Gespenster-Krimi 148 - Frank DeLorca - E-Book

Gespenster-Krimi 148 E-Book

Frank DeLorca

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Auf dieser Seite müssen Sie hinaussehen«, hörte Carlo Nobile plötzlich die krächzende Stimme der geisterhaften Alten, die ihm gegenübersaß.
Der Orient-Express rollte donnernd über einen hohen Viadukt. Tief unten im gähnenden Abgrund der Teufelsschlucht leuchtete im fahlblauen Licht ein Totenschädel, der auf zwei übereinander gekreuzten Knochen lag ...
Im gleichen Augenblick, als Carlo das Schreckensbild wahrnahm, ertönte aus dem Nachbarabteil ein gellender Schrei. Ein Schatten, dunkler als die Nacht draußen vor dem Abteilfenster, huschte blitzschnell vorüber ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 141

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Das Phantom im Orient-Express

Vorschau

Impressum

Das Phantomim Orient-Express

Von Frank deLorca

»Auf dieser Seite müssen Sie hinaussehen«, hörte Carlo Nobile plötzlich die krächzende Stimme der geisterhaften Alten, die ihm gegenübersaß.

Der Orient-Express rollte donnernd über einen hohen Viadukt. Tief unten im gähnenden Abgrund der Teufelsschlucht leuchtete im fahlblauen Licht ein Totenschädel, der auf zwei übereinander gekreuzten Knochen lag ...

Im gleichen Augenblick, als Carlo das Schreckensbild wahrnahm, ertönte aus dem Nachbarabteil ein gellender Schrei. Ein Schatten, dunkler als die Nacht draußen vor dem Abteilfenster, huschte blitzschnell vorüber ...

Carlo Nobile, einen schicken Aktenkoffer in der Hand, ging gemächlich an der langen Wagenreihe entlang, obwohl der Zeiger der Bahnsteiguhr schon auf drei Minuten nach sieben stand. Um 19:05 fuhr der Orient-Express von Bukarest-Nord ab, und er pflegte pünktlich abzufahren.

Weit vorn stieß die Lok mächtige Rauchwolken aus dem Schornstein. Carlo fand es äußerst romantisch, wieder einmal in einem Dampfzug zu fahren, obwohl man die Fenster wahrscheinlich geschlossen halten musste. So etwas gab es fast nur noch in osteuropäischen Ländern.

Der Mann mit der roten Mütze hielt die Signaltafel zum Hochheben bereit in der Hand, und der Zugführer, die Trillerpfeife schon im Mund, mahnte den Fahrgast mit der Bierruhe in gebrochenem Französisch: »Einsteigen, Monsieur – wir fahren sofort ab!«

Carlo nickte ihm freundlich zu. Obwohl das Ausfahrtsignal schon auf grün stand, ging er noch gute fünfzig Meter weiter, bis er an den rumänischen Wagen vorbeigekommen war und einen französischen Waggon erster Klasse entdeckt hatte.

Zugleich mit dem ersten Pfeifsignal stieg er ein, und als er die Tür hinter sich zugeknallt hatte, setzte sich der Zug in Bewegung.

Der Name Orient-Express war eigentlich für diesen Zug, der von Bukarest über Budapest, Wien und München nach Paris fuhr, etwas übertrieben. Er hatte nach dem Krieg seinen früheren Namensvetter, die berühmte Verbindung Istanbul-Paris, abgelöst. Aber eine gewisse Romantik war trotzdem geblieben, vor allem auf den Balkanstrecken, weil er dort noch mit Dampf wie einst betrieben wurde.

Eigentlich hätte Carlo Nobile eine Platzkarte lösen müssen. Aber er hatte nicht vor, den Orient-Express über Ländergrenzen hinweg zu benutzen, sondern seine Fahrkarte galt nur bis hinauf zur Bergstation Predeal in den Karpaten. Da würde sich wohl noch ein Plätzchen finden lassen.

Das erste Abteil war bereits voll mit einer Gruppe Ungarn, die eine Flasche Aprikosenschnaps kreisen ließen und sich lautstark unterhielten. Aber das nächste Abteil war fast leer. Bis auf zwei Fahrgäste, die einander am Fenster gegenübersaßen.

Carlo Nobile blieb unschlüssig vor der Abteiltür stehen, als er das bildhübsche aschblonde Mädchen mit den großen dunklen Augen sah. Sie hatte lässig die Beine übereinandergeschlagen, was ihre etwas üppigen Formen ganz besonders zur Geltung brachte. Die Proportionen stimmten haargenau, stellte Carlo fest. Und der Blick ihrer Augen drang unwillkürlich irgendwo dahin, wo Nobile seine Seele vermutete. Verdammt tief jedenfalls.

