Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter - Bernd Meyenburg - E-Book

Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter E-Book

Bernd Meyenburg

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Beschreibung

Immer mehr Kinder und Jugendliche haben die innere Gewissheit, dem Gegengeschlecht anzugehören - sie sind transident. Obwohl Transidentität heute nicht mehr als psychische Störung angesehen wird, kommt es meist ab der Pubertät zu einem hohen Leidensdruck, einer Geschlechtsdysphorie, verbunden mit depressivem Rückzug, Selbstverletzungen, Suizidgedanken und -handlungen. Im Hinblick auf die Therapie findet sich leider oft Unsicherheit auf Seiten der Behandelnden. Ziel dieses Buches ist es, Kenntnisse über transidente Entwicklungen und ihre psychotherapeutische und medizinische Behandlung zu vermitteln und dadurch zu ermutigen, diesen Patient*innen zu helfen. Dargestellt werden auch die komplexen rechtlichen Probleme, vor denen transidente Kinder und Jugendliche und ihre Eltern stehen.

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Der Autor

Dr. Bernd Meyenburg, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut, baute ab 1989 die erste deutsche Spezialsprechstunde für transidente Kinder und Jugendliche am Frankfurter Universitätsklinikum auf. Er war von 2000-2013 als Hauptautor für die Erarbeitung und Aktualisierung der bundesweiten Behandlungsleitlinien für transidente Kinder und Jugendliche verantwortlich.

Bernd Meyenburg

Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035126-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-035127-1

epub:     ISBN 978-3-17-035128-8

mobi:     ISBN 978-3-17-035129-5

Geleitwort zur Reihe

 

 

Klinische Psychologie und Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Verhaltenstherapeutische Interventionsansätze

Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter sind weit verbreitet und ein Schrittmacher für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen im Erwachsenenalter. Für einige der für das Kindes- und Jugendalter typischen Störungsbereiche liegen empirisch gut abgesicherte Behandlungsmöglichkeiten vor. Eine Besonderheit in der Diagnostik und Therapie von Kindern mit psychischen Störungen stellt das Setting der Therapie dar. Dies bezieht sich sowohl auf den Einbezug der Eltern, als auch auf mögliche Kontaktaufnahmen mit dem Kindergarten, der Schule, der Jugendhilfe usw. Des Weiteren stellt die Entwicklungspsychopathologie für die jeweiligen Bände ein zentrales Kernthema dar.

Ziel dieser neuen Buchreihe ist es, Themen der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie in ihrer Gesamtheit darzustellen. Dies umfasst die Beschreibung von Erscheinungsbildern, epidemiologischen Ergebnissen, rechtliche Aspekte, ätiologischen Faktoren bzw. Störungsmodelle, sowie das konkrete Vorgehen in der Diagnostik unter Berücksichtigung verschiedener Informanten und das konkrete Vorgehen in der Psychotherapie unter Berücksichtigung des aktuellen Wissenstandes zur Wirksamkeit.

Die Buchreihe besteht aus Bänden zu spezifischen psychischen Störungsbildern und zu störungsübergreifenden Themen. Die einzelnen Bände verfolgen einen vergleichbaren Aufbau wobei praxisorientierte Themen wie bspw. Fallbeispiele, konkrete Gesprächsinhalte oder die Antragsstellung durchgehend aufgenommen werden.

Tina In-Albon (Landau)

Hanna Christiansen (Marburg)

Christina Schwenck (Gießen)

Die Herausgeberinnen der Reihe

Prof. Dr. Tina In-Albon, Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Koblenz-Landau. Leitung der Landauer Psychotherapie-Ambulanz für Kinder und Jugendliche und des Studiengangs zur Ausbildung in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Universität Koblenz-Landau.

Prof. Dr. Hanna Christiansen, Professur für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Philipps-Universität Marburg; Leiterin der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie-Ambulanz Marburg (KJ-PAM) sowie des Kinder- und Jugendlichen-Instituts für Psychotherapie-Ausbildung Marburg (KJ-IPAM).

