Gesehen, gehört, erlebt - Gertraude Lowien - E-Book

Gesehen, gehört, erlebt E-Book

Gertraude Lowien

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Beschreibung

Gertraude Lowien ist in den 60er Jahren als Studentin, später als Professorin oft für längere Zeit in Florenz gewesen. Ihr anfängliches Interesse für Kunst und Kunstgeschichte hat sich immer mehr verlagert auf die Lebensumstände der Menschen dort. Ihren Alltag hat sie im engen Zusammenleben mit all seinem Reiz, seinen Besonderheiten und Schwierigkeiten miterlebt. In einzelnen Szenen beschreibt sie die beobachteten Denk- und Verhaltensweisen und die beeindruckende Lebenskunst der Menschen, denen sie begegnet ist. Erinnerungen, getragen von Faszination und Liebe zu Land und Leuten. 124 Seiten, viele Illustrationen

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INHALTSVERZEICHNIS

Warum nur

Ein Konzert in Florenz

Eine Sonderausstellung

Roma, Stazione Termini

Auf der Post

Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen

Unterwegs ohne Auto

Cortili

Einkaufen

Auf dem Amt

Das Klo ist verstopft

Piccioni, die Stadttauben

Ein Sonntagmorgen

Straßen im Abseits

Der 27. Mai 1993

Unterwegs rund um Florenz

Die Unterhaltungsmeile, abends und nachts

20. Juni, ein normaler Morgen

Hitze

Endlich Regen

Unterwegs mit dem Skizzenblock

Vom Fenster aus

Begegnungen

Begegnungen der anderen Art

Leben an der Kirchenwand

Via Borgo San Lorenzo, nachts

Wenn / Dann / Danach / Darum

Warum nur

fährst du immer wieder in dieses merkwürdige, seltsame und chaotische Land?“ – diese Frage habe ich hier öfter gehört. Ich kann sie nicht leicht beantworten, vor allem nicht kurz.

Es stimmt, ich war immer wieder in Italien: drei Semester an der Accademia di Belle Arti in Florenz; vier mal neun Monate in meinen Forschungssemestern, in vielen Ferien bin ich zurückgekehrt; ich habe eine Reihe von Reisen und Studienfahrten mit Studenten auch in andere Regionen durchgeführt.

Warum also immer wieder?

Überwältigt von der Kunst war ich schon als Studentin: Renaissance! Florenz! Toskana!

Später kam dann die intensive Auseinandersetzung mit all den Originalen. Es war aber auch ein Erlebnis, beim Weg zum Markt durch den Dom oder das Baptisterium zu gehen, oder mir abends vor dem Schließen der Uffizien nur ein einziges Bild anzusehen …

Das Erleben der so unterschiedlichen Landschaften in der näheren und weiteren Umgebung beim Wandern, Fotografieren, Zeichnen …

Das Eintauchen In die Sprache, sie genießen, mich anpassen an die viel lebhaftere Ausdrucksweise, um mitzuhalten bei der überaus lebhaften Kommunikation …

Das intensive Kennenlernen von Menschen in kurzen Begegnungen, vor allem beim Zusammenwohnen mit unterschiedlichen Familien …

Das Entdecken von mir ganz neuen Denk- und Verhaltensweisen und das Miterleben der Besonderheiten ihres täglichen Lebens.

Daraus ist mein Buch vom Alltag italienischer Frauen entstanden.

Außerdem habe ich immer einzelne Beobachtungen und Begegnungen in zeichnerischen und beschreibenden Skizzen festgehalten. Jetzt, wo die Ereignisse um Coronaereignisse ein Hinfahren erschweren, meine ‚Italomanie’ aber ungebrochen ist, habe ich die verstreuten Zettel und Zeichnungen hervorgeholt und ausgearbeitet.

