ 4, Nr. 25). Kirchlicherseits bekamen die unterschriftliche Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisschriften und die strikte Wahrung der kirchlichen Ordnungen neues Gewicht.

Eine 1736 von Erdmann Neumeister im Geist der Wittenberger Spätorthodoxie veröffentlichte Sammlung von in Europa und Amerika erlassenen einschlägigen Edikten und Verordnungen zeigt, wie grundsätzlich und kompromisslos dieser Kampf gegen den Pietismus noch eingefordert wurde, als die Bewegung längst Fuß gefasst hatte und ein generelles Verbot Illusion geworden war. Die obrigkeitlichen Maßnahmen gegen »Pietisten, Schwärmer und ander solch Ungeziefer« sollten den »pietistischen Satan« entlarven und die Anwendung des Ketzerrechts gegen die Bewegung rechtfertigen. Deutlich kam die Sorge vor dem Autoritätsverlust des universitär gebildeten Theologen gegenüber dem unstudierten Laien in Glaubensfragen zum Ausdruck. Aus den in den obrigkeitlichen Verordnungen behaupteten Irrlehren rekonstruierte Neumeister einen »Pietisten-Katechismus«, um den Widerspruch zur kirchlichen Lehre zu demonstrieren.

Dem kirchlichen Pietismus gelang nach und nach eine Integration der Konventikel. Im radikalen Pietismus mit seinen strengen Heiligkeitsidealen und oft massiv chiliastischen Endzeiterwartungen führten sie, hielt man an einer Gemeinschaftsbildung fest, in der Regel zur Separation von der Kirche, die als verweltlichte »Hure Babylon« galt. Andere radikale Pietisten und deren Sympathisanten, insbesondere solche in kirchlichen Ämtern, mieden bewusst die Separation, um in der Kirche für ihre Reformideale zu wirken.

Die pietistische »Sammlung der Gläubigen« führte zur Ausbildung einer spezifischen Gruppenkultur, die sich bewusst von der Umwelt (als »Welt«) abgrenzte und damit gegenkulturelle Züge annahm. Die endogame Heiratsstrategie – man suchte sich den Partner bevorzugt in den eigenen Kreisen – wie auch die vielfältig nach innen gerichteten Kommunikationsformen begünstigten die Abgrenzung bzw. die tendentielle Selbstabschließung mit ihren Vor- und Nachteilen. Von hohem pädagogischem Wert für Individuum und Gemeinschaft waren das Tagebuchschreiben und die (auto-)biographischen Aktivitäten, welche der Selbstvergewisserung sowie der Stabilisierung des Gruppenbewusstseins dienten. Sie stützten die Etablierung einer spezifisch pietistischen Memorialkultur. Diese diente der Erinnerung des Exemplarischen in der Glaubens- und Heilsgeschichte, nicht der Entfaltung autonomer Subjektivität.

Als religiöses Subjekt wurde die Frau hoch geschätzt, doch herkömmliche Geschlechterrollen blieben in aller Regel unhinterfragt. Der primäre Zuständigkeitsbereich der Frauen war der der Haushaltsführung und der Kindererziehung sowie der Kranken- und Wöchnerinnenpflege. Hinzu kam die geistliche Begleitung Bedürftiger. Doch auch unter patriarchalen Bedingungen lässt sich aufgrund des gewachsenen Bewusstseins spiritueller Gleichheit eine tendentielle Stärkung der Rolle der Frau beobachten. Gerade als »Gehülfinnen« ihrer Männer konnten Frauen die Bereiche eigenverantwortlichen Handelns ausbauen, etwa in der Mitarbeit im Publikationswesen. Ihre Rolle als selbständige Gesprächspartner ist nicht zu unterschätzen. Allenfalls im Herrnhutertum und im radikalen Pietismus kam es aufgrund der spirituellen Gleichheit der Geschlechter zu weitergehenden Rollenveränderungen, etwa in der Übernahme gemeindeleitender Funktionen.

In Alltag und Beruf herrschte eine strenge Ökonomisierung der Zeit, die nicht für »weltliche« Vergnügungen verschwendet werden durfte. Auch die Reich-Gottes-Arbeit forderte Disziplin und Fleiß. Entsprechend gestaltete man die Kindererziehung. Zur betont bibelorientierten Erziehung zählte das frühe Memorieren von Psalmen und biblischen Geschichten.

Im Blick auf Sexualität und Ehe gab es unterschiedliche Ansätze. Neben der traditionellen Hochschätzung der Ehe standen Idealisierungen der jungfräulichen Ehe (»keusche« Ehe ohne Geschlechtsgemeinschaft) und der Ehelosigkeit. Trotz mancher Tendenzen, die »fleischliche Lust« bevorzugt im Sexualakt zu sehen, kann nicht von einer generellen Leibfeindlichkeit des Pietismus ausgegangen werden.

Das große Interesse vieler Pietisten an Medizin und Naturwissenschaft war von den hermetisch-magischen Ansätzen des Paracelsismus mitbestimmt, nach welchen sich Gottes- und Welterkenntnis, Bibel- und Naturstudium nicht voneinander trennen ließen. Daran partizipierte auch die intensivierte Selbstbeobachtung als gleichsam geistliche Psychologie.

