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Demokratische Freiheit schuf unsere vielgepriesene Wohlstands-gesellschaft. Moderne Gesellschaft gedeiht durch eine demo-kratische, soweit gebildete Bürgerschaft. Die Gesellschaft erwartet von den Schulen und Hochschulen qualifizierten Nachwuchs - doch verlangt der Staat auch immer genauere Kontrollen von Schulen, Hochschulen, der Lehrer und der Schüler. Fördert er auch die Freiheit, sich jeweils einmalig zu entfalten ? Hoffentlich gelingt es, Schüler und Studenten für die Gesellschaft vorzubereiten und ihnen zu helfen, hinreichend frei zur Selbständigkeit zu reifen. Das Engagement der jungen Leute gibt Hoffnung! Unsere Zukunft heißt: Europa. Das neue Europa wird wachsen und reifen, wenn europäischer Geist immer neu, wohlüberlegt aus Politik, Gesellschaft und Schule verspannt wird. So können Theorie und Praxis zueinander finden.
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2017
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UMSCHLAGBILD: „DIE SCHULE VON ATHEN“
Noch in meiner Jugend galt: „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben.“ Schon mein Vater, ein Bauernsohn, erreichte eine qualifizierte Stelle bei der Post. Wie viele aus den meist kinderreichen Familien des kleinen Mittelstandes waren um die Wende zum 20. Jahrhundert „aufgestiegen“? Noch in meiner Jugend hing die öffentliche Meinung an der Stimmung des Zeitalters der Industrialisierung: „Es geht aufwärts! Bewährt euch!“ Und heute? Oft hörte ich schon: „Hoffentlich geht es unseren Kindern nicht einmal schlechter als uns.“
Ihr, meine Enkel, fragt mich: Wie konnte es in unserer Wohlstandsgesellschaft dazu kommen? Wie konnte Hoffnung in Befürchtung und Mißtrauen untereinander umkippen? Laßt mich etwas ausholen!
Wir leben gewiß in einer fortschrittlichen Zeit der Wissenschaften, der Technik, der sozialen Projekte, der neuen Schulorganisationen und des Schulbaus.
Wenn in einem Wingert die Reben wachsen, werden vor dem Auswachsen die stützenden Drähte höhergelegt. In unserer Gegenwart ist durch Umsicht und Engagement Wachstum auf allen Gebieten beachtlich. Aber viele Pflanzen wachsen aus, da die stützenden Drähte nicht höhergelegt, ihrem Wachstum angepaßt werden.
Die Mutter besorgt ihrem Kind einen neuen Anzug, wenn es aus den alten Kleidern herausgewachsen ist.
Zum Schlagwort ist „Vernetzung“ geworden. Die Knoten, die das Netz zusammenhalten, sind fest. So fixieren die dominanten, naturwissenschaftlichen Methoden feste Gegebenheiten innerhalb ihrer Vorgaben, die nicht selbst thematisiert werden. (Darüber schreibe ich ausführlich.) Die Physiker erforschen die Struktur und Wirkung einer Atombombe und bauen sie. Das Zünden ist nicht ihr Thema. Entschuldigt das beängstigende Beispiel! In unserem Alltag erzeugt die naturwissenschaftliche Methode nicht so harsche, aber doch unüberschaubare Wirkungen. Neue Automodelle werden entwickelt – eine Produktion ist eine Sache für sich, davon werden der Verkauf und die Kundenvorlieben streng getrennt. Kann das Ganze auf die Dauer nicht zusammen geordnet werden? Wenn eine „Sache“ nicht erfolgreich, leiden auch die anderen Sachen.
Der Sozialetat ist meist der höchste im kommunalen Haushalt, die soziale Frage wird entschieden in der Bildungspolitik, aber sollte nicht Hilfe auch Hilfe zur Selbsthilfe werden? Der wache Zeitgeist versucht zu korrigieren, der Bedarf wird allein zum Wegweiser. Aber sind Schüler nur Bedarfserfüller für die Wirtschaft? Dort wird doch alles für den Bedarf produziert.
Was ist der eigentliche Grundwert, werdet ihr fragen. In unserer Zeit scheint der Einzelne der erste und letzte Wert zu sein. Da hat Gesellschaft ihren Wert, indem sie den Nutzen aller steigert. Aber, da in unserer Demokratie die Einzelnen sich immer nur befriedigen wollen, was bleibt da außer Verwirrung – und Mißtrauen?
Kein Rebstock wächst aus sich heraus und nur für sich. Jeder Rebstock gedeiht, gestaltet seine Umgebung aus der Geschichte seiner Art heraus und mit den Möglichkeiten seiner Umgebung, „seinem Biotop“. Die Bonität des Bodens, das Klima, die Pflege durch den Winzer verschafft ihm seine jeweils einzigartige Eigenart. Sein Ziel ist es, seine Früchte zu weiterem Leben zu geben. Kurz geschrieben: Er wächst aus seinem Lebensganzen zu seinem Lebensganzen, das ihm seine eigene Art schenkt. Da ist das Ganze nicht lediglich ein Zusammenfügen von Nebeneinander, sondern ist das Ganze, Schöpfungsspannung. Von Schöpfungsspannung spreche ich, die das Ganze zum Anderen erst schafft. Diese Spannung ist so nicht zwischen schon Bestehendem, da sie ja erst Bestehendes erschafft. So kann ich das Ganze nicht feststellend beherrschen, aber mich ihm nähern. Da die gründende schöpferische Spannung unendlich endlich ist, wird das Ganze immer neu gestaltet werden müssen.
Der Beweis – soll mein Buch sein!
Ich spreche von Staat, Gesellschaft, Denkmustern, von der Jugend. Aber diese Bereiche sind nicht nebeneinander, mehr oder minder verbunden, sondern sind erst aus gegenseitiger Hinwendung zu einem Ganzen, aus dem ihr jeweiligen Selbst entsteht.
Helft mir, mein Konzept zu prüfen!
Im 1. Bereich erinnere ich an die Entwicklungen zu Staat, Gesellschaft, geschichtlichen Spannungen nach der Gründung des 2. Reiches zunächst, dann an die Spannungen, die die Weimarer Republik charakterisieren. Spannungen zu einem ganz neuen Gebilde von Staat und Gesellschaft, dem sogenannten 3. Reich Hitlers, schließlich an die Geschichte nach der Katastrophe 1945 zu unserer Gegenwart.
Im 2. Bereich skizziere ich die Werte und Ziele unserer demokratischen Gesellschaft, die das Ganze unseres Staates und unserer Gesellschaft hervorbringt.
Im 3. Bereich sollen Einflüsse griechischer Philosophen und deutscher Aufklärer auf unsere Jetzt–Zeit zumindest angedeutet werden.
Der 4. Bereich ist Gesellschaft – Jugend gewidmet.
Zu den wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft gehört es, das Reifen der Jugend zu fördern, dabei ihre eigene Entwicklung zu achten und so als Gesellschaft sich dann zu rechtfertigen.
Die Jugend wird nicht wie eine Rebe im Glashaus oder als Diener gewöhnlicher Trends zu sich selbst finden, zu ihrem Lebensganzen gedeihen, sondern erst wenn die Hinwendung zum Anderen, zum Ganzen, zu ihrem Selbst werden wird. (Platon sprach von Eros, das Christentum spricht von Agape – Caritas). Mir ist als Nachgeborener so Zuneigung näher als nur Pflichterfüllung.
Wenn Leben anstrengend – was soll‘s? Für den Anderen und das Selbst bedeutet es oft das eigentliche Glück, in einem Lebensganzen aufgehoben zu werden.
Mein Denken hat das Werden selbst, das sogar dem Philosophen Aristoteles in seiner Existenz entging, zum Mittelpunkt werden lassen.
Nicht leicht wird es Euch werden, liebe Enkel, euch meinem neuen Denken hinzuwenden. Mir scheint’s: Nur der Anfang ist schwierig!
Mir bringt mein neues Denken keine Zukunft mehr – euch kann es Zuversicht für eure Zukunft bedeuten.
VERSAILLES – SPIEGEL DER MACHT
Versailles wurde zum Machtzentrum Ludwig XIV. König Ludwig XIV. hatte das Jagdschloß von 1661 zur prachtvollsten Schloßanlage Europas erweitert. Die adligen Stände feierten darin die rauschendsten Feste – da konnten sie nicht gegen den König agieren, nicht eigene Politik betreiben. Zugespitzt: Wer feiert, rebelliert nicht.
Der Spiegelsaal des Schlosses von Versailles wurde zur Gründungsstätte des Deutschen Reiches 1871.
