6,99 €
Für die Vampirin Anna Strong wird es nicht nur immer schwieriger, ihren Blutdurst unter Kontrolle zu halten – nun erwacht eine neue Gabe in ihr: Plötzlich ist sie in der Lage, das Böse in Menschen und Unsterblichen zu spüren. Aber was hat das zu bedeuten? Ist dies der letzte Beweis dafür, dass sie tatsächlich die Auserwählte ist, auf deren Ankunft die mächtigen Vampire seit langer Zeit warten? Wenn dem so ist, dann werden sie mit aller Macht versuchen, Anna auf ihre Seite zu ziehen – oder sie vernichten. »Anna ist eine wunderbare Figur!« Charlaine Harris
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 410
Jeanne C. Stein
Gesetz der Nacht
Roman
Aus dem Amerikanischen von Katharina Volk
Knaur e-books
Für Charlaine Harris für ihre Ermunterung, als ich gerade anfing, und für ihre Freundschaft unterwegs.
Du bist meine Heldin.
Für Barbara Seranella, die – gemeinsam mit ihrem Alter Ego Munch Mancini – viel zu früh von uns genommen wurde.
Und für Robert B. Parker. Ich kannte ihn nicht persönlich, aber ich habe mich schon auf der ersten Seite von Spenser und das gestohlene Manuskript in Spenser verliebt. Ruhe in Frieden.
Das ist Schweiß.
Erst war ich mir nicht ganz sicher. Ich bin noch nicht so lange ein Vampir, aber ich kann mich todsicher nicht daran erinnern, dass ich seither je geschwitzt hätte.
Und doch sammeln sich zwischen meinen Schulterblättern Tröpfchen, machen meine Unterarme feucht, rinnen zwischen meinen Brüsten herab und durchweichen die Bluse unter meiner Jacke. Eine neue Bluse.
Das ist Schweiß, kein Zweifel.
Ich kann die Jacke nicht ausziehen. An meinem Gürtel hängt mein Achtunddreißiger. Der könnte die Eingeborenen beunruhigen. Scheiße.
Ich schaue zu meinem Partner hinüber. Ihm ist nicht der Schweiß ausgebrochen, also liegt es wohl nicht am Raum. Selbst wenn ich konstitutionell nicht völlig unempfindlich gegen die Umgebungstemperatur wäre – die Klimaanlage in diesem Schuppen ist auf »Eiszeit« eingestellt.
Ich zappele auf dem Barhocker herum vor Ungeduld, endlich raus an die frische Luft zu gehen. Zu entkommen.
Entkommen? Vor wem oder was? Was zum Teufel passiert denn hier?
In meinen Schläfen pocht es, als stecke mein Kopf in einem Schraubstock, den jemand langsam festdreht. Großartig.
Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn. Die Hand wird nass. Mit einem verstohlenen Blick versuche ich festzustellen, ob David etwas bemerkt hat. Hat er nicht.
Er ist ganz darauf konzentriert, nach unserem Kautionsflüchtigen Curly Tom Ausschau zu halten – der Grund dafür, dass wir in dieser Bar feststecken.
Ich schaue mich ebenfalls um, aber nicht nach dem Flüchtigen. Irgendwas stimmt hier nicht. Ich weiß nur nicht, was.
David gönnt sich eine Ausschau-Pause und mustert mich über seine Bierflasche hinweg. Ich spüre seinen Blick auf mir wie einen Schwarm nervtötender Mücken, die mir um den Kopf schwirren.
Ich schaue zu ihm auf und fauche: »Was ist?«
»Du windest dich wie ein Wurm im Matsch. Passt dir was nicht?«
Sollte ich mich vielleicht freuen, dass ich hier herumsitzen muss? Ich glühe und fühle mich allmählich so wackelig wie nach einem Waldmeister-Schnaps. Und dann ist da noch Lance, groß, blond und sexy, der zu Hause auf mich wartet. Nein, es passt mir gar nicht, hier zu sein. Ich werfe David einen finsteren Blick zu. »Du hast gesagt, bis halb elf würden wir fertig sein. Aber jetzt ist es schon …«, ich schaue auf meine Armbanduhr, »… elf Uhr, und wir sitzen immer noch in einer Bar, in der es nach schalem Bier und ungewaschenen Bikern riecht. Am Arsch der Welt, David.«
Er leert die Flasche und gibt dem Barkeeper einen Wink, ihm noch eine zu bringen. »Denk an die Belohnung, Anna. Zwanzigtausend.«
»Und wo bleibt der Kerl?«
David dreht sich auf dem Barhocker herum und lässt den Blick gemächlich einmal durch den Raum schweifen. »Keine Sorge, der kommt schon noch.«
»Ja, Weihnachten kommt auch irgendwann. Ich will nach Hause.«
Jetzt macht David ein finsteres Gesicht. Sein Ausdruck ist eine Mischung aus Gereiztheit und Frust. »Wir sind erst eine Stunde hier. Warum hast du es denn so verdammt eilig?« Er lehnt sich zurück, stützt die Ellbogen auf die Bar und beobachtet die Tür. »Lass mich raten. Dein Freund, dieses Magermodel, wartet zu Hause auf dich. Stimmt’s?«
»Lance ist nicht mager.«
»Was wiegt er denn? Fünfundachtzig Kilo in klatschnassen Klamotten? Ich verstehe nicht, was du an dem findest. In einem Kampf könnte man ihn knicken wie ein Streichholz.«
Ach, David. Du wärst ja so überrascht. Lance ist ein Vampir, genau wie ich, und falls es zu einem Kampf käme, wäre er derjenige, der anderen etwas abknicken würde. Ich lächle gezwungen. »Er ist schlank, David, nicht mager.« Kommt daher, dass er seit fünfzig Jahren eine No-Carb-Diät macht. »Nicht jeder Mann hat die Anabolika mit der Muttermilch eingesogen, so wie du.«
Seine Mundwinkel spannen sich gereizt. Ich bereue meine fiese Bemerkung auf der Stelle. David ist massig, ja, aber er ist ein ehemaliger Football-Profi, der sich fit gehalten hat. Er ist mein Partner und mein Freund und hat diese Gemeinheit nicht verdient.
Ich reibe mir mit den Handflächen die Augen. Das kommt alles nur von den verdammten Kopfschmerzen.
Jetzt habe ich auch noch Kopfschmerzen? Wie kann ein Vampir Kopfschmerzen bekommen?
David dreht seinen Barhocker von mir weg und konzentriert sich ganz auf die Tür – eine deutlich gezeigte kalte Schulter. Das kann ich ihm nicht verdenken. Ich versuche nicht, ihn zu besänftigen. Stattdessen versuche ich festzustellen, was zum Teufel in meinem Körper vor sich geht. Die Kopfschmerzen haben sich zu einem nervtötenden Brummen gesteigert, der verstimmte Magen ist verkrampft wie eine geballte Faust. Okay, ich bin seit nicht mal einem Jahr ein Vampir, aber ich bin ziemlich sicher, dass wir keine Grippe kriegen können.
Genau so fühlt sich das hier nämlich an.
Ich reibe mir wieder die Augen, sehe mich um und versuche, mich zu konzentrieren. Wir sind in einer Rocker-Bar – einer echten Biker-Bar – am Rand von Lakeside im östlichen San Diego County. Heruntergekommen und ohne blinkende Neonreklame in den Fenstern, die Kundschaft anlocken könnte. Es gibt gar keine Fenster. Und auch keine Hintertür. Damit würde der Laden gegen ungefähr hundert feuerpolizeiliche Vorschriften verstoßen, wenn er nicht als »privater Club« lizenziert wäre. Sägespäne knirschen auf dem Boden und saugen verschüttetes Bier und gelegentlich anfallende Körperflüssigkeiten auf. Irgendein Scherzkeks hat eine Bewertung des Gesundheitsamts mit dem Stempel »mangelhaft« über die Bar gepinnt.