Ein Konzert in Florenz

Mai in Florenz, das heißt Maggio Musicale, das heißt eine große Auswahl von Musik ganz verschiedener Art. Da meine Freunde heute keine Zeit für unsere Kammermusik haben, will ich in ein Konzert gehen. Es gibt zwei zur Auswahl: ein Sinfoniekonzert des Orchestra Regionale della Toscana mit einem nicht uninteressanten Programm; als Alternative ein Abend mit Renaissancemusik für Sopran, zusammen mit alten Instrumenten - ganz junge Interpreten, das klingt vielversprechend. Es findet aber in einem Vorort statt. Der Saal dort ist nur umständlich zu erreichen, vor allem die Rückkehr ins Zentrum gestaltet sich meist sehr schwierig. Also die vor der Haustür liegende Alternative: Die Kirche San Stefano al Ponte Vecchio, sie ist seit vielen Jahren als Konzertraum für dieses Orchester eingerichtet.

Im Inneren beherrscht Buontalentis Treppe zum Hochaltar mit ihren barocken Schwüngen das Bild. Der Hochaltar selbst ist verschwunden, er ist bestimmt in einem Magazin gelandet wie so viele andere bedeutende Stücke in dieser Stadt. Die Lücke ist mit wallenden grünen Tüchern verkleidet.

Auf dem Marmorboden sind Klappsessel aufgereiht mit roten Segeltuchlehnen, immer sechs Sitze sind mit einer durchgehenden Plane verbunden. Das heißt, wie ich aus vielen Erfahrungen weiß, dass schon bei tieferen Atemzügen, erst recht aber bei italienischer Begeisterung die so verbundenen Zuhörer alle Bewegungen miteinander teilen – das ist sehr störend. Mit reichlichen textilen Dekorationen, die auffällig von der Decke herabwallen, ist eine recht anständige Akustik zustande gekommen und der Innenraum weniger beeinträchtigt als beispielsweise bei einer zum Kino umfunktionierten Kirche.

Das Konzert beginnt laut Plakat um 21 Uhr; die Kasse öffnet um 20 Uhr 30. Die blondgefärbte Signora, die seit vielen Jahren diese Aufgabe erfüllt, ist sogar schon da. Sonst aber niemand. Einlass soll ab 20 Uhr 30 sein; es gibt aber weder Einlasser noch Einzulassende. 20 Uhr 45 kommen die ersten weiteren Hörer, fast alles Ausländer. 20 Uhr 50 erscheint drahtig, energisch und mit einem winzigen grauen Haarschwänzchen über dem Frackkragen der Dirigent, Dennis Russell Davis. Er ist ein Gast, jetzt Generalmusikdirektor in Bonn. Vielleicht ist er deshalb gewohnt, dass ein Konzert pünktlich anfängt, aber daraus wird wohl nichts. Er geht unruhig hin und her, stürzt sich auf eine fünf Minuten vor Beginn des Konzerts heranschlendernde Geigerin, noch in ihren Alltagskleidern. Er: „Was ist los? Fällt das Konzert aus?“ - Sie: „Nein, nein, heute ist das kein so langes Programm, da können wir alles in Ruhe angehen.“ Und sie ergänzt: „Schade um den schönen Abend. Na, wenigstens wird es nicht so lange dauern.“

21 Uhr. Einlass. Es kommen nun in Gruppen einzelne Besucher und auch weitere Instrumentalisten. Ich suche mir einen guten Platz, gehe dann in die Sakristei in der Krypta. Im dort untergebrachten Frauenklo ziehen sich die wenigen weiblichen Mitglieder des Orchesters um, nicht etwa besonders eilig. Ich spreche eine junge Frau an, sie ist Rumänin, zweite Geige. Sie erzählt, wie gerne sie in Italien ist, vor allem wegen des wunderbaren Essens, und dass sie deswegen ein Angebot ausgeschlagen hat, in ein deutsches Orchester einzutreten, obwohl dort die Bezahlung wesentlich besser ist. „Aber das schöne Leben hier, das zählt mir doch mehr. Es geht mir ja auch hier schon viel besser als zu Hause. Zu weiteren Details kommen wir aber nicht mehr, denn schließlich ist ja noch ‚il concerto’ zu absolvieren!