Carlo Nobile war ein blendend aussehender junger Mann. In seinem sandfarbenen Zweireiher, der sofort einen klassischen römischen Couturier verriet, hätte er mit dem Begleiter des Mädchens sicher mühelos konkurrieren können.

Aber gerade dieser Mann war es, der Nobile davon abhielt, das Abteil zu betreten. Er trug einen dunklen Anzug, hatte schlecht gekämmte schwarze Haare und einen buschigen Schnurrbart. Seine unruhig flackernden Augen hefteten sich mit einem Blick voll Ablehnung auf den Mann draußen im Gang. Das sah schon fast gehässig aus, und der Kerl schien ständig von einem schlechten Gewissen geplagt zu sein. Nobile hatte genügend Erfahrungen mit solchen Physiognomien hinter sich, um das zu erkennen.

Schließlich ging er weiter. Der Bursche war viel zu alt für dieses reizende Kind, dachte er bitter. Aber es war sinnlos, einen Flirt zu riskieren. Nicht, dass Nobile Angst vor dem Schwarzbärtigen gehabt hätte – so etwas kannte er zum Glück kaum. Aber er hatte diesen Zug absolut nicht zu dem Zweck bestiegen, um einen Flirt anzuzetteln, der nach ein paar Stunden jäh beendet sein würde.

Im nächsten Abteil saß allein eine alte Dame mit blaugetönten Silberlöckchen und einem nicht mehr sehr neuen Strohhut von ähnlicher Farbe.

Carlo Nobile trat ein und erkundigte sich auf Französisch nach einem freien Platz. Diese Sprache wurde von allen gebildeten Rumänen verstanden, und auch die alte Dame nickte freundlich.

Carlo Nobile setzte sich in die schräg gegenüberliegende Ecke und legte seinen Aktenkoffer neben sich auf das Polster. Er betrachtete die Frau verstohlen und war sich lange nicht klar darüber, was ihn an ihr so faszinierte. Sie trug ein reichlich altmodisches Kleid, das vor fünfzig oder noch mehr Jahren bestimmt sehr teuer gewesen sein musste. Geld schien die Alte auch heute noch zu haben, denn an ihren verrunzelten Fingern blitzte es nur so von Diamanten und Rubinen.

Alte Damen hatten es manchmal an sich, nicht mit der Mode zu gehen. Aber das Kleid, das sie trug, war schon immer für eine ältere Person geschneidert worden, und vor fünfzig Jahren war diese Frau doch noch keine ältere Person gewesen. Hatte sie das Kleid geerbt?

Ihr Gesicht war fast faltenlos und wirkte dennoch wie das einer Hundertjährigen. Besonders auffallend daran war die leichenhafte, strahlende Blässe und der starre, wie erstorbene Blick der schwarzen Augen. Trotzdem wirkte die Dame keineswegs hexenhaft, sondern wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Außerdem fiel Nobile auf, dass sie keinerlei Gepäck bei sich führte. Nicht einmal eine Handtasche.

Irgendwie kam ihm die Frau nicht ganz geheuer vor.

Aber da sie weiter keine Notiz von ihm nahm und zum Fenster hinausstarrte, wandte er sich ab und tat auf seiner Seite das Gleiche. Er musste sich mit dem Korridorfenster begnügen, aber es störte ihn nicht, dass auch noch die Glasscheibe der Abteiltür dazwischen lag.

Bis der Zug unter Volldampf kam, zogen dicke schwarze Rauchschwaden draußen vorbei, die sich aber bald verflüchtigten. Ketten schmutziggrauer Vorstadthäuser wichen allmählich dem freien Land der Walachei mit endlosen Wiesen und Feldern.

Carlo Nobile zündete sich eine Zigarette an, nachdem er sich vergewissert hatte, dass er in ein Raucherabteil geraten war.

Da fühlte er die dunklen Augen seiner seltsamen Mitreisenden starr auf sich gerichtet. Als er das Feuerzeug ausgeknipst hatte, stellte er fest, dass dieser Blick nicht missbilligend war, sondern eher auffordernd. Soweit man in diesem hundertjährigen Augen überhaupt so etwas wie einen bestimmten Ausdruck ablesen konnte.

»Italienische Zigaretten, nicht wahr, junger Mann?«, fragte die alte Dame mit einer dunklen, hohlklingenden Stimme. »Die habe ich früher auch gerne geraucht.«

Sie hatte italienisch gesprochen, und zwar so vollkommen akzentfrei, dass Nobile davon überzeugt war, das müsse ihre Heimatsprache sein. Er bot ihr einen Glimmstängel an, und sie nahm dankend an.