Gäste in den Clubfarben des ansässigen Hells Angels Charter hängen an der Bar herum oder spielen im grellen Licht der grün beschirmten Lampe eine Runde Pool. David und ich können uns hier nur aufhalten, ohne belästigt oder vermöbelt zu werden, weil wir den Präsidenten des Clubs kennen. Wir haben ihm vor ein paar Jahren einen Gefallen getan, und nun begleicht er seine Schuld.
Er ist unserer Bitte nur zu gern nachgekommen. Der Kerl, den wir suchen, ist kein Biker. Er ist ein nerviger Möchtegern, der in L.A. einen Dealer beraubt und erschossen und dann die Kaution hat verfallen lassen. In dieser Bar hat er sich öfter herumgetrieben, mit seiner Tat geprahlt und gehofft, sie würden ihn in den Club aufnehmen. Sein Problem ist nur: Der Präsident weiß, dass diese Spur die Polizei früher oder später hierher führen wird. Da wäre es ihm lieber, wir erwischen den Kerl als Erste und ersparen dem Club die Mühe, sich um Curly Tom kümmern zu müssen.
Gut für uns, und noch besser für Curly Tom.
Für uns ist das ein bezahlter Auftrag, und er landet im Knast. Dem Club ginge es dabei um Selbstschutz, und er würde vermutlich in einem sehr flachen Grab in der Anza Borrego Desert landen.
Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Niemand scheint uns sonderlich zu beachten. Die meisten wissen, weshalb wir hier sind. Aber ich spüre … etwas. Aufregung. Furcht. Grauen.
Warum? Wegen diesem Idioten Curly Tom? Das ist Unsinn.
David und ich sind Kopfgeldjäger. Jobs wie diesen haben wir schon hundertmal erledigt. Wir hatten es schon mit viel härteren Jungs zu tun als diesem kleinen Licht. Und das auch, bevor ich zum Vampir wurde. Eigentlich wird das Selbstbewusstsein durch übermenschliche Kraft und Schnelligkeit eher gesteigert.
Wenn sich dieses Gefühl einer üblen Vorahnung also nicht auf Curly Tom bezieht, worauf dann?
Das Summen in meinem Schädel wird stärker.
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Als ich letztes Mal so etwas Ähnliches gespürt habe, steckte eine Hexe dahinter.
Eine Hexe.
Der Gedanke lässt mich vom Barhocker springen. Bei meiner abrupten Bewegung ist auch David sofort auf den Beinen. Er blickt sich um, und seine rechte Hand fährt instinktiv unter die Jacke an seine Waffe.
»Ist er hier? Hast du ihn gesehen?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Er ist nicht da.«
Ich sehe mich um. Aber irgendetwas ist da.
David schaut mit einem Blick in die Runde nach, wie viel Aufmerksamkeit wir durch meinen Satz vom Barhocker auf uns gezogen haben. Der Lärmpegel ist unverändert, und bis auf den Rocker neben David, den er beim Aufspringen angerempelt hat, scheint niemand etwas bemerkt zu haben.
Davids Nachbar ist sauer. Bier tropft vom Ellbogen seiner Lederjacke. »He, du Arschloch.«
David nuschelt: »Tut mir leid, Mann«, und bedeutet dem Barkeeper, noch eine Runde zu bringen.
Der Typ schießt von seinem Hocker hoch, doch als er dann neben David steht, der einen Kopf größer und wesentlich breiter gebaut ist, zuckt er mit den Schultern und nimmt mit widerstrebendem Nicken das Bier an.
David wartet, bis er sich wieder gesetzt hat, und starrt mich dann finster an. »Was ist denn los mit dir?«
Ich schiebe den Hintern wieder auf den Barhocker. Wenn ich ihm sagen würde, was los ist – dass ich glaube, eine Hexe könnte versuchen, mich zu verzaubern –, wäre die Reaktion vermutlich die gleiche, wie wenn ich ihm erklären würde, dass seine Partnerin eine Vampirin ist. Seit fast einem Jahr.
Kann ich wohl kaum machen.
Was ich machen kann, ist, diesen Laden schleunigst zu verlassen und herauszufinden, wer oder was es auf mich abgesehen hat.
Zeit, in die Offensive zu gehen. »Zehn Minuten, David. Ich gebe dem Kerl noch zehn Minuten. Dann bin ich weg.«
Er öffnet den Mund, um zu widersprechen, doch dann lässt er ihn hastig wieder zuschnappen, den Blick starr auf den Mann gerichtet, der eben zur Tür hereingekommen ist. »Da ist er.«
Curly Tom hat gar keine Locken. Er hat eine Glatze und ist klein und dick – etwa hundertzwanzig Kilo bei gut eins siebzig. Er trägt Lederkluft ohne Abzeichen. Zumindest ist er klug genug, um zu wissen, dass es einem Todesurteil gleich käme, als Nicht-Mitglied mit Insignien der Hells Angels herumzulaufen. Er blickt sich um, ein albernes Grinsen auf dem Gesicht, als warte er auf eine Einladung von einem der Grüppchen an der Bar oder hinten am Pool-Tisch.
Es kommt aber keine. Der Barkeeper beugt sich zu David vor und flüstert: »Schnappt ihn euch, und dann verpisst euch endlich.«
Auch bei Motorradrockern hat die Dankbarkeit offenbar ihre Grenzen.
David gleitet von seinem Barhocker und deutet nach rechts. Ich gehe dorthin, er nach links. Ehe Curly Tom weiß, wie ihm geschieht, haben wir ihn in die Zange genommen.
David packt seinen Arm mit einem stählernen Griff, bei dem der Möchtegern-Biker zusammenzuckt. »Gehen wir ein Stück spazieren«, sagt David.
Curly Toms Augen weiten sich, das Grinsen fällt ihm aus dem Gesicht. Er wehrt sich gegen Davids Griff, doch ich packe blitzschnell seinen anderen Arm. Als sich meine Finger noch kräftiger als Davids um sein Handgelenk schließen, jault er auf.
»Wer zum Teufel seid ihr?«
Nun drehen die Rocker, die uns am nächsten sind, sich nach uns um. Aber sie erkennen, was los ist. Sie kehren Curly Tom geschlossen den Rücken zu, und er muss begreifen, dass er auf sich allein gestellt ist. Er fängt an herumzuhopsen und versucht uns abzuschütteln. Als das nicht funktioniert, stößt er einen Schwall von Beleidigungen aus, der ebenso kreativ wie wirkungslos ist. David und ich zerren ihn nach draußen.
Während Curly Tom weiter lauthals flucht, unterhalten David und ich uns über das weitere Vorgehen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass er hier auftaucht«, sagt David.
»Ja, schon gut. Kannst du ihn allein in die Stadt schaffen?«
»Warum? Willst du wieder da rein?«
Als ich nicht antworte, fügt er hinzu: »Einen Biker abschleppen?«
»Sehr witzig.«
Ich drücke Curly Tom den Kopf herunter und schiebe ihn auf den Rücksitz des Ford Crown Victoria, den wir bei der Arbeit benutzen. David schließt eine Handschelle um Toms Handgelenk, die andere um eine Eisenstange an der Tür. Dann richtet er sich auf und mustert mich in der trüben Parkplatz-Beleuchtung.