Nach dem Sieg des deutschen Koalitions–Heeres über Frankreich unter der Führung Preußens traten bei der Fürstenversammlung im Spiegelsaal zu Versailles Bayern, Württemberg, Baden und Hessen im November 1871 dem Deutschen Bund bei. Am 18. Januar 1871 wurde das Kleindeutsche Reich (ohne Österreich) gegründet. König Wilhelm I. von Preußen wurde von den deutschen Fürsten zum „Deutschen Kaiser“ ausgerufen. (Eine Facette spiegelt die schwierige politische Situation und Atmosphäre im Spiegelsaal wider: „Deutscher Kaiser“ bedeutet, daß der Kaiser Deutscher ist, bezeichnet nicht das Amt.
Auf eine Amtsbezeichnung konnten sich die Fürsten nicht einigen, so stark war der Föderalismus in Deutschland. So gab es kein Reichsheer, lediglich ein Bundesheer, dessen Kontingente jeweils dem Landesherren unterstanden. Eine Reichsmarine wurde allerdings gegründet. Ergebnis: Das Reich bündelte die Macht der Landessouveräne.
DAS NEUE REICH – SEIN AUFSTIEG
In dem neuen deutschen Reich explodierte eine alle Schichten der Gesellschaft mitreißende Zuwendung zum neuen Staat. Vaterländische Vereine wurden gegründet. Meine Mutter erinnerte sich noch an die jährliche Sedans–Brezel und schulfrei am 2. September, dem Tag der Entscheidungsschlacht in Frankreich. Mein Schwiegervater (geboren 1885) hieß – obwohl Schwabe – nach dem preußischen Reichskanzler von Bismarck, dem eigentlichen Gründer des deutschen Reiches, Otto. Das eifersüchtige Gezänk unter den Landesfürsten schien überwunden. Deutschland war durch den Sieg über den „Erzfeind“ Frankreich zu einer Großmacht in Europa geworden, konnte mit Frankreich, England, Rußland, auch dem Bruderland Österreich–Ungarn auf Augenhöhe verhandeln – das Reich war jetzt eine Großmacht mit aufstrebendem Zentrum: Berlin.
BERLIN – REICHSHAUPTSTADT
In Preußen wurden 1870/1871 780 Aktiengesellschaften gegründet, denen später durch Spekulation Depressionen nicht erspart blieben. Der Reichstag residierte in Berlin, dessen imposantes Gebäude von Gillot aus unserer Nachbarstadt Oppenheim erbaut wurde. Die Entwicklung einer bisher ungewohnten Geschäftswelt wurde angeregt. Berlin überschritt als erste Stadt des deutschen Sprachraumes die Millionen–Grenze, seit 1924 Groß–Berlin mit 4 Millionen Einwohnern. Der Willen des Großbürgertums, auch der Banken und manches Fabrikgebäudes und die Architektur, waren dem Historismus zugewandt – unter Wilhelm II. (1888–1918) wilhelminischer Stil genannt. (Mir vertraut aus dem mir fast heimatlichen Wiesbaden, einer preußischen Stadt vom Kaiser eingeweihten Kurhaus in griechischem Stil.) Der Kurfürstendamm von Berlin wurde zur Flaniermeile, mitaufgeblüht war das Bürgertum. Bei den Fabrikarbeitern war insbesondere die Zahl durch die Landflucht aufgeblüht. Sie wohnten zusammengepfercht in engen Mietskasernen am Rande der Stadt mit mehreren Innenhöfen. Bodenspekulation hatten in den Vororten die großen Mietskasernen entstehen lassen mit ihren lichtlosen, zahlreichen Innenhöfen. So mußte Berlin auch zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung werden. Der durch Zölle nicht mehr behinderte Zusammenschluß der Wirtschaft, die Verwaltung des großen Reiches, soweit sie nicht den Landesfürsten überlassen, brauchte ein Steuerungszentrum. Berlin wurde zur Verwaltungshauptstadt mit einer dem Kaiser treuergebenen Beamtenarmee. Das Militär forderte Paradeplätze, um „Preußens Gloria“ zu verkünden, die Jugend für das Reich zu begeistern. Die tüchtigen Truppenkommandeure kamen aus dem Adel, meist aus den Rittergütern aus dem Osten. Preußens Gloria sollte noch gesteigert werden. Aber neue Macht gibt es nur, wenn neue Gegner besiegt werden. Brauchte da das neue Reich Gegner um seines Selbstbewußtseins willen? Die Gesellschaft drängte wohl nach militärischen Erfolgen mit großem Ehrgeiz. Die Suppe der Selbstgefälligkeit kocht auf und noch mancher sollte sich daran die Finger verbrennen. Patriotismus schien bei manchem Politiker in Nationalismus umzuschlagen, sich auf andere Staaten als Gegner zu fixieren.
Das neue Reich erzeugte neues Selbstbewußtsein.
Der politische Einfluß des Militärs wurde beschnitten (bis 1945 durfte kein aktiver Offizier einer Partei angehören). So fehlte den militärischen Führern eine starke Vernetzung zu den politischen Führern. Sie hatte aber auch kaum Kontakte zum Volk. Da aber Militär und Politik verspannt blieben, versuchte die militärische Führung eine eigene Politik. Ihre Isolierung behinderte vermutlich ihren Erfolg.
Das Bürgertum stieg auf in der Gesellschaft. Bei der aufkommenden Industrialisierung hat der Adel weitgehend seinen politischen Einfluß verloren (darüber später). Das Großbürgertum war entstanden, drängte in die Schaltstellen des Reiches. Das selbstbewußte Bürgertum respektierte den Adel auf seine Weise. Zugespitzt: Die Tochter des Großbürgers heiratete einen Adligen, so kamen Geld und Titel zusammen. Das Bürgertum aber dominierte im neuen Reich.
Die steigende Isolierung des Militärs verhinderte Machtmißbrauch, aber auch Einfluß. (Die Widerständler des 20. Juli 1944 kamen weitgehend aus adligen Familien. – Die militärischen Mittel hatten sie, aber nicht das Volk auf ihrer Seite und nicht fortune. Denn! Wenn das Attentat ihnen geglückt, hätte sich das Volk den ihm Unbekannten anvertraut?
Das Musterbild des bürgerlichen Aufsteigers entstand: Aus einer Lehrerfamilie, Mittlerer Reife, die Kinder Gymnasium, Leutnant der Reserve, durfte im Offizierskasino neben den adligen Kameraden sitzen, später bei einer Bundesbehörde tätig sein, wohnte in einer Seitenstraße der Wilhelmstraße (mit „Herrenzimmer“), Sohn an der Humboldt–Universität immatrikuliert, Tochter mit einem Fabrikanten verlobt – eine moderne, glückliche Familie in der Reichshauptstadt Berlin. „Halt!“ ruft da der jüdische Seifenfabrikant. „Nicht so schnell. Unser Aufstieg wurde uns nicht geschenkt. Aus eigener Kraft kamen wir hoch. Allerdings – zugegeben! Mit neuer Chance. Entschuldigen Sie!“ bleibt da noch übrig zu sagen.
Das Bürgertum profilierte das neue Reich, nicht der Adel. Der patriotische Aufschwung, die vaterländische Begeisterung hatte allerdings auch ihre Auswirkungen in meiner Jugend. In unserer Kirchen waren noch während meiner Jugend an der Seite von Bänken zum Mittelgang mit Lederriemen versehen für die Fahnen, ihren Einzug zum Gottesdienst. Noch in der ersten Zeit des Hitlerreiches hatte ich eine Hakenkreuzfahne in der Kirche gesehen, und bis zum Ende des Krieges stand auf unseren Koppelschlössern „Gott mit uns“. Die Parole „Thron und Altar“ sollte im Wilhelminischen Reich das Gefühl nationalen Aufstiegs sättigen. Der Kaiser verstand sein Amt „von Gottes Gnaden“. (Wäre da unter einem Kaiser der Holocaust – die Vernichtung von Millionen – möglich gewesen?) Die Evangelische Kirche bekannte sich zu Luthers Zwei–Reiche–Lehre. (Nach Matthäus 22,21: „So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“) Unter Müller wurden die „Deutschen Christen“ stark, die Bekennenden zur Minderheit. Die katholische Kirche wurde nach dem Ende des Kulturkampfes staatsfreundlicher. Im Reichskonkordat 1933 zwischen der Hitlerregierung und dem Vatikan war damals Nuntius Parcelli federführend der spätere Papst Pius XII. So erhielt die Kirche zum Beispiel eine Garantie für katholische Schulen. Im Kaiserreich galt zumindest für das Bürgertum die gesellschaftliche Ordnung als gottgewollt. Parole: Jeder Bürger hatte in seiner ihm angemessenen und zugewiesenen Stellung seine Pflicht zu erfüllen. Das erschreckt euch wohl, meine Enkel, nach unseren Erfahrungen im 20. Jahrhundert mit einem bis zur Katastrophe aufgeblähten Pflichtbegriff. Seht einmal die gesellschaftlichen Verhältnisse von den Einzelnen damals aus: Wieviel Begeisterung, Kraft, guten Willen, manchmal Herzblut gaben viele von ihnen für ihren Staat? Könnten wir nicht heute trotz aller wirtschaftlichen Stürme und Verwehungen nicht auf einem kräftigen Untergrund stehen, wenn? Beruf galt wohl vielen als Berufung. Das bedeutete für sie Auszeichnung durch Gott und die Gesellschaft. Dann wurde damals diese Haltung durch den Mißbrauch von verbrecherischen Führern ausgehöhlt.
