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Montags keine Meeresfrüchte! Das ist noch eine der harmloseren Gefahren, auf die Anthony Bourdain in seinen gnadenlosen, abgründig witzigen Memoiren hinweist. Von der Strandkneipe bis zum Nobelrestaurant hat er alles durchlebt, was diese wahrhaft heiße Szene zu bieten hat. Ein unvergesslicher Blick hinter die Küchentür und eine abenteuerliche Reise in die dunklen Gefilde der kulinarischen Welt.
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Seitenzahl: 459
Anthony Bourdain war ganze neun Jahre alt, als er sein kulinarisches Erweckungserlebnis hatte: Ein kleiner Amerikaner, mit seinen Eltern in Frankreich unterwegs, schlürft seine erste Auster – und nichts ist mehr, wie es war. Die Begeisterung für gutes Essen aus reinen Zutaten hat ihn seither nie mehr verlassen. Aus dem Steak-und-Fritten-Verzehrer wurde nicht nur ein leidenschaftlicher Kenner und Genießer, sondern auch ein grandioser Koch. Allerdings war der Weg dahin ziemlich kurvenreich, gepflastert mit aberwitzigen Ereignissen und skurrilen Begebenheiten und flankiert von hintergründigen Weggefährten. Deshalb kann Bourdain, wenn er aus seinem Leben und von seiner Arbeit erzählt, auch so wunderbar aus dem Vollen schöpfen. Ob er seine armseligen Anfänge als Tellerwäscher schildert, seine Ausbildung am CIA (Culinary Institute of America) beschreibt oder seine ersten Erfahrungen als Küchenchef: Sein Humor, seine Selbstironie und sein erstaunliches Erzähltalent bewirken, dass man sich auch noch in den schwärzesten Situationen und bei der Schilderung der schlimmsten Auswüchse bestens unterhalten fühlt.
Einen klareren, härteren und gleichzeitig liebevolleren Blick hinter die Küchentür hat es noch nie gegeben. Ein Buch, das jedem Restaurantbesucher etwas zu sagen hat.
Anthony Bourdain, Amerikaner französischer Herkunft, ist Schriftsteller und ausgebildeter Koch. Er erhielt seine Fachausbildung am Culinary Institute of America, hat in einigen der besten Restaurants New Yorks gearbeitet und führt seit rund acht Jahren die »Brasserie Les Halles« in New York City.
Für Nancy
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe die Gastronomie. Verdammt, ich arbeite immer noch in der Gastronomie – ein lebenslänglicher, klassisch ausgebildeter Chefkoch, der in gut einer Stunde wahrscheinlich in einer Vorbereitungsküche im Keller Knochen für ein demi-glace rösten und Rinderfilets parieren wird.
Ich werde mich nicht auskotzen über alles, was ich in meiner langen, farbigen Karriere als Tellerwäscher, Vorbereitungsdrohne, Fritteusenjockey, grillardin, saucier, sous-chef und Chefkoch gesehen, gelernt und getan habe, weil ich auf das Gewerbe sauer bin oder weil ich die Essenskundschaft das Fürchten lehren will. Ich möchte auch dann noch Küchenchef sein, wenn das Ding hier erschienen ist – dieses Leben ist nämlich das Einzige, das ich kenne. Wenn ich um vier Uhr früh jemanden brauche, der mir einen Gefallen tut, eine Schulter zum Ausweinen, eine Schlaftablette, Kautionsgeld oder einfach jemanden, der mich im strömenden Regen in einem miesen Viertel mit dem Auto abholt, dann rufe ich ganz bestimmt nicht einen Autorenkollegen an, sondern meinen sous-chef oder einen ehemaligen sous-chef oder meinen saucier; jemanden, mit dem ich arbeite oder mit dem ich in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet habe.
Nein, ich möchte Ihnen von den finsteren Abgründen im Bauch der Gastronomie erzählen, von einer Subkultur, deren jahrhundertealte militärische Hierarchie und Ethik aus Fusel, Ficken und neunschwänziger Peitsche einen Cocktail aus unerschütterlicher Ordnung und nervenzerfetzendem Chaos ergeben. Ich finde das alles recht gemütlich, so wie ein schönes warmes Bad. In diesem Leben kann ich mich mühelos bewegen. Ich spreche diese Sprache. In der kleinen, inzestuösen Gemeinde von Küchenchefs und Köchen in New York kenne ich die Leute, und in meiner Küche weiß ich mich zu benehmen – im Gegensatz zum richtigen Leben, wo ich mich auf schwankenderem Boden bewege. Ich möchte, dass die Profis, die das lesen, es als das genießen, was es ist: ein direkter Blick auf ein Leben, das viele von uns den Großteil unserer Tage und Nächte gelebt und geatmet haben und das einen »normalen« gesellschaftlichen Umgang so gut wie unmöglich macht. Ein Mensch, der keinen Freitag-oder Samstagabend frei hat, der an allen Feiertagen arbeitet und am meisten dann arbeiten muss, wenn der Rest der Welt gerade aus der Arbeit kommt, erwirbt sich allmählich eine recht eigenartige Weltanschauung. Ich hoffe, meine Kollegen verstehen, was ich meine. Den Lebenslänglichen der Gastronomie, die das lesen, mag das, was ich schreibe, gefallen oder nicht. Aber sie werden wissen, dass ich nicht lüge.
Ich möchte, dass die Leser eine Vorstellung davon bekommen, dass es eine Freude ist, wirklich gutes Essen auf professionellem Niveau herzustellen. Ich möchte, dass sie begreifen, was es für ein Gefühl ist, sich den Kindheitstraum vom Anführer einer Piratencrew zu erfüllen – was man empfindet, wie es ausschaut und riecht im Geklapper und Gezische in der Küche eines Großstadtrestaurants. Ich möchte, dass die Zivilisten, die das lesen, zumindest eine Ahnung davon bekommen, dass dieses Leben, trotz allem, Spaß machen kann.