Prof. Dr. Christina Schwenck, Professur für Förderpädagogische und Klinische Kinder- und Jugendpsychologie, Justus-Liebig-Universität Gießen. Leiterin der postgradualen Ausbildung Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie.

Inhalt

 

 

 

Geleitwort zur Reihe

Vorwort

1   Einführung

2   Erscheinungsbilder

2.1   Erscheinungsbilder in der Kindheit

2.1.1   Transjunge mit persistierendem Verlauf: Max

2.1.2   Transmädchen mit persistierendem Verlauf: Lena

2.1.3   Transmädchen mit desistierendem Verlauf: Alex

2.1.4   Transmädchen mit desistierendem Verlauf: Noah

2.2   Erscheinungsbilder im Jugendalter

2.2.1   FtM transidenter Jugendlicher mit persistierendem Verlauf, psychisch unauffällig: Aisha → Hussein

2.2.2   FtM transidenter Jugendlicher mit schwerer psychischer Störung, persistierender Verlauf: Christa → Markus

2.2.3   MtF transidente psychisch gesunde Jugendliche, fraglich late-onset: Paula

2.2.4   MtF-Transidentität, psychisch auffällig, persistierender Verlauf: Olaf → Jessica

2.2.5   MtF transidente Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung, persistierender Verlauf: Jennifer

2.2.6   MtF Jugendlicher mit zunächst fraglicher transidenter Entwicklung: Rene → Christine

2.2.7   MtF psychisch auffälliger transidenter Jugendlicher, desistierender Verlauf: Kevin

2.2.8   MtF-Transidentität, transienter Verlauf: Henry

2.2.9   FtM-Transidentität, transienter Verlauf: Lina

2.3   Nicht binäre Transidentität: Felix

2.4   Fluide Transidentität: Anne

3   Leitlinien für Diagnostik und Behandlung der AWMF und der WPATH

4   Prävalenz, Sex Ratio

4.1   Neuere kritische Diskussion der Zunahme von Prävalenz bei FtM Jugendlichen

5   Entwicklungsverläufe

6   Klassifikation

6.1   Diagnostische Kriterien nach DSM-5: Geschlechtsdysphorie

6.2   Diagnostische Kriterien nach ICD-11: Geschlechtsinkongruenz

7   Diagnostik

8   Differentialdiagnose

9   Psychopathologische Auffälligkeiten bei transidenten Kindern und Jugendlichen

10 Ätiologie

10.1   Biologische Faktoren

10.1.1   Pränatale Hormoneinwirkungen

10.1.2   Strukturelle und funktionelle Hirnveränderungen

10.2   Psychologische Ursachen

10.2.1   Konfliktfreies Prägungsmodell (Robert Stoller)

10.2.2   Lerntheorie (Richard Green)

10.2.3   Frühkindliche Traumata

10.2.4   Frühe Störung der Mutter-Kind-Beziehung

11 Fallkonzeptualisierung

11.1   Sozialer Rollenwechsel/Alltagserprobung

11.2   Planung der psychotherapeutischen Begleitung/Behandlung

11.3   Planung geschlechtsangleichender Behandlung

12 Psychotherapie

13 Setting

14 Multidisziplinäres Vorgehen

15 Therapieantrag

16 Rechtliche Aspekte

16.1   Vornamensänderung und sozialer Rollenwechsel

16.2   Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem Transsexuellengesetz

16.2.1   Empfehlungen für die Begutachtung nach dem Transsexuellengesetz

16.3   Neufassung des Personenstandsgesetzes (PStG)

17 Besonderheiten

17.1   Sexualität transidenter Jugendlicher

17.2   Rückumwandlungswünsche

Literatur

Weiterführende Literatur: Auswahl von Ratgebern und informativen Webseiten

Stichwortverzeichnis

Anhang

Überblick über Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen

Beratungsstellen

Selbsthilfegruppen

Attest zur Vornamensänderung in der Schule (MtF)

Vorwort

 

 

 