»Wie kommst du denn nach Hause?«
»Ich rufe Lance an.«
»Du rufst Lance an. Und er muss dann von Mission Beach hier herausfahren, um dich abzuholen. Das ist idiotisch, Anna, sogar für deine Verhältnisse.«
Von seinem Tonfall wird das Dröhnen in meinem Kopf noch schlimmer, der Knoten in meinem Magen zieht sich weiter zusammen. Was auch immer mein Nervensystem so durcheinanderbringt, ist hier ganz in der Nähe, und ich muss herausfinden, was es ist. Aber David wird nicht kampflos aufgeben.
Ich knalle die Autotür so energisch zu, dass Curly Tom auf dem Rücksitz hochgeschleudert wird. »Ich verlange nicht von dir, mir alles zu erklären, was du machst. Wenn ich das täte, könnte ich damit anfangen, warum du und diese Polizistin von der Gefängnispforte es ausgerechnet auf meiner Seite des Schreibtischs treibt, wenn du dich mitten in der Nacht mit ihr ins Büro schleichst.«
Er starrt mich verblüfft an. »Woher …?«
»Woher ich das weiß?« Ich rieche es. Die Antwort kann ich ihm aber nicht geben. Stattdessen hebe ich mahnend den Zeigefinger. »Ich weiß es eben, okay? Und da sie heute Nacht Dienst hat, nehme ich an, dass ihr beide zusammen wegfahren werdet, wenn du diesen Schleimbeutel abgeliefert hast.«
Er legt den Zeigefinger an die Lippen und weist mit einem scharfen Nicken in Curly Toms Richtung. »Spinnst du? Was, wenn er dich hört?«
»Dein Problem. Also, bist du jetzt fertig mit deinem Verhör?«
David reißt mir den Autoschlüssel aus der ausgestreckten Hand. Es war nicht fair von mir, seine Affäre zu erwähnen – er hat eine Freundin, die sicher nichts von diesen gelegentlichen Treffen mit der Polizistin weiß. Aber was ist in letzter Zeit schon fair gelaufen? Er stapft ums Auto herum, setzt sich hinters Lenkrad und rast vom Parkplatz.
Ich stoße die angestaute Spannung mit einem Seufzen aus. Na endlich.
Die Nacht drängt sich um mich. Sie ist mondlos und totenstill. Und heiß – wir haben Mitte Juli. Dennoch beginne ich zu zittern. Wer auch immer – was auch immer – mich so fertigmacht, ist in der Bar.
Diese plötzliche Erkenntnis verstärkt noch das Gefühl. Da ist etwas, knapp außer Sicht. Etwas Böses. Es zieht mich dorthin zurück. Falls das ein Zauber sein sollte, fühlt er sich nicht so an wie die, die ich bisher erlebt habe. Belinda Burke hat den Opfern ihrer schwarzen Magie alle Kraft geraubt und ihre Körper sterbenskrank zurückgelassen. Dieser Angriff zielt auf den urtümlichsten Teil meines Gehirns: eine Warnung, die abschreckend und magnetisch zugleich wirkt. Ich kann mich nicht einfach ohne Erklärung oder klare Antwort davon abwenden, ebenso wenig wie ich David dazu überreden konnte, mich allein vor einer Rocker-Bar stehen zu lassen – ich musste erst zu einer Erpressung greifen. Dafür werde ich mich später entschuldigen.
Ein Wagen biegt auf den Parkplatz ab. Ein dunkler Ford, gefolgt von einem zweiten.
Nichts schreit so laut »Polizei« wie zwei identische, dunkle Ford-Limousinen. Ich weiche in den Schatten zurück und beobachte sie. Als einer der Fahrer aussteigt, erkenne ich ihn sofort. Detective Harris vom Morddezernat des San Diego Police Department.
Drei weitere Autos, sämtlich Streifenwagen, halten um den Parkplatz herum, womit er praktisch abgeriegelt ist. Harris dirigiert die Beamten per Handzeichen und postiert sie neben der Tür und um die Reihe Harley Davidsons vor der Bar. Einen schickt er hinters Haus, doch der Uniformierte kommt gleich wieder zurück. Wie David und ich vorhin schon festgestellt haben, gibt es keinen Hinterausgang, nur ein kleines Fenster dicht unter der Decke in der Damentoilette.
Als Harris bereit ist, zieht er seine Waffe, hält sie unauffällig mit herabhängendem Arm an der Seite und verschwindet durch die Tür.
Drinnen bricht die Hölle los. Schreie. Gefluche. Poltern und Trampeln. Rocker quellen zur Tür heraus und laufen schnurstracks in eine Reihe Polizisten, die sie mit gezückten Waffen erwarten.
Zugleich höre ich ein Geräusch von der Rückseite des Gebäudes. Ein Fenster quietscht. Es ist so leise, dass die Polizisten vorne es nicht hören können, ein Vampir aber sehr wohl.
Außerdem sind die Uniformierten vollauf damit beschäftigt, die panische Herde Rocker zusammenzutreiben. Ich husche unbemerkt zur Rückseite.
Da versucht ein Mann, sich durch dieses winzige Fenster der Damentoilette zu schieben. Sein Kopf hängt draußen herab, die Hände suchen hektisch nach Halt an der Holzverkleidung. Er steckt fest.
Er hebt den Kopf und entdeckt mich. »He, du da.« Er flüstert, und doch klingt seine Stimme barsch und herrisch. »Hilf mir hier raus.«
Das scheußliche Gefühl in meinem Magen wird stärker. Ich starre in dieses Gesicht. Dunkle Haut, Augen voller Hass, der Mund zu einem verächtlichen Grinsen verzogen.
Ich trete einen Schritt zurück.
»Hast du nicht gehört, du Miststück?« Er versucht sich hochzustemmen.
Als er diesmal den Kopf hebt, bin ich bereit. Ich wappne mich für die Woge von Übelkeit, die sein Blick in mir auslöst.
Die Kopfschmerzen, das Gefühl, etwas Böses sei ganz nah, die üble Vorahnung, die mir den Magen umdreht – all das kommt von einem Arschloch, das wie eine fette Kröte in einem Klofenster feststeckt.
Ich schlucke meinen Ekel herunter. »Was bist du?«
Er unterbricht sein Gezappel, um mir einen teils erstaunten, teils wütenden Blick zuzuwerfen. »Was soll das heißen, was ich bin? Bist du irre?«
All meine Vampirsinne sind erwacht. Ich versuche in seinen Kopf vorzudringen. Bist du ein Vampir? Ein Gestaltwandler? Ein … eine Hexe?
Nichts.
Ich empfange nur schwarze Leere, eine tiefe Grube aus Boshaftigkeit.
Und die Gewissheit, dass er ein Mensch ist.
Ein Mensch? Wie ist das möglich? Wie kann er meinen Sinnen so übel mitspielen, wenn er ein Mensch ist?
Wir starren einander an. Er hält meinen Geist gefangen wie in einem Schraubstock. Mein Instinkt kreischt, ich solle ihm die Kehle herausreißen, schnell, ehe er sich befreit, ehe er entkommt und …
Und was? Er ist ein Mensch.
Er findet als Erster die Sprache wieder und läuft rot an. »Du dämliche Schlampe. Wenn ich hier raus bin, bringe ich dich um.« Er fängt wieder an, wild um sich zu schlagen und sich mit den Händen gegen die Wand zu stemmen, um seinen breiten Arsch durch eine Öffnung zu schieben, die kaum größer ist als sein Kopf.