Was mich betrifft, ich habe mich immer gerne als einen Chuck Wepner der Kochkunst gesehen. Chuck war ein fahrender Boxer, der in der Ali-Frazier-Ära als »Bayonne Bleeder« bekannt war. Er hielt immer zuverlässig ein paar solide Runden durch, bis er zu Boden ging, und teilte so gut aus, wie er einsteckte. Ich bewunderte seine Zähigkeit, seine Standhaftigkeit, seine Fähigkeit, es auf die Reihe zu kriegen und Schläge einzustecken wie ein Mann.
Sie reden hier also nicht mit Superchef. Klar, ich habe mein CIA-Examen gemacht, mich in Europa rumgetrieben, in ein paar berühmten Zwei-Sterne-Pinten in der City gearbeitet – auch in ein paar verdammt guten. Ich bin nicht irgendein verbitterter Boulettenmanscher, der seine erfolgreicheren Kollegen niedermachen will (trotzdem werde ich es tun, wenn sich die Gelegenheit bietet). Ich bin normalerweise der Typ, den sie in irgendein piekfeines Unternehmen rufen, wenn sich herausstellt, dass der erste Chefkoch ein Psychopath oder ein bitterböser, megalomanischer Säufer ist. In diesem Buch geht’s um Kochen auf Straßenniveau und um die Köche dazu. Postenköche sind die Helden. Mit diesem Leben habe ich mir einen ganz ansehnlichen Lebensunterhalt zusammengehurt – das meiste davon im Herzen Manhattans, bei den »Großen« – also weiß ich ein paar Dinge. Und: Ich habe noch ein paar Züge auf Lager.
Natürlich besteht die Möglichkeit, dass dieses Buch mir im Geschäft tatsächlich den Garaus machen könnte. Horrorgeschichten kommen vor. Schwere Sauferei, Drogen, Bumsen im Trockenlager, unappetitliche Geschichten über miesen Umgang mit Lebensmitteln und widerwärtige Praktiken, die im ganzen Gewerbe verbreitet sind. Wir werden darüber reden, warum Sie montags eher keinen Fisch bestellen sollten, warum die, die es gerne gut durch haben, den abgekratzten Pfannenputz kriegen, und warum eine Meeresfrüchte-frittata zum Brunch keine weise Wahl ist. Das wird mich bei zukünftigen Arbeitgebern nicht gerade lieb Kind machen. Meine nackte Verachtung für Vegetarier, für die notorischen Extra-Sauce-Besteller, die »Laktose-Intoleranten« und die Kocherei des Ewok-ähnlichen Emeril Lagasse werden mir keine eigene Show im Food Network einbringen. Ich werde wohl nicht so bald mit Andre Soltner zum Skifahren gehen oder vom herzensbrecherischen Bobby Flay den Rücken gekrault kriegen. Eric Ribert wird mich nicht anrufen und nach Ideen für sein morgiges Fisch-Special fragen. Aber ich werde schlicht und einfach keinem etwas vorgaukeln über das Leben, so wie ich es gesehen habe.
Hier finden Sie alles: das Gute, das Böse und das Hässliche. Der interessierte Leser könnte einerseits herausfinden, wie man mit ein paar guten Werkzeugen professionell aussehende, gut schmeckende Gerichte produzieren kann – und andererseits aber auch beschließen, nie wieder moules marinières zu bestellen. Tant pis, Alter.
Für mich war das Kochleben eine lange Liebesgeschichte, mit hinreißenden und auch lächerlichen Augenblicken. Aber wie bei einer Liebesgeschichte erinnert man sich rückblickend am besten an die glücklichen Zeiten – an die Dinge, die einen in den Strudel zogen, das erste Interesse weckten, an die Dinge, die einen dazu brachten, nach einem Nachschlag zu lechzen. Ich hoffe, ich kann den Leser diese Zeiten und Dinge schmecken lassen. Ich habe diese unerwartete Linkskurve, die mich in die Gastronomie geschleudert hat, nie bereut. Und ich glaube schon seit geraumer Zeit, dass bei gutem Essen, bei gutem Tafeln das Risiko der treibende Faktor ist. Ob wir nun über Stilton aus Rohmilch, rohe Austern oder die Arbeit für »Verbündete« des organisierten Verbrechens reden – Essen war für mich immer ein Abenteuer.
Meine erste Ahnung, dass Essen etwas anderes sein kann als eine Substanz, die man sich bei Hunger reinstopft – wie Tanken an einer Tankstelle –, kam nach der vierten Klasse Grundschule. Es passierte auf einer Ferienreise der Familie nach Europa, auf der Queen Mary, im Speisesaal zweiter Klasse. Irgendwo gibt es ein Foto: Meine Mutter mit ihrer Jackie-O-Sonnenbrille, mein jüngerer Bruder und ich in unseren krampfhaft niedlichen Kreuzfahrt-Outfits, alle ganz aufgeregt über unsere erste Fahrt nach Übersee, unsere erste Reise in die Heimat der Ahnen meines Vaters, Frankreich.
Es war die Suppe.
Sie war kalt.
Für einen neugierigen Viertklässler, dessen gesamte Suppenerfahrung sich bis dato auf Campbell’s Tomatencreme und Nudelsuppe mit Huhn beschränkte, war das eine ungeheure Entdeckung. Ich hatte schon in Restaurants gegessen, klar, aber das war das erste Essen, das ich wirklich registrierte. Es war das erste Essen, das ich genoss und, noch wichtiger, dessen Genuss mir im Gedächtnis blieb. Ich fragte unseren geduldigen englischen Kellner, was das denn für eine köstliche, kühle, leckere Flüssigkeit wäre.