Oben, 21 Uhr 20, hat sich die Situation geändert, es kommen weitere Zuhörer; auch schon in den vorderen Reihen die Abonnenten, sie kennen ja schließlich die hiesigen Sitten eines Konzerts.

Vor mir sagt ein junger Mann, durch Frack als Musiker ausgewiesen, zu seiner Freundin: „Du hast es gut, kannst bequem hier sitzen, ich muss immer da oben sein. Stehen wir das halt durch! Bring alles gut hinter dich, ich hol dich nachher dann ab.“

Zwei Italienerinnen vom Typus ‚Blauviolett-getöntes-Grauhaar-und-reichlich-Goldschmuck’ gehen erst mal in die Bar gleich nebenan.

Zwei Bläser: „Welche Verschwendung eines schönen warmen Abends, aber heute wird das ja keine so lange Musik!"

21 Uhr 30. Langsam entsteht Konzertatmosphäre: Aus der Krypta sind Tonleitern zu hören und Einblasgeräusche aus dem Übungsraum gleich neben dem Gabinetto Donne, dem Frauenklo. Die Anklänge von vieltöniger Musik und das Programmheft lassen vermuten, dass die „absolut erste Aufführung“ aus der Reihe „Neue Kompositionen zu Ehren Mozarts“ wohl recht modern zu werden scheint. Das Einspielen klingt inzwischen sinfonisch, denn das Orchester vervollständigt sich zunehmend, wenn auch in aller Ruhe.

21 Uhr 38. Umständlich wird ein Mikrofon aufgebaut. Der Dirigent peilt immer wieder mal die Lage, die aber wohl noch nicht sehr ernst ist: Der inzwischen als Kontrabassist identifizierte junge Mann kommt noch einmal zu seiner Braut zurück, küsst sie: „Geht es dir denn auch gut?“ – „Ach ja...“ Sie seufzt. Die beiden Kaffeetrinkerinnen kommen wieder in lebhaftem Gespräch: „Eigentlich sollte ich ja keinen Espresso trinken, aber nach dem Essen tut er mir so gut, da ist er ja die reinste Medizin.“

Das Licht blinkt. Hinweis, dass das Konzert bald anfängt? Aufmunterung? Nicht nötig, das Publikum ist geduldig. Das Blinken wird lästig, das Einspielen ist immer noch in vollem Gang.

Dann, 21 Uhr 45, eine längere völlige Dunkelheit, Schweigen in der Krypta, auch im Kirchenraum beim Publikum breitet es sich aus, recht langsam allerdings. Dann, zusammen mit bengalisch aufscheinendem Licht, marschiert das Orchester ein und nimmt Platz.

Ich entdecke Leute, die ich von vielen Konzerten schon länger kenne: Manrico ist direkt hinter den Konzertmeister aufgerückt, macht er ‚carriera’? Alfredo Tacchis Locken sind nun fast weiß, ich kann mich an ihn noch als Neuling in diesem Orchester erinnern.

Der Kontrabassist hat übertrieben, als er sagte „Stehen wir es durch“: er sitzt nämlich auf einem normal hohen Stuhl - das große Instrument ist dadurch in ganz schräger Lage, ein merkwürdiger Anblick zwischen den beiden anderen Kontrabässen in der üblichen Haltung. Graziella, die Bratscherin, fehlt. Ich weiß von meiner Freundin Anna, dass sie nun endlich schwanger ist. Die anderen Streicherinnen sitzen im Hintergrund, zwei davon noch weiter zurück als im letzten Jahr. Wozu dann das neu eingeführte blauschwarz glitzernde Berufsgewand mit dem kessen Seitenschlitz, wenn es nicht zu sehen ist? Der Dirigent blickt recht zufrieden auf die jetzt immerhin zu zwei Dritteln gefüllte Kirche.