Ich habe zwei Möglichkeiten. Nach Harris rufen oder warten, bis der Kerl selbst anfängt zu brüllen, weil ihm klar wird, wie fest er in dem Fenster klemmt – dass er wahrscheinlich verhungern wird, wenn ihn niemand findet.
Nein. Es gibt noch eine Möglichkeit. Eine Stimme in meinem Kopf. Töte ihn.
Ihn töten? Wo kam das denn auf einmal her?
Ich spüre ein Kribbeln im Bauch. Mit diesem Gefühl steigt eine verblüffende Erkenntnis in mir auf. Welcher Instinkt mich auch dazu drängen mag, diesen Mann zu töten, er hat recht. Menschlich oder nicht, der Typ ist böse. Er stellt eine Bedrohung dar.
Ich halte inne und wittere. Er riecht nach Boraxseife und Chlorbleiche. Nicht nach Straßenstaub und Schweiß, wie der Rest seiner Rocker-Kumpel. Und unter der scharfen Seife – der durchdringende, vertraute Geruch von Blut.
Nicht seines. Er hat heute Nacht Blut vergossen. Wessen Blut? Ist Harris seinetwegen hier?
Egal. Das hier kann ich selbst erledigen. Augenblicklich ist mein Kopf klar. Die Kopfschmerzen sind wie weggeblasen, und eine eigenartige Ruhe überkommt mich.
Etwas, das ich erledigen sollte.
Ich mahle hinter fest zusammengekniffenen Lippen erwartungsvoll mit den Zähnen. Ein Knurren dringt aus meiner Kehle. Als er wieder aufblickt, sieht er mich – mein wahres Ich, die Vampirin.
»Was ist mit deinen Augen los?«
Diesmal klingt seine Stimme nicht bedrohlich, nur verwirrt und ängstlich. Ich weiß, warum. Ich weiß, wie die Augen eines Vampirs aussehen – gelb glühend mit schlitzförmigen Pupillen. Katzenaugen.
Die menschliche Anna versucht einzugreifen. Sie flüstert: »Halt. Du darfst ihn nicht töten. Er ist ein Mensch. Er hat dir nichts getan.«
Ist mir egal. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, die Blutlust ist erwacht. Ich nähere mich leicht geduckt, langsam und bedacht wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranschleicht. Ich genieße seine Angst. Ich wittere sie im Wind und rieche sie in dem Schweiß, der ihm übers Gesicht rinnt. Er ist wie gebannt, kann den Blick nicht abwenden – eine Ratte vor einer Kobra.
Ein Gefühl der Macht durchflutet mich und schwemmt Zögern und Bedenken fort. Stattdessen breiten sich Gier und eine eigenartige Klarheit in mir aus.
Ich bin nur deshalb hier, um ihn zu töten. Ich habe David weggeschickt, um ihn zu töten.
Na sieh mal an, wen haben wir denn da? Anna Strong.«
Harris.
Nein. Dreh dich nicht um. Halte dich nicht auf. Töte ihn. Er ist ein Mörder. Ich trete einen weiteren Schritt vor.
»Anna? Was ist los mit Ihnen?«
Der Typ im Fenster findet die Sprache wieder. »Helfen Sie mir. Das Miststück ist irre. Schauen Sie sich mal ihre Augen an.«
Ich spüre, dass Harris näher kommt. Er darf nichts merken. Das lässt mich innehalten. Ich richte mich auf, schließe die Augen und beruhige mein wild schlagendes Herz. Mein Kiefer entspannt sich, die Fäuste werden locker.
Als Harris mich am Arm berührt, hat die menschliche Anna die Kontrolle wiedergewonnen.
»Was tun Sie hier?« Er weist mit dem Daumen auf den Kerl im Fenster. »Um den kann es nicht gehen. Er hat vor keinem Richter gestanden. Noch nicht.«
»David und ich …« Ich lasse die Erklärung in der Luft hängen und wende den Blick wieder dem Fenster zu, wo die Kröte gerade von zwei Polizisten nach drinnen gezerrt wird. Er protestiert nicht.
»Wer ist er? Was hat er getan?«
Harris wartet, bis die Kollegen drinnen rufen, dass sie ihn haben, ehe er antwortet: »Sein Name ist Joe Black. Vor etwa zwei Stunden hat er seine Frau und ihren Liebhaber ermordet. Wir haben einen Tipp bekommen, dass er sich bei den Angels herumtreibt. War nur eine Vermutung, dass wir ihn hier finden könnten.«
Er wendet sich ab und bedeutet mir, ihm zu folgen. Das tue ich, wenn auch widerstrebend. Zugleich suche ich nach einer Erklärung dafür, warum ich wusste, dass Black Blut vergossen hatte, ehe Harris es mir bestätigt hat.
Als wir wieder vor der Bar stehen, frage ich: »Warum sind Sie eigentlich hier, Harris? Nicht Ihr Zuständigkeitsbereich, oder?«
Er zuckt kommentarlos mit den Schultern und gibt stattdessen den Polizisten, die Black festhalten, ein paar Anweisungen. Sie legen ihm Handschellen an, lesen ihm seine Rechte vor und bugsieren ihn in den wartenden Wagen. Die restlichen Polizisten haben die Waffen immer noch auf die Rocker gerichtet, die bäuchlings im Staub liegen.
Harris bellt einen weiteren Befehl, und die Uniformierten ziehen sich zu ihren Autos zurück.
Ich sehe zu, wie die Biker sich schweigend aufrappeln und in die Bar drängeln. Keiner wirft auch nur einen Blick in Harris’ Richtung. Sie kennen dieses Spielchen, sie wissen, wie die Bullen vorgehen. Wenn sie irgendetwas anderes getan hätten, als brav zu kooperieren, hätte die Polizei ihnen die Bar auseinandergenommen. Sie hätten jeden einzelnen Rocker durchsucht. Waffen, Drogen, sonstige verbotene Waren. Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Lieber ein bisschen Schikane von der Polizei, als die Dinge aus dem Ruder laufen zu lassen. Ungeschriebener Rocker-Codex: Das Wohl der Gruppe ist wichtiger als das Wohl eines Einzelnen.
Gleich darauf beginnt die Musik wieder so laut zu dröhnen, dass der Schuppen bebt.
Die Streifenwagen fahren ab, der Ford mit Black folgt ihnen. Harris und ich bleiben allein auf dem Parkplatz zurück. Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Was tun Sie hier?«
Harris ist eine eins fünfundsiebzig große Bulldogge. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass er nicht so leicht abzuschütteln ist, wenn er sich einmal festgebissen hat. Ich mache mir nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, dass ich ihm gerade dieselbe Frage gestellt habe und er sie ignoriert hat. Stattdessen antworte ich: »David und ich hatten einen Auftrag. Er ist mit dem Flüchtigen schon auf dem Weg in die Stadt.«
Harris blickt sich um. »Ich sehe nirgends Ihren Wagen.«
»Sind Sie neuerdings auch Privatdetektiv? Ich wollte gerade jemanden anrufen, der mich abholen soll.«
Er schüttelt den Kopf. »Ihr Partner hat Sie hier zurückgelassen? Ich weiß, dass Sie einen den letzten Nerv kosten können, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser übergroße Pfadfinder Sie vor einer Biker-Bar sitzenlassen würde, selbst wenn Sie es verdient hätten. Woran ich keine Zweifel hege. Also, was ist hier los? Warum sind Sie dageblieben?«
Ich kann nicht erklären, weshalb ich hiergeblieben bin – schon gar nicht einem Menschen. Im Grunde nicht mal mir selbst. »Okay, Sie haben recht. Ich habe David so geärgert, dass er allein gefahren ist.«
Harris blickt überrascht drein. Und gereizt. Was wiederum mich reizt. »David weiß, dass ich gut auf mich selbst aufpassen kann. Ich brauche keinen Beschützer.«
Harris’ zynisch angehobener Mundwinkel senkt sich wieder. »Ich bringe Sie zurück in die Stadt. Steigen Sie ein.«
Sein herablassender Tonfall lässt Empörung in mir aufflackern. Der Impuls, ihm zu beweisen, wie gut ich mich selbst schützen kann, wird von dem rationaleren Wunsch verdrängt, endlich nach Hause zu kommen. Ich muss darüber nachdenken, was heute Nacht passiert ist. Ich muss mit Lance darüber reden – vielleicht hat er eine Erklärung dafür, warum ein normaler Mensch einen solchen Einfluss auf mich hatte. Ich hätte Black womöglich umgebracht, wenn Harris nicht aufgetaucht wäre. Ich wollte es. Warum? Weil ich wusste, dass er ein Mörder ist?