»Vichyssoise« war die Antwort, ein Wort, das bis zum heutigen Tag einen magischen Klang hat – obwohl das inzwischen ein müder alter Gaul von Menügericht ist, das ich ein paar tausend Mal zubereitet habe. Ich kann mich an jede Einzelheit dieses Erlebnisses erinnern: wie der Kellner sie aus einer silbernen Terrine in meinen Teller schöpfte, an das Knirschen des Schnittlauchs, den er als Garnitur darüber löffelte, den üppigen, cremigen Geschmack von Lauch und Kartoffeln, den lustvollen Schock, die Überraschung, dass sie kalt war.
Sehr viel mehr ist mir von dieser Überquerung des Atlantiks nicht im Gedächtnis geblieben. Ich sah Boeing Boeing mit Jerry Lewis und Tony Curtis im Kino der Queen und einen Bardot-Streifen. Der alte Dampfer wackelte und stöhnte und vibrierte den ganzen Weg fürchterlich – Muschelbefall am Kiel lautete die offizielle Erklärung –, und von New York bis Cherbourg hatten wir das Gefühl, auf einem riesigen Rasenmäher zu reiten. Mein Bruder und ich langweilten uns schon bald und verbrachten den Großteil unserer Zeit in der »Teen Lounge«, hörten »The House of the Rising Sun« aus der Jukebox oder beobachteten, wie das Wasser wie eine kontrollierte Tsunami im Salzwasserpool auf dem Unterdeck herumschwappte.
Aber diese kalte Suppe ließ mich nicht los. Ihr Echo blieb, machte mir meine Zunge bewusst, und irgendwie bereitete sie mich auf zukünftige Ereignisse vor.
Mein zweites Schlüsselerlebnis auf meiner langen Kletterpartie zum Chefkoch passierte ebenfalls während dieser ersten Frankreichreise. Nach unserer Landung blieben meine Mutter, mein Bruder und ich bei Verwandten in der kleinen Küstenstadt Cherbourg in einem tristen, kalten Urlaubsgebiet in der Normandie. Der Himmel war fast immer bewölkt, das Wasser unwirtlich kalt. Alle Kinder aus der Nachbarschaft dachten, ich würde Steve McQueen und John Wayne persönlich kennen. Da ich Amerikaner war, glaubten sie, wir wären alle Kumpel, würden zusammen auf der Prärie rumhängen, Pferde reiten und Missetäter niederknallen – also genoss ich umgehend eine gewisse Berühmtheit. Die Strände taugten zwar nicht zum Schwimmen, waren aber übersät von alten Nazi-Bunkern und Kanonenunterständen, von denen viele noch sichtbare Einschüsse und Spuren von Flammenwerfern aufwiesen. Und unter den Dünen gab es Tunnels – alles sehr coole Forschungsgebiete für ein Kind. Meine kleinen französischen Freunde durften, zu meiner Überraschung, sonntags eine Zigarette rauchen, bekamen bei Tisch gewässerten vin ordinaire, und, das Allerbeste, sie besaßen Velo-Solex-Motorräder. Das war die richtige Methode, Kinder zu erziehen, dachte ich mir, traurig, weil meine Mutter diese Meinung nicht teilte.
Während meiner ersten Wochen in Frankreich erforschte ich also unterirdische Gänge, suchte nach toten Nazis, spielte Minigolf, rauchte heimlich, las einen Haufen Tintin- und Asterix-Comichefte, tuckerte auf den Motorrädern meiner Freunde herum und absorbierte durch Beobachtung kleine Lektionen fürs Leben. So brachte beispielsweise ein Freund der Familie, Monsieur Dupont, zu manchen Mahlzeiten seine Mätresse mit, zu anderen dagegen seine Frau, und seine zahlreiche Kinderbrut ließ dieser Wechsel ziemlich kalt.
Das Essen beeindruckte mich im Großen und Ganzen nicht.
Die Butter schmeckte für meinen unentwickelten Gaumen »käsig«. Die Milch, ein Standard-, nein, ein Pflichtritual im amerikanischen Kinderleben der 60er Jahre, war hier nicht trinkbar. Mittagessen bestand eigentlich immer aus sandwich jambon oder croque-monsieur. Jahrhunderte französischer Kochkunst mussten erst noch Eindruck bei mir machen. Was mir am französischen Essen auffiel, war, was sie nicht hatten.
Nach einigen Wochen dieses Programms nahmen wir den Nachtzug nach Paris, wo wir unseren Vater vorfanden und einen schnittigen neuen Rover Sedan Mark III, unseren Reisewagen. In Paris wohnten wir im Hôtel Lutétia, damals ein großer, leicht schäbiger alter Kasten am Boulevard Raspail. Die Menüauswahl für meinen Bruder und mich wurde etwas erweitert auf steak frites und steak haché. Wir machten alles, was Touristen so machen: Kletterten auf den Eiffelturm, picknickten im Bois de Boulogne, marschierten im Louvre an den großen Werken vorbei, schoben Spielzeugsegelboote im Brunnen des Jardin de Luxembourg herum – alles kein wirklicher Spaß für einen Neunjährigen mit einem sich bereits entwickelnden Hang zum Kriminellen. Mein Hauptinteresse zu dieser Zeit war die Erweiterung meiner Sammlung englischer Übersetzungen von Tintin-Abenteuern. Hergés flott gezeichnete Geschichten über Drogenschmuggel, antike Tempel und fremde, ferne Orte und Kulturen waren für mich echte Exotica. Ich zwang meine armen Eltern, mir bei W.H. Smith, der englischen Buchhandlung, für hunderte von Dollars diese Geschichten zu kaufen, nur damit ich aufhörte, über die Entbehrungen Frankreichs zu jammern. Mit meinen kleinen Minishorts ein ständiger Affront, wurde ich zügig zu einem verdrießlichen, launischen, schwierigen Balg. Ich stritt mich ständig mit meinem Bruder, mäkelte an allem und jedem herum, machte mich kurzum zum Klotz am Bein der glorreichen Expedition meiner Mutter.