»Sie sind wohl Italienerin, gnädige Frau?«, fragte er, als er ihr Feuer gab.

War es nur Einbildung, oder war die Alte wirklich von einer fühlbaren Kältewelle umgeben? Er fror beinahe, als er sich zu ihr hinüberbeugte, und zog sich unwillkürlich gleich wieder in seine Ecke zurück.

Sie stieß den Rauch genießerisch aus der schmalen, schneeweißen Nase und nickte.

»Ist das auch Ihre Heimat, Signore?«, fragte sie dann.

»Ja und nein«, sagte Nobile zögernd. »Ich habe italienisches Blut in den Adern und sehr lange dort gelebt.«

Jetzt lächelte die Frau. Ihre Zähne waren so weiß wie ihr Gesicht, aber in dem Lächeln lag keine Spur von Wärme.

»Was heißt in Ihrem Alter schon sehr lange, junger Mann?«, kam es dumpf zwischen den blutleeren Lippen hervor. »Ich habe über zwanzig Jahre in Rom gewohnt, bevor ich nach Rumänien kam. Dort wurde ich Hofdame bei König Carol und später bei Madame Lupescu, bevor ich Gräfin Tiriac wurde. Aber das ist alles lange vorbei.«

Carlo Nobile war in der rumänischen Geschichte nicht sehr bewandert, aber von dem berühmten Skandal Carlos II. mit dieser Madame Lupescu hatte er immerhin gehört. Das konnte vor gut fünfzig Jahren gewesen sein.

»Und wo leben Sie heute, Contessa?«, fragte er interessiert.

»Überall und nirgends«, antwortete sie tonlos. »Nennen Sie mich nicht Contessa, junger Mann. Das ist längst vorbei, und man hat mir nichts gelassen als totes Gold. Auch das wollen sie noch haben, die Mörder – aber sie werden es nicht bekommen. Das Schicksal wird sie ereilen, einen nach dem anderen – der Fluch der bösen Tat.«

War die Alte geistig schon ein bisschen hinüber?, dachte Carlo unwillkürlich. Aber sie rauchte ganz gelassen, inhalierte jeden Zug und sah ihn plötzlich durchdringend an.

»Haben Sie sie im Nebenabteil gesehen?«, fragte sie schrill. »Meinen Neffen und meine Enkelin.«

»Aber – warum sitzen Sie dann so allein, Signora?«, erkundigte er sich stockend.

»Ich existiere für sie nicht mehr«, kam die dumpfe Erklärung.

Es wurde langsam dunkel draußen vor den Fenstern, und als jetzt der Zugschaffner ins Abteil kam, schaltete er das Licht ein. Er musste dieselbe Empfindung ungewöhnlicher Kälte haben wie Carlo, denn er betastete die Heizung und schüttelte nur leise den Kopf, als er sie voll intakt fand. Die alte Dame holte aus einer Falte ihres Rüschenkleides das Ticket. Leider gelang es Carlo nicht, einen Blick darauf zu werfen.

»Sie müssen ein bewegtes Leben hinter sich haben«, versuchte er den Gesprächsfaden weiterzuspinnen, als der Schaffner wieder verschwunden war.

»Eine lange Geschichte, ja«, antwortete die Alte und drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher. »Aber heute nichts mehr davon, Signore. Ich bin zu müde. Wir werden uns sicher wieder hier treffen, denn Sie fahren nicht zum letzten Mal mit diesem Zug. Nur warne ich Sie – Sie werden dem Phantom nicht gewachsen sein.«

Carlo Nobile horchte bestürzt auf.

Aber es war sinnlos, weiterzureden, auch wenn seine Neugier jetzt verdammt angestachelt war. Die alte Dame hatte die Augen geschlossen und lehnte in ihrer Ecke wie eine Tote.

Hinter den Ölfeldern von Ploesti führte die Bahnstrecke aufwärts zwischen die dunklen Bergmassive der Südkarpaten. Der Zug stampfte und schlingerte. Als die Lichter von Sinaia draußen vorbeigezogen waren, starrte Carlo gebannt zum Fenster hinaus. Er hatte die Abteiltür geöffnet, um besser ins Dunkel sehen zu können. Jetzt musste der entscheidende Teil der Strecke kommen.

»Auf dieser Seite müssen Sie hinaussehen, junger Mann«, hörte er plötzlich die Stimme der Alten. Sie war hellwach und deutete aus dem Fenster. Ein irres Lachen begleitete ihre Worte.

Carlo wandte sich auf die andere Seite und prallte zurück.