Aber woher wusste ich das?
Wie hätte ich das wissen können? Der Blutgeruch hätte ebenso gut bedeuten können, dass er Opfer war, nicht Täter. Und dennoch hatte ich nicht den geringsten Zweifel.
Harris steht am Auto, hält mir die Beifahrertür auf, klopft mit dem Fuß auf den Boden und runzelt die Stirn wie ein verärgerter Vater, dessen Kind nicht zur vereinbarten Uhrzeit zu Hause war.
Ich muss all meine Willenskraft aufbieten, um nicht diesen Fuß zu packen und Harris auf seinen ungeduldigen Arsch knallen zu lassen.
Ich schüttele den Drang ab. Er ist ein Mensch, ein Polizist obendrein. Und ich kann die Mitfahrgelegenheit gebrauchen.
»Schon gut. Fahren wir.«
Harris setzt mich vor meinem Büro ab. Während der gesamten fünfunddreißig Minuten Fahrt beschränkte sich unsere Konversation auf Harris’ Frage, ob ich ins Büro oder nach Hause wolle. Das waren lange fünfunddreißig Minuten.
Endlich sitze ich in meinem Jaguar und bin unterwegs zu meinem Strandhaus, frei von Blacks merkwürdigem Einfluss und Harris’ nervtötender, stummer Missbilligung. Jetzt kann ich vernünftig über die Ereignisse dieses Abends nachdenken.
Die Vernunft will sich allerdings nur langsam einstellen.
Wie konnte Black einen so starken Einfluss auf mich haben? Er ist menschlich. Natürlich sind Menschen auch zu Bösem fähig – mir sind da schon so einige begegnet. Aber Black hat das Böse ausgestrahlt. So stark, dass es bei mir eine körperliche Reaktion hervorrief. Das ist eine verstörende neue Entwicklung.
Das Böse. Ein primitives Wort.
Warum habe ich das wahrgenommen? Woher wusste ich, dass er Blut vergossen hatte? Was hat mich dazu getrieben, ihn auf der Stelle töten zu wollen?
Vielleicht kann Lance mir helfen, das Rätsel zu lösen. Er ist schon viel länger ein Vampir als ich – seit siebzig Jahren. Er hat mir schon zuvor geholfen, schwierige Zeiten durchzustehen. In den vergangenen drei Monaten sind wir uns sehr nahegekommen, vor allem nach der Sache mit Williams.
Drei Monate sind vergangen, seit Williams und ich heftig aneinandergeraten sind. Es ging um den Tod von Ortiz, einen Vampir, den Williams liebte wie einen Sohn. Drei Monate sind vergangen, seit seine Frau mich bedroht hat, weil ich das Wohl eines anderen über das ihres Mannes stellte. Ich habe mich von den beiden ferngehalten und mich von der übernatürlichen Gemeinschaft zurückgezogen. Seither habe ich nur noch Verbindung zu Lance. Und zu Culebra, wenn ich trinken muss.
Ich lebe wie ein normaler Mensch. Gehe jeden Tag mit David zur Arbeit. Gehe mit Lance ins Kino. Einfache Dinge. Vor zwei Wochen bin ich sogar zum Geburtstag meiner Mutter nach Frankreich geflogen. Das war nur möglich, weil ich einen Privatjet besitze – den einzigen Teil von Averys Erbe, den ich angenommen habe. Egoistisch von mir. Avery war der erste Vampir, der mir begegnete, als ich frisch verwandelt war. Obwohl er am Ende versuchte, mich zu töten, und ich mir schwor, nichts von dem riesigen Vermögen anzunehmen, das er mir hinterlassen hatte – ein eigener Jet macht Reisen zu angenehm, um darauf zu verzichten. Vor allem, wenn man Familie in Europa hat. Keine Sorge, jemand könnte sich wundern, warum ich mich in einem dunklen Fenster nicht spiegele oder auf einem so langen Flug weder esse noch trinke oder zur Toilette gehen muss.
Der Besuch dauerte nur drei Tage – ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren. Aber es war herrlich.
Ich genieße die Illusion, menschlich zu sein. Vielleicht bringt mich das so aus der Fassung. Black hat diese Illusion heute Nacht zerstört.
Ich lenke den Jaguar in meine Garage, neben Lances silbernen Aston Martin DB9. Das Verdeck ist offen. Ich streiche im Vorbeigehen mit dem Zeigefinger über das butterweiche Leder. Ein echtes Große-Jungen-Spielzeug. Die Motorhaube strahlt noch Wärme ab, Lance muss also erst vor ein paar Minuten angekommen sein. Ich trete aus der Garage und drücke auf die Fernbedienung an meinem Schlüsselbund.
Das Tor schließt sich langsam, als ich aus dem Augenwinkel eine verschwommene Bewegung wahrnehme. Etwas stürzt sich aus der Garage heraus auf mich. Zu schnell. Ich werde voll an der Seite getroffen und umgestoßen. Rasch fasse ich mich und gewinne das Gleichgewicht zurück, aber nicht schnell genug. Ich spüre, wie die Klinge direkt unter dem Brustbein eindringt, nach oben schlitzt und über Knochen schabt. Zuerst empfinde ich keinen Schmerz, nur Überraschung.
Dann rasende Wut.
Die menschliche Anna ist verschwunden. Die Vampirin packt das Messer, ehe es noch einmal zustechen kann. Ich weiß nicht, was mein Gegner ist. Ich kann kein Gesicht sehen, nicht in den Kopf vordringen. Keine Zeit, das jetzt zu klären. Es spielt auch keine Rolle. Ich wende das Messer gegen den Angreifer, stoße es da hinein, wo es den meisten Schaden anrichten wird, und zerre es abwärts. Der Bauch reißt auf, Blut spritzt, und die Eingeweide quellen heraus.
Ein animalischer Schrei. Es versucht sich abzuwenden. Es ist nicht menschlich.
Endlich erkenne ich etwas. Ein Vampir.
Ich packe ihn und reiße ihn zurück. Warum?
Keine Antwort. Mein Blut kocht, Selbstschutzinstinkt und Wut überwältigen meine Zurückhaltung. Ich hebe das Messer und schlitze ihm die Kehle auf. Eine Blutfontäne schießt in einem Bogen quer über mein Gesicht, ehe ich den Mund auf die Wunde presse.
Ich trinke, bis ich das letzte Flattern des Lebens darin spüre.
Dann lasse ich den Körper fallen und sehe zu, wie er zu einem alten Mann verschrumpelt.
Ein Vampir.
