Geschichte Indiens - John Zubrzycki - E-Book

Geschichte Indiens E-Book

John Zubrzycki

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Beschreibung

In diesem souveränen Überblick werden fünf Jahrtausende indischer Geschichte lebendig: Von den Anfängen der menschlichen Zivilisation über die Entstehung von Buddhismus und Hinduismus, das Mogulreich und die Kolonialzeit führt uns John Zubrzycki bis in Indiens dynamische Gegenwart. Nicht zuletzt gibt er Einblicke in die Zerrissenheit der modernen indischen Republik, die seit kurzem das bevölkerungsreichste Land der Erde ist.

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John Zubrzycki

Geschichte Indiens

Aus dem australischen Englisch übersetzt von Karin Hielscher

Reclam

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach §44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

RECLAM Nr. 962335

2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Copyright © John Zubrzycki 2022

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildung: © Peter Adams / Getty Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962335-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011478-0

www.reclam.de

Inhalt

Ein Hinweis zu verwendeten Schreibweisen, Ortsnamen und Daten

Einleitung

Was verbirgt sich hinter einem Namen?

Kapitel 1 Untergegangene Zivilisationen

Die ersten Inder

Der erste säkulare Staat der Welt?

Die Veden

Entstehung der vedischen Gesänge und Aufstieg der Rajas

Kapitel 2Religiöse Revolutionäre

Wege zur Erleuchtung

Indiens »Julius Cäsar«

Aśoka: der »größte aller Könige«

Das Zeitalter der Übergriffe von außen

Kapitel 3Das klassische Zeitalter

Die hinduistische Renaissance

Das Zeitalter der Invasoren

Die Reiche des Südens

Kapitel 4Die Ankunft des Islam

Vom Handel zur Eroberung

Das Sultanat von Delhi

Das Sultanat auf dem Höhepunkt seiner Macht

Die Stadt des Sieges

Kapitel 5Die glorreichen Moguln

Niederlage und Verbannung

Der größte der Moguln

Das reichste Großreich der Welt

Kapitel 6Kaufleute und Söldner

Robert Clive oder Wie eine koloniale Legende entsteht

Ein höchst lukratives Geschäft

Der Weg zur Vorherrschaft

Kapitel 7Die Lunte wird entzündet

Das Anfachen der Flamme

Dilli chalo! (›Auf nach Delhi!‹)

Eine Anomalie wird zum Anachronismus

Pax Britannica

Kapitel 8Der lange Weg zur Freiheit

»Die größte Macht der Welt« – zumindest für den Augenblick

Ein entscheidender Faktor: Ghandi

Die Taktik der Polarisierung

»Verlasst Indien!« und der Countdown zur Unabhängigkeit

Eine Verabredung mit dem Schicksal

Kapitel 9Ein Nationalstaat wird erschaffen

Die Geburtsstunde der indischen Republik

Die »hinduistische Wachstumsrate«

Um Mitternacht gehen die Lichter aus

»Mr. Clean« hält Einzug

Das Anspruchsdenken der Hindu-Mehrheit wird zur politischen Agenda

Die Neugestaltung Indiens

Kapitel 10Ein »neues Indien«?

Es zählt noch immer jede Stimme

Zeittafel

Antikes Indien

Zeitalter der Großreiche

Zeitalter der Invasionen

Epoche der Großmoguln

Kolonialismus

Britisches Kaiserreich Indien

Unabhängigkeit Indiens

Weiterführende Lektüre

Abbildungsnachweise

Danksagung

Sachregister

[6]Ein Hinweis zu verwendeten Schreibweisen, Ortsnamen und Daten

Die in Sanskrit angegebenen Begriffe, Personen- und Ortsnamen aus der Frühzeit bis in die Epoche der Mogulherrscher sind, um Aussprache und Lesen zu erleichtern, mit diakritischen Zeichen versehen.

ā → a wie in wahr

ī → i wie in Spiegel

ū → u wie in Muh

ṛ → ri wie in Rinde

ṃ → wie das n in Enkel

ś (scharf) → sch wie in Ski

ṣ (stimmhaft) → s wie in Waise

ṅ (Hintergaumenlaut) → n wie in Chanson

ñ (Vordergaumenlaut) → ny wie in Canyon

ṇ (retroflex) → n wie in Garn

ṭ → t wie in Talar

ḷ → l wie in Giebel

In Indien haben in den vergangenen Jahrzehnten viele Städte ihre kolonialen Namen abgelegt, so wurde Kalkutta zu Kolkata und Bombay heißt jetzt offiziell Mumbai. Der folgende Text greift jeweils auf die Namen zurück, die während der besprochenen Zeiträume verwendet wurden. Um die Orientierung zu erleichtern, werden aber auch die modernen Entsprechungen der alten Namen angegeben, so ist Kāñcī heute Kanchipuram und Kashi ist das heutige Varanasi. Zu prominenten historischen Persönlichkeiten habe ich zudem bis zur Zeit der Großmoguln jeweils kurz Geburts- und Todesjahr sowie den Herrschaftszeitraum angegeben.

[7]Einleitung

»Was immer sich berechtigterweise über Indien sagen lässt, dessen Gegenteil trifft ebenso zu.«

Die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Joan Robinson

Am frühen Morgen des 9. August 1942 wurden der Vorsitzende des Indischen Nationalkongresses Jawaharlal Nehru und neun seiner Mitstreiter am Victoria-Bahnhof in Bombay in einen Zug verfrachtet. Das Ziel des Gefangenentransports war die Festung Ahmadnagar in den schwülheißen Hügeln des heutigen Maharashtra. In der Festung war im Jahr 1707 der letzte Großmogul Aurangzeb gestorben, und der Moment seines Todes war mit einem Wirbelsturm zusammengefallen, der »so heftig war, dass er alle Zelte des Lagers umwarf. […] Dörfer wurden zerstört und Bäume umgestürzt.« Unter den Briten war die Feste Ahmadnagar in ein Hochsicherheitsgefängnis verwandelt worden. Nehrus Inhaftierung dort sollte zwei Jahre und neun Monate dauern – der längste seiner insgesamt neun Aufenthalte als Gefangener des britischen Kaiserreichs Indien, des sogenannten Raj. Sein Verbrechen bestand darin, dass er die »Quit India!«-(›Verlasst Indien!‹-)Bewegung ins Leben gerufen hatte, ein verzweifelter Versuch der Kongresspartei, im Austausch für die indische Unterstützung der geplanten britischen Kriegsanstrengungen im Zweiten WeltkriegGroßbritannien die sofortige Unabhängigkeit abzuringen. Als er entlassen wurde, war der Krieg schon beinahe vorbei.

Indiens zukünftiger Premierminister wählte das Höhlengleichnis, um Ahmadnagar zu beschreiben: ein Gefängnis, dessen Insassen wie in Platons bekannter Parabel nur Schatten von dem sehen können, was um sie herum vorgeht. Trost fand er [8]lediglich im Anblick des Himmels über seinem Gefängnishof mit den »flauschigen und farbenfrohen Wolken am Tag und […] den von strahlenden Sternen erhellten Nächten«. Innerhalb der Mauern des Forts zeigte sich eine andere Art von Kosmos: Nehrus kleine Gruppe von Mitgefangenen repräsentierte einen Querschnitt durch die in Politik und Wissenschaft vertretene indische Gesellschaft. Zusammengenommen sprachen sie vier der klassischen indischen Sprachen – Sanskrit, Pāli, Arabisch und Persisch – sowie mehr als ein halbes Dutzend moderner Sprachen, darunter Hindi, Urdu, Bengali, Gujarati, Marathi und Telugu. »Ich konnte aus all diesem Reichtum schöpfen, die einzige Einschränkung bestand in meiner eigenen Fähigkeit, daraus Nutzen zu ziehen«, sinnierte Nehru. Die Gefangenen legten in der langen Zeit, die sie irgendwie füllen mussten, einen Garten an, hielten improvisierte Seminare ab und spekulierten darüber, was im Rest des Landes vor sich ging. Wie schon während seiner früheren Gefängnisaufenthalte nutzte Nehru die Gelegenheit, um seinen unersättlichen Bildungshunger zu stillen. Er vertiefte sich in die Lektüre klassischer Werke über Geschichte und Politik und übertrug dort entdeckte Ideen in seine eigenen Schriften.