21 Uhr 50. Nun geht es wirklich los mit dem „Posthumen Marsch auf die Bestattung Mozarts“. Der junge Komponist ist anwesend, er hat im Programm seine Absichten geäußert: „Das Ziel meiner musikalischen Gedanken ist der Mensch Mozart; ihm wollte ich meinen Respekt erweisen, indem ich ihm diese Musik wie eine Postkarte schicke.“ Der Inhalt dieser Botschaft besteht aus fünf Minuten lang andauernden sanft säuselnden Klängen, ausgesprochen langweilig. Es war wohl eine Postkarte zum billigen Fünfwortetarif ... Sehr mäßiger Beifall.

Dann fünf Bagatellen von Dvorak, vom Dirigenten für Sinfonieorchester bearbeitet. Eingängig-melodisch, nicht allzu schwer. Ist das vielleicht für unser Collegium musicum in Fulda als Programmpunkt geeignet? Bestimmt für Zoltan Udvardy, dankbar auch einzelne Concertino-Teile für Streicher, aber im letzten Satz ist die Bogentechnik überhaupt nicht bagatellenartig. Vielleicht sollten wir doch lieber die Finger davon lassen? Vorschlagen werde ich dieses Vierzehn-Minutenstück mal.

Anständiger Beifall.

Jetzt 30 Minuten Pause, genug Gelegenheit für viele Orchestermitglieder, um zur Bar nach nebenan zu gehen oder anderswo draußen die so wichtigen sozialen Kontakte zu pflegen. Das Kontrabass-Brautpaar ist vereint. Überall stehen Gruppen, es wird viel geraucht, auch in der Kirche. Die Fagotte stimmen, üben, auch der erste Kontrabassist. Einzelne Streicher kommen, andere gehen, rufen, lachen, alles geht ganz locker zu. Die nichtrauchenden Musiker tönen zunehmend lauter, das Lichtblinken setzt wieder ein. Auch die Musiker mit Nikotin- und Koffeinsucht wenden sich nun langsam wieder dem Musizieren zu, das heißt, erstmal einem gewaltigen Stimmen. Das lockt auch die Zuhörerschaft herbei, nun kann es weitergehen.

Der Dirigent kommt mit der Sängerin, seiner Frau: groß, sehr blond, sehr weiblich mit entsprechend betonender roter Robe; vielfach ist deutlich das bewundernde "Che bella!" zu hören. Und dann Beethoven, die gesamte Egmont-Musik. Sehr temperamentvoll dirigiert und gespielt, mitreißend für Publikum und Spieler. Auch der zweite Kontrabassist legt sich jetzt sehr ins Zeug, das geht sogar im Sitzen.

Mein linker Nachbar, Italiener, ruft nach der Ouverture: „Beethoven vince sempre“ - (siegt er wirklich immer?). Noch mehr begeistert dieser Fan sich, als die schöne Sängerin ihre Lieder vorträgt. Die Komik jedoch, dass eine so auffallend gekleidete, so weibliche Frau singend zum Ausdruck bringt: „Oh, hätt’ ich ein Wämslein und Hosen und Hut!“ und dann: „Welch Glück sondergleichen, ein Mannsbild zu sein!“, die bespreche ich mit meiner Nachbarin zur Rechten, einer Französin. Eher hätte ich verstanden, wenn die Streicherinnen des Orchesters diese Töne angestimmt hätten, vielleicht hätten sie ja als Mannsbilder in Wämslein und Hut eher Aufstiegschancen im Orchester.

Großer Beifall, lautes Rufen, immer wieder „Brava, brava“ - eine Huldigung wohl ebenso an die Schönheit der Rotgekleideten wie an die Musik; Dirigent und Orchester hätten den größeren Beifall verdient.

Zufrieden gehen alle Liebhaber der klassischen Musik, besonders zufrieden ganz offensichtlich das Kontrabassbrautpaar.

23 Uhr15 , noch früh am Abend.

Draußen kommt, weil es heute mal etwas wärmer ist, das andere musikalische Florenz in Schwung: Die Gaukler und Pantomimen mit Vivaldi oder Verdi vom Tonband, all die blasenden, zupfenden und oft nur mäßig gekonnt singenden jungen Menschen mit dem Hut oder dem geöffneten Geigenkasten vor sich für die Spenden. Alle haben ihr Publikum, das sehr angeregt im Kreis um sie herumsteht; es gibt reichlich Tausend-Lirescheine.