Lance ist plötzlich bei mir, mit gebleckten Zähnen und ausgefahrenen Klauen. Er sieht den reglosen Körper am Boden. Dann schaut er mich an. Meine Hände tasten über meine Brust. Blut fließt über meine Finger. Er weiß, dass es mein Blut ist.
Er zieht mich an sich und reißt mein durchstochenes T-Shirt ganz auf. Er presst die Lippen auf die Wunde und beginnt, daran zu saugen.
Ich stöhne vor Schmerz und Genuss. Die Heilung beginnt von innen, Organe reparieren sich selbst, Zellen regenerieren sich. Lances Arme umschließen mich wie aus Stahl. Seine Aufmerksamkeit wandelt sich, sobald er sicher ist, dass es mir gutgeht. Blut – meines und das des Angreifers –, der Geruch und Geschmack, wirken wie ein Lockruf. Schrecken weicht der Lust. Sorge weicht der Begierde. Er lässt mich zu Boden sinken.
Wir zerren an unserer Kleidung herum. Beide tragen wir Jeans. Es dauert zu lange, sich da herauszuwinden. Reißverschlüsse werden auseinandergerissen, Stoff zerfetzt. Er besteigt mich voll Erleichterung und Freude. Keine geteilten Gedanken. Keine geteilte Leidenschaft.
Nur Freude.
Ein urtümliches Freudenfest. Wir feiern das Glück, dass ich eben dem Tod entronnen bin, aus dem auch ein Vampir nie mehr zurückkehrt.
Danach stemmt er sich auf die Ellbogen. »Was ist passiert?«
Ich fahre ihm mit den Fingernägeln über den Rücken. »Ich weiß es nicht. Im Augenblick ist es mir auch egal.« Ich stoße die Hüfte hoch und presse die Oberschenkel zusammen, um ihn tiefer in mich hineinzuschieben. »Darüber können wir später nachdenken. Ich bin noch nicht fertig mit dir.«
Er stöhnt und erwidert meinen Stoß. »Das hoffe ich.«
Ein Weilchen später, schon ruhiger und befriedigt, meldet sich die Vernunft zurück.
Lance setzt sich auf und blickt sich um. »Vielleicht gehen wir besser rein.«
Wir sind in meiner Einfahrt, im Schatten der Garage, aber er hat recht. Ich schaue auf die Uhr. Wir sind seit vierzig Minuten hier draußen. Allzu viel Lärm können wir nicht gemacht haben, denn ich hätte es gespürt, wenn Nachbarn sich genähert hätten, um mal nachzusehen. Trotzdem haben wir noch einen Leichnam zu entsorgen.
Wir rappeln uns auf, drücken zerrissene Kleidung an uns und spüren die kühle Luft auf der nackten Haut.
Lance deutet auf den mumifizierten Leichnam. »Was machen wir mit ihm?«
Das Messer liegt noch da, wo ich es habe fallen lassen. Blut und Eingeweide haben einen rostroten Fleck auf der Einfahrt hinterlassen. Lance verreibt Erde auf der Stelle und hebt das Messer auf. Ich packe die Leiche an einem verdorrten Arm und schleife sie durchs Tor in den Garten hinter dem Haus. Wenn ein Vampir durch den Pflock oder Feuer stirbt, zerfällt er zu Asche. Wird er ausgeblutet, nimmt sein Körper wieder die Gestalt an, die seinem menschlichen Alter entspricht. Wenn er zwanzig wäre, sieht er aus wie ein Zwanzigjähriger, bei fünfzig wie ein Fünfzigjähriger. So, wie dieser Kerl hier aussieht, muss er weit über hundert gewesen sein.
Was eine neue Frage aufwirft.
Ich ziehe das Gartentor zu und schließe es ab. Warum sollte ein Vampir mit so alter Seele mich angreifen?
Lance und ich nehmen uns Zeit, zu duschen, Blut und Dreck abzuwaschen und uns noch ein paar Minuten länger in Genuss zu aalen, statt uns mit dem Problem zu befassen, das draußen auf dem Gras liegt. Aber die Wirklichkeit lässt sich nicht ewig aussperren, und wir verlassen widerstrebend die warme Höhle meines Badezimmers, um uns anzuziehen und mit der Leiche zu befassen.
Gleich darauf stehen wir mit dampfenden Kaffeebechern in den kalten Händen in meinem Garten und schauen auf das herab, was von dem Angreifer übrig ist. Ich reiche Lance meinen Becher und bücke mich, um die Kleidung des Mannes zu durchsuchen. Er trägt ein langärmeliges T-Shirt, ein schwarzes Kapuzen-Sweatshirt, Baumwollhose und Tennisschuhe.
Keine Jacke, keine Brieftasche, kein Ausweis.
»Irgendeine Ahnung, wer er war?«, fragt Lance.
Ich richte mich auf und schüttele den Kopf. »Keinen Schimmer. Ich habe in letzter Zeit niemanden schwer verärgert. Jedenfalls nicht, dass ich wüsste.« Ich werfe einen Blick zur Garage. »Er kam von da. Vielleicht wollte er dein Auto stehlen?«
Lance schnaubt. »Er kann nicht sehr clever gewesen sein, wenn er es auf mein Auto abgesehen hatte. Das Ding hat so viele Diebstahlsicherungen, dass es praktisch alles tut, außer sich selbst in die Luft zu sprengen, wenn jemand daran herummacht. Außerdem – wenn er schon in der Garage war und du ihn nicht gesehen hast, warum hat er dann nicht einfach gewartet, bis du weg warst?«
»Ich habe ihn nicht nur nicht gesehen, ich habe ihn auch nicht gespürt. Nicht vorher, nicht während des Kampfes und auch nicht hinterher, als ich ihn ausgeblutet habe.«
»Er hat sich gegen dich abgeschirmt«, erklärt Lance. Er hält mir meinen Becher hin.
»Bis zum bitteren Ende«, entgegne ich und nehme den Kaffee.
Lance stößt die Luft aus. »Habt du und David in den nächsten zwei Tagen einen Auftrag anstehen?«
Ich schüttele den Kopf.
Die Sonne beginnt den Himmel heller zu färben. Er blickt mit zusammengekniffenen Augen hinauf.
»Machen wir einen Ausflug«, sagt er.
»Wohin?«
»Zu meinem Haus in Palm Springs. Wir können diese Mumie unterwegs irgendwo in der Wüste begraben. Und das Wochenende drüben verbringen.«
»Ich hole ein Laken.«
Lance folgt mir nach drinnen. »Und wir fahren mit deinem Auto.«
Als ich fragend eine Augenbraue hochziehe, setzt er hinzu: »Der Jaguar hat den größeren Kofferraum.« Doch seine Gedanken sagen: Eine vergammelte Leiche kommt mir auf keinen Fall in den Aston Martin.
Die Fahrt durch die Wüste am frühen Julimorgen ist einsam und still. Bei Temperaturen von jetzt schon knapp unter dreißig Grad wagen sich nur wenige Leute hinaus. Vampiren können die jedoch nichts anhaben, was Lance und mir erlaubt, mit offenem Verdeck zu fahren und unsere Knochen in der heißen Sonne backen zu lassen.
Ich fahre. Wir nehmen die Interstate 15 zum Highway 74 – die landschaftlich schönste Strecke, denn die Straße windet sich in Haarnadelkurven die Santa Rosa Mountains hinauf. Dies ist die Landschaft der Klapperschlangen und Kojoten, wüst und einsam, aber schön auf ihre Art.