Die Flut reißt Geröll, aber auch gute Steine mit sich. (Also Folge wohl in unserem Grundgesetz 1949: Pflicht ist kein prägender Begriff mehr.) War es notwendig? War es aus Unsicherheit heraus? Ohne Zweifel war das Bürgertum Gegner der Hitler–Zeit gewesen. Da fehlte ihm aber vielleicht die Zeit und Ruhe, sich mit neuer Kraft zu einer neuen Gesellschaftsordnung durchzuringen. Die demokratische Kompetenz dazu hatte es sich jedenfalls nicht erstritten. Die Gesellschaftsordnung blieb im 2. Reich weitgehend ständisch, so aus ihrer Geschichte statisch. In den Jahrhunderten der Agrarkultur war sie gewachsen, regelte die gesellschaftlichen Verhältnisse im Gefüge des Adels, der gewerbetreibenden Groß– und Mittelbauern, der Landarbeiter und nicht zuletzt der Beamten. Ihre Statik hatte gewiß Zeiten inneren Friedens erschafft. Wozu aber taugte die gesellschaftliche Ordnung noch, als sich die wirtschaftlichen Verhältnisse änderten? Die Industrialisierung brachte die gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Balance.
Der Aufschwung der Herzen – Vaterlandsliebe.
DIE INDUSTRIELLE REVOLUTION
IHRE WEGBEREITER
Was veranlasste die weltverändernde Entwicklung?
Johannes Kepler (1561–1630) studierte zunächst Theologie. Da fragte er wohl auch: „Warum gibt es die Welt?“ Da antworteten ihm die griechischen Koryphäen: „Die Welt ist göttlichen Ursprungs.“ Die Sterne, die die Erde beleuchten, galten ihnen als Götter. Da war es Pflicht, die Welt so wie sie ist zu beobachten, zu schätzen, ihre Struktur zu beobachten: Die Strukturen zu verändern wäre da Frevel gewesen gegen die Götter. Die Gunst der Götter erfleht man durch Gebete und Opfer. Christliche Tradition war es geworden, Gott für seine Schöpfung zu preisen, sein Werk zu bewahren. War da Kepler nicht verrückt? Ihr seht mich entrüstet an? Da wiederhole ich: Kepler war wirklich ver-rückt – von der seit der Antike gültigen Tradition, die Welt nur zu bestaunen ab – gerückt. Er erkannte bei der Auswertung des Erfahrungsmaterials, daß die Annahme einer Ellipsen–Bahn für den Mars mit den Daten vereinbar war. Kepler hatte zunächst Theologie studiert. Vielleicht las er da die Schöpfungsgeschichte der Bibel auf eine neue Weise. Da heißt es (1. Mose 1, 14): „Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre.“
Lichter dienen denen, für die sie leuchten, die Sterne sind so nicht nur mehr Geschöpfe der Götter sondern auch Werkzeuge für die Menschen. Und die Menschen dürfen ihre Werkzeuge prüfen. Anders formuliert: Kepler schränkt die Frage des „Warum?“ der Schöpfung auf die Frage des „Wie?“ ein.
Galilei (1564–1642) entwickelte zur Bestätigung seiner Fall–Theorie eine Fallrinne War das nicht auch verrückt, von der Tradition abgerückt? Das Experiment bestimmt seitdem unsere Naturwissenschaften, nicht mehr – nicht mehr allein – den Glauben an Gottes Wirken. Es war ein Eingriff in die göttliche Ordnung.
Die Revolution setzte sich nur allmählich durch (vor nicht allzu langer Zeit erlaubte die katholische Kirche nicht, einen Leichnam zu sezieren). Man wußte so noch nicht viel von den inneren Funktionen des Körpers. Arabische Medizin, über Spanien zu uns gelangt, hatte da geholfen, aber – zur Sache!
Die Ablösung der Frage des „Warum?“ auf die Frage des „Wie?“ mit Hilfe des Experiments war eine Revolution, die explosionsartig die moderne, uns mittlerweile selbstverständliche Naturwissenschaft entwickelte, dem Begriff Fortschritt zu seiner Faszination verhalf. Dazu gehörte zunächst starker Mut. Galileis Kampf für das heliozentrische System des Kopernikus endete mit einem kirchlichen Prozeß, der mit seiner Abführung und Verurteilung 1633 schloß. In der Legende ist sein Ausspruch: „Und sie bewegt sich doch! – Eppur si muove!“
Aristarch von Samos (310–230 v.Chr.) hatte bereits das heliozentrische System entdeckt. Aber sein Gedanke konnte sich nicht durchsetzen, paßte nicht zum Zeitgeist.
C.F. von Weizsäcker (1912–2007) schreibt vom „Verhör der Natur“. Wer die Natur verhört, wird die Protokolle verwenden, auch um die Natur umzugestalten. Aber – vergeßt es nicht! Der die Natur verhört ist noch nicht Richter der Welt mit seinem neuen Gesetzbuch. (Den Wissenschaftlern zum Nachdenken!) Denn die Kernaussage des biblischen Schöpfungsberichts ist ganz gewiß noch nicht überholt. (5. Mose 5,6: „Ich bin der Herr der Welt, dein Gott. Du sollst keine andren Götter neben mir haben.“) Die revolutionäre Wende des Denkens ist teuer erkauft. Das „Warum?“ wurde abgelöst durch Annahmen (Fixierungen) innerhalb der „objektive“ Beschreibungen und Berechnungen möglich sind. Einsteins Beispiel: „Wenn die Sonne scheint, wächst die Pflanze.“ Der Sonnenschein und das Wachsen sind dadurch erforschbar, aber nicht letztlich, warum die Sonne scheint und die Pflanze ein wachsendes Lebewesen ist.
Die Beschränkung auf das „Wie?“ war schon eine geniale, mutige Einschränkung, die zu gewaltigen Veränderungen der Welt anregte. Noch genialer und mutiger erschien es mir, wenn bei dem Fragen das „Warum?“ nicht vergessen werden sollte. Warum ich so vorsichtig schreibe, werdet ihr fragen. Aus Sorge um das Geschehen in unserer Gegenwart. Unser Denken und Handeln ist endlich ausgerichtet, aber das Ganze des Lebens bleibt für uns unendlich und so nicht begreifbar. Dem Ganzen können wir uns allerdings nähern, nicht im Experiment, sondern im steten Weiterdenken. Wenn ein Forscher ein Weiser ist, bleibt er bescheiden und demütig vor dem nicht Erfaßbaren. Das Experiment allerdings wurde uns zum Schlüssel zum Verständnis der innerweltlichen Vorgänge. Die Bedeutung des Experiments ist favorisiert, seine Bedeutung liegt in seiner Wiederholbarkeit und so zur Berechenbarkeit des Vorgangs. (Zur Warnung vor Übermut: Mein „Experiment“ mit meinen Physikern in meinen Gymnasium. Meine Hand mit dem Schlüsselbund hebe ich hoch und frage: „Was geschieht, wenn ich meine Hand öffne?“ Die Antwort ist selbstverständlich. Die Antwortet darauf provokant: „Beweisen können Sie es mir aber nicht mit letzter Sicherheit, daß der Schlüsselbund fällt.“ Es ist auch keinem gelungen. Wir bleiben in unserer Welt eingespannt, die Welt zu uns gespannt. Die Spannung bringt Leben. Aber wie könnten wir so das Leben festhalten, fixieren? Die Kraft der Wissenschaftler bleibt endlich. Wie könnten sie da jede Situation, jedes Verhalten berechnen? Zumal die Wiederholungen unberechenbar bleiben. Schon wurde die Statistik entwickelt. Die Statistik bestimmt schon in vielen Lebensbereichen die Entscheidung der Menschen, auch der Politiker, ermittelt durch Meinungsumfragen. Der Computer ist mittlerweile so effektvoll geworden, wie es vor wenigen Jahren noch nicht denkbar war. Aber der Computer ist nicht freundlich, er rechnet nur nach den Vorgaben, die ihm eingegeben. Wie soll er da freundlich sein, da er nicht einmal weiß, daß er ein Computer ist.