Das an vielen langen, heißen Tagen verfasste Werk, die Entdeckung Indiens (englisch 1946, deutsch 1959), sollte sein bekanntestes werden. Nehru bezeichnete es lediglich als ein »Sammelsurium von Ideen« – eine Reise durch die Vergangenheit, auf der er auch »einen Blick in die Zukunft« warf. Und ein Großteil des Werks ist auch genau das: ein mäandernder Gedankenstrom. Aber er beginnt sein Buch mit einer grundlegenden Frage: Was ist dieses Indien, abgesehen von seinen physischen und geographischen Aspekten? Im letzten Kapitel traut er sich eine Antwort zu: Indien ist »eine kulturelle Einheit inmitten von Mannigfaltigkeit, ein von starken, aber unsichtbaren Fäden zusammengehaltenes Bündel von Widersprüchen. […] Es ist ein [9]Mythos und eine Idee, ein Traum und eine Vision und doch sehr real und präsent und allgegenwärtig.«

Nehrus Schlussfolgerung mag sich frustrierend vage und widersprüchlich anhören, wenn man gerade beginnt, sich mit der Geschichte Indiens zu beschäftigen. Doch wer den Subkontinent als Idee wie als konkretes Gebilde in den Blick nehmen will, kommt nicht umhin, sich klarzumachen, dass Indien seit Tausenden von Jahren Bestand hat und dabei Heimat einer Vielfalt von Religionen, Kulturen, Sprachen, Ethnien und Kasten war. »Indien blickt auf eine lange Tradition der Synthese zurück«, sagte Nehru 1953 in einer Rede und fügte hinzu: Es war »Strömungen ausgesetzt, Fluten an Menschen haben sich hinein ergossen und sich mit dem Ozean vermischt, der Indien ist – was zweifellos zu Veränderungen geführt hat; gleichermaßen haben sie Einfluss auf [Indien] genommen und sind von [Indien] beeinflusst worden.«

Für Nehru lag auf der Hand, dass die Zeit für die »Entdeckung Indiens« gekommen war. Doch für viele Außenstehende ist die »Suche nach Indien«, um den Titel eines Romans von E. M. Forster zu zitieren, eine Herausforderung. Die kulturelle wie sprachliche Komplexität des Landes, die extreme Kluft zwischen Reichtum und Armut, das vielfältige Nebeneinander von Religionen und Ritualen sowie Indiens verworrene, zunehmend umstrittene Geschichte verlangen allen, die sich für das Land interessieren, einiges ab. Es mag unmöglich erscheinen, die sich überlagernden kulturellen, politischen und sozialen Strömungen in einer kohärenten und umfassenden Erzählung zusammenzubringen. Wie der bengalische Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Nirad Chaudhuri (1897–1999) bereits in den 1950er Jahren schrieb, ist Indien »so groß und so bevölkerungsreich, dass die Individuen, die die Ausnahmen bilden, durchaus in die Millionen gehen können«.

[10]Ungeachtet der Hürden, die Indiens Komplexität nicht etwa nur den Studierenden der indischen Geschichte, sondern auch den Fachhistorikern in den Weg legt, wäre es töricht, die weitreichenderen Lehren zu ignorieren, die die Vergangenheit und Gegenwart dieses Landes zu bieten hat. Indien ist die älteste Zivilisation der Welt und die größte Demokratie auf unserem Globus. Der Dreh- und Angelpunkt zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Asiens ist eine selbstbewusste Macht im Indischen Ozean. Das Land verändert sich gerade schnell, während es die letzten Überreste des sozialistischen Experiments über Bord wirft, das seine Wirtschaft jahrzehntelang beherrscht hat, und sich an eine neue Weltordnung anpasst, in der seine Rhetorik der Neutralität – Indiens Weigerung, sich dezidiert auf die Seite der einen oder anderen Supermacht zu stellen – immer weiter in den Hintergrund gerät.

Indien ist noch nicht so weit, dass es China mit dessen glänzenden Hochgeschwindigkeitszügen, glitzernden Mega-Städten oder riesigen, für technikbegeisterte Verbraucher in aller Welt Laptops und Smartphones produzierenden Fabriken nacheifern könnte. Das Potential Indiens hat sich noch immer nicht voll entfalten können, die demokratisch gewählte Führung hat es ein ums andere Mal versäumt, sich in dieser Hinsicht um das Land verdient zu machen. Indien ist reich an natürlichen Ressourcen und verfügt über ein riesiges Reservoir an hochqualifizierten, global einsetzbaren Arbeitskräften. Bis 2025 werden die Inder ein Fünftel der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter stellen, und eine Milliarde Inder werden über Smartphones miteinander und mit der Welt verbunden sein. Bevölkerungsexperten hatten erwartet, Indien werde China 2027 überholen, wenn in beiden Ländern die 1,5-Milliarden-Grenze fällt, doch die indische Bevölkerungszahl ist bereits 2023 höher ausgefallen als die chinesische. Spätestens bis 2030 werden die fünf größten Städte [11]Indiens eine vergleichbare Wirtschaftskraft haben wie heute ganze Länder mit mittlerem Bruttonationaleinkommen, beispielsweise Serbien oder Bulgarien. Vor der Covid-19-Pandemie war Indien, gemessen an den börsennotierten Wechselkursen, auf dem besten Weg, bereits 2031 die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt zu werden – nach China und den USA.

Im Gegensatz zur Geschichte Chinas, in der die Yuan-, die Ming- und die Qing-Dynastie direkt aufeinanderfolgen, lässt sich Indiens Vergangenheit mit ihren divergierenden und konkurrierenden Machtzentren nicht so sauber in Perioden einteilen. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer imperialen Ausdehnung kontrollierten die drei großen indischen Imperien – das Maurya-, das Gupta- und das Mogul-Reich – nicht den gesamten Subkontinent. Auch Großbritannien konnte erst nach der Niederlage der Marathen im Jahr 1818 diesen Anspruch erheben. Und selbst dann behielten die Fürstentümer, die zwei Fünftel der indischen Landmasse umfassten und in denen ein Drittel der indischen Bevölkerung lebte, noch eine gewisse nominelle Unabhängigkeit.

Die Regentschaft jedes einzelnen Herrschers auf dem Subkontinent, die Geschicke aller großen und kleinen Dynastien sowie die Ergebnisse aller Kämpfe um Territorien und Reichtümer – ganz zu schweigen von Indiens mannigfaltigen Beiträgen zum Welterbe in Bereichen wie Wissenschaft, Literatur und Kunst – hier aufführen zu wollen, wäre eine einzige Überforderung, eine willkürliche Aneinanderreihung von Namen, Daten und Proklamationen, ohne dass Zusammenhänge oder tieferliegende Gründe erkennbar werden. Aus diesem Grund war es notwendig, 5000 Jahre indischer Geschichte auf ein paar hundert Seiten zu verdichten – eine große Herausforderung, wenn dabei die relevanten Nuancen noch zum Tragen kommen sollen.

[12]Was verbirgt sich hinter einem Namen?

Für Händler und Invasoren, die den langen Weg über den Hindukusch auf sich nahmen und in den Ebenen der heutigen pakistanischen Provinz Punjab ankamen, war der Fluss Sindhu das erste bedeutende geographische Hindernis. Da die Perser das S nicht aussprechen konnten, nannten sie ihn den Hindu. Als die Griechen im 4. Jahrhundert v. Chr. dorthin kamen, fiel das H weg, und der Fluss bekam seinen heutigen Namen Indus. Die Länder jenseits des Indus wurden zu Ἰνδία [India], damit war der Ausgangspunkt für die heutige Bezeichnung geschaffen. So wie ›Amerika‹ und ›Australien‹ Erfindungen sind, die nichts damit zu tun haben, wie die vor der Kolonialisierung dort lebenden Menschen ihr Land bezeichneten, setzte sich der Name Indien erst durch, als die Expansion der europäischen Handelsnetze im 16. und 17. Jahrhundert die Küsten des Subkontinents erreichte, so dass sich die portugiesische Estado da Índia, die niederländische Vereenigde Oost Indische Compagnie, die französische Compagnie des Indes und schließlich die britische East India Company dort niederließen. Ein gebräuchlicherer Name war Hindustan, womit eher das »Land des Indus« als ein »Land der Hindus« gemeint war. Der verallgemeinernde Begriff ›Hindustani‹ wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert für alle Personen verwendet, die aus dem damaligen Britisch-Indien kamen.