Weniger Freude haben die Anwohner an diesen gleichzeitig und meist sehr laut stattfindenden Darbietungen. In diesem Mai ist es aber noch erträglicher als sonst oder im Sommer, denn wie immer in den letzten Tagen kommt der eiskalte Tramontana-Wind vom Apennin her. Der wird auch diese alternativen Konzerträume bald leerfegen und heute den Anwohnern eine ruhigere Nacht sichern.

Mit einem erwärmenden Rundgang durch die jetzt ganz leere Innenstadt und mit einem heißen, mit Likör ‚korrigierten’ Tee in meiner Spätbar beschließe ich diesen Abend im Maggio Musicale Fiorentino. Die weiteren Konzerte werden sich im Programm, bestimmt aber nicht im Ablauf von diesem hier unterscheiden.

Noch ein Konzertchen

In der ziemlich unbedeutenden, längst entweihten Kirche Santa Maria de’ Ricci in Florenz finden in der Hauptsaison täglich kleine Konzerte für Touristen statt, immer nur mit Ohrwurmprogrammen.

Einmal will ich das erleben. Schon vom sehr belebten Corso aus ist Orgeldonnern zu hören, es klingt nach Konserve vom Band. Ich zahle 10 Euro. Die ohnehin dunkle Kirche ist kaum beleuchtet; die Reliefs und die Nebenaltärchen sind nur zu ahnen. Ein paar Touristen sitzen schon - sie haben sich an die Aussage gehalten: Beginn 21 Uhr 15.

Der Küster im schwarzen Kittel ist da; er wedelt ein bisschen Staub vom Hochaltar. Schließlich krempelt er die Ärmel hoch und schiebt mit Hilfe seiner kleinen Enkelin ein Harmonium zur Seite. Ein Hund ist auch dabei (Straßen- oder Küsterköter?); schwanzwedelnd läuft er umher, beschnuppert Ecken, dann auch mich und weitere Zuhörer.

21 Uhr 30 sind aus der Sakristei erste Flötentöne zu hören. Dem Hund gefallen sie nicht, er wird unruhig und bellt, was aber den Küster nicht kümmert. Inzwischen sind noch ein paar mehr Touristen gekommen und 21 Uhr 40 geht es dann los:

Flöte und Orgel bieten uns das Salve Regina von Pergolesi, dann folgt ein Vivaldi-Schlager. Es kommt noch ein Tenor dazu, der tremoliert mit falsch wirkendem Gefühl „Wär’ ich bei dir!“ – (Armer Bach, denke ich und: wenn ich ein Hund wäre, würde ich jetzt bellen. Aber der Kirchenhund hat längst das Weite gesucht).

Nach dem Gewitter der Toccata in d-moll kommt, arrangiert für Flöte und Orgel - na, was könnte es denn anderes sein als das Largo von Händel? Und Beifall, so spärlich, dass er selbst in der Kirchenakustik sehr mager klingt.

Ich gehe. Draußen ist es dann mit all den Straßenmusikern doch interessanter als bei diesem „Concerto“.

Eine Sonderausstellung

Zufällig habe ich in der Zeitung gelesen, dass es anlässlich des internationalen botanischen Kongresses jetzt eine Reihe von Ausstellungen zum Zusammenhang von Kunst und Botanik gibt. Da heute meine Einkäufe in der Markthalle ausnahmsweise schnell erledigt waren, beschließe ich, die Ausstellung in Poggio a Caiano zu besuchen. Sie ist in einer Villa, um deren Konzept und Bau sich Lorenzo di Medici sehr gekümmert hat und die ich immer noch nicht kenne.

Caiano ist ein kleiner Ort, etwa zwölf Kilometer von Florenz entfernt. Manchmal ist es nicht leicht, herauszufinden, welche Busgesellschaft wohin fährt und wo die zentrale Abfahrtsstelle ist, aber ich nehme doch an, dass es mit Caiano, so dicht bei Florenz, nicht allzu schwierig werden dürfte.