2  Philipp Jakob Spener und die Anfänge des lutherischen Pietismus

Die Hauptrolle bei der Entstehung des lutherischen Pietismus in Frankfurt/M. spielte der von der Straßburger Orthodoxie (Johann Konrad Dannhauer, Johann Schmidt) herkommende Philipp Jakob Spener, seit 1666 Senior der Frankfurter Pfarrerschaft. Er wurde zu einem der bedeutendsten Kirchenmänner und Theologen seiner Zeit. Ein einflussreicher Gesprächspartner Speners bei der Ausbildung seiner Reformgedanken war der mit ihm befreundete Jurist Johann Jakob Schütz. Dieser lenkte den Blick auf die Sammlung der Gläubigen in erbaulichen Konventikeln nach urchristlichem Vorbild und auf die chiliastische »Hoffnung besserer Zeiten« für die Kirche auf Erden. Was bei Schütz und seinen Anhängern von Anfang an überkonfessionell auf ein rein biblisches, nicht an kirchlichen Bekenntnissen orientiertes Christentum ausgerichtet war, band Spener mit seinem von Martin Luther in dessen Vorrede zur Deutschen Messe angeregten Gedanken einer »ecclesiola in ecclesia«, einer »kleinen [wahren] Kirche in der [allgemeinen] [Groß-]Kirche«, also einer Art Kerngemeinde, in das innerkirchliche Reformstreben im Sinne des orthodoxen Arndtianismus ein.

Konkret wurde die Sammlung der Gläubigen vor Ort erstmals 1670, als Spener begann, in seinem Pfarrhaus zusammen mit Schütz regelmäßig private Erbauungsversammlungen (collegia pietatis, auch exercitia pietatis, Konventikel) abzuhalten. Diese waren von Spener als Bindeglied zwischen öffentlichem Gottesdienst und Hausandacht bzw. Privaterbauung des Einzelnen gedacht. Sie sollten helfen, die gottesdienstliche Praxis, vor allem die Predigt, stärker für die gelebte Frömmigkeit der Gemeindeglieder fruchtbar zu machen (vgl. Kol 3,16). Die geistliche Zielsetzung war im Grunde dieselbe wie die der orthodoxen häuslichen (Predigt-)Meditation. Anfangs kam in der zweimal wöchentlich tagenden Versammlung eine kleine Gruppe Frankfurter Bürger – unter ihnen Theologen, Schulvorsteher (Scholarchen), Juristen und Patrizier – zusammen, um unter Speners Leitung Erbauungsschriften, unter anderem von Joachim Lütkemann und Lewis Bayly, aber auch orthodoxe theologische Literatur zu lesen, so Nikolaus Hunnius’ Abriss der Dogmatik. Schnell weitete sich der Teilnehmerkreis, selbst Reformierte schlossen sich an. Die Besucher kamen zunehmend aus allen Bevölkerungsschichten. Immer mehr Frauen nahmen teil, doch hatten sie kein Rederecht. Im Laufe der Zeit wuchs der Kreis auf mehrere Dutzend Teilnehmer. Mit der Öffnung der Versammlung nahm deren katechetische Orientierung zu.

Nach vier Jahren (1674/1675) änderte Spener die Themenstellung. Man ging zur reinen Bibellektüre mit Auslegung über, die auch die Laien mit einbezog. Möglicherweise wirkten hier labadistische Einflüsse nach (Jean de Labadie, s. Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 5.7), vermittelt über Johann Jakob Schütz. Spener selbst schätzte den Glaubensernst der Labadisten, lehnte aber jeden Separatismus ab.

Die Einrichtung des Frankfurter Kollegiums durch Spener stellt eine eigenständige Leistung dar. Die Konventikelpraxis als solche wurde nicht als kirchliche Neuerung empfunden. So beriefen sich Schütz und Spener zu deren Rechtfertigung unter anderem auf die vom Puritanismus beeinflussten Gebräuche in der niederländischen pietistischen Frömmigkeitsbewegung (G. Voetius).

1675 veröffentlichte Spener seine ›Pia desideria‹ (Fromme Wünsche), die Programmschrift lutherisch-pietistischer Reform (→ KTGQ 4, Nr. 14a.b, vgl. Nr. 14c). Die Schrift war die separate und erweiterte Fassung einer Vorrede, die Spener auf Wunsch des Verlegers zu einer Neuausgabe von Johann Arndts Evangelienpostille geschrieben hatte. Spener präsentierte sich hier der Öffentlichkeit als Anhänger Martin Luthers und Johann Arndts.

Zur Behebung der von geistlichen Defiziten bestimmten Missstände in der Kirche empfahl Spener nun einer breiten Öffentlichkeit die Einrichtung von Erbauungsversammlungen (nach 1 Kor 14) unter der Leitung von Theologen. Mit ihrer Hilfe sollte das erbauliche Bibelstudium in den Gemeinden unter Beteiligung der Laien intensiviert und so das schon von Martin Luther geforderte »allgemeine Priestertum aller Gläubigen« im Sinne eines »geistlichen Priestertums« realisiert werden. Damit wies er den Weg vom traditionellen »Katechismuschristentum« zum typisch pietistischen »Bibelchristentum«.

In anderem Zusammenhang machte Spener deutlich, dass er hierbei auch an eine Stärkung der Position der Laien in der Gemeindeleitung dachte, ähnlich wie im reformierten Presbyterialsystem. Praktische Konsequenzen ergaben sich daraus nicht. Zwar entdeckte Spener im Reformiertentum, das er anfangs hart angriff, viel Nachahmenswertes, darunter auch die Praxis der Hausbesuche und der Kirchenzucht, doch hielt er die dogmatischen Differenzen, insbesondere in der Prädestinationslehre, für unüberbrückbar. Unionistische Bestrebungen lehnte er ab.