Die Mathematik wurde die Präsidentin unserer Naturwissenschaften.
EINE NEUE WELT ENTSTEHT
VORBEMERKT
Ein Schneeball, einmal von einem Berggipfel geworfen, rollt immer schneller, wird zur Lawine, die alles auf ihren Wegen mit sich reißt. Wie die Entdeckung eines Berggipfels war die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode. Der Schneeball, der zur Lawine wurde, ist unsere Industrie und Wirtschaft. Und da aber verfehlt das Bild unsere Welt. Die Lawine der Industrialisierung zerstört zwar auf ihrem Wege Gewachsenes: Mittelständische Handwerksstände und die gesellschaftliche Ordnung, aber schafft allmählich ein Tal des Wohlstandes mit einem ausgebauten Wegenetz, in dem alle leben können. Neue Schwierigkeit: Kurz will ich das Neue schildern, aber die Entwicklung der letzten 70 Jahre ist vielfältiger und rasanter, als ich es beschreiben könnte. Verzeiht mit meinen Zeitraffer.
Die neue Welt drängt mit Macht.
ZUR ERINNERUNG: DIE ENTZÜNDUNG DES FEUERS
Mit der Beherrschung des Feuers beginnt wohl die Zivilisation. Das Feuer brachte unserer Welt neues Licht, das wir benützen können, dessen Energie wir verwenden können. Ohne Energie, ohne Zündung fährt kein Auto. Das Auto charakterisiert unsere Gegenwart. Im Krieg gehörte ich eine Zeitlang zur schweren bespannten Artillerie. Meine zufällig adrette Reithose und Reitstiefel wurden fast beneidet. Berittene Einheiten hatten da noch den Hauch der Exklusivität aus dem Mittelalter. Damals war der, der sich ein Reitpferd leisten konnte, beweglicher, so angesehener als andere. Das Pferd stillte die Sehnsucht des Ritters nach der Weite. Steckt diese Sehnsucht aus der Weite heraus nicht in jedem Menschen? Zum Pferd der Moderne wurde das Auto. Zudem auch für den kleinen Mann erschwinglich.
Das Auto ist das Pferd der Moderne.
DAS AUTO FÄHRT IN DIE ZUKUNFT – ABER IST SIE SICHER?
Als Jakob in der Bibel auf Befehl seines Herrn sein Heimatland verließ, da war es ein großes Risiko für ihn. Ist das Leben nicht immer noch ein großes Risiko? Zumal das Leben in der Zukunft für unsere Jugend? Wie groß war dann erst das Risiko für die, die unsere moderne Wirtschaftswelt erfanden? Wenn sie auf Neues aus waren, brauchten sie einen wachen Sinn, mußten selbständig denken, bereit sein, das Risiko des Scheiterns zu tragen, mußten sich vom gewohnten Sparen auf Investieren umstellen. Wieviel Mut Einzelner und Gruppen war nötig, die uns heute selbstverständlich erscheinende Wirtschaftswelt aufzubauen? Uns Modernen ins Stammbuch.
Neues Denken muß mit mutigem Handeln verbunden werden.
AUSSPANNUNG DER MODERNEN WIRTSCHAFT
Ein Handwerksgeselle hatte von der Walz in Frankreich durch seinen aufmerksamen Sinn Erfindungen, Neues mitgebracht nach Rüsselsheim, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft jenseits des Rheins. In seiner Werkstatt baute er Fahrräder, zunächst für seine Umgebung, später Autos, dann wurde seine Werkstatt zur Fabrik. Rapide wuchs sie. 1996 produziert Opel 876.000 Fahrzeuge. (1929 hatte Familie Opel in Folge der Wirtschaftskrise und der Inflation ihr Unternehmen an General Motors in den USA verkaufen müssen.) Dabei war Opel ganz gewiß nicht der einzige neue Unternehmer. Mit der Industrialisierung stieg der Lebensstandard allmählich, aber zügig. Am wenigsten Anteil daran hatten aber die, mit deren Schweiß produziert wurde. (Marx nickt aus dem Grabe.) Dem Schweiß der Fabrikarbeiter. Der höhere Lebensstandard trieb die Produktion weiter an, die neue Produktion erhöhte die Lebensmöglichkeiten. Bei den Produkten ging es wie bei einer Zentrifuge. Sie schleudert die Butter für die Besitzer, sondert die Molke ab für die Bediener der Zentrifuge. Die Handzentrifugen konnten da nicht lange mithalten – die der Handwerker.
Der Motor ermöglichte eine neue Welt.
DIE VERÄNDERUNGEN DER PRODUKTIONSWEISEN
Die Effekte wurden immer stärker vergrößert, manchmal sogar rasch potenziert durch Arbeitsteilung mit Spezialisierung. Spezialisten wurden herangebildet, wurden gesucht. Die Arbeitsvorgänge und Verteilung der Waren wurden immer stärker rationalisiert. (Darüber schreibe ich anschließend.) Henry Ford erfand die Serienfabrikation. Sie erbrachte mehr Waren in kürzerer Zeit. Die Massenwaren wurden auch für die kleinen Leute kaufbar. Erst allmählich wurde auch versucht, die Quantität durch Qualität zu steigern.
Die Quantität, die Masse wurde beherrschend, allmählich auch die Qualität nicht vergessen.
ENTWICKLUNG VON NEUEN BEDÜRFNISSEN – NEUE DYNAMIK
Die bessere Produktion erhöhte nicht nur die Attraktivität der Waren, wurde auch benutzt, die Konkurrenz zurückzudrängen. Das erzeugt neue Konkurrenzen.
WECKEN VON NEUEM BEDARF – KONKURRENZ
Die Attraktivität der Waren wurde benutzt, neue Bedürfnisse zu erzeugen! Das zweitbeste Produkt brachte oft nicht wenig Gewinn, war vom Markt verschwunden. Da schleicht sich bei mir Mitleid ein für so manchen tüchtigen Unternehmer, den das größte Investitionskapital am Unternehmen „kaputtdrückte“. Die moderne Produktionsweise ermöglichte erst die eigentliche Revolution: Nicht einfach für Bedarf produzieren, sondern durch erweiterte Produktion erst Bedarf wecken. Wurde es nicht unheimlich? Dynamik um der Dynamik willen? Wohin führte sie? Mit dem Beginn der Industrialisierung beschreibe ich eigentlich auch schon ihre Entwicklung in unserer Zeit. Ist es nicht so: Das Kind wurde damals geboren, erlebte seine Kindheit, Pubertät, jetzt ist es groß geworden – erwachsen? Jedenfalls scheint es immer unheimlicher zu werden – Dynamik um ihrer selbst willen. Da verschwimmen Horizonte. Wenn auf hoher See der Horizont schwindet, wird es dem Seemann unheimlich. Muß da nicht in einer Gesellschaft, in der die Horizonte immer mehr schwinden, Lebensangst wachsen? Den Bauern war früher ihr karger Verdienst im allgemeinen sicher. Die Industrieangestellten mußten und müssen um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes fürchten. Ist es in unserer Zeit besser geworden? Konzerne sind nicht immer leistungsfähiger als Einzelunternehmen, sie sind nicht immer flexibel genug, sich auf neue Herausforderungen einzustellen.
Moderne Produktionsweise – bewirkte Revolution.
SPAREN – INVESTIEREN
„Sparen“ war Jahrhunderte lang Schlagwort. Schlagwort der Industriegesellschaft wurde allmählich „Geldausgeben“. Aber wie, wo und wieviel? Blieb es da nicht aus, Investitionen in Unternehmungen zu berechnen, bis heute. So scheint auch Sparen nicht ganz aus der Mode zu kommen. Die Industriegesellschaft versuchte, ihre neue Wirtschaft rationell aufzustellen.
GESELLSCHAFT DER INDUSTRIALISIERUNG – MENSCH UND MASCHINE
Stolz erzählten mir früher – ziemlich früher – gelegentlich OPEL–Arbeiter aus unserem Dorf, wie sie ihre Maschinen kennenlernten, steuerten, reparierten und beherrschten.