Meine Eltern gaben ihr Bestes. Sie schleppten uns überallhin mit, von Restaurant zu Restaurant, und wanden sich zweifellos jedes Mal vor Scham, wenn wir auf steak haché (mit Ketchup natürlich) und einer Cola bestanden. Schweigend ertrugen sie mein ständiges Genörgel über käsige Butter, meine anscheinend nicht enden wollende Freude an der Reklame für einen populären Softdrink der damaligen Zeit: Pschitt. »Ich will Shit! Ich will Shit!« Sie schafften es, meine Augenverdreherei und mein Herumgehampel zu ignorieren, wenn sie Französisch sprachen, und sie versuchten mich anzuregen, etwas zu finden, irgendetwas, das mir Freude machen würde.
Und dann kam die Zeit, in der sie schließlich die Kinder nicht mehr mitnahmen.
Ich kann mich gut daran erinnern, weil es so ein Schlag ins Gesicht war. Es war ein Weckruf dafür, dass Essen wichtig sein konnte, eine Herausforderung für meine angeborene Kampfeslust. Mir wurde etwas verweigert, und schon öffnete sich eine Tür.
Der Name der Stadt war Vienne. Wir waren weit gefahren, um hierher zu kommen. Meinem Bruder und mir waren gerade wieder die Tintins ausgegangen, und wir waren stinkend mies drauf. Die französische Landschaft mit ihren anmutigen baumgesäumten Straßen, Hecken, bestellten Feldern und Bilderbuchdörfern bot wenig Kurzweil. Meine Eltern hatten inzwischen Wochen gnadenloser Quengelei und viele Mahlzeiten in gespannter und stetig unangenehmer werdender Atmosphäre erduldet. Sie hatten pflichtschuldigst unsere steak haché, crudités variées, sandwich jambon und Ähnliches bis zum Erbrechen bestellt. Sie hatten unser Genöle ertragen, von wegen die Betten wären zu hart, die Kissen zu weich, die Nackenrollen, die Toiletten und die Installationen zu seltsam. Sie hatten uns sogar ein bisschen gewässerten Wein erlaubt, weil man das in Frankreich offenbar machte – aber auch, damit wir die Klappe hielten. Sie hatten meinen Bruder und mich, die beiden hässlichsten Amerikaner, überallhin mitgenommen.
In Vienne war das anders.
Sie stellten den blitzenden neuen Rover auf dem Parkplatz eines Restaurants ab, das recht viel versprechend La Pyramide hieß, reichten uns einen offensichtlich gebunkerten Stapel Tintins … und ließen uns dann im Auto!
Es war ein harter Schlag. Kleiner Bruder und ich wurden über drei Stunden im Auto gelassen, eine Ewigkeit für zwei arme Kinder, die ohnehin schon halb irre vor Langeweile waren. Ich hatte reichlich Zeit, mich zu fragen: Was kann es denn so Tolles hinter diesen Mauern geben? Sie aßen dort. Das wusste ich. Und es war ganz sicher eine Riesensache. Selbst mit meinen hirnlosen neun Jahren konnte ich die nervöse Vorfreude, die Aufregung, ja fast so etwas wie Ehrfurcht erkennen, mit der meine geplagten Eltern sich dieser Stunde genähert hatten. Und ich hatte den Vichyssoise- Vorfall noch ganz frisch im Gedächtnis. Essen konnte, wie es schien, wichtig sein. Es konnte ein Ereignis sein. Es barg Geheimnisse.
Heute weiß ich natürlich, dass La Pyramide auch schon im Jahr 1966 das Zentrum des kulinarischen Universums war. Bocuse, Troisgros, alle hatten sie dort ihre Zeit absolviert, hatten ihre Knochen der legendär Furcht erregenden Knute des Eigentümers Ferdinand Point ausgeliefert. Point war der Großmeister der Kochkunst der damaligen Zeit, und La Pyramide war das Mekka für Essens-Junkies. Für meine ernsthaft frankophilen Eltern war das eine Pilgerfahrt. Und irgendwie drang das auf dem Rücksitz des glühend heißen, geparkten Wagens bis in meinen winzigen, leeren Schädel durch, sogar damals schon.
Die Dinge änderten sich. Ich änderte mich.
Zuallererst war ich stinksauer. Die Bosheit, immer schon eine große, treibende Kraft in meinem Leben, veranlasste mich, mit einem Mal abenteuerlustig zu werden, wenn es um Essen ging. Ich beschloss in diesem Augenblick, meine Essens-Junkie-Eltern zu übertrumpfen. Gleichzeitig könnte ich meinen noch nicht eingeweihten Bruder das Ekeln lehren. Ich würde es ihnen zeigen, wer hier der Gourmet ist!
Hirn? Stinkende, verlaufende Käse, die rochen wie Leichenfüße? Pferdefleisch? Bries? Her damit!! Was immer den größten Schockwert hatte, wurde zum Gericht meiner Wahl. Den Rest dieses Sommers und in allen Sommern, die folgten, aß ich alles. Ich löffelte klebrigen Vacherin, lernte die käsige, üppige normannische Butter lieben, besonders wenn man sie auf Baguette schmierte und in heiße, bittere Schokolade tauchte. Ich trank heimlich Rotwein, wann immer es mir möglich war, versuchte fritures – winzige ganze Fische, gebraten und mit persillade serviert – und fand es wunderbar, Köpfe zu verspeisen, Augen, Knochen, alles. Ich aß Rochen in beurre noisette, saucisson à l’ail, rognons de veau (Nieren) und boudin noir (Blutwurst), die mir Blut übers Kinn spritzte.
Und ich aß meine erste Auster.
Also das war wirklich ein bedeutendes Ereignis. Ich erinnere mich daran genauso gut wie an den Verlust meiner Unschuld – und in vieler Hinsicht mit mehr Freude.