Vom Pfarrern und Theologen erwartete Spener volle Konzentration auf die Beförderung gelebter Frömmigkeit (praxis pietatis). Entsprechend sollte das Theologiestudium und die Pfarrerausbildung reformiert werden. An der Theologie als universitärer Wissenschaft hielt Spener fest, doch forderte er eine deutlichere Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Pfarramts, etwa durch vermehrte praktische Übungen in Predigt, Seelsorge und katechetischem Unterricht. Auch Studierende wurden zum Abhalten von Erbauungsversammlungen ermuntert. Mit seiner chiliastische Motive aufnehmenden »Hoffnung besserer Zeiten« (nach Apk 20,4f.) für die (lutherische) Kirche rückte Spener das Reformprogramm in einen heilsgeschichtlich-eschatologischen Zusammenhang: den biblisch verheißenen, aber noch ausstehenden geistig-geistlichen Sieg des reformatorischen Christentums über den römischen Katholizismus (Fall des Papsttums, nach Apk 18f.) und das Judentum (endzeitliche Judenbekehrung, nach Röm 11,25f.). Mit dem in der Confessio Augustana (CA 17) nach seiner Auffassung verurteilten »krassen« Chiliasmus irdischer Herrschaftsträume der Frommen wollte Spener verständlicherweise nicht in Verbindung gebracht werden.

Speners Reformvorschläge knüpften an die lange Tradition orthodoxer Bußrufe an, überschritten deren Rahmen aber deutlich. Einmal verlagerte er die Gewichte auf Seiten der Handelnden: Eine Kirchenreform konnte nach traditioneller Auffassung nur durch die kirchliche und weltliche Obrigkeit erreicht werden. Spener sprach die weltliche Obrigkeit gar nicht mehr an, sondern rückte Predigerstand und Gemeinde ins Zentrum. Sodann kamen mit der prominenten Stellung der Konventikel und der chiliastisch erweiterten Eschatologie Elemente hinzu, die sich nicht mit den vorherrschenden orthodoxen Positionierungen vertrugen. Beide Elemente bildeten eine Motivationsbasis für den reformerischen Aktivismus von Geistlichen und Gemeindegliedern. Dabei ermöglichte die Aufnahme chiliastischer Motive die Integration zukunftsoffener optimistischer Handlungsperspektiven, welche die herrschende orthodoxe Eschatologie des nahen Endgerichts so nicht bot.

Die Reformschrift löste heftige Debatten aus. Was sich auf dem Hintergrund des orthodoxen Arndtianismus als längst fällige Konkretisierung seiner Anliegen verstehen ließ, weckte bei anderen Ängste um den Bestand der traditionellen Kirchlichkeit bis hin zur Auflösung der Ständeordnung. Vertreter der (Spät-)Orthodoxie kritisierten die programmatische Stärkung der Laienbeteiligung in der Kirche und die dem häretischen Chiliasmus zugerechneten eschatologischen Vorstellungen Speners heftig.

Auch in Frankfurt/M. kam es zu Entfremdungen. So suchte Johann Jakob Schütz zunehmend Distanz zu Spener. Zwar nahm er weiterhin an dessen Kollegium teil, doch engagierte er sich zugleich im Kreis der radikalen sog. Saalhofpietisten um die durch Visionen hervorgetretene Johanna Eleonora von Merlau.

Johann Jakob Schütz pflegte vielfältige Verbindungen zu einem breiten Spektrum von Nonkonformisten, so zu Anna Maria van Schurman, zu Jean de Labadie und seinen Anhängern, zu Theodor Undereyck in Bremen, zu radikalen Kirchenkritikern in Württemberg und zu Quäkern wie William Penn. Weiter unterhielt er Kontakte zum Sulzbacher Hof und zu Christian Knorr von Rosenroth, der ihn zur Beschäftigung mit der Kabbala anregte. Auch gehörte er zum Freundeskreis von Pierre Poiret, dem Herausgeber der Schriften von Antoinette Bourignon, an deren Verbreitung er mitwirkte. Den von Schütz vertretenen Stil der Frömmigkeit zeigt sein anonym herausgegebenes ›Christliches Gedenkbüchlein‹ (1675). Kennzeichnend waren das markante Interesse an geistlicher Selbstprüfung und konkreter Heiligung des Alltags. Ziel des geistlichen Lebens war die Vereinigung von göttlichem und menschlichem Willen. Manches weist auf die mystische Spiritualität von Christian Hoburg. Im Gedenkbüchlein fand sich das Lied »Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut«, das in viele Gesangbücher einging (EG 326). Es fällt auf, dass sich Schütz selbst trotz zunehmender Distanz gegenüber der lutherischen Lehre im Gegensatz zu seinen separatistischen Freunden niemals gänzlich von der Kirche trennte. Er besuchte weiterhin die Gottesdienste, doch mied er das Abendmahl. Ein ordentliches Begräbnis wurde ihm versagt.

1682 brach die pietistische Bewegung in Frankfurt/M. auseinander. Saalhofpietisten und kirchliche Pietisten um Spener gingen getrennte Wege. Spener grenzte sich nun deutlich vom radikalen Pietismus ab. Das von ihm geleitete Kollegium verlor in der Folgezeit seine die Laien integrierende Dynamik. Zwar hielt er am Grundgedanken der Konventikel fest und unterstützte deren Ausbreitung durch andere, selbst wurde er aber auf diesem Gebiet nicht mehr tätig. Die Frankfurter Ereignisse schadeten nicht nur Speners Ansehen in der Stadt, es wurde ihm auch zur Last. Die Berufung zum Oberhofprediger in Dresden 1686 brachte eine willkommene Veränderung. Mit diesem Amt übernahm Spener die angesehenste geistliche Position des deutschen Luthertums seiner Zeit.