Maschinen waren Sklaven der Menschen. Allmählich wurden die Maschinen effizienter, weniger störanfällig.
Maschinen wurden zu Kollegen der Menschen.
Maschinen sind unermüdlich, brauchen keinen Schlaf und Freizeit. Ihre Speisen: Kohle, Erdöl, Atomkraft wurden ohne Schwierigkeiten geliefert – bisher! Ihre ununterbrochene Laufzeit bringt nicht nur noch größere Gewinne.
Maschinen wurden Kollegen der Menschen.
Neuere Maschinen steigerten auch die Konkurrenzfähigkeit des Betriebes, da mußten Schichtarbeit, auch Nachtschichten organisiert werden. (Mein Bedauern gilt den Schichtwechslern, deren Tages– und Nachtrhythmus zerrüttet wird.)
Maschinen werden zu Antreibern der Arbeiter.
Neuerdings konstruieren tüchtige Erfinder immer mehr Maschinen, die sich selbst steuern, Roboter: Glückgeschenke für die Unternehmer, zugleich Arbeitsplatzkiller.
Maschinen werden zu Vorgesetzten der Bediener. Moderne Computer strukturieren und organisieren Arbeitsvorgänge.
Maschinen kontrollieren Maschinen und Menschen.
Viele Mitbewohner aus meinem Dorf in Rheinhessen fuhren unmittelbar nach dem Krieg über den Rhein nach Rüsselsheim. Da wurde der Sonntag zum Ausruhen gebraucht, nicht zum Kirchgang, für Vereine hatten sie keine Zeit, höchstens sporadisch. Kannte der OPEL–Arbeiter seinen Nachbarn in der Nachbarstraße? Landflucht wurde zu einem makabren Schlagwort. Aus Rheinhessen waren nicht wenige in die Umgebung von Rüsselsheim gezogen. Was wurde zur neuen Heimat? Oft eine Mietskaserne. Noch schlimmer: Wenn sie arbeitslos wurden, hatten sie keinen Kartoffelacker und keinen Nutzgarten wie in ihrem Dorf früher. Nachdenkenswert ist es schon: Die Erweiterung in eine neue Welt war für viele eine Verengung des eigenen Lebensraumes. Für Arbeiter bedeutete es auch eine Unsicherheit, gegen die es keine Vorsorge gab.
Wer wurde zum Sklaven? Maschine? Mensch?
BOTE DER NEUEN WELT – DIE STRAßE
Was hätten OPEL seine vielen Autos genützt, wenn sie auf den Wiesen um Rüsselheims herumgestanden wären? Auf nun asphaltierten Straßen wurden sie zu Kunden in ganz Deutschland transportiert. Pläne für die Autobahn stammten bereits aus den 1920er–Jahren, die erste wurde dann unter Hitler nach Frankfurt gebaut. Nach dem Bau von Fernstraßen konnten noch mehr Autos durch die Gegend fahren, wurden noch mehr Autos gebaut, wurden dem neuen Verkehr angepaßt. Mein Großvater, der Getreidehändler, verkaufte an der Börse in Worms und Mainz seine Gerste an Brauereien in Mainz, Wiesbaden, vielleicht auch Frankfurt. Ohne Lastwagen, mit den früher üblichen Pferdegespannen, wäre das nicht möglich gewesen.
Die Straßen öffnen die neue Welt.
BOTE DER NEUEN WELT – DIE BAHN
Unsere hessische Landesbahn war vom Großherzog von Hessen–Darmstadt gegründet, von italienischen Wanderarbeitern (sic!) gebaut worden. Noch entsinne ich mich: Im Herbst holten die Guntersblumer Bahnbeamten stolz mit ihren Ziehwagen ihre Deputate an Kohlen am Bahnhof in Guntersblum ab. Damals waren etwa 20 Beamte am Bahnhof Guntersblum, dem Passagierteil und der Güterabfertigung beschäftigt, dazu kamen noch Stellwerksbeamte und Streckenkontrolleure. Heute ist unser Bahnhof nur noch eine Haltestelle, Signalstation mit einem Fahrkartenautomaten. (Wenn er nicht wieder demoliert ist.) Nebenbei: Mein Großvater boykottierte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die „französische Regimebahn“, fuhr mit dem Rad zur Börse nach Worms und Mainz. Wo waren rheinhessische Eisenbahnkinder in den 1920er Jahren geboren? Erstaunen bewirkt jedes Mal meine Bemerkung: Über dem Rhein, außerhalb der Reichweite der französischen Besatzung, im Odenwald auf einem kleinen Bahnhof durfte noch anfangs des Krieges ein Freund stolz die Züge abwinken – bis kurz vor seinem Heldentod. Anstrengend war es, die Fahrpläne zu wälzen. Heute spuckt der Computer in Sekundenschnelle alle für die Fahrt nötigen Daten aus. Der Eisenbahner braucht gar nicht mehr zu wissen, wo die Städte liegen. (Weiß er es denn noch?) Eisenbahner waren stolz, Beamte auf Lebenszeit zu sein. Im Windschatten der rasanten Industrialisierung brachte es ihnen keinen üppigen Lohn, aber eine sichere Stellung, Versorgung für das Alter und die Familie. Heute hat die Bahn nur noch Angestellte.
Die Bahn, Zwillingsschwester der Straße.
BOTE DER NEUEN WELT – DIE POST
Meine Mutter war eine Vielschreiberin. (Entschuldige bitte, liebe Mama). Ein Brief mußte wohl überlegt werden, auf ein ausführliches Antwortschreiben wartete sie gespannt neugierig. Am 21. Mai 1861 war die Thurn–und–Taxis–Lehenspost in Rheinhessen als Laufpost eingerichtet worden. (Erinnerung eines Postbeamtensohnes.) Neulich las ich in der Zeitung: Die Briefkästen sollten vielleicht künftig nur jeden zweiten Tag geleert werden. Eure Generation, liebe Enkel, regt das bestimmt nicht auf. E–Mail kommt in Sekundenschnelle. Gefühlvolle Briefe zur Zeit meiner Mutter – heute Stakkato im Internet. Wen regt das an, einem Freund, einer Freundin ein Gedicht zu schreiben? Dabei erscheint das Stakkato der Mail endlos, ein Gedicht aber ist, wenn es ein Gedicht ist, vollendet. Verkommt das Alphabet zu einem Signal–System? Die Kinder der Post: Radio, Fernsehen, Internet, Medien liefern uns das Weltgeschehen mittlerweile live. Manchmal bedrückt es mich: Liefern sie uns nicht das Weltgeschehen aus? Schon eine Meldung über Politik kann neue Politik bewirken. Das ist nichts Neues! Die „Emser Depeschen“ nach einer Unterredung König Wilhelms I. mit dem französischen Gesandten Graf Benedetti über die französische Forderung nach einem Verzicht der Hohenzollern auf die spanische Thronfolge wurde von Bismarck verkürzt veröffentlicht. In der davor schon gespannten politischen Situation zwischen Frankreich und Preußen erfolgte daraufhin die Kriegserklärung Frankreichs am 19. Juli 1870. Wurde die Post als Zündschnur zum Krieg mißbraucht? Die Post förderte Kontakte in der Gesellschaft, auch über die Landesgrenzen hinaus. Ihre Berichte bewirkten Gemeinsamkeit und waren ein Risiko für Gemeinsamkeit.
Worte geschrieben, sind fixiert. Im Gespräch können Worte neu gerichtet werden.