Den August dieses ersten Sommers verbrachten wir in La Teste sur Mer, einem winzigen Austerndorf am Bassin d’Arcachon in der Gironde. Wir wohnten bei meiner Tante Jeanne und meinem Onkel Gustav in dem mit roten Ziegeln gedeckten, weiß verputzten Haus, in dem mein Vater als Junge die Sommerferien verbracht hatte. Tante Jeanne war eine schäbig angezogene, bebrillte, etwas streng riechende alte Frau, Onkel Gustav ein Opa im Overall mit Baskenmütze, der handgerollte Zigaretten rauchte, bis sie auf seiner Zungenspitze verschwanden. In La Teste hatte sich nur wenig verändert in all diesen Jahren. Die Nachbarn waren immer noch alle Austernfischer. Ihre Familien züchteten immer noch Hasen und bauten hinter dem Haus Tomaten an. Die Häuser hatten zwei Küchen, eine drinnen und eine »Fischküche« draußen. Es gab eine Handpumpe für Trinkwasser aus dem Brunnen und ein Plumpsklo ganz hinten im Garten. Überall waren Eidechsen und Schnecken. Die größten Touristenattraktionen waren die nahe gelegene Düne von Pyla (Europas größte Sanddüne!) und die Urlaubsstadt Arcachon, ebenfalls nicht weit entfernt, wo die Franzosen alle vereint zu Les Grandes Vacances einfielen. Fernsehen war ein großes Ereignis. Um sieben Uhr, wenn die beiden nationalen Stationen auf Sendung gingen, trat mein Onkel Gustav mit ernster Miene und einem an die Hüfte geketteten Schlüssel aus seinem Zimmer und sperrte feierlich die Schranktüren auf, die den Bildschirm verdeckten.
Hier waren mein Bruder und ich glücklicher. Hier konnten wir mehr unternehmen. Die Strände waren warm, das Klima ähnelte dem, das wir von zu Hause kannten, und dazu kam die zusätzliche Attraktion von allgegenwärtigen Nazi-Bunkern. Es gab Eidechsen, die es zu jagen und auszulöschen galt mit leicht zu beschaffenden pétards, Knallfröschen, die man legal (!) im Laden kaufen konnte. Da gab es einen Wald, der zu Fuß erreichbar war und in dem ein echter Einsiedler lebte. Mein Bruder und ich verbrachten viele Stunden dort und spionierten ihm aus dem Unterholz nach. Mittlerweile konnte ich französische Comics lesen und genießen, und natürlich aß ich – ich aß richtig . Trübbraune soupe de poisson, Tomatensalat, moules marinières, poulet basquaise (wir waren nur ein paar Kilometer vom Baskenland entfernt). Wir machten Tagesausflüge nach Cap Ferret, einem wilden, menschenleeren und atemberaubend schönen Atlantikstrand mit großen, wogenden Wellen, und wir hatten Baguettes, saucissons und Käse, Wein und Evian mit dabei (zu Hause kannte man damals Wasser in Flaschen überhaupt noch nicht). Etwas weiter westlich lag der Lac Cazeaux, ein Süßwassersee, wo mein Bruder und ich pédalo-Boote mieten und im Tiefen herumstrampeln konnten. Wir aßen gaufres, köstliche heiße Waffeln mit Schlagsahne und Puderzucker. Die zwei heißesten Songs dieses Sommers in der Jukebox von Cazeaux waren »Whiter Shade of Pale« von Procul Harum und »These Boots Were Made for Walking« von Nancy Sinatra. Immer und immer wieder spielten die Franzosen diese beiden Songs, untermalt vom Knallen, wenn französische Luftwaffenjets auf ihrem Weg zu einem nahe gelegenen Truppenübungsplatz über den See rasten und dabei die Schallmauer durchbrachen. Bei so viel Rock and Roll, gutem Essen und frei verfügbarem Sprengstoff war ich einigermaßen glücklich.
Und so kam es, dass ich begeistert war, als Monsieur Saint-Jour, der Austernfischer, meine Familie auf seine pinasse (Austernboot) einlud.
Um sechs Uhr morgens gingen wir mit unseren Picknickkörben und unseren vernünftigen Schuhen an Bord von Monsieur Saint-Jours kleinem Holzschiff. Er war ein recht herber alter Kerl, der, wie mein Onkel, einen uralten Jeansoverall, Espadrilles und Baskenmütze trug. Er hatte ein ledriges, gebräuntes, vom Wind gegerbtes Gesicht, hohle Wangen und die winzigen, geplatzten Äderchen auf Nase und Backen, die hier anscheinend jeder hatte – von zu vielen Gläsern des hiesigen Bordeaux. Er hatte seine Gäste nicht wirklich umfassend auf das vorbereitet, was zu diesen täglichen Arbeiten gehörte. Wir tuckerten hinaus zu einer Boje, die seinen Unterwasser-Austern-parc markierte, und wir saßen … und saßen … und saßen in der brüllenden Augustsonne und warteten auf Ebbe. Es ging darum, das Boot über die Palisadenzaunwände treiben zu lassen und dann sitzen zu bleiben, bis sich das Boot mit dem Wasserpegel senken und schließlich auf dem Grund des bassin landen würde. An diesem Punkt dann würde Monsieur Saint-Jour, und wohl auch seine Gäste, die Austern zusammenrechen, ein paar gute Exemplare zum Verkauf im Hafen einsammeln und eventuelle Parasiten entfernen, die seine Ernte gefährden könnten.
Es waren, wie ich mich erinnere, noch etwa sechzig Zentimeter Wasserstand, ehe sich der Kiel des Bootes auf Grund legen würde und wir im parc herumgehen könnten. Wir hatten bereits den Brie und die Baguettes niedergemacht und das Evian ausgetrunken, aber ich hatte immer noch Hunger und sagte das typischerweise auch.