Wir beschließen, an einer Kreuzung vom Highway auf einen nicht markierten Feldweg abzubiegen. Im Herbst und Winter ist das hier ein beliebter Spielplatz für Geländewagenfahrer. Im Sommer huschen oder schlängeln die einzigen Besucher außer uns hastig davon, wenn sie das Auto kommen hören.
Wir fahren meilenweit in die Wüste hinaus. Die unbefestigte Straße ist so viel befahren, dass der Jaguar kein Problem damit hat. Fünfzehn Kilometer vom Highway entfernt halten wir an. Von hier aus werden wir zu Fuß gehen müssen, wenn wir unseren staubtrockenen Freund so begraben wollen, dass er nicht gleich gefunden wird, sobald die Wüste im Herbst wieder zum Allrad-Parcours wird.
Lance wirft sich den eingewickelten Leichnam über die Schulter. Ich schnappe mir Hacke und Spaten, und wir gehen los, in Richtung einer Gruppe von Felsen in der Ferne. Bisher haben wir schweigend das Geräusch des Wüstenwindes genossen, seinen Duft, das Gefühl, wenn er über unsere Gesichter streicht, und das kehlige Schnurren meines Jaguars in der Stille. Doch jetzt spüre ich Lance sacht in meinen Kopf vordringen.
Was sollen wir wegen diesem Kerl unternehmen?
Ich runzele die Stirn. Abgesehen davon, dass wir ihn verscharren? Ich weiß nicht. Was denkst du? Immerhin wäre es möglich, dass er es doch auf dein Auto abgesehen hatte. Vielleicht war er nur ein Dieb.
Ein Schnauben. Wenn er das Haus auch nur ein Weilchen beobachtet hat, wusste er, dass wir Vampire sind. Nicht gerade schlau, die eigenen Leute beklauen zu wollen.
Vielleicht war er verzweifelt und hat darin eine Möglichkeit gesehen, schnell an viel Geld zu kommen.
Lance schüttelt den Kopf. Er war eine alte Seele. Selbst wenn er noch nichts von Zinseszins gehört hätte, wäre er nie in eine so verzweifelte Lage geraten, dass er hätte stehlen müssen. Er hätte einen Menschen dazu verführt, ihn auszuhalten.
Mir sind die Ausreden ausgegangen. Lance verzichtet auf die logische Schlussfolgerung und lässt den Gedanken stattdessen einfach zwischen uns fallen. Da liegt er nun, bis ich ihn aufnehme und das in Worte fasse, was wir beide denken.
»Was bedeutet, dass er doch kein Autodieb war. Er hatte es auf mich abgesehen.«
Das laut auszusprechen, versetzt mich auf der Stelle zurück in den Alptraum von Ortiz’ Tod und Williams’ Drohung. Außer Williams fällt mir niemand ein, der mich so sehr hasst, dass er mich tot sehen will. War das ein Versuch, seine Drohung wahr zu machen?
Lance liest meine Gedanken. Warum jetzt? Seit dem Brand sind drei Monate vergangen. Und warum sollte er jemanden schicken, um etwas zu tun, das er sicher selbst erledigen will?
Beides gute Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Ich zucke wegwerfend mit den Schultern und blicke mich nach einer geeigneten Grabstelle um. Wir sind mindestens fünfzehn Kilometer weit vom Auto weg. Der Wind pfeift in meinen Ohren und peitscht mir das Haar ins Gesicht. Ich will das endlich hinter mich bringen.
»Begraben wir ihn hier.«
Lance lässt den Leichnam fallen und greift zur Spitzhacke.
Selbst Vampirkräften gibt der felsige Boden unter unseren Füßen nicht so leicht nach. Lance und ich brauchen eine Viertelstunde, um ein Loch zu graben, das lang und tief genug ist. Wir wollen doch nicht, dass sich irgendein Aasfresser dieses gut durchgetrocknete Stück Vampir-Jerky als mitternächtlichen Snack ausbuddelt. Kein Wunder, dass es den Motorradrockern lieber war, Curly Tom David und mir zu überlassen. Sie wussten, dass es gar nicht so einfach ist, in der Wüste eine Leiche loszuwerden.
Aber immerhin lenkt uns die Anstrengung von dem Rätsel ab, warum der Kerl mich umbringen wollte.
Als wir das Grab wieder aufgefüllt haben, häufen wir Steine obendrauf – eine dezente kleine Pyramide für unsere Mumie. Wir sind beide mit Staub bedeckt. So gut wie möglich klopfen wir uns ab und joggen zum Auto zurück. Ich habe ein Handtuch und ein paar Flaschen Wasser im Kofferraum. Damit waschen wir uns den schlimmsten Staub von Gesichtern und Händen.
Dann streckt Lance die Hand nach dem Autoschlüssel aus. »Soll ich fahren?«
Ich werfe ihm den Schlüssel zu, und er setzt sich ans Steuer. »In etwa einer Stunde sind wir da.«
Ich lehne den Kopf an die Kopfstütze und genieße die Aussicht. Vor drei Stunden haben wir Mission Beach verlassen. Wir sind etwa auf halbem Wege nach Palm Springs und winden uns weiter durch den San Bernardino National Forest. Die Sonne steht hoch am Himmel, und die Hitze ist Balsam für meine Seele. Mir wird klar, dass der Angriff mich von dem Thema abgelenkt hat, das ich gestern Abend eigentlich mit Lance besprechen wollte – meine seltsame Reaktion auf Black.
Ich werfe einen Blick auf Lance und taste sacht nach seinen Gedanken. Er überlegt, wo er heute Abend mit mir hingehen soll. Da ist eine Bar, von der er glaubt, ich könnte sie interessant finden. Und Freunde, die er mir vorstellen will. Angenehme, alltägliche, ganz normale Dinge.
Ich warte lieber noch.
Während der kurzen Zeit, die ich mit Lance zusammen bin, habe ich ein paar Dinge gedankenlos hingenommen. Womit er sein Geld verdient, beispielsweise. Er ist Model. Diese tollen Wangenknochen und ein straffer Körper machen ihn zum Naturtalent sowohl für Fotoaufnahmen als auch für den Laufsteg, und seit es Digitalkameras gibt, braucht er sich auch keine Gedanken mehr wegen verzerrter (oder nicht vorhandener) Vampir-Bilder auf Fotofilm zu machen. Er fliegt ständig zu irgendwelchen Fotoshootings oder Modenschauen. Ich weiß genug über die Welt der Mode, um mir darüber im Klaren zu sein, dass ein Topmodel wahnsinnig gut verdient. Daher das Haus in Malibu und dieses zweite in Palm Springs, von dem er oft gesprochen hat, das ich aber noch nie gesehen habe.
Wir sind vom Highway 74 auf den 111 abgebogen – in dieser Gegend als East Palm Canyon Drive bekannt. Das ist die lange, vielbefahrene Verkehrsader, die all die vielen kleinen Gemeinden um Palm Springs miteinander verbindet. Edelboutiquen, Restaurants, Resorts und Country Clubs gleiten in einer nahtlosen Reihe an mir vorüber. Die breite Hauptstraße ist von Palmen und Eichen gesäumt. Eine schroffe Bergkette, die Little San Bernardino Mountains, bildet den Hintergrund. Selbst in der gleißenden Sommersonne hat dieser Ort eine exotische Schönheit.
Unser Auto ist das einzige mit offenem Verdeck. Die meisten Leute, die an uns vorbeifahren, kauern bei voll aufgedrehter Klimaanlage hinter festverschlossenen Fenstern, um sich vor der glutheißen Wüstenluft zu schützen.