DIE ETABLIERUNG DER NEUEN VERKEHRSMITTEL SCHUF EINEN NEUEN STABILEN MITTELSTAND
Ich sprach schon von meinem Vater, erwähnte schon den zweitältesten Bauernsohn, der stolz war als etablierter Postbeamter. Der Briefträger kannte seine Kundschaft (spitz formuliert: er transportierte ja Postkarten). Viele Mädchen kamen aus der Enge der Eintönigkeit ihrer Familie heraus, in die großen Telegraphensäle der Städte, mußten die Gespräche im Klappenschrank einkabeln. Postbeamte waren stolz, mangelhafte Adressen auf den Briefen zu ergänzen, heute werden solche Briefe einfach zurückgeschickt. In der Jugend meiner Mutter trug der Postvorsteher in unserem Dorf bei Feiern noch Degen, der Vertreter des Staates, ebenfalls der Bahnvorsteher. Pflichten und die Treue galten viel. Könnt ihr Jungen das noch schätzen, indem es von der Obrigkeitshörigkeit eurer Vorfahren trennt? Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren Beamte zumeist national eingestellt. So wurden nicht wenige unter Hitler Parteigenossen – wurden nach dem Waffenstillstand von der Besatzungsmacht entlassen. Die unabdingbare Folge? Mein Vater stellte in seinem städtischen Postamt bald alle wieder ein, besser: verhalf zur neuen Einstellung. Warum? Wie soll eine Organisation funktionieren, wenn mehr als die Hälfte der Beteiligten ohne Ersatz fehlt? Es war wohl ein kleinbürgerlicher Stamm, der sich im Schatten der Industrialisierung allmählich konstituierte. Er hatte gewiß seine Enge, aber gab auch der neuen Gemeinschaft stabilisierende Werte. Früher hieß es: „Die Unteroffiziere sind das Rückgrat der Armee.“ Viele schickten ihre Kinder auf weiterführende Schulen, wenn es ging auf die Universität. Meine Erfahrung: Die aufsteigenden Kinder, auch die aus bäuerlicher Umgebung, brachten unverbrauchten Geist auf unsere Schulen, unsere Universitäten, in unsere Gesellschaft. Das geborene Bürgertum half den Aufsteigern. In der Industrialisierung kamen die Spezialisten zum Vormarsch. Spezialisten wollen ihr Spezialgebiet erweitern, neue Wege dafür finden. Aber die Gesellschaft muß dafür sorgen, daß alle auf den neuen Wegen mitgenommen werden.
Die Welt wurde weiter – die Verhältnisse enger.
DIE ALTE WELT
Bis zur Industrialisierung hatte der Landbesitz den gesellschaftlichen Rang bestimmt. Die Besitzer größerer Güter waren oft Adlige. (Ende 1945/1946 wollten wir in der CDU im Westen eine Landreform. Nach der Abspaltung der sowjetischen Zone war das Thema für uns Westdeutsche beendet. Die meisten großen Güter waren im Osten, oft Rittergüter, viele Dotationen der Fürsten für ihre treuen Vasallen. Den Westen Deutschlands charakterisierte eine bäuerliche Gesellschaft. Da gab es in den Dörfern sogenannte Mittelbauern, die sich von den Kleinbauern gesellschaftlich abhoben, ihre eigenen „Heiratskränzchen“–Treffen mit Vermittlung hatten, in den Wirtschaften getrennt von den „Kleinen“ saßen. Die Handwerksmeister von ihren Gilden, später Handwerksinnungen organisiert, waren stolz auf ihren Beruf. Lehrer standen in der Mitte der ländlichen Gesellschaft, Geistliche wurden von allen gewürdigt. Viele Arbeiter wurden gebraucht in der Landwirtschaft vor der Maschinenzeit. (In unserem Dorf bewirtschaftet ein Bauer mit seinem Sohn etwa 800 Morgen Land. Früher wären dazu vielleicht bis zu 100 Arbeiter notwendig gewesen.) Der Lohn der Landarbeiter reichte zum Auskommen, Arbeitslosigkeit mußten sie nicht so sehr fürchten, sie hatten ja alle ihr Pflanzstück. Allerdings gelang ihnen der gesellschaftliche Aufstieg nur selten. Die Rechtsordnung hatten uns die Römer weitgehend geliefert, mit der sie ihr Weltreich lange stabilisiert hatten. Ihr Grundsatz: „Neminem laedere – Niemanden verletzten, niemandem sein rechtliches Gut wegnehmen.“ Jeder hat seinen Rechtsstand, der ihm garantiert wurde. (Im Römischen Reich: Paulus als römischer Bürger, in Jerusalem verurteilt, hatte ein Appellationsrecht an den Kaiser, das er in Rom ausüben durfte.) Dieses statische Recht gab Sicherheit und Freiheit in seinem Rahmen, aber für politische Veränderungen war es nicht elastisch genug. Unsere Industrie wurde dynamisch: Opel war Eigner in seiner Fabrik, so konnte er durch die Ausbreitung der Industrialisierung seine Gewinne ständig steigern. Heute ist oft vergessen: Opel und die anderen Fabrikanten hafteten persönlich für ihre Unternehmungen, investierten einen beträchtlichen Teil ihres Gewinnes, trugen das volle Risiko. Solange die Industrie und Wirtschaft aufblühte, galt das fast als selbstverständlich. Aber die Besitz– und Gewinnverhältnisse waren statisch und konnten so der gewaltigen Dynamisierung der Wirtschaft nicht gerecht werden. In der sowjetischen Zone wurde das Eigentum an den Produktionsmitteln vergesellschaftet. Diese sozialistische Konstruktion hatte auch ihre Art Statik – eine dynamische Wirtschaftsentwicklung hatte keine Anreize mehr. Die Folge: Der Bankrott 1989. Das Recht auf persönliches Eigentum braucht gewiß seinen Schutz, aber auch Ergänzungen durch einen sozialen, vom Staat garantierten Rahmen. Aber bleiben wir bei den Anfängen der wirtschaftlichen Revolution.
Gewinner der sich aufstauenden gesellschaftlichen Spannungen war das Bürgertum.
DAS BÜRGERTUM – SEIN HERKOMMEN
Im Mittelalter waren Bürger Bewohner einer Burg, dann Ansiedler in der Nachbarschaft der Burg. Oppidani: Handwerker, Händler, Beamte. Sie entwickelten Städte mit eigener wirtschaftlicher Macht und profilierten sich gegenüber den Bauern und Adligen. Im Schwurverband erkämpfte sich allmählich Selbständigkeit, eigene Marktrechte, Bürgerwehren wurden aufgestellt. In der Industrialisierung im 19. Jahrhundert umfaßte das Bürgertum verschiedene Stände: Industrielle, Großbürger, Kaufleute, Banker. Das sogenannte mittlere Bürgertum bestand aus akademischen Berufen wie Lehrern, Künstlern, Großhändlern und Beamten. Dazu gehörten die sogenannten Kleinbürger: Geschäftsleute, mittlere Beamte, Angestellte. Der Stand der Geistlichen konnte durch Unterstützung seinen Einfluß stärken, genauso umgekehrt.
DAS BÜRGERTUM – SEINE POLITISCHE GRUNDEINSTELLUNG
Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es: Das Bürgertum ist konservativ. Deshalb könne es die gesellschaftlichen Probleme nicht lösen, versage auf der ganzen Linie. „Also weg mit allem Konservativen! Wir brauchen eine ganz neue Gesellschaft.“ Mir scheint es, man war daran, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Das Bürgertum war gewiß konservativ. Was aber bedeutet das? Das Bürgertum wollte gegenüber den verbrieften Rechten des Adels durch eigenes Können gestalten, durch eigene Kraft und Mut aufsteigen und sich den Aufstieg sichern. War das nicht fortschrittlich? Dann aber verfingen sich die Bürgerlichen in eigenen Fixierungen. Sie fixierten ihr gewonnenes Selbstbewußtsein und begannen sich nur noch darin zu spiegeln.
Wer mehr erreicht hat durch seine Leistungen, durch seinen Erfindergeist, seine Fortuna, seine Familie, wird mehr geschätzt. Das scheint mir noch unverdächtig.
Wer einen höheren Stand der Gesellschaft erreicht hat, kann durch sein Vermögen seine Kinder von der Erwerbsarbeit freistellen, ihnen Zeit geben, ihr Denken und Fühlen, ihren Willen zu bilden, sich auszubilden für die Erfordernisse der Gesellschaft, so selbst produktiv zu werden. (Euch will es gestehen: Lange war mir mein Vorzug als Bürgersohn, der ein humanistisches Gymnasium besuchen durfte, nicht bewußt. Aus meiner Schulklasse besuchten nur zwei das Gymnasium, zwei kamen später in ein Aufbaugymnasium. Mir schien das damals alles selbstverständlich.) Ich merkte nicht, daß diese Situation aus einer Erstarrung des Bürgertums entstanden war. Seien wir heute etwas nachsichtig. Manches gesellschaftliche Versagen kam aus unbedachten Gewohnheiten. „Thron und Altar“ hieß es im Kaisertum. Das Bürgertum war der christlichen Kirche verbunden, die Schöpfung sollte geachtet werden. Noch mein Großvater: „Buben, jeder Pergel einer Traube muß aufgehoben werden, er ist Gottes Gabe.“ Er dachte dabei noch nicht an seinen Gewinn. Warum wurde so wenig bedacht, inwieweit die gesellschaftlichen Verhältnisse dem Schöpfungswillen Gottes entsprachen? Die Bürgerfrau gab dem Dienstmädchen an Weihnachten ein größeres Geschenk als den eigenen Kindern. War es nicht trotz des guten Willens eine die Verhältnisse bestätigende Mißachtung? Aber der Großvater eines Freundes, der sich Fabrikherr nannte, hatte schon im 19. Jahrhundert für Arbeiter Eigenheime mit Balkon und Gärten errichtet. Vielleicht haben auch die durch die Entwicklung sich verschärfenden gesellschaftlichen Probleme viele Bürger überrascht. Beurteilen kann ich das nicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg: Studenten vor dem Zug von Professoren in ihren Talaren: „Weg mit dem Muff aus 1000 Jahren!“ Die Professoren legten ihre Talare schnell ab. Nicht zu früh? Die Talare symbolisierten Kultur und Werte aus mehr als 1000 Jahren. Damit die Debatte nicht ins Theoretische abgleitet: Wenn in der Vergangenheit ein Fabrikant in Schwierigkeiten geriet, hatte er noch ein Vermögen. Der Arbeiter in den Arbeitersiedlungen hatte aber keinen Acker mehr, um seine Kartoffeln anzupflanzen.