Als Monsieur Saint-Jour das hörte, fragte er – und es klang wie eine Herausforderung – in seinem breiten Girondais-Akzent, ob einer von uns vielleicht eine Auster probieren wolle.
Meine Eltern zögerten. Ich glaube nicht, dass ihnen klar war, dass sie tatsächlich eines dieser rohen schleimigen Dinger, über die wir gerade trieben, essen sollten. Mein kleiner Bruder machte einen entsetzten Satz rückwärts.
Doch ich, im stolzesten Augenblick meines jungen Lebens, erhob mich, grinste voller Trotz und bot mich freiwillig an, als Erster zu probieren.
Und in diesem unvergesslich süßen Augenblick meiner ganz persönlichen Geschichte, diesem einen Moment, der für mich noch lebendiger ist als so viele andere erste Male – erste Muschi, erster Joint, erster Tag in der High School, erstes erschienenes Buch oder sonst etwas –, betrat ich die Ruhmeshalle.
Monsieur Saint-Jour winkte mich rüber zur Reling, dann beugte er sich hinab, bis sein Kopf fast im Wasser verschwand, und tauchte wieder auf mit einer schlammverkrusteten Auster, riesig und unregelmäßig geformt, in seiner groben, klauenähnlichen Faust. Mit einem stumpigen, rostüberzogenen Austernmesser machte er das Ding auf und reichte es mir. Alle schauten wie gebannt, und mein kleiner Bruder wich zurück vor diesem glänzenden Objekt, das vage sexuell aussah, das triefte und fast lebte.
Ich nahm es in die Hand. Kippte die Muschel in meinen Mund, wie von dem inzwischen strahlenden Monsieur Saint-Jour angewiesen, und schlang das Zeug mit einem Bissen und in einem Schlürfer hinunter. Es schmeckte nach Seewasser … nach Salz und Fleisch … und irgendwie … nach Zukunft.
Alles hatte sich geändert. Alles.
Ich hatte nicht nur überlebt – ich hatte genossen.
Das war, wie mir schlagartig klar wurde, der Zauber, der mir bisher nur schwach und verschwommen bewusst gewesen war. Ich hing am Haken. Das Erschaudern meiner Eltern, das hemmungslos angewiderte und erstaunte Gesicht meines Bruders bestärkten nur noch das Gefühl, dass ich, irgendwie, zum Mann geworden war. Ich hatte ein Abenteuer erlebt, verbotene Frucht gekostet, und alles, was dann in meinem Leben folgte – das Essen, die lange und oft selbstzerstörerische Jagd nach etwas Neuem, ob es dabei um Drogen oder Sex oder sonst etwas Aufregendes ging –, das alles sollte seine Wurzeln in diesem Augenblick haben.
Ich hatte etwas gelernt. Mit dem Bauch, instinktiv, spirituell – ein Hauch davon war sogar sexuell –, und es gab kein Zurück. Der Geist war der Flasche entflohen. Mein Leben als Koch, als Chefkoch, hatte begonnen.
Essen hatte Macht.
Es konnte inspirieren, erstaunen, schockieren, erregen, entzücken und beeindrucken. Es hatte die Macht, mich zu erfreuen … und andere auch. Das war eine wichtige Erkenntnis.
In diesem Sommer, wie auch in späteren Sommern, schlich ich mich oft zu den kleinen Ständen am Hafen, wo man braune Papiertüten voller ungewaschener, schwarz überzogener Austern dutzendweise kaufen konnte. Nach einigen Lektionen meines neuen Seelenfreundes, Blutsbruders und allerbesten Kumpels, Monsieur Saint-Jour – der inzwischen auch seine Schalen mit gezuckertem vin ordinaire nach der Arbeit mit mir teilte – konnte ich die Austern locker selber öffnen, von hinten mit dem Messer angreifen und das Gelenk knacken, als wäre es Aladins Höhle.
Und so saß ich denn im Garten unter den Tomaten und Eidechsen, aß meine Austern und trank meine Kronenbourgs (Frankreich war ein wunderbares Land für minderjährige Trinker), las fröhlich Modesty Blaise und die Katzenjammer Kids und die wunderbaren, wie richtige Bücher gebundenen bandes dessinées auf Französisch, bis mir die Bilder vor den Augen verschwammen, und rauchte gelegentlich eine stibitzte Gitane. Noch heute verbindet sich für mich der Geschmack von Austern mit diesen wunderbaren, heimlichen, spätnachmittäglichen Räuschlein. Der Geruch französischer Zigaretten, der Geschmack von Bier, dieses unvergessliche Gefühl, etwas zu tun, was ich eigentlich nicht tun sollte.
Ich hatte natürlich noch keine Pläne, professionell zu kochen. Aber ich blicke oft auf mein Leben zurück, suche nach dieser Gabelung auf meinem Weg, versuche herauszufinden, wann genau und wo es passiert ist, dass ich mich in einen den Adrenalinkick suchenden, lusthungrigen Sinnlichkeits-Junkie verwandelt habe, der ständig schockieren, amüsieren, entsetzen und manipulieren will, der versucht, diesen blinden Fleck in seiner Seele mit etwas Neuem zu überdecken.
Mir gefällt der Gedanke, dass Monsieur Saint-Jour daran schuld war. Aber natürlich war ich es immer nur selbst.