Die Ursprungsgeschichte des Pietismus in Frankfurt/M. zeigt, wie kirchlicher und radikaler Pietismus mehr oder weniger zeitgleich aus einer Wurzel entstanden. Es bestand eine grundlegende Verwandtschaft im Sammlungs-, Buß- und Bekehrungsdenken und der erfahrungs- und praxisbezogenen Bibelauslegung durch die Laien. Der radikale Pietismus breitete sich anfangs oft erfolgreicher aus als der kirchliche. Johann Jakob Schütz kommt daher nicht nur als Leitfigur des radikalen Pietismus und Urheber der Separation, sondern indirekt auch als Mitbegründer des lutherischen Pietismus in Frage.

Speners Hauptaugenmerk in der Dresdner Zeit galt neuen, lebendigeren Formen des Katechismusunterrichts für Kinder und Erwachsene, wie sie schon in Frankfurt erprobt worden waren. Durch seine Predigten gelang es Spener, auch Erwachsene für die sonntagnachmittägliche »Kinderlehre« zu interessieren. Ein besonderes Verdienst Speners war es, die seit der Reformation in weiten Teilen Deutschlands in Vergessenheit geratene Konfirmation wieder ins Bewusstsein gerückt und an ihrer Verbreitung mitgewirkt zu haben.

Spener verstand sich in erster Linie als Prediger. Er pflegte einen nüchtern-erbaulichen, auf die Glaubenspraxis zielenden Stil, wie er zum orthodoxen Arndtianismus passte. Auf die Stilmittel kunstvoller Kanzelrhetorik verzichtete er. Die Predigthörer wurden aufgefordert, ihre eigenen Bibeln in die Gottesdienste mitzubringen und die Bibeltexte wie in (Teilen) der Kirche von England mitzulesen.

Die Bibeltexte wurden in ihrem Wortsinn erklärt und nach dem Dreierschema Lehre (Dogma), Vermahnung (Ethik) und Trost (Seelsorge) auf die ihnen innewohnenden Wahrheiten hin befragt. Dies im Laufe der Zeit freier gehandhabte Schema sollte auch zum Gliederungsprinzip von Speners Predigtsammlungen werden, die in Jahrgangspredigten die ganze Breite seiner Theologie entfalteten (Die evangelische Glaubenslehre, 1688; Die evangelischen Lebenspflichten, 1692; Der evangelische Glaubenstrost, 1695).

Der Arndtianismus prägte neben der Predigt die Bereiche der Seelsorge Speners, darunter etwa die intensive Briefseelsorge sowie die briefliche Begutachtung von Gewissensfällen (casus conscientiae) (Consilia et iudicia theologica, 1709; [Letzte] Theologische Bedenken, 1700–1702 [1711]).

Schon Speners Lehrer Johann Konrad Dannhauer hatte unter reformiertem Einfluss mehr Gewicht für ethische Fragen neben denen der Dogmatik und die Ausarbeitung einer Gewissenskasuistik gefordert. Ansätze dazu bot die orthodoxe Tradition (Friedrich Balduin), doch eigentlich profiliert hatte sich auf diesem Gebiet die puritanisch-calvinistische Heiligungsethik (William Perkins, William Ames). Was der Pietismus im Blick auf das Handeln des Wiedergeborenen ausarbeitete, wendete die aufklärerische Ethik ins Allgemeine.

Eine Kirchenreform musste nach Speners Überzeugung bei der Reform der Theologenausbildung und des Pfarrerstandes ansetzen. Dies lag anderen Arndtianern wie dem mit Spener eng verbundenen Johann Ludwig Hartmann, Pfarrer und Superintendent in Rothenburg o.d. Tauber, gleichermaßen am Herzen. In seinem aus Besprechungen auf Pfarrkonventen erwachsenen wirkmächtigen pastoraltheologischen Hauptwerk, dem ›Pastorale evangelicum‹ (1678), verlangte Hartmann einen plausiblen Praxisbezug der Theologie, sowohl im Blick auf das Verständnis der Theologie als Wissenschaft wie auf die kirchliche Praxis und Frömmigkeit.

Zum Programm gehörte wie in früheren orthodoxen Reformschriften ein vertieftes, von persönlicher Frömmigkeit (Meditation) und Verantwortungsbewusstsein getragenes Verständnis der Berufung ins Predigtamt und der Amtsführung, Erneuerung von Seelsorge und Kirchenzucht, unter anderem – nach reformiertem Vorbild – durch geistliche »Hausvisitationen«. August Hermann Francke sollte seinem ›Collegium pastorale‹ von 1713 in Halle Hartmanns Werk zugrunde legen. Franckes Vorlesung wurde 1741–1743 von dessen Sohn Gotthilf August in zwei Bänden herausgegeben.

Für Spener wurden Hartmann und ähnlich reformorientierte Pfarrer wie der Augsburger Gottlieb Spitzel zu frühen Verbündeten des eigenen Anliegens, mit denen er Briefkontakt pflegte. Auch namhafte, dem Arndt’schen Frömmigkeitsstil verpflichtete und reformerisch aktive Nichttheologen wie Veit Ludwig von Seckendorf (Seckendorff) sahen sich von Spener angesprochen und stützten sein Reformprogramm. Seit den späten 1670er Jahren entwickelte sich ein enges Verhältnis zwischen Spener und Seckendorf, der 1692 noch für kurze Zeit erster Kanzler der neu gegründeten Universität Halle wurde.