Immerhin: Das Deutsche Reich von 1871 gilt als Pionierland der modernen Sozialpolitik unter Kanzler Bismarck, wenn auch sehr lückenhaft aus unserem Blickwinkel: 1883 Krankenversicherung, 1884 Unfallversicherung, 1889 Invaliden– und Altersversicherung.
Zum Nachdenken: Wenn ein Bauer das Getreide des Nachbarn abmäht, ist wohl sein Verhalten zu verurteilen, aber nicht die Kunst des Mähens. Ohne den Erfindungsreichtum und das Engagement des Bürgertums wären die Industrialisierung und ihre wirtschaftlichen Erfolge nicht möglich gewesen.
Das Bürgertum sorgte für Fortschritt in Wissenschaft und Industrie – in der Gesellschaft bewegte es nicht viel.
KULTUR DES BÜRGERTUMS
Das Bürgertum war bei seiner Entstehung nicht durch eine Tradition wie in der Agrargesellschaft bestimmt, entwickelte eine eigene Gestaltungsfreiheit und darin ein eigenes Profil. In der Auseinandersetzung seiner Stadtrechte mit den herrschenden Mächten schuf es sich eine gesellschaftliche Macht. Es war eine dramatische Geschichte, wie es ihm gelang, zu führender Stellung aufzusteigen. Den Stadtbürgern gelang es, eine Gemeinschaft zu schaffen und zu verteidigen, in der jeder nach seinen Möglichkeiten und mit Fortune seinen Rang durch Leistung erringen konnte, von seiner Gemeinschaft gestützt und gefördert. Nicht übertrieben erscheint es mir dabei, von Entfaltung einer Kultur des Bürgertums im Fortschritt der industriellen Revolution zu schreiben. Wird’s ein Einblick in die Struktur einer neuen Herrengesellschaft? Bestreben der Bürger wurde es, Eigentum zu erwerben und zu erhalten, überkommenen Besitz zu mehren, den Nachkommen weiterzugeben. Die Bürger strebten danach, sich eine von der Gesellschaft weitgehend unabhängige Lebensführung zu ermöglichen, klammerten sich nicht an die Staatsfürsorge – die Altersversorgung sicherten sie selbst. „Rentiers“ lebten von ihrem ersparten Vermögen, waren keine „Rentner“ wie heute üblich. Die Kinder wurden in der Familie und in der Schule erzogen, oft mit heute hart erscheinenden Methoden. Ziel war Leistung und Engagement, um dadurch zu einem gesellschaftlichen Rang zu kommen. Wirtschaftlicher Erfolg, daneben Bildung oder umgekehrt galt als Lebensziel. Die Entwicklung eines eigenen Lebensziels galt als erfülltes, gelungenes Leben. (Die Angestellten–Mentalität wurde erst im 20. Jahrhundert dominierend.) Berechenbarkeit des Handelns in einer geschlossenen Gesellschaft war Zielvorgabe. War das nicht dynamisch? Der Berufserfolg galt als Eintritts–Billet in die Gesellschaft – und zur Brautwerbung.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert blühte die Spätromantik, besonders unter den vom Erwerbsleben freigestellten Bürgertöchtern. (Leitspruch meiner Mutter: „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch.“)
Vergessen darf aber nicht werden: Pflichterfüllung als unabdingbare Weise eines kultivierten Lebens galt damals, in der geschlossenen Gesellschaft, einvernehmlich – und es war ziemlich ausgemacht sich für die Gesellschaft einzusetzen.
Auch zur Erinnerung (zur Mahnung?): Die Familie prägte weitgehend die Kinder, die Familie blieb das Leben über Zufluchtsort, die Familie wurde der Pflanzgarten der bürgerlichen Gesellschaft: Gut gedüngt, die Reben sorgfältig beschnitten, an sonnigen und windgeschützten Orten, dann mit einem Zaun umgegeben. Freiheit wurde oft genutzt, einen literarischen Kreis zu besuchen, Theaterbesuche wurden zum Fest, regten auch zu kontroversen Gesprächen an, Hausmusik wurde zum Charakter einer bürgerlichen Familie. (Ohne Überlastung durch einen hektischen Beruf). Diese Prägungen halfen, bürgerliche Kultur zu stilisieren. Das Bürgertum war konservativ, es wollte die überlieferte ständische Ordnung erhalten. Aber zur Kritik: Gewiß ist jeder nach seiner Qualität zu schätzen, aber zugleich ist jeder Mensch einmalig, so sind alle gleich. Die Spannungen zwischen Ungleichheit zwischen den Qualitäten und der Gleichheit als Mensch spürte das Bürgertum zu wenig, konnte sie so nicht in gesellschaftliche Gestaltung umsetzen. Diese konservative politische Haltung verdient Kritik – sie fixiert das Statische am Konservativen. Selbstverwirklichung als Dienst an der Gesellschaft wurde propagiert – mit dem Einsatz bis zum Tode. In Langemarck in Belgien gibt es 25.000 Gräber aus dem Ersten Weltkrieg, darunter viele Studenten, Lehrer und Schüler.
Der Soldatenfriedhof in Langemarck in Belgien wurde zum Sinnbild der Opferbereitschaft in der Jugend. In der bürgerlichen Gesellschaft hatte alles – fast alles – seine Zeit, seinen Ort, seinen Rang. Auch das Leben der Jugend schien festgelegt, sollte so ohne Probleme sein. Die bürgerliche Gesellschaft schien zur Wende zum 20. Jahrhundert saturiert. „Da soll die Jugend doch zufrieden sein!“, hieß es. Die Jugend aber fühlte sich übersättigt, murrte, zog aus den Städten. Sie sangen: „Aus grauer Städte Mauern ziehen wir aufs Land hinaus.“ Von qualmenden Schornsteinen zogen in die Wälder. Statt berieselnde Kultur wollten sie die erfrischende Natur, die Entfremdung wollten sie überwinden durch die Gemeinschaft des Lagerlebens, den Sprung Hand über Hand für das Feuer, in grauen Blusen mit Sippen–Schlipsen und breiten Hüten, die alle gleich waren. Karl Fischer aus Berlin, der als „Vater“ des Wandervogels gilt: „Die Großstadt verschandelt die Jugend, verbildet ihre Triebe, entfremdet sie immer mehr einer natürlichen, harmonischen Lebensweise. Aus den großen Hausmeeren steigt das neue Ideal: Erlöse dich selbst, ergreife den Wanderstab und suche da draußen den Menschen wieder, den einfachen, schlichten, natürlichen.“ 1913 trafen sich die Jugendbünde auf dem Hohen Meißner. Die berühmte Hoher–Meißner–Parole: „Die Jugend wolle das Leben aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung mit innerer Wahrhaftigkeit gestalten.“ 1896 war bereits die erste Gruppe des Wandervogels am Steglitzer Gymnasiums entstanden. Gewiß war es keine Absicht, aber die Arbeiterjugend blieb weitgehend ausgespannt. Der beginnende Biologismus regte wohl auch die Reformbewegung an: „Entrümpelt die Wohnzimmer, laßt Licht und Luft in eure Wohnung.“ Schwarmgeister tanzten nachts im Mondlicht, nackt, feierten ihre Körperlichkeit. Euch belustigt vielleicht das Ganze, aber vergeßt doch nicht: Euch ist eine emanzipierte Gegenwart geschenkt. Zudem, um nicht plakativ zu schreiben: Das Bürgertum konnte die sozialen Fragen nicht lösen. Viele wollten auch nicht. Trotzdem muß geschrieben werden: Nicht nur die Jugend sehnte sich nach einer neuen Gemeinschaft über alle Stände hinaus. Dazu war dann noch der kairos gekommen.