1973 war ich unglücklich verliebt und machte, ein Jahr vor der Zeit, meinen High-School-Abschluss, damit ich das Objekt meiner Begierde ans College von Vassar verfolgen konnte. Je weniger ich über diesen Teil meines Lebens sage, desto besser, das können Sie mir glauben. Beschränken wir uns darauf, dass ich mit achtzehn ein durch und durch undisziplinierter junger Mann war, der unbekümmert das College sausen ließ und sich einfach ausklinkte (es war mir schlicht zu lästig, Vorlesungen zu besuchen). Ich war wütend auf mich selbst und auf alle anderen auch. Im Großen und Ganzen behandelte ich die Welt als meinen Aschenbecher. Den Großteil meiner wachen Stunden verbrachte ich mit Trinken, Dope-Rauchen und Pläneschmieden, und ich bemühte mich nach Kräften, jeden, der dumm genug war, mich nett zu finden, zu amüsieren, zu empören, zu beeindrucken oder flach zu legen. Ich war – offen gesagt – ein verzogener, todunglücklicher, narzisstischer, selbstzerstörerischer und gedankenloser Kerl, der dringend ein paar kräftige Tritte in den Hintern brauchte. Ich tat mich mit ein paar Freunden zusammen, und wir mieteten für den Sommer ein Haus in Provincetown, Cape Cod. Das machten alle meine Freunde, und das genügte mir.
Provincetown war und ist eigentlich nur ein kleines portugiesisches Fischerdorf am Ende der Angelhakenspitze des Cape. Doch während der Sommermonate wurde es zum Times Square/ Christopher Street by the Sea. Das war in den Siebzigern damals, und das muss man bedenken, wenn man das Bild einer einst malerischen Hafenstadt in New England heraufbeschwört, verstopft von Touristen, Tagesausflüglern, Hippies, Ziellosen, Hummerwilderern, Amateurschlampen, Kiffern, Flüchtigen aus Key West und abertausenden von eifrigst auf Aufriss erpichten Schwulen. Für einen jungen Mann ohne Wurzeln, aber mit sinnlichen Neigungen war es der perfekte Unterschlupf.
Leider brauchte ich Geld. Meine Ab-und-an-Freundin drehte Pizza, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Meine Mitbewohner, die schon öfter den Sommer in P-Town verbracht hatten, hatten Jobs, die auf sie warteten. Sie kochten, spülten Geschirr, kellnerten – und das in aller Regel nachts. Also machten wir uns jeden Morgen alle auf zu den Stränden und Teichen, rauchten Dope, schnieften ein bisschen Koks, warfen Trips, sonnten uns nackt und frönten anderem gesunden Teenagerzeitvertreib.
Dann verschaffte mir eine verärgerte, praktisch veranlagte Zimmergenossin, die es endgültig satt hatte, dass ich dem Haushalt ständig auf der Tasche lag, einen Tellerwäschergig in dem Restaurant, in dem sie als Kellnerin arbeitete. Tellerwäscher (Schaumbusters, auch bekannt als Perlentaucher) waren die am wenigsten sesshafte Spezies in der Gastronomie. Und nachdem so ein Trottel zwei Tage lang nicht zur Arbeit erschienen war, war ich drin. Es war meine Einführung in das Leben – und zuerst war ich gar nicht glücklich dabei.
Töpfe und Pfannen schrubben, Muscheln die kleinen Bärte abreißen, Jakobsmuscheln ausnehmen und Shrimps putzen, das war für mich alles andere als attraktiv. Aber genau diese bescheidenen Anfänge waren der Beginn meines bizarren Aufstiegs ins Reich der Chefköche. Dass ich diesen Job als Tellerwäscher im Dreadnaught annahm, war der eigentliche Schubs auf den Weg, den ich noch heute gehe.
Das Dreadnaught war – nun ja, Sie haben auch schon da gegessen oder jedenfalls in einem ähnlichen Lokal – ein großer alter, heruntergekommener Klotz aus Treibholz, auf uralten hölzernen Pfählen übers Wasser gebaut. Bei schlechtem Wetter rollten die Wellen unter den Boden des Speiseraums und hämmerten laut gegen die Wand. Graue Holzschindeln, Erkerfenster und drinnen klassisches Old New England, Klabautermann, Aye, Aye, Sir, Käpt’n-Iglo-Dekor: drapierte Fischernetze, Sturmlampen, Bojen, nautische Nippes, Bars aus halbierten Rettungsbooten. Nennen wir’s Frühes Treibholz.
Wir servierten frittierte Muscheln, frittierte Shrimps, frittierte Flundern, frittierte Jakobsmuscheln, Pommes, gedämpfte Hummer, ein paar gegrillte Steaks, Koteletts und Fischfilets an die Mobs von Touristen, die jede Woche zwischen dem 4. Juli und Labor Day in die Stadt strömten.
Ich war überraschend glücklich in meinem Job. Die Geschäftsführung des Dreadnaught war ein angejahrter, zurückhaltender und versoffener Haufen, der sich die meiste Zeit aus der Küche raushielt. Die Kellnerinnen waren attraktiv und fröhlich, freigebig mit Drinks für die Küche und auch mit ihrer Gunst.
Und die Köche?
Die Köche beherrschten die Welt.
Da war Bobby, der Chefkoch, ein gut durchgebratener Exhippie um die dreißig, der, wie viele andere in P-Town, vor Jahren auf Urlaub hierher gekommen und dann hängen geblieben war. Er wohnte das ganze Jahr über hier und arbeitete außerhalb der Saison als Dachdecker, Schreiner und Haussitter. Da war Lydia, eine matronenhafte, geschiedene Portugiesin mit einer Tochter im Teenageralter. Lydia machte den clam chowder, für den wir einigermaßen berühmt waren, und gab während der Essenszeiten Gemüse und Beilagen aus. Sie trank nicht schlecht. Da war Tommy, der Mann an der Fritteuse, ein Surfer mit knallblauen Augen, der ständig in Bewegung war und sich, selbst wenn es nichts zu tun gab, hin- und herwiegte wie ein Elefant, um »in Schwung zu bleiben«. Da war Mike, ein Exsträfling und Teilzeit-Methadondealer, der am Salatposten arbeitete.