Der Orient-Express rollte donnernd über ein hohes Viadukt. Tief unten im gähnenden Abgrund einer Bergschlucht leuchtete in fahlblauem Licht ganz deutlich ein Totenschädel, der auf zwei gekreuzten Knochen lag.

Gleichzeitig ertönte ganz nah der gellende Schrei einer Frauenstimme, der Carlo durch Mark und Bein fuhr. Etwas wie ein Schatten, noch dunkler als die schwarze Nacht, huschte blitzschnell draußen am Fenster vorüber ...

Der Zug bog in eine der zahlreichen Kurven, die hinauf zum Predealpass führten.

Carlo Nobile knallte neben der leblosen Alten mit dem Kopf hart gegen die Fensterscheibe. Das brachte ihn zur Besinnung. Mit einer Hand krampfte er sich im Gepäcknetz fest, mit der anderen ließ er das Schloss seines Aktenkoffers aufschnappen und angelte sich die Beretta heraus. Dann riss er die Abteiltür, die halb zugefallen war, wieder ganz auf und stand heftig atmend im Korridor. Hier brannten nur ein paar schwache Deckenlampen.

Als er die Tür des Nachbarabteils zurückschob, donnerte ihm ein Inferno entgegen. Das Fenster war heruntergelassen. Noch ratterte der Zug im Schneckentempo über den Viadukt, und die Felsmassive ringsum warfen das Geräusch mit verstärkter Wirkung zurück. Dazwischen ertönte das angestrengte Brüllen der Dampflok, von gellenden Pfiffen unterbrochen. Der Fahrtwind schüttelte die staubigen Vorhänge.

Nur ganz nebenbei bemerkte Carlo, dass das hübsche Mädchen bewusstlos auf den Polstern lag. Und dass ihr Begleiter nicht mehr im Abteil saß.

Carlos Blick wurde von einem entsetzlichen weißen Gesicht gefesselt, das ihm aus dem offenen Fenster entgegenstarrte. Ein kahlköpfiger Kerl in dunkler Kleidung mit hochgestelltem Vatermörder und schwarzer Krawatte hing da draußen, klammerte sich mit langen, gespenstischen Knochenfingern an dem heruntergelassenen Fenster fest. Die tiefliegenden Augen in dem entsetzlich zerfurchten Gesicht glotzten Carlo mit einem mörderischen Ausdruck entgegen.

Nobile sah mit einem Gefühl tödlichen Grauens, wie sich die Spinnenfinger lösten und ein langer, dürrer Arm ins Innere des Abteils griff, direkt in Richtung des ohnmächtigen Mädchens.

Da zog der junge Mann durch.

Der Knall der Beretta war vor der donnernden Geräuschkulisse kaum zu hören. Der Kahlkopf mit dem bleichen Gesicht zuckte zusammen und verschwand.

Carlo Nobile stürzte zum Fenster. Jetzt endlich hatte der Zug den langen, bogenförmig verlaufenden Viadukt passiert. Ganz tief unten schimmerte das beinfarbene Licht des Totenschädels noch immer.

Dann verschlangen die wild aufragenden schwarzen Felstürme das schauerliche Bild. Von dem Kahlkopf war nichts mehr zu entdecken. Er musste in die Schlucht gestürzt sein, dachte Carlo Nobile und steckte die Pistole ein.

Trotzdem glaubte er nicht ganz daran. Er hatte ihn nicht fallen sehen – nach dem zweiten Schuss war lediglich der Spinnenarm blitzschnell zurückgezuckt. Carlo sah auch nicht mehr, wie sich die andere Hand vom Fenster gelöst hatte. Der Kerl war spurlos in der finsteren Nacht verschwunden.

Das Phantom, erinnerte sich Carlo bitter.

Beizender Rauch von der Lok drang ihm in die Augen, und der kühle Fahrtwind zerzauste sein Haar. Er schob das Fenster hoch.

Zwar fuhr der Zug so langsam über die Hochbrücke, dass es einem sportlich geschulten Mann hätte gelingen können, das offene Fenster im Sprung zu erreichen. Aber wozu? Um das Mädchen zu entführen? Und wer hatte das Fenster geöffnet? Wo war der finster aussehende Begleiter der jungen Dame?

Lauter brennende Fragen.

Nur einen Moment überlegte Carlo Nobile, ob er die Notbremse ziehen sollte. Vielleicht lag der Tote irgendwo auf der Brücke. Aber die Gewalt der Schüsse musste ihn in den Abgrund geschleudert haben.

Carlo setzte sich neben das Mädchen. Sie war ganz einfach auf ihrem Sitz umgesunken, wahrscheinlich vor Schreck ohnmächtig geworden. Ihr Rock war hochgerutscht und gab den Blick auf verführerische Beine frei. Fast noch ein wenig mehr.