In Sanskrit lautet der Name für Indien Bharata, was im Viṣṇupurāṇa aus dem 3. Jahrhundert so definiert war: »Das Land, das nördlich des Ozeans und südlich der schneebedeckten Berge liegt, wird Bhārata genannt, denn dort lebten die Nachkommen von [König] Bhārata. Es hat eine Ausdehnung von neuntausend Leugen [antikes Längenmaß] und ist das Land der Werke, durch die die Menschen in den Himmel kommen oder [innere] Freiheit gewinnen.« Im ersten Artikel der indischen [14]Verfassung heißt es: »Indien, d. h. Bharat, soll ein Staatenbund sein.«

Geographisch gesehen ist es relativ einfach, auch über Jahrtausende hinweg, die Parameter Indiens und der indischen Zivilisation zu definieren. Vor etwa 180 Millionen Jahren begann der Superkontinent Gondwana zu zerbrechen, wobei die indische Platte mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 Zentimetern pro Jahr in nordöstliche Richtung driftete, bis sie vor etwa 55 Millionen Jahren mit der eurasischen Platte kollidierte und das höchste Gebirge der Welt – der Himalaya – entstand. Die 2500 Kilometer lange Gebirgskette bildet die nördliche Grenze des heutigen indischen Subkontinents. Der langgestreckte Gebirgszug läuft an seinen östlichen Enden in dschungelbewachsenen Gebirgsketten aus, die die Grenze zwischen Indien und Myanmar bilden. Im Westen liegt der Hindukusch, den Wellen von Invasionsarmeen über den Bolan- und den Chaiber-Pass überwanden. Den Süden des Subkontinents bildet eine massive Halbinsel, die wie eine Speerspitze in den Indischen Ozean ragt.

Heute ist der Subkontinent unter fünf Nationen aufgeteilt. Der Staat Indien umfasst – das umstrittene Kaschmir mit einbezogen – mit knapp 3,3 Millionen Quadratkilometern die größte Fläche, er misst fast 3200 Kilometer von Norden nach Süden und 2900 Kilometer von Osten nach Westen. Im zudem bevölkerungsreichsten Staat der Region leben 1,4 Milliarden Menschen. Indien hat gemeinsame Landesgrenzen mit allen anderen vier Staaten des Subkontinents – Pakistan, Nepal, Bhutan und Bangladesch – sowie mit China und Myanmar. Indien ist auch eines der am dichtesten besiedelten Länder der Welt, mit rund 400 Menschen pro Quadratkilometer (doppelt so viele wie in China).

Wie Ägypten und Mesopotamien ihren Flüssen – dem Nil beziehungsweise dem Tigris und dem Euphrat – ihre erste Blütezeit verdanken, entwickelten sich auch Indiens früheste [15]Zivilisationen in fruchtbaren Überschwemmungsgebieten an Ganges und Indus. Von seiner Quelle bei Gangotri im Nordosten durchschneidet der Ganges das Himalaya-Gebirge, bevor er nach Osten fließt und sich mit dem Brahmaputra zu einem Flussdelta vereinigt, dass in der landwirtschaftlichen Fülle, die es bietet, auf der Welt seinesgleichen sucht. Die Region umfasst den indischen Bundesstaat Westbengalen und den unabhängigen Staat Bangladesch. Südlich des Vindhyagebirges, das den Subkontinent in zwei Hälften teilt, liegt die Dekkan-Hochebene, die auf beiden Seiten von Gebirgszügen, den Ost- und den Westghats, begrenzt wird. Zu den wichtigsten Flüssen des Dekkan und Südindiens gehören der Narmada, der Godavari, der Krishna und der Kaveri.

Kaum eine Nachricht wird in Indien mit solchem Interesse erwartetet wie die jährliche Monsunvorhersage. Der Südwestmonsun, der im Juni beginnt und bis September andauert, bringt etwa 80 Prozent der jährlichen Niederschläge des Landes. In Teilen Nordostindiens fallen bis zu 14 000 Millimeter pro Jahr, während in der westlichen Thar-Wüste in Rajasthan oft nur 100 Millimeter fallen. In einem Land, in dem nur die Hälfte des Ackerlandes bewässert wird, ist der Monsun entscheidend für die landwirtschaftliche Produktion. Fällt der Monsun nur schwach aus, kann das eine Regierung zu Fall bringen, da das die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt und die Einkommen in ländlichen Regionen schmälert.

Die Flüsse, Berge und Küsten des Subkontinents prägen seine als heilig angesehene Geographie. Varanasi, auch bekannt als Kashi oder die »Stadt des Lichts«, liegt am Ganges. Die dem Gott Shiva geweihte Stadt ist den Hindus so heilig wie Mekka den Muslimen, der Vatikan den Katholiken und Jerusalem den Juden. Die Stadt ist für Hindus ein Ort der spirituellen Befreiung. Wer dort stirbt, erlangt Moksha und ist damit vom endlosen Kreislauf [16]der Wiedergeburt befreit. Stromaufwärts am Zusammenfluss von Ganges, Yamuna und dem mythischen (imaginären) Fluss Saraswatī liegt Prayagraj, früher bekannt als Allahabad. Nirgendwo auf der Welt versammeln sich so viele Menschen am gleichen Ort zu einem religiösen Fest wie zum Kumbh Mela, das alle vier Jahre stattfindet und alle zwölf Jahre im dafür besonders beliebten Prayagraj. Andächtige Pilger tragen Krüge mit dem heiligen Wasser des Ganges zu den Dutzenden von heiligen Stätten, die über Bergketten, Flüsse und Küsten verstreut sind. Als die Sufi-Mystiker, die eine hingebungsvolle Form des Islam praktizieren, Anfang des 10. Jahrhunderts nach Indien kamen, errichteten auch sie überall in der Region verstreut Schreine und Dargahs (Mausoleen), wie die von Nizam ud-Din Auliya in Delhi oder die von Mu’in al-Din Tschischti in Ajmer, einem der heiligsten Orte des Islam neben Mekka und Medina. Das Netz der Pilgerrouten, das Indien durchzieht, umfasst auch heilige Stätten der Sikhs, der Jaina, der Buddhisten und Christen.

Obwohl die geographischen Grenzen des Subkontinents hohe Hürden darstellen, waren sie immer durchlässig, so dass unbekannte Kulturen, aber auch landwirtschaftliche Techniken, Sprachen oder Religionen und nicht zuletzt neue Methoden der Kriegsführung dort Fuß fassen konnten. Den nomadischen Āriern, die sich von den Steppen Zentralasiens nach Nordindien ausbreiteten, folgten die Armeen Alexanders des Großen. Aus Westchina kamen die Kuśāṇas und aus den zentralasiatischen Steppen die Hūṇas, eine mit den Hunnen verwandte Ethnie. Chinesische Pilger, die auf der Suche nach neuen Erkenntnissen waren, aber auch Erleuchtung suchten, machten sich auf den Weg zu den Stätten der Gelehrsamkeit wie etwa Nalanda, das als erste Universität der Welt gilt. Dort wurden u. a. buddhistische Theologie, Alchemie und Astronomie gelehrt. Der Aufstieg des Islam im 7. Jahrhundert vollzog sich durch Handel und [17]Eroberungen; er gipfelte in der Gründung des Sultanats von Delhi und des Mogul-Reiches. Selbst auf dem Höhepunkt der Mogulherrschaft im 17. Jahrhundert waren europäische Mächte wie die Portugiesen, Holländer, Franzosen und Briten mit Handelsvertretungen in Indien präsent.

Im Laufe der Jahrtausende machte sich der Einfluss der indischen Religion, des Denkens und der Wissenschaft weit über die Landesgrenzen hinaus bemerkbar und bereicherte die Welt mit den unterschiedlichsten Errungenschaften vom Dezimalsystem bis zum Yoga, von Bollywood-Filmen bis zum Vegetarismus. Das Erbe der britischen Kolonialherrschaft floss mit einem Potpourri aus indischen Fremdwörtern in die englische Sprache ein: Bungalow, Polo, Mogul und Dschungel (die es auch in die deutsche Sprache verschlagen hat) sowie das Gymkhana (ein Geschicklichkeitsturnier) oder die Worte loot für ›Raubgut‹ und thug für ›Gangster‹ sind nur einige Beispiele. Der Versuch der politischen Einflussnahme mittels kultureller Attraktivität hat in Indien eine zwei Jahrtausende längere Tradition als die sogenannte Soft Power des Britischen Empires: Um 240 v. Chr. wurde das Dritte Buddhistische Konzil – das in Pāṭaliputra im Norden des Landes stattfand – von Kaiser Aśoka (der ca. zwischen 268 und 232 v. Chr. regierte) angewiesen, Abgesandte in neun Länder zu schicken, um Buddhas Lehren zu verbreiten. Bereits im 1. Jahrhundert n. Chr. war der Hinduismus in erheblichem Umfang auf den Inseln Java und Bali im indonesischen Archipel vertreten. In den 1960er und 1970er Jahren wurden Gurus wie Maharishi Mahesh Yogi im Westen bekannt, weil sie den Beatles über die Vorzüge der transzendentalen Meditation gepredigt hatten – und prompt machten sich Tausende von Menschen aus dem Westen auf dem Hippie trail auf Sinnsuche.