In der Bar mit Tabacchi, in der ich immer die Buskarten kaufe, kriege ich auf meine Frage nach der zuständigen Busgesellschaft, nachdem drei Leute dort gemeinsam überlegt haben, die Auskunft: „Fragen Sie einen der Busfahrer in der Via Panzani.“

Ich gehe hin. Der erste ankommende Busfahrer dort empfiehlt mir die Zentrale der ATAF am Dom. „Ist denn die ATAF nicht in der Hauptsache für den Stadtverkehr zuständig?“ wende ich ein. Er, pikiert: „Das können Sie mir als Busfahrer nun wirklich glauben, Signora!“ O weh, nun habe ich seinen Mannes- und Berufsstolz verletzt!

Also zum Dom. In der ATAF: „Gehen Sie zur SITA in der Via Santa Caterina, da ist es bestimmt richtig.“ Meine Zweifel sind groß, denn ich weiß, dass diese Gesellschaft nur für weitergehende Fahrten zuständig ist. Aber diesmal lasse ich den Mannesstolz ohne Kränkung und frage unterwegs eine Postkartenverkäuferin um Rat, die nun ihrerseits die COPIT in Piazza Santa Maria Novella vorschlägt, denn ihre Schwiegermutter ist früher auch immer von dort abgefahren.

Die Haltestelle ist noch dort, es steht sogar ein Bus da, leer, verschlossen - also Zeit, um eine Karte zu besorgen, die immer ‚in terra’ gekauft werden muss. Ein junger Mann, der Busfahrer sein könnte, gibt in ganz bestimmtem Ton die sibyllinische Auskunft: „Neben Santa Maria Novella!“ und zeigt nach rechts. Dort ist keine Bar mit Tabacchi und Karten, auch keine Agenzia zu finden. Aber eine Bar mit Espresso, den habe ich jetzt erst einmal nötig. Es gibt auch eine neue Auskunft: „Neben Santa Maria Novella links.“

Diesmal stimmt es: Die Agenzia ist offen, es gibt die richtigen Karten, der Bus soll in zehn Minuten gehen. Jetzt macht die Angelegenheit Fortschritte!

Also zurück zu der Haltestelle vor den Arkaden. Jetzt, wo alles geregelt ist, kann ich auch den Platz bewundern, der auf zwei Seiten mit Arkaden nach dem Muster von Brunelleschis Findelhaus umbaut ist. Bewundern und mich erinnern an mein Studium in Kassel, als Prof. Hirzel sagte, dass man Zeit brauche, um einen italienischen Platz richtig zu erleben. Die habe ich jetzt, denn es rührt sich nichts.

Nach einer Weile sehe ich auf die Uhr: Vor kurzem hätte der Bus abfahren sollen. Dann kommt ein älterer Mann mit Stock, der auch nach Caiano will. Wir sind beide erleichtert, denn zu mehreren nimmt die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der einzelnen Reisevoraussetzungen zu. Wir vergleichen die Auskünfte - sie sind verschieden! Was stimmt denn nun?

Er, ganz Cavaliere, humpelt zurück zur Agenzia, ich soll inzwischen den Bus aufhalten, wenn er doch schon käme. Aber er kommt nicht. Der Kavalier kehrt zurück, meine Auskunft wurde bestätigt: Er hätte vor 20 Minuten fahren sollen. Jetzt erscheinen noch weitere Leute, es werden allgemeine Beratungen angestellt, was denn los sein könnte.

Schließlich kommt ein Bus, es ist der richtige. Die Fahrt kann losgehen, und das tut sie nun auch.