Gerne bin ich der Einladung der Herausgeberinnen dieser Reihe nachgekommen, einen Beitrag zum Thema Transidentität und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter zu verfassen. Dieser Beitrag basiert auf meiner über vierzigjährigen therapeutischen Arbeit mit transidenten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Zunächst behandelte ich transidente erwachsene Patient*innen im Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft unter Leitung von Volkmar Sigusch, später während meiner Ausbildung zum Kinder- und Jugendpsychiater Kinder am Boyhood Gender Identity Project des damaligen Roosevelt Hospitals in New York City unter Leitung von Susan Coates. Nach meiner Rückkehr nach Frankfurt baute ich ab 1989 eine Spezialsprechstunde für transidente Kinder und Jugendliche in der Frankfurter Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf, in der wir bis heute über 800 Patient*innen untersucht, behandelt und begutachtet haben. Gebeten wurde ich zudem von der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften AWMF, Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von Störungen der Geschlechtsidentität im Kindes- und Jugendalter (nach damaliger Nomenklatur) zu erstellen. Diese habe ich federführend in Zusammenarbeit mit führenden deutschen Sexualwissenschaftlern und Fachvertreter*innen der Kinder- und Jugendpsychiatrie von 2010 bis 2014 erarbeitet. Sie sind in Grundsätzen auch heute noch gültig.

Als tiefenpsychologisch ausgebildeter medizinischer Psychotherapeut hatte ich bis in die 1990er Jahre noch die Vorstellung einer psychischen Ätiogenese transidenter Entwicklungen. Ich machte jedoch die Erfahrung, dass eine »Heilung« nicht möglich war und dass es deutliche Hinweise auf biologische Grundlagen gibt. Ich gelangte so zu dem heute mehrheitlich geteilten Verständnis von Transidentität als einer nicht als Psychopathologie anzusehenden Variante des Geschlechtserlebens. Eine Behandlung mit dem Ziel der Auflösung einer Transidentität wird heute als unethisch und deshalb nicht vertretbar angesehen. Befürwortet wird jedoch weiterhin eine sog. psychotherapeutische Begleitung transidenter Kinder und Jugendlicher, um ihnen auf ihrem sehr schwierigen Weg hin zu einer geschlechtsangleichenden medizinischen Behandlung zu helfen, aber auch aus dem Grund, dass Verlaufsstudien von transidenten Kindern eine hohe Rate von nicht persistierenden Verläufen aufgezeigt haben. Im Gegensatz zu erwachsenen transidenten Patient*innen ist daher vor allem im jüngeren Alter größere Vorsicht nötig, bevor geschlechtsangleichende medizinische Behandlungen empfohlen werden können.

Bei der psychotherapeutischen Begleitung wird keine spezifische therapeutische Ausrichtung empfohlen. Sie kann sowohl auf tiefenpsychologischer als auch auf verhaltenstherapeutischer Basis erfolgen, und das ist auch die heutige allgemeine Praxis. Die Mehrzahl der Behandler*innen ist heute verhaltenstherapeutisch ausgebildet. Als die Herausgeberinnen dieser verhaltenstherapeutischen Reihe mich nach Erstellung eines Beitrags fragten, habe ich auf meine tiefenpsychologische Therapieausbildung hingewiesen, jedoch auch darauf, dass ich wie schon während meiner langjährigen Tätigkeit als ärztlicher Leiter der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz des Frankfurter Universitätsklinikums immer ein differenziertes therapeutisches Vorgehen befürwortet habe – ohne Festlegung auf eine bestimmte Therapiemethode. Aus diesem Grunde bin ich der Empfehlung der Herausgeberinnen gefolgt, diesen vorliegenden Beitrag zu erstellen.