Ein weiteres bedeutsames Element, mit dem Indien die Welt bereichert hat, sind rund 18 Millionen Menschen, die in der [18]Diaspora leben, weltweit die größte Gruppe. Der Name Zubin Mehta etwa ist ein Synonym für Erstklassigkeit unter Dirigenten westlicher klassischer Musik. Die Filme von M. Night Shyamalan haben in das Genre der Gruselfilme den Plot Twist, die überraschende Wendung, eingeführt. CEOs indischer Herkunft leiten große Unternehmen wie Google und Microsoft. Wie weit die Diaspora inzwischen die Welt prägt, verdeutlichte im Januar 2021 die Vereidigung von Kamala Harris als erster amerikanischer Vizepräsidentin mit südasiatischer Herkunft. Während die Zeremonie live auf ihre Smartphones übertragen wurde, zündeten die Bewohner ihres Heimatdorfes Thulasendrapuram, etwa 350 Kilometer von Chennai entfernt, Feuerwerkskörper an, verteilten Süßigkeiten und Blumen als religiöse Gaben und beteten im örtlichen Tempel für ihr Wohlergehen.

Indiens Gabe, von außerhalb des Landes stammende Ideen anzunehmen und zu bewahren, hat Nehru einmal mit einem Palimpsest verglichen: einem alten Manuskript, das Schriftzeichen zeigt, die immer wieder neu überschrieben worden sind – durch die jüngste Schicht scheinen die vorherigen jedoch noch durch. Die folgenden Seiten dieser kurzen Geschichte Indiens sollen diese verborgenen Schichten zum Leben erwecken.

[19]Kapitel 1 Untergegangene Zivilisationen

1856 fand ein Bauunternehmer namens William Brunton, der mit Arbeiten an der Eisenbahnlinie von Multan nach Lahore betraut war, den perfekten Ort, der ihm Gleisschotter zum Bau von Dämmen liefern konnte. In dem kleinen Dorf Harappā hatten Einheimische, die Baumaterial für ihre Häuser brauchten, in einer Reihe von Hügeln Tausende von gleichmäßig geformten, gebrannten Ziegeln freigelegt. Die Nachricht erreichte schließlich Alexander Cunningham (1814–1893), den Begründer der Forschungseinrichtung Archaeological Survey of India, der 1873 anreiste und ein ausgedehntes Areal mit Ruinen untersuchte, die sich fast einen Kilometer am Ufer des Flusses Ravi entlangzogen. Er nahm an, dass es sich dabei um die Überreste einer griechischen Siedlung handele, die von der Armee Alexanders des Großen im 4. Jahrhundert v. Chr. zurückgelassen worden war. Da schon so viel Schutt weggeräumt worden war, kam er zu dem Schluss, dass das Übrige nur wenig erhaltenswert sei, und überließ es zukünftigen Archäologen, die wichtigsten Funde zu machen.

Zu den Artefakten, die Cunningham dann doch einsammelte, gehörte ein kleines Siegel, nicht viel größer als eine Briefmarke, aus glattem schwarzem Speckstein, auf dem ein Stier sowie sechs Zeichen abgebildet waren. Da der Stier keinen Buckel hatte und die Schriftzeichen den Buchstaben keiner bekannten indischen Sprache ähnelten, nahm er an, das Siegel stamme von anderswo her. Nach und nach wurden jedoch weitere Siegel entdeckt, auf denen Tiere abgebildet waren: Elefanten, Ochsen oder Nashörner – und mysteriöse Schriftzeichen.

Einige der Siegel gelangten ins Britische Museum. In Neil MacGregorsEine Geschichte der Welt in 100 Objekten (englisch [20]2010, deutsch 2011) ist eines zu sehen, das eine Kuh mit einem Horn auf der Stirn, einem Einhorn ähnlich, zeigt. Wie der ehemalige Direktor des Museums anmerkt, musste wegen dieses winzigen Siegels die Weltgeschichte neu geschrieben werden. Die Datierung der indischen Zivilisation musste um Tausende von Jahren korrigiert werden, da sie viel älter ist als bisher angenommen.

Ursprünglich wurde das Tier auf diesem Siegel für ein Einhorn gehalten, heute wird vermutet, es handele sich um einen Stier. Auf den Siegeln der Harappā-Zivilisation ist die älteste Schrift in ganz Südasien verewigt – und sie wartet noch immer darauf, entziffert zu werden.

Es war Cunninghams Nachfolger, Sir John Marshall (1876–1958), der die Bedeutung der Siegel erkannte. In den 1920er Jahren ordnete er weitere Ausgrabungen in Harappā und an einer Stätte an, die unter dem Namen Mohenjo-Daro oder ›Hügel der toten Menschen‹ bekannt wurde. Sie liegt mehrere Hundert Kilometer südlich in einer Region, die damals Teil Britisch-Indiens war und heute zur pakistanischen Provinz Sindh gehört. Marshall war sofort klar, dass zwischen den beiden Stätten eine Verbindung bestand. An beiden Orten gab es zahlreiche künstlich angelegte Hügel, die die Überreste einst blühender Städte bedeckten. Als in einem Gebiet, das sich vom Yamuna-Fluss im Osten bis zum heutigen Afghanistan im Westen erstreckte, Dutzende ähnlicher Stätten ans Licht kamen, wurde deutlich, [21]dass sich dort zwischen etwa 3300 v. Chr. und 1300 v. Chr. die flächenmäßig größte Zivilisation der Welt befunden hatte.

Bis zu Marshalls Entdeckungen gab es keine materiellen Beweise für die Existenz einer indischen Hochkultur, bevor Alexander der Große (356–323 v. Chr.) mit seinen Eroberungsheeren 326 v. Chr. die Ufer des Indus erreichte. Fast alle Funde aus dieser Zeit werden von Archäologen als buddhistisch eingeordnet, wobei ein großer Teil der Statuen griechische Einflüsse aufweist.

Ausdehnung der auch als Indus-Zivilisation bekannten Harappā-Zivili-sation in ihrer Hochphase. Der nach der Stätte der ersten Funde geprägte Name wird heute bevorzugt verwendet, da das Siedlungsgebiet über das Indus-Tal hinausreichte.

Als Marshall seine Ausgrabungen fortsetzte, war er von der Einzigartigkeit der Funde überwältigt. Zunächst einmal waren die wertvollen Ziegelsteine an allen ausgegrabenen Stätten bemerkenswert einheitlich. Die Siedlungen waren in einem ähnlichen Raster angelegt, wobei die Straßenbreiten jeweils im [22]Verhältnis zu ihrer Bedeutung zunahmen. Es gab imposante Gemeinschaftsgebäude, offenbar öffentliche Bäder und ein ausgeklügeltes Abwassersystem – Triumphe der Stadtplanung, die weit über alles hinausgingen, was aus der Antike bekannt war, und die in Indien erst mit den Plänen des Maharajas Jai Singh I. für Jaipur im frühen 18. Jahrhundert wiederkehren sollten. Selbst die im Handel verwendeten Gewichte und Maße waren bemerkenswert einheitlich.

An Dutzenden von Fundorten wurden Spielzeug und Figuren aus Ton und Bronze, Schmuck und Kochutensilien, rudimentäre landwirtschaftliche Geräte, Fragmente bemalter Töpferwaren, Pfeifen in Form hohler Vögel und sogar Mausefallen aus Terrakotta gefunden. Und dann waren da noch die Siegel – fast 5000 wurden bisher entdeckt – einige mit menschenähnlichen Figuren, andere mit Tierdarstellungen, darunter das mysteriöse Rind mit dem einen Horn auf der Stirn, das sich in der Sammlung des British Museum befindet. »Nicht oft ist es Archäologen vergönnt gewesen, wie Schliemann in Tiryns und Mykene oder Stein in den Wüsten Turkestans, die Überreste einer längst vergessenen Zivilisation ans Licht zu bringen. In diesem Augenblick sieht es jedoch so aus, als stünden wir in den Ebenen des Indus an der Schwelle zu einer solchen Entdeckung«, verkündete Marshall im September 1924 triumphierend.

Heute wissen wir, dass sich die Harappā-Kultur im Jahr 2500 v. Chr. auf ihrem Höhepunkt befand – also etwa zu der Zeit, als die Große Pyramide von Gizeh fertiggestellt wurde, und etwa ein Jahrhundert, bevor Stonehenge auf den Feldern von Wiltshire entstand. Zudem erstreckte sich die besiedelte Fläche über mehr als eine Million Quadratkilometer und umfasste damit ein größeres Gebiet als die Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens zusammen. Doch im Gegensatz zu unseren Kenntnissen über ihre bekannteren Zeitgenossen ist das, was wir von dieser [23]bedeutenden Zivilisation wissen, dürftig. Noch fehlt ein zu dieser Schrift passender »Rosetta-Stein«, um die Botschaften auf den allgegenwärtigen Siegeln zu entschlüsseln.