Das Bürgertum verpaßte der Gesellschaft eine neue Bedeutung, konnte aber die gewaltige neue wirtschaftliche Macht nicht durch Erneuerung der Gesellschaft auffangen.
War das die Gunst der Stunde? Heraus aus dem spannungslosen Alltag! Verbrüderung der Bürger und Arbeiter! Plötzlich war eine ganz neue Spannung aufgekommen: Gemeinsamer Kampf für das Vaterland, für den Kaiser! Wofür? Der Kampf selbst, der Einsatz des Lebens, schien schon Ziel – unheimlich. Aber noch einmal: Wofür? Heraus aus dem stickigen Alltag, Romantik beflügelte die jungen Studenten und Schüler. Überschwenglich lebten sie aus ihrem Gefühl. Wie soll ich das euch verständlich werden lassen, euch Kinder aus einer Gesellschaft mit dem Glück der späten Geburt? Halt! Da naht sich mir ein Helfer, ein Kronzeuge damaligen Empfindens.
Mein Landsmann ist es aus dem Dorf meiner Nachbarschaft Nackenheim: Carl Zuckmayer. Aus seinem Lebensbericht „Als wär es ein Stück von mir“ (S. 197–200, Fischer Verlag, 1966): „Damals – im Jahre 1914, glaubte man noch an ein Aufblühen durch den Krieg. Doch es wurde ein Welken. Auch meine Eltern waren von der Gewalt des Augenblicks hingerissen, vom Anblick der ausziehenden Truppen erschüttert und aufgewühlt, so daß es für mich keiner große Überredung bedurfte, um ihre Erlaubnis zur freiwilligen Meldung zu erhalten. Soldat werden, sein Jahr abdienen müssen, war für mich in meiner Gymnasialzeit immer eine peinliche, bedrohliche Vorstellung gewesen. Das bedeutete sich einordnen, stillstehen, Maul halten, parieren, Subordination, den Verlust aller Freiheit. Jetzt war es genau das Gegenteil: Befreiung von der bürgerlichen Enge und Kleinlichkeit, von Schulzwang und Büffelei, von den Zweifeln der Berufsentscheidung und vor allem von dem was wir bewußt oder unbewußt als Saturiertheit, Stickluft, Erstarrung empfunden, wogegen wir schon im Wandervogel gewesen waren. In dieser inneren Befreiung der ganzen Nation von ihren abgelebten Konventionen, in diesem Aufbruch ins Ungewisse, ins ungeheure Wagnis, ganz gleich wen es verschlinge, sahen wir den Sinn des Krieges, den Quell der Begeisterung. Eroberungsziele, Machtansprüche waren für uns kein Thema. Wenn wir „Freiheit“ riefen, meinten wir es gewiß im primitiven, im nationalen Sinn: unser Volk sollte befreit werden von der Bedrohung seiner Existenz (an die wir, wie alle kriegführenden Völker, bedingungslos glaubten), auch vom Druck einer Welt–Gegnerschaft, die ihm die freie Entfaltung seiner Kräfte versagen wollte. Aber wir meinten mehr. Es war keineswegs „militaristischer“, es war revolutionärer Geist, der in den Barackenlagern und Zeltställen der Kriegsfreiwilligen, in den Rekrutendepots von 1914 lebte…“
„Neben mir auf dem Strohsack schnarchte ein Schauspieler vom Mainzer Stadttheater, auf dem andern ein junger Maschinenschlosser, dessen Vater in der Fabrik meines Vaters an der Metallwalze stand. Gerade mit solchen, die aus dem – uns bisher kaum oder nur oberflächlich bekannten – Proletariat kamen, ergaben sich jetzt und später im Feld die stärksten Bindungen, und man tat gut, sich an sie zu halten. Sie hatten uns, den Söhnen des gepflegten Bürgertums, den Sinn für das Reale voraus, sie waren tüchtiger, geschickter, bedürfnisloser als wir, und man war stolz, daß es nicht, wie sonst zwischen „Einjährigen“ und „Gemeinen“, einen Unterschied in der Behandlung und im Zusammenleben gab. Diese Sprengung des Kastengeistes hatte nichts von kommandierter „Volksgemeinschaft“, sie war durch keine materiellen Interessen und keine ideologische Doktrin unterbaut, sie ergab sich von selbst, sie hatte einen naturbestimmten, elementaren Zug oder wurde von uns jungen Menschen so erlebt und geglaubt. Tatsächlich war sie das beste und produktivste Element, das uns aus all den Umwälzungen der kommenden Zeit erwachsen konnte. Bei uns im Südwesten Deutschlands lebte wohl das Gedankengut der Revolution von 1848 und der Frankfurter Paulskirche noch stärker fort als anderwärts…“.
„Zu Beginn des großen vaterländischen Triebs stürmten gerade aufgestellte Reservetruppen gegen Langemarck in Belgien. Darunter kämpften viele Lehrer, Schüler und Studenten, manche mit ihrem Burschenband ihrer Verbindung unter ihrem Waffenrock. Auf dem Soldatenfriedhof Langemarck liegen 45.000 deutsche Gefallene! An der Spitze der Kriegsbegeisterten waren bürgerliche Freiwillige. Erinnert euch noch einmal unserer Kriegsfreiwilligen!“ (Zuckmayer).
Die bürgerlichen Jugendlichen waren in wohlversorgter Welt gebettet. Sie durften lernen, was andere gedacht, getan und gestaltet hatten – aber gerade so fühlen sie sich „fremdbestimmt“, glaubten sich keine eigene Welt schaffen zu können. Ist es nicht so: Inzucht nimmt den Pflanzen Lebenskraft. Krieg bedeutete den Jungen Freiheit, das eigene Leben einzusetzen: „Gerade mit denen aus dem Proletariat ergaben sich später die stärksten Bindungen.“ Früher hatten „die aus dem Proletariat“ die Bürgersöhne mit ihren bunten Schülermützen oft auf dem Schulweg verschlagen. Im Krieg war es vergessen. Warum?
In einem vorhergehenden Buch schrieb ich davon: Für meinen Freund Peter, der im Eisenbahnwagen – im vorderen Teil – wohnte, hatte ich gewiß Mitleid. Was mich zu ihm zog, war noch etwas ganz Anderes: Wenigstens ein wenig wollte ich miterleben, wie er sich das tägliche Überleben erringen mußte. Vielleicht war er neidisch auf meine Lebensumstände. Ich beneidete ihn, weil ich nicht so vital war wie er.
Zum letzten Mal unser „Zuck“: „In dieser Befreiung unserer Nation von ihren abgelebten Konventionen, in diesem Aufbruch ins Ungewisse, ins ungeheurere Wagnis sahen wir den Sinn den Krieges.“
Das Leben einzusetzen, ein unbekanntes, aber ersehntes Ganzes, darin verbunden mit allen, die zu diesem Ganzen gehörten, schien erst Selbstverwirklichung zu heißen – auch im Sterben.
Aber waren die gewaltigen Arsenale neuer Waffen wirklich das geeignete Mittel für ein unbekanntes gemeinsames Neue? Diese Waffen sollten den Sieg bringen – die anderen hatten auch neue Waffen. (Die deutsche Oberste Heeresleitung brach am 15.12.1916 den Angriff auf Verdun ab. Die deutschen Verluste: 338.000 Soldaten. Die französischen Verluste: 364.000 Soldaten. Euch will ich es andeuten: Im letzten Krieg erlebte ich, wenn auch nur einmal, die Lust auf den eigenen Tod. Aber meine Erinnerung ist dunkel. Wofür? – ja, wofür?)
Die Gefühle der Kriegsbegeisterten damals und im Zweiten Weltkrieg, der zu schnell Begeisterten einmal zu untersuchen, wäre eine interessante Aufgabe, auch um vor zu schneller Begeisterung zu warnen, für ihre Kriegsziele.
Auf einem Berggipfel kann der, der vor dem Abgrund zurückschreckt, unversehens in die Schlucht hinter seinem Rücken stürzen. Was ich damit meine, fragt ihr? Ich will es nur andeuten. Das Pflichtgefühl wurde im Ersten Weltkrieg, erst recht im Zweiten Weltkrieg, maßlos übersteigert durch maßlose Propaganda. Sollte das aber die angemessene Lehre für uns sein? In unserem Grundgesetz heißt es: Eigentum verpflichtet. (Art. 14 Abs. 2) Aber sonst ist den Pflichten kein Artikel gewidmet.