Bekanntheit erlangte Seckendorf neben seinen Schriften zur lutherischen Regierungs- und Verwaltungslehre (Teutscher Fürstenstaat, 1656, Christenstaat, 1685, → KTGQ 4, Nr. 15) durch seine Geschichte der Reformation, in welcher er die Angriffe auf das Luthertum durch den französischen Jesuiten Louis Maimbourg (Histoire du Lutheranisme, 1680) mit einer auf der kritischen Auswertung von Akten und anderem Quellenmaterial beruhenden Darstellung zurückwies (Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo, 3 Bde., 1688–1692). Methodisch zahlte sich hier Seckendorfs Studium bei dem Polyhistor Johann Heinrich Boecler aus, der auch Spener zu seinen Schülern zählte. Boecler war das Haupt der Straßburger Historikerschule und Verehrer der taciteischen, eher deskriptiv als belehrend angelegten Historiographie. Sein Einfluss reichte weit bis ins 18. Jahrhundert hinein. Als Verwaltungsfachmann machte Seckendorf auch Vorschläge zur Verbesserung des Kirchenwesens. So schrieb er 1680 einen Entwurf zur Einrichtung eines Predigerseminars, den er an Spener zur Begutachtung schickte. Die Einrichtung von Konventikeln war für ihn problemlos, solange diese unter pfarramtlicher Leitung blieben. Im Gefolge älterer orthodoxer Stimmen und ganz im Sinne Speners kritisierte er das zu stark dogmatisch-kontroverstheologisch und zu wenig biblisch und auf die Heiligung des Alltags ausgerichtete Theologiestudium, wie er überhaupt für eine umfassende Lebensheiligung aller Christen eintrat. Sein Frömmigkeitsstil, der »himmelsüße« Jesusliebe und Ewigkeitssehnsucht atmete, bewegte sich im Rahmen des kirchlich-orthodoxen Arndtianismus, der zum Pietismus im engeren Sinne hin offen war.

Ausbreitung des Spener’schen Pietismus, Konflikte

Die von Spener initiierte pietistische Bewegung fasste mit ihren Konventikeln zunächst in Städten wie Hamburg, Gießen und Tübingen Fuß. Zunehmend gewann sie an sozialer Breite und erfasste schließlich Vertreter aller Bevölkerungsschichten in Stadt und Land. In Territorien wie Hessen-Darmstadt (Universität Gießen) und Brandenburg-Preußen gewann der Spener’sche Pietismus dank der Förderung durch die absolutistischen Landesherren eine dominante Stellung. In Hessen-Darmstadt konnten einflussreiche Stellen am Hof und der Universität Gießen mit Pietisten besetzt werden. Als Propst und Konsistorialrat in Berlin betrieb Spener seit 1691, unterstützt durch das aufstrebende Kurfürstentum Brandenburg, eine erfolgreiche pietistische Personalpolitik über die Grenzen der lutherischen Kirche Brandenburgs hinaus.

Ein frühes Beispiel für die Schwierigkeiten der Ausbreitung aufgrund kirchenamtlicher Widerstände bieten die Verhältnisse in Hessen-Darmstadt. Der in ein breites Beziehungsnetz von Pietisten unterschiedlicher Couleur eingebundene und später durch den Hamburger Pietistenstreit bekannt gewordene Johann Winckler richtete hier mit Unterstützung Speners Konventikel ein. 1676 zum Hofprediger nach Darmstadt berufen, gründete er am Hof eine Erbauungsversammlung mit Bibellese, Bibelauslegung und Gebet, an der neben Hofangehörigen Theologiestudenten und Mitglieder örtlicher Pfarrersfamilien teilnahmen. Der von orthodoxen Kritikern wie dem Darmstädter Oberhofprediger und Superintendenten Balthasar Mentzer d. J. und dem Nordhausener Diakon Georg Konrad Dilfeld entfachte Streit um das Konventikelwesen beendete das Unternehmen. Ein Freund Wincklers, der damals in Darmstadt tätige Kammerrat Wilhelm Christoph Kriegsmann, Verfasser hermetischer Schriften und Polemiker gegen die von Sabbatai Zwi ausgelöste messianische Bewegung im Judentum, veröffentliche 1677 im Anschluss an den Rudolstädter Kanzler Ahasver Fritsch eine Verteidigung privater Erbauungsversammlungen zum Bibelstudium (Symphonesis christianorum). Er führte unter Berufung auf Mt 18,19f. die Einsetzung von Privatversammlungen direkt auf Christus zurück und wies alle gängigen Einwände zurück, so den einer Konkurrenz zum Predigtamt. Luther habe vergeblich versucht, die Konventikel wieder einzuführen, so dass das römisch-katholische »Antichristentum« nur teilweise – mehr im Blick auf die Lehre als auf das Leben – reformiert werden konnte. Die Versäumnisse galt es jetzt nachzuholen.

Ohne Speners Zutun kam es seit Ende der 1680er Jahre zu den ersten schweren Auseinandersetzungen mit der Orthodoxie in Leipzig und Hamburg (1689/1690) sowie in Gießen (seit 1689). In Leipzig wirkte August Hermann Francke als Anhänger Speners an der Universität. Dessen »Collegium biblicum« wurde auch von Stadtbürgern besucht, was zu erheblichen Unruhen führte. Scharfer Gegner der Bewegung in Leipzig war der dortige orthodoxe Theologieprofessor Johann Benedikt Carpzov II. In den von der Leipziger theologischen Fakultät gegen den Pietismus als neue »Sekte« begonnenen Streit mischte sich die Wittenberger Orthodoxie ein. Bis in die Mitte der 1690er Jahre dauerte die Auseinandersetzung um Speners »Hoffnung besserer Zeiten«, die mit Johann Wilhelm Petersens Chiliasmus gleichgesetzt wurde.

In Hamburg versuchte man von orthodoxer Seite, den aufkeimenden Pietismus unter den Pfarrern, vertreten durch Speners Schwager Johann Heinrich Horb sowie Johann Winckler und Abraham Hinckelmann, mit Hilfe eines Religionseids zu unterdrücken (sog. Hamburger Pietistenstreit). Der wohl schärfste antipietistische Wortführer in Hamburg war der aus Wittenberg gekommene Theologieprofessor Johann Friedrich Mayer.