In den vergangenen anderthalb Jahrhunderten haben sich die Versuche, die Zeichen zu identifizieren, als erfolglos erwiesen, obwohl sie mit so unterschiedlichen Schriften oder Sprachen wie Brāhmī (dem Vorläufer der meisten modernen südasiatischen Schriften), Sumerisch, Ägyptisch, Altslawisch und sogar Rongorongo von den Osterinseln in Verbindung gebracht wurden. Angesichts der Kürze der meisten Inschriften (weniger als eines von 100 Objekten mit ›Schrift‹ trägt mehr als zehn Zeichen) haben manche Historiker und Linguisten spekuliert, auf den Siegel sei gar keine Sprache verewigt, sondern Markierungen, die den Besitz kennzeichnen sollen – wie eine primitive Form eines Strichcodes.

Sollte es sich um eine Form der Schrift handeln, muss die Harappā-Zivilisation als die größte und wohl auch fortschrittlichste Schriftgesellschaft der antiken Welt angesehen werden. Erst aus der Herrschaftszeit von Kaiser Aśoka im 3. Jahrhundert v. Chr. wurden auf dem indischen Subkontinent andernorts Hinweise auf Schrift gefunden. Doch solange die Archäologen nicht auf eine vergrabene Bibliothek oder ein Archiv stoßen, wird das Rätsel der Schrift, wenn es denn eine solche ist, wohl ungelöst bleiben.

Bei ihrem Versuch, eine Chronologie der Harappā-Zivilisation zu erstellen, sind die Archäologen noch kaum vorangekommen, auch die Regierungsform und Funktionsweise der Gesellschaft liegt noch im Dunkeln. Keines der Bauwerke scheint ein Palast oder eine Kultstätte gewesen zu sein. Befestigungsanlagen wurden erst in der späteren Phase der Zivilisation hinzugefügt, und es wurden nur wenige Waffen ausgegraben. Das Fehlen aufwändiger Grabstätten deutet auf ein Maß an sozialer Gleichheit hin, [24]das in der antiken Welt nirgendwo sonst zu finden ist. Belege für eine herrschende Klasse mit Königen oder Königinnen sind noch nicht entdeckt worden.

Dass die Fundstellen einzelner Siegel vom Irak bis in den Oman und nach Zentralasien reichen, macht deutlich, dass wir es auch mit einem bedeutenden Handelsreich zu tun haben. Kupfer, Gold, Zinn, Elfenbein und möglicherweise Baumwolle wurden in Richtung Mesopotamien vermarktet, während Bronze, Silber und Edelsteine, etwa Lapislazuli, importiert wurden. Doch selbst nach einem Jahrhundert der Ausgrabungen herrscht immer noch große Ungewissheit darüber, wie diese blühende und hochentwickelte Zivilisation entstanden ist und warum sie verschwand.

In Ermangelung eindeutiger Beweise haben zahlreiche Theorien das Vakuum gefüllt. Der Wettlauf um die Entzifferung der Schrift hat zu Fälschungen geführt, wie z. B. der Verfremdung eines Bildes auf einem Siegel, um es wie ein Pferd aussehen zu lassen, ein Tier, das im vedischen Ritual von großer Bedeutung war. Die meisten dieser Fälschungen entstanden aus dem Bedürfnis heraus, eine durchgehende Linie zur Gründung des modernen indischen Staates zu schaffen. In jüngster Zeit haben hindu-nationalistische Historiker versucht, die Harappā-Zivilisation mit den Anfängen des Hinduismus in Verbindung zu bringen, der ihrer Meinung nach auf das 3. oder 4. Jahrtausend v. Chr. zurückgeht und damit die älteste Religion Südasiens wäre.

Die ersten Inder

Waren die archäologischen Entdeckungen der frühen 1920er Jahre ein Wendepunkt, an dem sich die Anfänge der indischen Zivilisation um Tausende von Jahren nach hinten verschoben, so [25]werden die 2010er Jahre für die erstaunlichen Fortschritte bei der Ermittlung der Abstammungslinie der frühesten Inder in Erinnerung bleiben. Dank der Möglichkeit, genetische Informationen aus der DNS von Skelettresten zu gewinnen, konnten Wissenschaftler die Migrationsrouten nach Indien kartieren, die ersten Ackerbauern identifizieren und sogar die Anfänge der sozialen Schichtung, des Kastensystems, datieren.

Anhand archäologischer Funde, wie z. B. Mulden mit Überresten menschlicher Abfälle an Stränden in Eritrea, können wir die Auswanderung des modernen Menschen, des Homo sapiens, aus Afrika auf etwa vor 70 000 Jahren datieren. Sein Weg führte ihn über die arabische Halbinsel und durch den heutigen Irak und Iran, bis er vor etwa 65 000 Jahren den indischen Subkontinent erreichte. Dort traf er auf Gruppen von sogenannten »archaischen Menschen«. Da es außer einem am Ufer des Narmada-Flusses entdeckten Schädel, der auf ein Alter von rund 250 000 Jahren datiert worden ist, keine weiteren fossilen Funde gibt, wissen wir nicht, wer diese Menschen waren. Die Entdeckung von paläolithischen Werkzeugen in Südindien verschiebt den Eintrag auf der Zeitachse für diese archaischen Menschen auf die Zeit vor 1,5 Millionen Jahren, was sie zu einer der frühesten Populationen außerhalb Afrikas macht. Als sich der moderne Mensch in den fruchtbareren Gebieten des Subkontinents niederließ, wuchs die Gruppe rasch an, so dass in Indien in der Zeit von vor etwa 45 000 bis 20 000 Jahren der Großteil der Weltbevölkerung lebte.

DNS-Datierungen deuten auf eine zweite Welle von Migranten hin, die um 8000 v. Chr. aus der südlichen oder zentralen Zagros-Region im heutigen Iran nach Osten zogen. Spuren dieser Vorläufer der späteren Harappā-Zivilisation finden sich in einem Dorf, das so abgelegen und unbekannt ist, dass nicht einmal die Bewohner der Region von seiner Existenz wissen. Mehrgarh liegt in der pakistanischen Provinz Belutschistan, in einem [26]gesetzlosen Stammesgebiet am westlichen Rand des indischen Subkontinents. In den späten 1970er Jahren fanden Archäologen bei Ausgrabungen an diesem Ort die frühesten Hinweise auf Landwirtschaft außerhalb des sogenannten Fruchtbaren Halbmonds. Getreidearten wie Gerste wurden dort angebaut, und Tiere wie Rinder, Zebus und möglicherweise Ziegen domestiziert. Es gab Gebäude mit vier Räumen und solche mit bis zu zehn Räumen, wobei die größeren wahrscheinlich zur Getreidelagerung genutzt wurden. Mit den Toten wurde Schmuck aus Muscheln, Lapislazuli und anderen Halbedelsteinen beigesetzt. Archäologen entdeckten zudem die weltweit frühesten Belege dafür, dass Baumwolle zu Stoffen gewebt worden war.

Bevor Mehrgarh irgendwann zwischen 2600 und 2000 v. Chr. zugunsten einer größeren Stadt in der Nähe aufgegeben wurde, hatte es sich zu einem wichtigen Zentrum für Innovationen nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Töpferei, bei Steinwerkzeugen und der Verwendung von Kupfer entwickelt. Die landwirtschaftliche Revolution, die dem Zusammenleben dort entsprang, wurde zur Grundlage der Harappā-Zivilisation.

Der erste säkulare Staat der Welt?

Historiker unterteilen die Harappā-Zivilisation in drei Phasen. In der frühen, auf etwa 3300 bis 2600 v. Chr. datierten Harappā-Kultur gab es schon größere, noch locker strukturierte Siedlungen. Töpferwaren wurden auf der Scheibe hergestellt, Gerste und Hülsenfrüchte angebaut, und man hielt Rinder, Schafe, Ziegen, Büffel, Hirsche und Schweine. Die Zivilisation erstreckte sich über eine große Region – Überreste aus dieser Zeit wurden im Westen bis zur Indus-Ganges-Ebene und im Süden bis zu den Salzsumpfregionen des Rann von Kachchh im heutigen [27]Bundesstaat Gujarat gefunden. Vieles über diese Phase liegt jedoch im Dunkeln. An Stätten wie Mohenjo-Daro liegen die Ruinen bis zu mehreren Metern unter der derzeitigen Ausgrabungstiefe, aber da die Konservierung Vorrang vor der Ausgrabung hat, kann es noch viele Jahre dauern, bis sich ein endgültiges Bild dieser Periode ergibt.