Einziges Gesprächsthema, an dem sich alle beteiligen: Wer wann und wo Ferien gemacht hat, wie man sich vergnügt hat: in erster Linie zusammen mit Freunden. „Eines Abends haben wir ein Essen gemacht, meine Tochter legte Totani ein auf die Art ihrer Schwägerin Elisa. Wenn Sie wüssten, wie die gut waren, also wirklich sehr, sehr gut!“ Bevor die Frau genauer erklären kann, wie dafür die Petersilie vorbehandelt wurde, beschreibt ein anderer, auf welche Weise seine Mutter das machte. Mein Nachbar findet allerdings kaum Gehör für seine Machart aus Apulien. Jede Region, eigentlich jede Familie ist ganz fest davon überzeugt, dass nur die eigene Zubereitungsart wirklich gut ist. Aber dennoch ist es ist es wohl sehr befriedigend, dies im Vergleichen mit den Kochkünsten anderer immer wieder festzustellen. Und das scheint mir der Hauptgrund dafür zu sein, dass nicht nur in diesem Bus die lebhaften und ausführlichen Gespräche über eine ‚cena con amici’ immer wieder einen so großen Raum einnehmen.

Wir nähern uns Caiano. An der ersten Haltestelle bittet eine alte Frau mit Krückstock um Hilfe beim Aussteigen. Ein Mann nimmt ihren Stock, eine Frau ihre Tasche, deren Enkelin die Jacke, ein anderer Mann nimmt die Frau selbst schwungvoll in die Arme und trägt sie auf den Bürgersteig. Hin- und Hergeplänkel, an dem sich auch die Reisenden im Bus beteiligen: „So gut möchte ich es auch haben!“ – „Was brauchen Sie einen Stock, Signora, solange es hier stramme Männer gibt!“ Sie quietscht vor Vergnügen. Der Helfer: „Und wer kommt als Nächste in meine Arme?“ – „Schön wär’s!“ - Rückgabe von Stock, Jacke, Tasche. Lachende Verabschiedung, alle Helfer steigen wieder ein, es geht weiter.

Inzwischen erklärt mir mein Nachbar zum dritten Mal, wie ich gehen und vorgehen soll. Zu dritt hatten die Umsitzenden über mein Anliegen beraten, aber er fühlt sich verantwortlich. Ich soll in der Mitte des Orts aussteigen, damit ich „etwas von unserem schönen Ort“ sehen könne. Ich füge mich und steige aus, wo sie sagen. Der Bus fährt weiter, meine Berater winken.

Ich sehe ein paar Häuser, eine lange hohe Mauer, die so bedeutend ist, dass dahinter nur der Park der Villa liegen kann. Dicht bis an die abweisende Steinwand sind Fahrzeuge geparkt, auf der Straße ist starker Verkehr. Also zwänge ich mich durch die Lücken, rieche Benzin und Staub, höre ohrenbetäubenden Lärm. Die Luft ist feuchtheiß und drückend. So erlebe ich „unser schönes Caiano“.

Am Ende der steilen Straße liegt die richtige Bushaltestelle, gleich daneben das gewaltige Tor. Die dicken Mauern wirken ganz entschieden abweisend, denn im Park ist alles still und leer. Der Weg führt gerade zur Villa und obwohl ich die Ansicht des berühmten Palazzo schon oft abgebildet gesehen habe, ist die Wirklichkeit doch ganz anders: einsam und prächtig. Das ist nun das ländliche Gegenstück zum Stadtpalast der Medici, neben dem ich lange gewohnt habe.

Kein Hinweis auf die Ausstellung, kein Mensch.

Die berühmte Treppe lässt mich wieder an Prof. Hirzel denken: „Treppen können nur erfasst werden durch bewusstes Schreiten.“ Also ‚schreite’ ich, spüre den Rhythmus der Stufen, ihren Schwung, erreiche die Terrasse, die als Sockel für die Villa dient, und mache eine Runde - Was für eine Aussicht! Toskanische Landschaft in reinster Form.

Schade nur, dass es, wie oft bei feuchtheißem Wetter, so dunstig ist. Nur die nächsten Hügel und Landhausgruppen sind zu sehen, darunter ein im Frost des ungewöhnlich harten Winters verbrannter Olivenhain, gelb-braun geröstete Bäume vor Aschegrau, die Steinmauern verrußt. Bei klarer Sicht muss von hier die Kuppel des Doms zu sehen sein, darauf hat Lorenzo Medici bestimmt geachtet.