Zwischen den Parteien kam es zu scharfer Kanzelpolemik. Zeitweise entstanden sogar städtische Unruhen. Die orthodoxe Seite konnte breitere Bevölkerungsschichten gegen die pietistischen »Neuerer« mobilisieren, während die Pietisten Rückhalt bei der Kaufmannschaft hatten. Schon früh war es zum Streit um die Hamburger Oper gekommen, die Winckler im Geiste Speners bekämpfte, Mayer aber verteidigte. Auch die pietistischen Konventikel hatten gleich für Unruhe gesorgt. Die Probleme aus der Welt schaffen sollte ein sog. Revers, eine eidliche Verpflichtungserklärung, welche die Geistlichen auf eine Absage an alle pietistischen »Neuerungen« wie den Chiliasmus und die Konventikel verpflichten sollte. Dieser gegen allerlei »Fanatici« gerichtete Religionseid verwarf explizit Jakob Böhme und jede Form des Chiliasmus. Winckler unterschrieb den Revers zunächst unter Vorbehalt, zog seine Unterschrift aber zurück, nachdem ihm die antipietistische Stoßrichtung des Böhmismus-Vorwurfs deutlich geworden war. Horb und Hinckelmann verweigerten die Unterschrift von Anfang an. Sie wollten keiner ungeprüften Häretisierung Böhmes die Hände reichen, obgleich sie selbst keine Böhme-Anhänger waren. Orthodoxe wie Mayer sahen in Böhme dagegen den neopaganen »Vater« aller enthusiastischen, chiliastischen und kabbalistisch-hermetischen Verirrungen. Außer den genannten drei Pietisten unterschrieben alle Mitglieder des Geistlichen Ministeriums den Revers, der schnell weitere Debatten auslöste. Der Hamburger Rat hob die Verpflichtung bereits im Mai 1690 offiziell auf, doch der Streit ging weiter. Auswärtige Stellungnahmen von theologischen Fakultäten wurden eingeholt, die mit einer Ausnahme im Sinne des Hamburger Ministeriums entschieden. Die Gegner riefen ebenfalls ihre Gewährsleute zu Hilfe. Mayer geriet 1691/1692 mit Spener, dann mit Horb in eine heftige Auseinandersetzung. Der Letztere wurde wiederum von Winckler verteidigt. Horb musste schließlich wegen der Veröffentlichung eines Traktats zur christlichen Kindererziehung aus der Feder Pierre Poirets mit seiner Familie die Stadt verlassen, was den publizistischen Kampf weiter anfachte. 1694 wurde der Streit durch obrigkeitliches Eingreifen beendet. Als Winckler 1699 nach dem Tod seines streitbaren orthodoxen Gegners Samuel Schultze Senior der Hamburger Pfarrerschaft wurde, verließ Mayer die Stadt und zog nach Greifswald. Die pietistischen Geistlichen waren inzwischen in der Stadt in der Mehrheit. Winckler engagierte sich für pietistische Reformen, so für die Einführung eines neuen Gesangbuchs, eine Reform der Liturgie und den Ausbau des Schulwesens, und trat als Bibelherausgeber auf.

In allen Fällen focht Spener für die Interessen seiner Gesinnungsgenossen. Eine ausgedehnte Korrespondenz und die Pflege persönliche Kontakte sicherten den Zusammenhalt und den Informationsaustausch. Den in Hamburg geforderten Religionseid bekämpfte er im Zeichen christlicher Freiheit als tyrannische Machtausübung der Orthodoxie, die damit auf die Seite der traditionell im Luthertum geschmähten Herrschsucht des Papstes gestellt wurde.

Speners Stellung in Dresden wurde angesichts der Aufsehen erregenden Streitigkeiten zunehmend schwieriger. 1691 wurde er nach Berlin in ein weniger bedeutendes, doch kirchlich einflussreiches Amt berufen, in das des Propstes an der Nikolaikirche und eines brandenburgischen Konsistorialrats. Von Berlin aus unterstützte Spener, nahe am Hof und mit guten Kontakten zu den Geheimen Räten, mit großer Geduld das Wirken August Hermann Franckes in Halle. Das Verhältnis war in den 1690er Jahren zweitweise angespannt, da sich Francke nur zögerlich von seiner positiven Einschätzung enthusiastischer Gruppierungen abbringen ließ. Trotz der sich herausbildenden grundlegenden Differenzen im Kirchenverständnis pflegten kirchliche und radikal-separatistische Pietisten oft freundschaftliche Verbindungen miteinander. Auch Spener zeigte wie Francke immer wieder Verständnis für radikalpietistische Positionen, etwa gegenüber dem Ehepaar Petersen.

Geschickt nahm Spener Einfluss auf die höfische Berufungspolitik an der jungen Universität Halle, wo er seine Freunde Joachim Justus Breithaupt und August Hermann Francke unterbringen konnte. Dabei hatte man offenbar anfangs auf Seiten der reformierten Minister und Hofgeistlichen weniger an eine pietistische als an eine im Geiste von Helmstedt konfessionell tolerante Universität gedacht. Der Hallische Pietismus sollte schließlich dem Spener’schen Pietismus auf eigene Weise zu breiter Wirksamkeit verhelfen.

Rückblickend wird man Spener angesichts der weiteren faktischen Beförderung der Subjektivierung des Glaubens und der Überschreitung der Grenzen orthodoxer Konfessionalität als »Vater« des lutherischen Pietismus und Wegbereiter neuzeitlicher Theologie deuten können. Schon Emanuel Hirsch urteilte, in Spener vollziehe sich »die Wende von der altprotestantischen zur neuprotestantischen Epoche« (Geschichte der neueren evangelischen Theologie, Bd. 2 [1951], 154f.).