Die Hochphase der Harappā-Kultur wird auf 2600 bis 1900 v. Chr. datiert und gilt als Höhepunkt der Urbanisierung, auch wenn es noch immer mehr Dörfer als städtische Zentren gegeben haben muss. Die Anordnung von Zitadellen, Getreidespeichern, öffentlichen und privaten Gebäuden variierte von Siedlung zu Siedlung, aber alle, von der größten bis zur kleinsten, wiesen ein gewisses Maß an Planung auf. Die Bewässerungsanlagen waren so ausgeklügelt, dass eine Reihe von Feldfrüchten angebaut werden konnte; die Felder wurden mit Pflügen bestellt. Skelettreste von Hunden deuten auf deren Domestizierung hin. Die Schätzungen zur Bevölkerungszahl für diese Hochphase reichen von 400 000 bis zu einer Million Menschen.

Auch wenn das Fehlen jeglicher Belege für große Königsgräber, Paläste oder Tempel, stehende Heere oder Sklaven gegen die Vorstellung eines zentralisierten Reiches spricht, so dürfte doch irgendeine Form von Staatsstruktur bestanden haben. Die Einheitlichkeit der Produkte bis hinunter auf die Dorfebene, die von Handwerksberufen wie der Töpferei und der Ziegelherstellung Zeugnis ablegen, lässt auf spezialisierte, von Generation zu Generation weitergegebene Überlieferungen innerhalb von Familienverbänden oder Zünften und ein gut entwickeltes System des Binnenhandels schließen. In der Hochphase der Zivilisation wurden auch die Symbole auf den Siegeln vereinheitlicht. Das Glücksspiel war weit verbreitet, wie Dutzende von Terrakotta-Würfeln belegen, die in Mohenjo-Daro und anderen Stätten gefunden worden sind. Zur Herstellung von Kleidung bestimmte [28]Baumwolle wurde angebaut und möglicherweise bis nach Westasien vertrieben.

Obwohl keine Bauwerke entdeckt wurden, die definitiv als Tempel klassifiziert werden können, gab es mit ziemlicher Sicherheit eine Art religiöser Ideologie – die Anknüpfungspunkte zwischen dem, was über die Glaubensvorstellungen der Harappā und die Entwicklung des Hinduismus bekannt ist, sind zu zahlreich, um sie zu ignorieren. Bilder von Gottheiten in Pepulbäumen (Ficus religiosa) mit davor knienden Gläubigen etwa waren weit verbreitet (der Baum gilt sowohl im Hinduismus als auch im Buddhismus als heilig). Auch das Baden, ein wichtiger Bestandteil der Harappā-Zivilisation, ist ein Kernstück des hinduistischen Rituals. Die Existenz von Feueraltären, der Nachweis von Tieropfern und die Verwendung des Swastikasymbols erinnern an hinduistische Zeremonien.

Der überzeugendste Beweis für eine Verbindung ist ein Siegel. Es zeigt eine in yogischer Haltung sitzende Figur, die einen gehörnten Kopfschmuck trägt und von einem Tiger, einem Elefanten, einem Büffel und einem Rhinozeros umgeben ist. Die Figur auf dem zentimeterhohen Siegel trägt den Namen Pashupati oder ›Herr der Tiere‹ und wurde von Marshall als »Proto-Shiva« oder früher Vorgänger Shivas beschrieben – einer Schlüsselgottheit im hinduistischen Pantheon, die als Gott der Schöpfung und Zerstörung gilt.

Doch wie die amerikanische Indologin Wendy Doniger betont, ist ein Bezug zu Shiva nur eine von mehr als einem Dutzend möglichen Erklärungen für die Figur, die »von den besonderen historischen Umständen und der Agenda des Interpreten inspiriert oder kanalisiert werden«. So könnten die kleinen Terrakottastatuetten draller Frauen gleichermaßen Prototypen hinduistischer Göttinnen sein – oder einfach Ausdruck der Bewunderung für die weiblichen Formen. Wir wissen jedoch, dass die [29]einwandernden Stämme aus Zentralasien auf bestehende Gottheiten und Glaubenssysteme zurückgriffen. Sobald diese angeblichen Götterprototypen anders interpretiert werden und der Beweis für ein zusammenhängendes religiöses System entfällt, eröffnet sich die verlockende Möglichkeit, dass die Harappā-Zivilisation der erste säkulare Staat der Welt gewesen sein könnte – damit wäre er der europäischen Aufklärung um vier Jahrtausende voraus gewesen.

Die Interpretation des Herrn der Tiere auf diesem Siegel als Proto-Shiva wurde von Jawaharlal Nehru und später von hindu-nationalistischen Historikern begeistert aufgegriffen.

Die Ursachen für den Niedergang der Harappā-Zivilisation bis zu ihrem Untergang im Jahr 1300 v. Chr. sind noch immer nicht geklärt. Spätere religiöse Texte lassen vermuten, dass kriegerische Hirtenvölker mit von Pferden gezogenen Streitwagen in die Region eindrangen und die Harappā-Städte verwüsteten. Sir Mortimer Wheeler, Generaldirektor des Archaeological Survey of India von 1944 bis 1948, war ein Befürworter dieser Theorie und prägte die bekannten Worte: »Aufgrund der Indizien wird gegen Indra Anklage erhoben« – eine Anspielung auf den āryanischen Kriegsgott.

Doch die archäologischen Funde stützen diese Theorie nicht mehr. Skelettreste lassen keine Spuren eines Angriffs auf eine [30]der großen Städte erkennen. Ausgrabungen an mehreren Orten deuten auf eine Reihe von Überschwemmungen hin, die möglicherweise durch tektonische Aktivitäten verstärkt wurden, die das Bodenniveau anhoben. Weitere mögliche Ursachen für den Untergang der Harappā-Zivilisation sind veränderte Flussläufe, Abholzung, zunehmende Versalzung des Bodens und Krankheiten, die mit neuen Migrationswellen eingeschleppt wurden. Eine groß angelegte, 2012 veröffentlichte Studie eines Wissenschaftlerteams der Woods Hole Oceanographic Institution, des traditionsreichen ozeanographischen Forschungsinstituts in Massachusetts, hält eine langanhaltende Dürre, in deren Folge Flüsse austrockneten oder nicht mehr ganzjährig Wasser führten, für die wahrscheinlichste Ursache. Diese Theorie ist nicht unplausibel: 2018 haben Wissenschaftler ein neues geologisches Zeitalter, das Meghalayum, definiert, das um 2200 v. Chr. mit einer langanhaltenden Dürre begann, die das Ende der Zivilisationen nicht nur in Indien, sondern auch in Ägypten, Mesopotamien und China einleitete.

Die Veden

Solange wir die Zeichen der Harappā-Kultur nicht zu entziffern vermögen, werden die Geschichten und historischen Figuren, ja sogar eine zuverlässige Chronologie der Ereignisse bis 1300 v. Chr. im Dunkeln bleiben, doch unser Wissen über die folgenden anderthalb Jahrtausende ist (aus anderen Gründen) nicht unbedingt genauer. Mehrere Migrationswellen nomadischer Viehzüchter, die außer Werkzeugen, Waffen und Keramikfragmenten nur wenige Spuren hinterlassen haben, prägten das nächste Kapitel in der Geschichte der indischen Zivilisation. Der Mangel an archäologischen Funden wird jedoch durch einen [31]riesigen Korpus an ausgefeilter religiöser Poesie mehr als wettgemacht.

Die Veden wurden in Sanskrit verfasst und ursprünglich mündlich von Priestern, den Brahmanen, weitergegeben. Sie bilden die Grundlage des Hinduismus. Die Mantras, die jeden Morgen rezitiert werden, um die Götter zu wecken, und die Gebete, die gesprochen werden, wenn ein Toter auf einen Scheiterhaufen gelegt wird, wurden über die Jahrhunderte hinweg wortwörtlich weitergegeben. Als sie eines Tages doch aufgezeichnet wurden, stellte sich heraus, dass die Überlieferung so präzise gewesen war, dass die Versionen aus dem nördlichen Kaschmir praktisch identisch waren mit denen aus Tamil Nadu, dem südlichsten Zipfel des Subkontinents. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Europäer die Veden studiert, aber erst im späten 18. Jahrhundert wurde das Rätsel um die Urheberschaft dieser Hymnen gelöst. Es war die Linguistik, nicht die Archäologie, die die fehlenden Teile dessen, was wir heute über Indiens frühe Geschichte wissen, ergänzte.