Bernd Meyenburg, Frühjahr 2020

1          Einführung

 

 

 

Die feste innere Gewissheit, nicht dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht, sondern dem Gegengeschlecht anzugehören, bezeichnen wir als Transidentität. Häufig verwendet wird auch der Begriff transgender, der den nur schwer in die deutsche Sprache übersetzbaren angloamerikanischen Begriff »gender« aufnimmt; »gender« beschreibt das psychisch empfundene Geschlecht im Gegensatz zum »sex«, dem körperlichen Geschlecht. Der Begriff transgender erlaubt zudem die Einführung des Gegenbegriffs »cisgender«, also die Übereinstimmung des bei Geburt zugewiesenen und des psychisch erlebten Geschlechts. Analog hat bereits 1995 Sigusch den Begriff »zissexuell« als Gegensatz zu dem mittlerweile nicht mehr verwendeten Begriff »transsexuell« geprägt. Die Begriffe Transsexualität und Transsexualismus werden heute als irreführende und nicht mehr angemessene Bezeichnungen angesehen, da es um die Geschlechtsidentität geht, nicht um die Sexualität. Ein anhaltendes und starkes Unbehagen und Leiden am eigenen biologischen Geschlecht wird heute als Geschlechtsdysphorie bezeichnet; dieser Begriff (gender dysphoria) wird auch im Klassifikationssystem DSM-5 der American Psychiatric Association (APA, 2013) verwendet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO führte in ihrem neuen Klassifikationssystem für Krankheiten ICD-11 (WHO, 2018) den Begriff Geschlechtsinkongruenz (gender incongruence) ein.

In der Mehrzahl wünschen transidente Menschen, in allen Lebensbereichen als Person des von ihnen empfundenen Geschlechts zu leben, sie wünschen geschlechtsangleichende medizinische Behandlungen bis hin zu einer operativen Genitalkorrektur. Daneben gibt es aber auch Menschen, die sich einer binären Geschlechterordnung nicht zuschreiben lassen, dementsprechend auch keine oder nur eine partielle geschlechtsangleichende Behandlung wünschen und daher seltener in klinischen Behandlungszentren vorstellig werden; sie bevorzugen für sich die Begriffe »transgender« oder »nicht-binär«. Seltener gesehen werden weiterhin Personen mit wechselndem Geschlechtszugehörigkeitsempfinden, die sich als »gender fluid« bezeichnen (Tab. 1.1).

Um die stark angewachsene Geschlechtervielfalt und die vielfältigen Formen transidenter Entwicklungen angemessen zu beschreiben, wird in diesem Band das sog. Gender-Sternchen verwendet, wenn mehr als ein Geschlecht beschrieben werden soll, z. B. Patient*innen. Das alternativ häufig verwendete große Binnen-I (PatientInnen) und der sog. Gender-Gap (Patient_innen) schreiben im Gegensatz zum Gender-Sternchen die Geschlechtsbinarität fest und werden daher hier nicht verwendet.

Bei Erwachsenen sind transidente Entwicklungen lange bekannt; schon 1926 wurde erstmals über geschlechtsangleichende Operationen berichtet (Mühsam, 1926). Transidente Kinder und Jugendliche wurden jedoch kaum beachtet. Erst in den späten 1970er und 1980er Jahren wurde systematisch begonnen, Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie zu behandeln. Es wurden Therapiezentren in New York, Toronto, London, Amsterdam, in Deutschland in Frankfurt, Hamburg, Berlin und in neuerer Zeit in Münster, Leipzig, München, Aachen und Würzburg aufgebaut, bis in die 1990er Jahre noch mit dem Ziel einer Heilung der Transidentität. Es stellte sich jedoch heraus, dass viele transidente Kinder und insbesondere Jugendliche an ihrem inneren Geschlechtszugehörigkeitsempfinden festhielten, nicht »heilbar« waren. Zudem stieg die Zahl behandlungssuchender transidenter Kinder und Jugendlicher seit der Jahrtausendwende sehr stark an.

Tab. 1.1: Trans*Nomenklatur

BegriffErläuterung

 

In Deutschland bestehen nur sehr wenige spezialisierte Behandlungszentren, nur selten sehen sich Kinder- und Jugendpsychiater*innen und Psychotherapeut*innen in der Lage, diese Patient*innen zu behandeln, sodass lange Zeiten der Suche nach einem Therapieplatz die Folge sind. Sehr oft führt dies zu großer Verzweiflung und starkem psychischen Leiden bis hin zu Suizidalität. Wünschenswert und Anliegen dieses Bandes ist es, Kenntnisse über transidente Entwicklungen im Kindes- und Jugendalter zu vermitteln und psychiatrisch und psychotherapeutisch tätige Kolleg*innen zu ermutigen, diese Patient*innen zu behandeln. Dazu gehören auch Kenntnisse über mögliche medizinische geschlechtsangleichende Behandlungen und rechtliche Aspekte, die deshalb ebenfalls in diesem Band dargestellt werden. Für Transidente ist es wichtig, dass ihre Therapeut*innen mit der Thematik erfahren sind, andernfalls kommt es häufig zu dem Gefühl nicht verstanden zu werden und nicht die richtige Hilfe zu erhalten.