Lance bremst den Jaguar vor der Zufahrt zu einer bewachten Wohnanlage mit einem schlichten Schild an der Ziegelmauer. Thunderbird Cove. Ein uniformierter Wachmann verlässt seinen klimatisierten Posten in dem steinernen Torhaus und nähert sich dem Wagen. Er tippt sich an den Hut und lächelt, als er Lance erkennt, und die Torflügel öffnen sich, als teilte sich vor uns das Rote Meer.
Auf dem Straßenschild dahinter steht Evening Star Drive.
Allmählich dämmert mir, dass zu Lances Geschichte mehr gehören könnte als ein Luxusleben, geschaffen von tollen Wangenknochen.
Der Evening Star Drive schlängelt sich zurück in Richtung Berge. Nur die diskreten Hausnummern an Briefkästen identifizieren Privatresidenzen so groß wie ganze Hotels. Ich zähle zwölf Anwesen, ehe wir vor dem letzten halten – einem Schlösschen, das aussieht, als wäre es Stein für Stein aus dem mittelalterlichen Europa hierher transportiert worden. Es reicht vier Stockwerke hoch in den Himmel, gekrönt von Türmchen und einem Ausguck. Das Einzige, was fehlt, ist der Burggraben.
Lance biegt in die Auffahrt ab, fischt einen Schlüsselbund aus der Tasche und drückt auf eine Fernbedienung. Ein Teil einer Wand gleitet in die Höhe und enthüllt eine Garage dahinter. Er fährt den Jaguar hinein und stellt den Motor ab.
»Schatz«, sagt er, »wir sind zu Hause.«
Lance geht voran zu einer Tür am Ende der Garage, die Platz für drei Wagen bietet. Neben meinem Jaguar steht ein kleiner Oldtimer, ein MG Roadster. Er schimmert unter einem Staubschutz aus hauchzartem Musselin. Noch so ein Jungenspielzeug.
Und dann ein lindgrüner Prius. Ein Hybridwagen? Nicht unbedingt das typische Fortbewegungsmittel für Lance.
Die Tür zum Haus öffnet sich, ehe wir sie erreichen. Eine kleine, zierliche Frau schießt heraus. Sie trägt einen langen Rock mit Paisley-Muster und eine weiße Baumwollbluse, in der Taille geknotet. Ihr honigblondes Haar ist mit einem Kamm zurückgesteckt. Sie ist barfuß, und das ökologische Naturbewusstsein strahlt ihr aus allen Poren.
Der Prius.
Sie stößt ein Quietschen aus und stellt sich auf die Zehenspitzen, um Lance zu umarmen. »Ich freue mich so, Sie zu sehen, Rick. Ich habe Sie vermisst.«
Rick?
Lance lacht und erwidert die Umarmung. »Sie haben mir auch gefehlt, Adele.« Er schiebt sie sacht von sich und greift nach meiner Hand. »Das ist Anna, sie wird ein paar Tage bei uns zu Gast sein. Anna, das ist Adele. Eine liebe Freundin.«
Adele errötet. Äußerlich würde ich sie auf Mitte vierzig schätzen. Lachfältchen knittern um ihre Augen und umrahmen ihren Mund. Doch ihre Ausstrahlung wirkt wesentlich älter. Ich forsche nach, spüre aber keinerlei übernatürliche Präsenz. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie ein gewöhnlicher Mensch ist. Meine Sinne sind automatisch in Alarmbereitschaft.
»Rick ist zu liebenswürdig«, sagt sie. »Ich bin die Haushälterin. Wenn ich irgendetwas tun kann, um Ihnen den Aufenthalt hier angenehmer zu machen, zögern Sie bitte nicht, es mir zu sagen.«
Sie mustert mich mit prüfendem Blick. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, hat sie die Hand gehoben und berührt mein Gesicht. »Sehr gute Züge, feine Knochen. Sind Sie auch Model?«
»Das könnte sie sein«, antwortet Lance und legt mir einen Arm um die Schulter. »Aber ihr Beruf ist viel aufregender. Sie ist Kopfgeldjägerin.«
Adele macht große Augen. »Wie Dog Chapman? Die Serie schaue ich mir immer im Fernsehen an.«
Lance schiebt uns alle in Richtung Tür. »So ist es. Sie schnappt böse Jungs, genau wie der Dog.«
»Äh – nicht genau so.« Die Vorstellung, Adele könnte mich für einen weiblichen Dog halten, der die Bibel zitiert und Kautionsflüchtigen Vorträge über ein anständiges Leben hält, ist absurd. Und David wäre dann wer? Dogs ordinäre, wasserstoffblonde Frau? Das ist mal ein ulkiges Bild.
Was da zwischen Lance (oder Rick?) und dieser zierlichen Frau hin und her fliegt, macht mich wirr im Kopf. Sie strahlt einen heftigen Beschützerinstinkt aus. Das Ganze hat eine Geschichte, und ich kann es kaum erwarten, sie zu hören.
Lance lächelt auf mich herab. Das wirst du.
Adele geleitet uns durch den Eingang in eine Küche von der Größe Rhode Islands. Wir gehen weiter – durch ein Esszimmer, das größer ist als das gesamte Erdgeschoss meines Hauses, und ein Wohnzimmer mit gläsernen Wänden und Blick auf einen Swimmingpool, bis sie schließlich eine weitere Tür öffnet und uns mit einer Geste hereinbittet.
»Sie sind sicher müde von der Fahrt. Ich habe Ihnen schon etwas zu trinken bereitgestellt. Rick, Sie haben mehrere Telefonnachrichten auf dem Schreibtisch. Die Jungs sind übers Wochenende in der Stadt. Sie feiern heute Abend eine Party im Melvyn’s.« Sie neigt den Kopf zur Seite und mustert mich von oben bis unten. »Ich hoffe, Sie haben Abendgarderobe mitgebracht, Anna.«
Ein weiterer abrupter Themenwechsel, der mich aus der Spur wirft. Sie rattert wie ein abfahrender Zug, und ich muss nebenherrennen, um ihn nicht zu verpassen. »Abendgarderobe?« Außer der Jeans, die ich trage, habe ich nur noch zwei Shorts und ein paar T-Shirts dabei.
Adele stürmt mit einer wegwerfenden Geste weiter voran. »Macht nichts. Sie tragen was – Größe sechsunddreißig? Ich rufe Stephen an. Zum Glück scheinen Sie ein Armani-Typ zu sein – gute Schultern, schmale Taille. Ich lasse ihn ein paar Outfits herüberbringen, die Sie anprobieren können. Dann Ihre Schuhgröße, neununddreißigeinhalb? Vierzig? Er soll auch eine Auswahl Jimmy Choos mitbringen – oder wäre Ihnen Blahnik lieber?«
Lance tritt zu Adele, nimmt sie beim Arm und dreht sie sanft zur Tür herum. »Entscheiden Sie das ruhig. Anna und ich spülen uns jetzt erst einmal den Straßenstaub aus der Kehle und ruhen uns ein bisschen aus, ehe ich irgendjemanden zurückrufe. Würden Sie bitte dafür sorgen, dass wir nicht gestört werden?«
Adele nickt lächelnd und wirft uns zum Abschied einen belustigten Blick zu. Lance schließt die Tür, dreht einen imaginären Schlüssel herum und nagelt ein imaginäres Brett davor, ehe er sich zu mir umdreht und sich mit der Hand über die Stirn wischt. »Puh. Endlich allein.«
Ich weiß kaum, welche Frage ich zuerst stellen soll. Ich entscheide mich für »Wer zum Teufel ist Rick?«