William Jones war ein Universalgelehrter, der 1770 im Alter von 24 Jahren sein erstes Buch veröffentlichte, eine Übersetzung der Geschichte des persischen Regenten Schah Nader aus dem Persischen ins Französische. Ein Jahr später folgte seine Grammatik der persischen Sprache, die jahrzehntelang das Standardwerk blieb. Noch bevor er im September 1783 in Chandpal Ghat am Ufer des Hugli-Flusses in Kalkutta an Land ging, hatte sich Jones zum Ziel gesetzt, »Indien so genau kennenzulernen wie es noch kein anderer Europäer je kennengelernt hatte«. Ein Jahr nach seiner Ankunft gründete er die Asiatic Society.

Jones war nach Indien gereist, um eine Stelle als Richter am Obersten Gerichtshof von Bengalen anzutreten. Er war der Meinung, dass Richter, um gerecht zu urteilen, Zugang zu den Quellen des Hindu-Rechts haben müssten, und das erforderte das [32]Verständnis von Sanskrit-Texten. Die erste Hürde bestand darin, einen Lehrer zu finden. Die Vertreter der hochangesehenen Kaste der Brahmanen, an die er sich wandte, weigerten sich, einem Ausländer die heilige Sprache beizubringen, aber zu unserem Glück fand er einen Arzt, der Sanskrit gut beherrschte und sich bereit erklärte, ihn zu seinem Schüler zu machen. Beim Studium der Grammatik stellte Jones eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen Sanskrit und bestimmten europäischen Sprachen fest. Er fasste seine Erkenntnisse in einem Aufsatz zusammen und veröffentlichte ihn im ersten Forschungsband der Asiatic Society unter dem Titel »Zur Orthographie asiatischer Worte«. Darin identifizierte er die indoeuropäische Sprachfamilie. Der Sanskrit-Wissenschaftler Thomas Trautmann bezeichnete den Artikel als wichtigen Beitrag zum »Projekt, Indien einen Platz zuzuweisen«.

William Jones: »Die Sprache des Sanskrit, wie alt sie auch sein mag, hat eine wunderbare Struktur; sie ist vollkommener als die griechische, reichhaltiger als die lateinische und feiner als beide, weist aber zu beiden eine stärkere Verwandtschaft auf, sowohl in den Wurzeln der Verben als auch in den Formen der Grammatik, als dass sie auch nur annähernd durch Zufall entstanden sein könnte, [diese Verwandtschaft ist] so stark, dass kein Philologe sie alle drei untersuchen könnte, ohne zu dem Schluss zu kommen, dass sie aus einer gemeinsamen Quelle stammen müssen, die – gegebenenfalls – nicht mehr existiert. Ein ähnlicher Grund, wenn auch nicht ganz so zwingend, legt die Annahme nahe, dass sowohl das Gotische als auch das Keltische, wenn auch mit einem sehr unterschiedlichen Idiom vermischt, denselben Ursprung mit dem Sanskrit hatten; und das Alt-Persische kann möglicherweise zu derselben Familie noch hinzugefügt werden.«

[33]Jones untersuchte außerdem die Ähnlichkeiten zwischen hinduistischen und europäischen Göttern und kam zu dem Schluss, dass es nicht nur eine Familie der Sprachen, sondern auch eine Familie der Religionen gibt. Der römische Gott Janus wird etwa zum elefantenköpfigen Ganeśa; Jupiter entspricht Indra. Der dionysische Krishna kann mit Apollo gleichgesetzt werden. Saturn, Noah und Manu sind alle Akteure innerhalb desselben Schöpfungsmythos. Für Jones war der Hinduismus eine lebendige Darstellung des antiken Heidentums in Griechenland und Rom.

Die einzige Erklärung für diese bemerkenswerten sprachlichen und religiösen Übereinstimmungen, so vermutete er, sei die Migration: Diejenigen, die indoeuropäische Sprachen verwendeten, hatten einst eine gemeinsame Heimat in der riesigen Steppe gehabt, die sich von Polen bis zum Transural erstreckte. Historiker haben einige der frühesten Verwendungen dieser indoeuropäischen Sprache bis nach Nordsyrien zurückverfolgt. In einem Friedensvertrag, der um 1380 v. Chr. zwischen einem mitannischen und einem hethitischen König geschlossen wurde, werden bestimmte Götter als Zeugen benannt. Mindestens vier davon – Uruvanass, Mitras, Indara und Nasatia – entsprechen den Hindu-Göttern Varuṇa, Mitra, Indra und Nasatya. Der Vertrag deutet darauf hin, dass die Mitanni zwar die lokale hurritische Sprache sprachen, ihre Herrscher aber indo-āryanisch klingende Namen trugen und indo-āryanische Götter anriefen.

Die nomadischen Viehzüchter, die von diesen Steppen aus loszogen, bezeichneten sich selbst als Ārya: der Name, den die alten Perser benutzten und von dem sich das Wort ›Iran‹ ableitet. Ārya ist auch die Wurzel von Eire (irisch für ›Irland‹), dem Begriff für das westlichste der Länder, die bei dieser großen Wanderung besiedelt wurden. Die Āryaner, die sich in Indien niederließen, zähmten Pferde und benutzten leichte Streitwagen, in die je drei Männer passten. Sie züchteten Rinder, schmolzen [34]Bronze, um daraus Werkzeuge und Waffen herzustellen, und spielten Glücksspiele wie die Menschen der Harappā-Kultur.

Vedische Texte berichten von einer plötzlichen Invasion, die die Harappā-Zivilisation dezimierte. Mit ihren Heeren an von Pferden gezogenen Streitwagen und angestachelt von ihren Kriegsgöttern wie Indra – der als Mars, Zeus oder Thor des Āryanischen Pantheons beschrieben wird – zerstörten die Āryaner die Reste der Harappā-Zivilisation und unterwarfen die Dāsa, die Nachkommen der ersten, sechzig Jahrtausende zuvor nach Indien gelangten Migranten.

Die Invasionstheorie entstand in der Zeit der britischen Herrschaft, als Gelehrte nach bequemen Wegen suchten, um die militärische Eroberung Indiens zu rechtfertigen. Diese Theorie hat aber zwei Haken: Es gibt keine archäologischen Beweise, die die Invasionshypothese stützen, und sie erklärt nicht die zwei Jahrhunderte lange Lücke in den archäologischen Befunden zwischen dem Untergang der Harappā und der Ankunft der Āryaner.

DNS-Tests an antiken Grabstätten bestätigen nun, was Archäologen schon lange vermutet hatten: Es hat sich nicht um eine einzige āryanische Invasion gehandelt, sondern um Wellen von Zuwanderern, die mit einer Vielzahl von in Indien koexistierenden Kulturen interagierten und nach und nach verschiedene indigene Kulturen in den āryanischen Schmelztiegel brachten.

Das vielleicht wichtigste Buch, das sich mit dieser Frage befasst, ist Tony Josephs 2018 erschienenes Early Indians: The Story of Our Ancestors and Where We Came From (›Die frühen Inder: Die Geschichte unserer Vorfahren und woher wir kommen‹). Aus seiner umfassenden Bewertung der jüngsten DNS-Auswertungen und genetischen Studien zieht er den Schluss, dass die heutigen Inder »ihre Gene mehreren Einwanderungswellen [35]nach Indien verdanken; so etwas wie eine reine Gruppe, Rasse oder Kaste, die seit ›undenklichen Zeiten‹ existiert, gibt es nicht.« Hindu-nationalistische Historiker sehen dies als ketzerisch an. Joseph erklärt:

Für viele auf dem rechten Flügel ist die Vorstellung inakzeptabel, dass sie von anderswo nach Indien kamen, weil [eine solche Vorstellung] Sanskrit und die Veden als die einzige und grundlegende Quelle der indischen Kultur entthronen würde, denn es würde bedeuten, dass die mächtige Harappā-Zivilisation, die einen unauslöschlichen Eindruck in der indischen Geschichte und Kultur hinterlassen hat, ihrer Ankunft vorausgegangen wäre.

Aufgrund der Lücken in den historischen Aufzeichnungen konnten selbst DNS-Beweise diejenigen nicht zufriedenstellen, die sich an dem Glauben festklammern, die vedische Zivilisation sei den Harappā vorausgegangen. Es ist schwer vorstellbar, wie diese Debatte jemals abgeschlossen werden kann. Das zwischen 1100 und 600 v. Chr. entstandene Schrifttum ist umfangreich, aber offen für Interpretationen. Wie so oft in der frühen Geschichte Indiens ist nur wenig davon eindeutig.