2          Erscheinungsbilder

 

 

 

Bei vielen in Spezialsprechstunden, kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanzen und Praxen vorgestellten Behandlungssuchenden finden sich neben der regelhaft vorliegenden Geschlechtsdysphorie kaum psychische Störungen. Die gewünschte geschlechtsangleichende Behandlung führt bei den Betroffenen meistens zu einem Verschwinden zuvor vorhandener geschlechtsdysphorischer Auffälligkeiten wie Depressionen, selbstverletzendes Verhalten und Suizidgedanken. Allerdings liegen bei etwa der Hälfte der Betroffenen doch erhebliche weitere psychische Auffälligkeiten vor, die eine Behandlung sehr erschweren sowie ein regelhaftes Einhalten von Leitlinienempfehlungen unmöglich machen können.

Als Beispiele dargestellt werden psychisch unauffällige und auffällige transidente Kinder und Jugendliche, Beispiele von persistierenden und desistierenden Verläufen, weiterhin Beispiele von nicht-binären transidenten Entwicklungen und sog. fluider Transidentität, die zunehmend häufig beobachtet werden, wohl immer in größerer Zahl vorhanden waren, es in der Vergangenheit aber nicht wagten, Transidentitätssprechstunden aufzusuchen oder dies als nicht notwendig ansahen.

In den Überschriften werden bei Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesene, sich als Jungen empfindende Kinder als Transjungen, bei Geburt dem männlichen Geschlecht zugewiesene, sich als Mädchen empfindende Kinder als Transmädchen bezeichnet. Bei Jugendlichen mit klarem geschlechtsbinärem Verlauf wird das in der wissenschaftlichen Literatur übliche Kürzel FtM (Female-to-Male) bzw. MtF (Male-to-Female) verwandt, um nicht die sprachlich unschöne und umständliche Bezeichnung »Transjugendlicher, geburtsgeschlechtlich weiblich resp. männlich« einführen zu müssen.

2.1       Erscheinungsbilder in der Kindheit

2.1.1     Transjunge mit persistierendem Verlauf: Max

Vorgestellt wurde der siebenjährige, geburtsgeschlechtlich weibliche Max, der durchgehend seit der frühesten Kindheit den Wunsch geäußert hatte, als Junge zu leben. Max wirkte bereits sehr überzeugend wie ein Junge, dieses aufgrund seiner Kleidung, seiner kurz geschnittenen Haare und seiner Gestik, Mimik und Sprache. Verbal drückte er sich klar und überzeugend jungenhaft aus, selbst seine Tonlage war bereits die eines Jungen.

Die Vorstellung erfolgte auf Anraten seiner Klassenlehrerin in der Grundschule. Hier trat er bereits weitgehend als Junge auf, er hatte nur Jungen als Freunde, spielte am liebsten Fußball, ging nur auf die Jungentoiletten. Zum Sportunterricht zog er sich bei den Lehrer*innen um, anfangs hatte er sich nur bei den Jungen umziehen wollen. Angesprochen wurde er allerdings noch mit seinem weiblichen Vornamen Clara, er wurde aber von den Mitschülern »der Clara« genannt.