Ergänzende Literatur

Martin Brecht, Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, in: ders. (Hg.), Geschichte des Pietismus Bd. 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert, Göttingen 1993, 281–389. – Andreas Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus (BHTh 119), Tübingen 2002. – Georg Gremels, Die Ethik Philipp Jakob Speners nach seinen Evangelischen Lebenspflichten (Hamburger theologische Studien 26), Münster 2002. – Albrecht Haizmann, Erbauung als Aufgabe der Seelsorge bei Philipp Jakob Spener (APTh 30), Göttingen 1997. – Frank Hartmann, Johann Heinrich Horb (1645–1695). Leben und Werk bis zum Beginn der Hamburger pietistischen Streitigkeiten 1693 (Hallesche Forschungen 12), Tübingen 2004. – Heike Krauter-Dierolf, Die Eschatologie Philipp Jakob Speners. Der Streit mit der lutherischen Orthodoxie um die »Hoffnung besserer Zeiten« (BHTh 131), Tübingen 2005. – Martin Mulsow, Kabbala, Hellenisierungsthese und Pietismusstreit bei Abraham Hinckelmann, in: Günter Frank u. a. (Hg.), Erzählende Vernunft, Berlin 2006, 91–104. – Claudia Tietz, Johann Winckler (1642–1705). Anfänge eines lutherischen Pietisten (AGP 50), Göttingen 2008. – Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, 2. Aufl. (BHTh 42), Tübingen 1986. – Ders., Philipp Jakob Spener (1635–1705) und August Hermann Francke (1663–1727). Pietistische Anfänge in Brandenburg-Preußen, in: Albrecht Beutel (Hg.), Protestantismus in Preußen. Bd. 1: Vom 17. Jahrhundert bis zum Unionsaufruf 1817, Frankfurt/M. 2009, 105–132. – Dorothea Wendebourg (Hg.), Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Bedeutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren (Hallesche Forschungen 23), Tübingen 2007.

3  August Hermann Francke und der Hallische Pietismus

Der von August Hermann Francke begründete, vom brandenburg-preußischen Staat unterstützte Hallische Pietismus gab den Reformanliegen Philipp Jakob Speners auf eigenständige Weise Gestalt und verhalf ihnen zu weltweiter Ausstrahlung.

Francke, Sohn eines Juristen, der 1666 in den Dienst des reformfreudigen Ernst I. von Sachsen-Gotha getreten war, wuchs in einem dem orthodoxen Arndtianismus zugetanen Elternhaus auf. Ein Stipendium, das von mütterlicher Seite für die Theologenausbildung gestiftete Lübecker Stipendium Schabbelianum, wies den Weg ins Pfarramt. Francke begann mit dem Studium in Leipzig und wechselte dann nach Kiel, wo ihn der Spener nahestehende Arndtanhänger Christian Kortholt betreute. Eine Unterbrechung seines Stipendiums nutzte er, um beim Hamburger Orientalisten Esdras Edzard (vgl. Kirn, Geschichte des Christentums IV,1, Stuttgart 2018, 4.6) seine Hebräischkenntnisse zu vertiefen. Das Studium der Bibel im Urtext blieb ihm ein zentrales Anliegen. Anderthalb Jahre Privatstudium in Gotha folgten, unter anderem der wiederholten Lektüre des gesamten hebräischen Bibeltexts gewidmet. 1684 setzte Francke seine philologischen und theologischen Studien in Leipzig fort, die er mit dem Magistergrad 1685 abschloss.

Als Magister richtete Francke 1686 in Leipzig auf Anregung des orthodoxen Johann Benedict Carpzov II. zusammen mit dem von Spener beeinflussten Theologen Paul Anton eine Arbeitsgemeinschaft zur ursprachlichen Bibellektüre ein, das sog. Collegium philobiblicum. Auf Speners Rat hin vertiefte diese Lesegruppe die erbauliche Bibelauslegung, ein deutlicher Schritt hin auf die Einrichtung von Konventikeln. Die zwecks Übersetzung angefangene Lektüre geistlicher Schriften von Miguel de Molinos mit ihren Aussagen zur christlichen Demut und zu den geistlichen Anfechtungen bestärkten Franckes Zweifel an der orthodoxen Schultheologie. 1687 erschien seine lateinische Übersetzung der italienischen Fassung von Molinos’ mystischem Hauptwerk, der ›Geistlichen Wegweisung‹ (Manuductio spiritualis, 1699 durch Gottfried Arnold ins Deutsche übersetzt). Franckes Suchbewegungen in Glaubensfragen endeten vorerst mit dem Lüneburger Bekehrungserlebnis im Jahr 1687 (→ KTGQ 4, Nr. 24a).

Der von Francke gattungskonform stilisierte Bekehrungsbericht reflektiert eine Predigtkrise, in welcher die Wirkungslosigkeit von Traditionsautoritäten wie lutherischer Dogmatik und Bibelwort im Kampf gegen elementare Glaubenszweifel schmerzlich an den Tag trat. Erst das existentielle Ringen mit dem unbekannten Gott im Gebet (vgl. Gen 32) brachte für Francke den befreienden Durchbruch, Gottes Selbsterweis als liebender Vater im eigenen Innern. Anders als im radikalen Pietismus wurde hier die subjektive Gewissheitserfahrung, die dem eines göttlichen »inneren Wortes« gleichkam, nicht verselbständigt, sondern wieder der neu etablierten Autorität des »äußeren« Bibelwortes unterstellt.