Entstehung der vedischen Gesänge und Aufstieg der Rajas

Von den vier Veden ist der Ṛg Veda (Rigveda) der älteste und wichtigste. Unter Historikern herrscht Einigkeit darüber, dass er um 1100 v. Chr. oder möglicherweise noch ein Jahrhundert früher zusammengestellt wurde. Er umfasst 1028 Hymnen an die Götter, die in zehn Büchern oder Mandalas von [36]unterschiedlicher Länge angeordnet sind und über mehrere hundert Jahre hinweg verfasst wurden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Āryaner Bildnisse ihrer Götter anfertigten. Um mit dem Göttlichen zu kommunizieren, war ein Abbild dank der Mantras augenscheinlich nicht vonnöten. Die Mantras wurden üblicherweise bei Opferritualen gesungen, während Soma, ein halluzinogenes Getränk, konsumiert wurde. Die Mantras selbst beschrieb der bengalische Nobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861–1941) als »ein poetisches Zeugnis der kollektiven Reaktion eines Volkes auf das ehrfurchtgebietende Wunder der Existenz«.

Aus Strophen, die größtenteils dem Ṛg Veda entnommen und zum Singen arrangiert wurden, besteht der zweite, der Sama Veda (›das Wissen von den Gesängen‹). Der Yajur Veda stellt eine Sammlung von Opferformeln oder Mantras zur Durchführung von Ritualen dar. Der vierte Veda, der Atharva Veda, wird mit den Riten, dem Aberglauben und den magischen Zauberformeln der Bewohner des vorāryanischen Indiens in Verbindung gebracht. Bei einigen könnte es sich um die Vorfahren der steinzeitlichen Bewohner Indiens gehandelt haben, bei anderen um die Dāsa oder Stammesgemeinschaften, die bei den frühesten Wanderungen aus Afrika, der ›Wiege der Menschheit‹, gekommen waren. Sie alle glaubten an die Wirksamkeit von Zaubersprüchen und Beschwörungen sowie eine Praxis weißer (heilender) bzw. schwarzer (schadender) Magie, wobei Letztere den Menschen größere Kräfte als den Göttern verleihen konnte. Offensichtlich unterdrückten die Āryaner solche traditionellen Vorstellungen nicht, sondern übernahmen sie stattdessen in ihre Glaubenswelt.

Die Brahmanen, denen die Weitergabe der Veden oblag, nutzten ihr Wissensmonopol, um dafür zu sorgen, dass ihnen die Durchführung wichtiger Rituale vorbehalten war. Indra, der Gott des Krieges und des Regens, wird in fast einem Viertel der [37]Hymnen des Ṛg Veda erwähnt, gefolgt von Agni, dem Gott des Feuers, und Surya, dem Sonnengott.

Aus den in den vedischen Texten erwähnten Ortsnamen lässt sich schließen, dass sich die ersten zugewanderten Āryaner in einem Gebiet niederließen, das als Sapta Sindhu oder Sieben Flüsse bekannt ist. Der Name ›Sindhu‹ bezieht sich auf den Indus; zu den sieben zählen fünf seiner Nebenflüsse sowie der Saraswatī, der inzwischen ausgetrocknet ist. Die vedische Gesellschaft bestand aus Stämmen und Klans – etwa dreißig werden in den Texten erwähnt –, und in den zahlreichen Schlachtenbeschreibungen ist es fast unmöglich, zwischen realen und mythischen Gegnern zu unterscheiden. Nirgendwo kommt dies deutlicher zum Ausdruck als in der Schlacht der Zehn Könige, die einer altindischen Version von Game of Thrones gleicht. Die Schlacht fand an den Ufern des Flusses Ravi zwischen dem Āryaner-König Sudās und einer vage definierten Allianz von zehn Herrschern statt, bei denen es sich um ›abgefallene Āryaner‹ oder um Dāsa gehandelt haben könnte. Der Sieg wurde nicht etwa durch überlegene Waffen oder die bessere Taktik errungen, sondern durch das Rezitieren von Gebeten.

Als Agrargesellschaft waren die frühen Āryaner auf Pferde und Kühe angewiesen. Weideland war sehr begehrt. Und sie waren als Viehdiebe berüchtigt – die Religionshistorikerin Karen Armstrong vergleicht sie sogar mit Cowboys aus dem amerikanischen Wilden Westen. Der heilige Status der Kühe – fast schon ein Klischee im heutigen Indien, wo der Verzehr von Rindfleisch in den meisten Bundesstaaten verboten ist – war im vedischen Indien nicht so stark ausgeprägt. Obwohl ein Vers des Ṛg Veda den Verzehr verbietet, erlaubt ein anderer sehr wohl, das Fleisch von Kühen zu essen: nämlich bei Hochzeiten, sofern rituell und human geschlachtet wurde.

In der frühen Phase der vedischen Zivilisation standen in der auf Stämmen aufgebauten Gesellschaft Kriegerhäuptlinge an der [38]Spitze der sozialen Struktur, die im Ṛg Veda als Rajas bezeichnet werden, ein Wort, das mit dem lateinischen Rex verwandt ist. Ein Raja war kein absoluter Monarch; die einzelnen Stämme wurden von Räten, den Sabhās bzw. Samitis regiert. Die Sabhās waren Ältestenräte, die zusammentraten, um Gericht zu halten und Beschlüsse zu fassen, wobei sie in einer Art Konföderation organisiert waren; die Samitis waren die Zusammenkünfte aller freien Stammesangehörigen. Ein Raja brauchte, obwohl das Amt erblich war, grundsätzlich die Zustimmung beider Gremien, um den Thron zu besteigen. Wenn der Raja in die Schlacht ritt, wurde er vom königlichen Priester begleitet, der Gebete sang und die für den Sieg notwendigen Rituale durchführte.

Obwohl sie hauptsächlich religiöse Praktiken beschreiben, entwerfen die Veden – und spätere Texte wie das Mahābhārata – auch ein Bild dieser antiken Gesellschaft, wobei Fachleute wie der Historiker Arthur Llewellyn Basham zur Vorsicht mahnen: »Der Versuch, die politische und soziale Geschichte Indiens im 10. Jahrhundert v. Chr. aus dem Mahābhārata zu rekonstruieren, ist ebenso sinnlos wie der Versuch, die Geschichte Britanniens unmittelbar nach der Vertreibung der Römer ausgehend von Malorys Morte d’Arthur [›König Artus’ Tod‹] zu schreiben.« Basham lässt eine wichtige Ausnahme gelten: die Hinweise, die sich im Mahābhārata auf die Schlacht von Kurukshetra finden. In dieser Schlacht besiegen die Pāṇḍavas, angeführt von fünf Brüdern und unterstützt von ihrem Cousin und Wagenlenker, dem Gott Krishna, die Kauravas, ebenfalls ihre Cousins, an einem Ort in der Nähe des heutigen Neu-Delhi. Archäologische Funde bestätigen, dass dort eine Schlacht stattgefunden hat, aber zu Beginn des 9. Jahrhunderts v. Chr. und nicht 3102 v. Chr., wie das Mahābhārata nahelegt. Ob es sich um einen großen Krieg gehandelt hat, wie in dem Text beschrieben, oder um ein kleines Scharmützel, das sich im Laufe der Niederschrift in eine epische [39]Schlacht verwandelt hat, wird wahrscheinlich nie geklärt werden (insbesondere nicht in der im heutigen Indien herrschenden politisch aufgeladenen Atmosphäre).

Das zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. verfasste Mahābhārata ist das bekannteste und längste der hinduistischen Epen – und etwa zehnmal so lang wie die Ilias und die Odyssee zusammen. Bildgewordene Szenen aus dem Mahābhārata, die den Kampf zwischen den rivalisierenden Clans des Kuru-Stammes darstellen, sind überall dort zu finden, wo sich der Hinduismus verbreitet hat: Die Skulpturenreliefs von Angkor Wat in Kambodscha und das Wayang-Puppentheater auf Java sind nur zwei Beispiele. In den späten 1990er Jahren wurde das Epos in 95 wöchentlichen Episoden im staatlichen indischen Fernsehsender Doordarshan ausgestrahlt, ein Ereignis, das das Land bei jeder Ausstrahlung fast zum Erliegen brachte.

Die berühmteste im Mahābhārata enthaltene Textpassage ist die Bhagavad Gitā, das ›Lied des Herrn‹, ein Gespräch zwischen dem Gott Krishna und dem Pāṇḍava-Prinzen Arjuna, der sich fragt, warum er gegen seine Cousins kämpfen soll. Krishna erklärt