Die Eltern hatten sich drei Jahre zuvor getrennt. Max lebte bei seiner Mutter, die seine jungenhaften Interessen tolerierte. Zum Vater, der einen Bauernhof besaß, hatte Max regelmäßigen Kontakt. Sehr gerne half er seinem Vater bei der Arbeit, am liebsten fuhr er mit auf seinem Traktor und half beim Pflügen der Felder. Auch versorgte er mit Vorliebe die Pferde und Schafe, die der Vater auf seinem Hof hielt. Vom Vater wurde Max allerdings nicht als Junge akzeptiert, er versuchte dagegen zu arbeiten, wollte beispielsweise Max’ Wunsch nicht tolerieren, nur die Männertoiletten zu aufzusuchen. Der Vater berichtete, Max werde daraufhin aber sehr verschlossen und bockig, weshalb er schließlich doch nachgab, um sein Kind nicht zu verlieren.

Die psychiatrische Untersuchung ergab neben der Geschlechtsdysphorie keine Auffälligkeiten. Der kognitive Entwicklungsstand war sehr gut. Befragt nach bevorzugten Spielinteressen benannte Max jungentypische Spiele wie Fußball, Spielen mit Autos und Eisenbahn, abgelehnt wurden mädchentypische Interessen wie Spielen mit Puppen, Ballett und Tanz. Als Menschzeichnung fertigte er die eines lachenden Jungen an, nach Aufforderung, eine Figur des Gegengeschlechts zu zeichnen, die eines böse dreinschauenden Mädchens.

Wir stellten nach ICD-10 die Diagnose »Geschlechtsidentitätsstörung des Kindesalters«, empfahlen eine ergebnisoffene Therapie, weiterhin, dass Max in der Schule zunächst noch mit seinem Mädchennamen angesprochen werden sollte, um hiermit noch keine richtungsweisende Entscheidung zu treffen. Es sollte allerdings kein Versuch unternommen werden, Max aktiv zum Mädchensein hinzuführen. Seine Jungeninteressen sollten weiterhin akzeptiert werden.

Wieder vorgestellt wurde Max drei Jahre später im Alter von zehn Jahren. Der Wunsch, als Junge zu leben, bestand unverändert. Es war ein kurzer Therapieversuch unternommen worden. Max lehnte die Therapie jedoch bald ab, auch seine Therapeutin sah angesichts der unverändert nicht vorhandenen psychischen Auffälligkeiten keinen Sinn darin, Max zu einer Therapie zu zwingen. Max war weiterhin sozial sehr gut eingebunden, er hatte viele Freunde und besuchte weiter seinen Fußballverein. Auf Betreiben seiner ihn durchgehend sehr engagiert unterstützenden Klassenlehrerin war vom Jugendamt eine Integrationshelferin zur Verfügung gestellt worden, die Max im Alltagsleben unterstützte, als Junge auftreten zu können, z. B. in seinem Verein.

Die familiäre Situation war unverändert. Max unterhielt weiter regelmäßige Kontakte zum Vater, auf dessen Hof er wie zuvor am liebsten mit auf dem Traktor fuhr. Der Vater akzeptierte es nur widerstrebend, dass Max bereits weitgehend als Junge lebte. Er wurde von ihm weiterhin mit seinem weiblichen Vornamen angesprochen.

Max war sehr besorgt, weil erste leichte weiblich-pubertäre Veränderungen wie Vergrößerung seiner Mamillen (Brustwarzen) eingetreten waren.

Angesichts der sehr eindeutigen transidenten Entwicklung empfahlen wir, Max solle nach dem in Kürze anstehenden Schulwechsel voll in der männlichen Geschlechtsrolle leben, nur noch mit seinem männlichen Vornamen gerufen werden. Er sollte somit gänzlich in die Phase der Alltagserprobung eintreten. Dieses gelang auch problemlos, die weiterführende Gesamtschule verhielt sich sehr kooperativ.

Ein Jahr darauf, im Alter von elf Jahren, wurde nach vorausgehender pädiatrisch-endokrinologischer Untersuchung eine pubertätshemmende Hormonbehandlung begonnen. Es war zu einem leichten, allerdings kaum sichtbaren Brustwachstum gekommen, die Menarche war noch nicht eingetreten. Max befand sich somit im Tanner-Stadium II, ab dem nach AWMF- und WPATH-Leitlinien (Kap. 3) diese Therapie empfohlen wird. Für Max war diese Therapie sehr entlastend. Er konnte weiter mit Badehose schwimmen gehen, er wurde und wird bis heute allgemein problemlos als Junge akzeptiert. Es kam jedoch zu einem Zerwürfnis mit dem Vater, der ihn bis heute nicht als Junge akzeptiert, ihn weiterhin betont als Clara ansprach, solange noch Kontakt bestand. Da das Sorgerecht bei der Mutter lag, konnte der Vater die von ihm abgelehnte pubertätshemmende Behandlung nicht verhindern.