Zwar sah Francke sein Bekehrungserlebnis nicht als normativ an, doch sein Bericht wirkte auf die Dauer stilbildend, nicht zuletzt in der pietistischen Autobiographik. In ihm fand man schließlich auch den für den Hallischen Pietismus typisch erachteten »Bußkampf«, dem von heftigen inneren Erschütterungen begleiteten »Durchbruch der Gnade«, vorgebildet.

In Leipzig setzte Francke seine Vorlesungstätigkeit im Geiste der Spener’schen Frömmigkeitsideale fort. Seine von Labadie und seinem Bekehrungserlebnis mitgeprägten perfektionistischen Vorstellungen von konsequenter Lebensheiligung zogen Kräfte an, welche die Verwirklichung ihrer Ziele – anders als Francke – auf Dauer eher in der Separation von der Kirche erhofften. Unter Studenten und Stadtbewohnern entstanden zahlreiche Konventikel. Orthodoxe Professoren und Geistliche fürchteten separatistische Aktivitäten und forderten die Obrigkeit zum Eingreifen auf. Obwohl sich der Frühaufklärer Christian Thomasius für ihn einsetzte, musste Francke Leipzig verlassen. Die pietistische Bewegung in der Stadt wurde 1690 durch ein Konventikelverbot unterdrückt. In Erfurt war Francke nur eine kurze Wirkungszeit beschieden. Bereits 1691 enthob man ihn seines Amtes und wies ihn aus.

1692 folgte, durch Spener vermittelt, die Berufung als Pfarrer nach Glaucha bei Halle – erst 1715 erfolgte seine Berufung auf eine Pfarrstelle an St. Ulrich in Halle selbst –, und als Professor für griechische und orientalische Sprachen an der Universität Halle. Die Gemeindearbeit in Glaucha zielte ähnlich rigoros wie zuvor auf Buße, Bekehrung und konsequente Lebensheiligung, von Spener kritisch beobachtet. Konventikel wurden eingerichtet, eine strenge Sonntagsheiligung eingefordert und die Beichtpraxis durch den Ausschluss Unwürdiger vom Abendmahl verschärft. Weiter intensivierte Francke die katechetische Unterweisung der Gemeinde und ermunterte zum vermehrten Bibellesen.

In der frühen Phase seines pietistischen Engagements zeigte Francke keine Berührungsängste mit enthusiastischen Frömmigkeitsformen, etwa dem Auftreten ekstatischer Frauen einfacher Herkunft, die er als Bestätigung seiner eschatologischen Pneumatologie ansah. Dies führte zu einer heftigen Kontroverse um seine Person. Orthodoxer Widerstand und gemäßigter pietistischer Einfluss brachten Francke schließlich von seiner positiven Einschätzung des Phänomens ab.

Praktisch blieben die Erfolge in der Gemeindearbeit begrenzt. Neue Perspektiven einer umfassenden Rechristianisierung der Gesellschaft durch die Erziehung »wahrer Christen« eröffneten sich Francke mit dem Aufbau der Glauchaschen Anstalten, seit 1694 unterstützt von seiner pietistisch gesinnten, Selbständigkeit zeigenden Frau Anna Magdalena geb. von Wurm. Hier und an der Universität fanden einige jener frühen Leipziger Anhänger ein Unterkommen, die wie Francke den Weg in die Separation ablehnten, so Paul Anton und Joachim Lange. Zugleich fungierte die Universität als wichtiger Abnehmer der im Halleschen Schulsystem gut ausgebildeten Schüler.

3.1  Keimzelle der Reformprojekte im Weltmaßstab: Die Glaucha’schen ­Anstalten

August Hermann Franckes bedeutendste Leistung war der bis zur Jahrhundertwende abgeschlossene Ausbau der 1695 in Glaucha mit Hilfe von Spendengeldern eingerichteten Armenschule zu einem Großunternehmen, den sog. Glauchaschen Anstalten (seit 1698 Franckesche Stiftungen). Ein umfassendes Schul- und Sozialsystem entstand, das Angehörigen unterschiedlicher Bevölkerungsschichten im Zeichen pietistischer Frömmigkeit und Pädagogik sowie naturwissenschaftlicher Offenheit verbesserte Bildungschancen bot. Zur schnell wachsenden Armenschule kam ein Pädagogium mit fest angestellten Lehrern für die höhere Bildung und Erziehung von Kindern aus dem Adel und dem gehobenen Bürgertum hinzu. Der Vorbereitung der Schüler auf das akademische Studium diente die 1697 gegründete Lateinschule, an der Studenten unterrichteten. Für die Verbesserung der nach wie vor stark auf Förderung der Frömmigkeit und den Erwerb von Elementarkenntnissen ausgerichteten Mädchenbildung sorgte die 1709 gegründete Mädchenschule. Des Weiteren wurde eine Bibliothek eingerichtet. Für das Wachstum der Bibliothek, die kein eigenes Budget hatte, sorgten hauptsächlich Nachlässe (unter anderem von Friedrich Breckling, Carl Hildebrand von Canstein und Johann Heinrich Callenberg), Schenkungen, Büchertausch und die Buchproduktion des Waisenhausverlages. 1721 zählte man rund 18.000 Bände. 1792 kam die Bibliothek des Institutum Judaicum hinzu.

Aus der Armenschule erwuchs das Waisenhaus, das mit Spendengeldern und kurfürstlicher Unterstützung gebaut und 1701 eingeweiht wurde. Das Waisenhaus wurde als Anhang der Universität Halle direkt der Regierung unterstellt, die damit ihre besondere Fürsorge für Franckes Werk dokumentierte. Als zukunftsweisend für die Professionalisierung der in den höheren Schulen Unterrichtenden erwies sich die Gründung eines Lehrerseminar