Carlo hatte keinen Taschenspiegel bei sich, mit dem er hätte prüfen können, ob sie überhaupt noch atmete. Jähe Besorgnis erfasste ihn um dieses wunderschöne Geschöpf, als er ihr Handgelenk ergriff und vergebens nach Pulsschlägen fühlte.

Es blieb nichts anderes übrig. Er knöpfte ihr die Bluse auf, tastete unter einem Busen, der ihn in anderer Situation in heißeste Glut versetzt hätte, verzweifelt nach dem Herzschlag. Sie trug einen raffinierten schwarzen Büstenhalter, der nur aus hauchdünnen Spitzen bestand. Im Moment war ihm das gleichgültig.

Er atmete auf. Ganz, ganz leise spürte er den Herzschlag.

Nicht zum ersten Mal hatte er sich mit Mund-zu-Mund-Beatmung versucht. Er presste seinen Mund auf ihre kalten, schon leicht bläulich gefärbten Lippen. Wenn der Halbwilde mit dem Schnurrbart, der sicher nur auf die Toilette gegangen war, jetzt zur Tür hereinkäme, würde es wohl eine nicht nur verbale Auseinandersetzung geben, wusste Carlo Nobile.

Aber niemand kam.

Nach vielleicht zwei Minuten schlug das Mädchen die Augen auf. Noch nie hatte Nobile in seinem Leben schönere Augen gesehen. Noch waren sie leicht verschleiert. Dann aber sahen sie ihn voll an. In Zentimeternähe sah er die schreckliche Angst, die sie erfüllte. Dann kam der Zorn. Mit der geballten Kraft ihres jungen Körpers stieß sie den Mann von sich, dass er auf das Sitzpolster gegenüber prallte.

Hoch aufgerichtet saß sie ihm jetzt gegenüber. Dann sah sie ihre geöffnete Bluse.

»Sie erbärmlicher Schuft!«, fuhr sie ihn an und knöpfte rasch die Bluse wieder zu. »Sie haben meinen Zustand ausgenutzt – ich bin wohl zu zeitig wieder zu mir gekommen, wie?«

Fast hätte er über ihren Ausbruch lachen müssen. Seine Freude über die blitzartige Rückkehr ihrer Handlungsfähigkeit war zumindest aufrichtig. Aber da gab es natürlich auf beiden Seiten einige Fragen.

»Ich habe mich nur darum bemüht, Mademoiselle, dass Sie wieder zu sich kamen, und sonst gar nichts«, verteidigte er sich mit einem gezwungenen Lächeln. »Vielleicht sind Sie so freundlich, mir zu erklären, was hier passiert ist?«

Sie schien noch nicht ganz zu begreifen. Denn sie starrte ihn immer noch wutentbrannt an.

»Nichts werde ich Ihnen erklären, Sie ... Voyeur«, zischte sie und sah in ihrem Zorn unheimlich reizend aus. Jetzt kam sie endlich auf die Idee, ihren hochgerutschten Rock wieder auf normale Länge zu glätten. »Und wenn Sie nicht gleich verschwinden, rufe ich den Schaffner – oder ziehe die Notbremse. Ihr Typ ist erkannt, und ich fürchte Sie nicht.«

In dem matten Glas einer Eisenbahnreklame über ihrer Sitzbank tauchte Carlos eigenes Konterfei hinter einem Schloss inmitten transsilvanischer Bergwälder auf. Da sah er, dass seine Haare wie Bündel von Korkenziehern vom Kopf wegstanden und die Krawatte schief aus dem Sakko hing. Rasch brachte er das notdürftig in Ordnung.

»Keine Sorge, ich habe nichts mit Dracula zu tun«, grinste er dann. »Ich saß im Nachbarabteil und hörte Sie schreien. Als ich herüberkam, waren Sie ohnmächtig. Das Fenster stand offen, und ein schaudererregendes Scheusal klebte daran. Das habe ich verscheucht und das Fenster geschlossen. Und dann habe ich bei Ihnen einen völlig korrekten Wiederbelebungsversuch gestartet, der, Gott sei Dank, zum Erfolg führte. Das ist alles, und ich verbitte mir Ihre Grobheiten, Mademoiselle. Die Notbremse hätten Sie vorhin ziehen sollen – Ihr Begleiter war anscheinend nicht in der Lage, Sie zu beschützen. Wo ist er übrigens?«

Sie hörte ihm fassungslos zu. Dann wich der Zorn blanker Angst, so wie in der ersten Sekunde ihres Erwachens.