Zuletzt vorgestellt wurde Max ein weiteres Jahr später im Alter von gut zwölf Jahren. Er war groß gewachsen, er wirkte älter als seinem kalendarischen Alter entsprechend. Auffallend war seine recht tiefe männliche Stimme. Max hatte zusammen mit seiner Mutter den Antrag auf Vornamens- und Personenstandesänderung nach dem sog. Transsexuellengesetz gestellt, notwendig hierfür waren zwei Fachgutachten. In beiden Gutachten wurde eine mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unumkehrbare transidente Entwicklung attestiert, dem Antrag wurde stattgegeben.

Als nächster Schritt stand jetzt der Beginn der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung mit Androgenen an, für die bei Max angesichts des sehr klaren, zweifelsfreien Verlaufs seiner transidenten Entwicklung die in den Leitlinien (noch) empfohlene Altersgrenze von 16 Jahren sicher unterschritten werden konnte. Wichtig ist es in dieser Entwicklungsphase, es transidenten Jugendlichen zu ermöglichen, nicht auffällig hinter die pubertäre Entwicklung in ihrer Peergruppe zurückzufallen.

Max ist ein Beispiel eines sich psychisch gesund entwickelnden Transjungen mit einem seine Transidentität klar ablehnenden Elternteil. Diese Situation ist insbesondere bei getrennt lebenden Eltern nicht selten anzutreffen und erfordert intensivere Elternarbeit. Es wurden hier zusätzliche Beratungsgespräche mit den Eltern durchgeführt, in denen der Versuch unternommen wurde, den sich ablehnend verhaltenden Vater davon zu überzeugen, es werde zu starkem Leiden führen, wolle man Max davon abhalten, in dem von ihm als richtig empfunde nen männlichen Geschlecht zu leben. Im Allgemeinen versuchen wir dieses den Eltern zu verdeutlichen, indem wir sie beispielsweise auffordern sich vorzustellen, sie würden gezwungen, als Person des Gegengeschlechts zu leben. Wo möglich empfehlen wir auch, die an vielen Orten bereits existierenden Selbsthilfegruppen aufzusuchen.

Leider gelang es bei Max nicht, den Vater von seiner ablehnenden Haltung abzubringen, es kam zum Bruch der Beziehung. Es lag allerdings das alleinige Sorgerecht bei der Mutter, so dass der Vater die Behandlung nicht verhindern konnte. Liegt das Sorgerecht bei beiden Eltern, ergibt sich eine sehr schwierige Situation. In manchen Fällen ist die einzig mögliche Lösung der Gang zum Familiengericht, um dem ablehnenden Elternteil das Sorgerecht zu entziehen. Begründet werden kann dieses mit einer erheblichen Gefährdung der seelischen Gesundheit des Kindes, falls eine geschlechtsangleichende Behandlung nicht zugelassen wird.

2.1.2     Transmädchen mit persistierendem Verlauf: Lena

Die zehnjährige Lena wurde von ihrer alleinerziehenden Mutter vorgestellt. Lena berichtete, sie sei seit der frühesten Kindheit fest davon überzeugt gewesen ein Mädchen zu sein. Die Schule habe sie zunächst noch auf Drängen der Mutter als Junge gekleidet besucht. Ab der zweiten Klasse habe sie aber darauf bestanden, die Schule als Mädchen zu besuchen. Seitdem lebe sie durchgehend als Mädchen. Der Rollenwechsel habe laut Mutter zu einer deutlichen psychischen Entlastung Lenas geführt, wenn auch andere Kinder zunächst sehr negativ darauf reagiert hätten, sie beschimpft hätten. Gebessert habe sich dieses nach einem Klassenwechsel.