In der Küche waren sie göttergleich. Sie kostümierten sich wie Piraten: Kochjacken mit abgehackten Ärmeln, Jeans, zerfledderte und verblasste Stirnbänder, blutverschmierte Schürzen, goldene Kreolen, Türkisarmbänder und -halsketten, Ringe aus Walknochen und Elfenbein, Tattoos – all die dekorativen Überbleibsel des längst vergangenen Sommers der Liebe.
Sie hatten Stil, ein großspuriges Gehabe und fürchteten anscheinend nichts und niemanden. Sie tranken alles, was ihnen unter die Finger kam, stahlen, was nicht angenagelt war, und vögelten sich durch das Bodenpersonal, die Barkundschaft und gelegentliche Gäste, wie ich es nie gesehen oder mir auch nur erträumt hatte. Sie trugen große, bösartige Messer, die sie ständig auf Rasiermesserschärfe schliffen. Sie schleuderten dreckige Kasserollen und Töpfe mit lässiger Treffsicherheit quer durch die Küche in meine Topfspüle. Sie sprachen ihren eigenen seltsamen Dialekt, ein unglaublich obszönes Patois aus derbem Jargon und dem örtlichen portugiesischen Slang, und das alles vorgetragen in ironischer Manier. Sie nannten sich gegenseitig zum Beispiel »Paaaahd« statt »Partner« oder »Daaahling« statt »Darling«. Sie plünderten die Kneipe aus, so gut es nur ging, und deckten sich im Voraus ein für die mageren Monate außerhalb der Saison. Zweimal die Woche fuhr abends der Chefkoch seinen Volkswagenbus rückwärts an die Küchentür und lud ganze Roastbeefseiten ein; auch Kartons voller gefrorener Shrimps, Bierträger, Speckseiten, Kochwein und Öl wanderten auf die Ladefläche. Die Regale über den Posten – wo Flaschen mit Kochwein, Öl und so weiter für schnellen Zugriff während des Service standen – waren immer mit mindestens zwei Highballgläsern per Koch beladen. Lydia bezeichnete sie gerne als »Summertime Coolers«, meist waren es starke Cape Codder, Sea Breezes oder Greyhounds. Joints wurden in der Kellerkühlung geraucht, und Kokain – immer verfügbar, obwohl damals sehr teuer und immer noch in dem Ruf, die Droge der Reichen zu sein – gab es überall. Am Zahltag wanderte in der Küche Geld in einem byzantinischen Rondo von Transaktionen hin und her, wenn die Köche die Drogenschulden, Kredite und Wetten der vergangenen Woche beglichen.
In diesem ersten Jahr in P-Town erlebte ich eine ganze Menge mieses Verhalten. Ich war beeindruckt. Diese Typen waren Meisterverbrecher, sexuelle Athleten, verglichen mit meinen jämmerlichen Collegestreichen. Sie waren Straßenräuber, Piraten, Halsabschneider; für mich, damals noch ein armseliger Tellerwäscher, waren sie junge Fürsten. Das Leben eines Kochs war ein Leben voller Abenteuer – plündern, rauben und durchs Leben rock-and-rollen und locker alle konventionelle Moral ignorieren. Für mich, auf der anderen Seite des Küchenlaufs, sah das alles verdammt gut aus.
Aber wenn es einen Augenblick gab, in dem ich klar und deutlich erkannte, was ich wollte, dann war das am Ende dieses Sommers.
Inzwischen war ich ein bisschen aufgerückt. Mike war auf einem Methadon-Tripp verschollen, und ich war zum Salatposten befördert worden, wo ich Shrimp-Cocktails anrichtete, Austern und Kirschsteinmuscheln knackte, Hummerfleisch aus Büchsen mit Mayonnaise mischte und Champagnergläser mit Erdbeeren und Schlagsahne füllte.
Der Küchenlauf des Dreadnaught war eine lange, schmale Angelegenheit: ein kalter Posten neben der Ausgangstür zum Parkplatz, ein Doppeldecker-Hummerdampfgarer, wo wir die Anderthalb- und Zweipfünder dutzendweise abmurksten und sie wie Feuerholz stapelten, bevor wir die schweren Metalltüren zuschlugen und das Rad drehten, um sie unter Dampf zu setzen. Dann kamen eine Reihe Fritteusen, ein Herd, ein großer Garland-Ausziehgrill und schließlich ein Backsteinherd fürs Holzkohlegrillen. Das alles war abgegrenzt von der üblichen Durchreiche zur anderen Seite – hölzerner Hackstocktresen mit versenktem Dampftisch und darunter die Untertischkühlschubladen für Reservevorräte. Am offenen Herd am hinteren Ende, wo Bobby, der Chefkoch, arbeitete, befand sich eine Halbtür, deren oberes Ende immer offen stand, damit die ankommenden Touristen einen Blick auf die Hummer oder die Steaks auf dem Grill erhaschen und so in Stimmung kommen konnten.
Eines Wochentags traf eine große Hochzeitsgesellschaft ein, direkt von der Trauung: Braut, Bräutigam, Trauzeugen, Familie und Freunde. Sie hatten oben am Cape geheiratet, und das glückliche Paar mit Anhang war nach P-Town zum Hochzeitsmahl gekommen, dem vermutlich ein Empfang vorausgegangen war. Sie waren schon zu, als sie ankamen. Vom Salatposten am anderen Ende des Laufs beobachtete ich ein kurzes, genuscheltes Gespräch zwischen Bobby und einigen der Gäste. Mir fiel vor allem die Braut auf, die sich irgendwann in die Küche hereinbeugte und fragte, ob nicht einer von uns »ein bisschen Hasch« hätte. Als die Gesellschaft in den Speiseraum weiterzog, vergaß ich sie so ziemlich.
Eine Weile hämmerten wir Essen raus, Lydia amüsierte uns mit ihrem Geplapper, Tommy versenkte Muscheln und Shrimps im heißen Fett, die übliche Ebbe und Flut einer geschäftigen Küche. Dann erschien die Braut wieder an der offenen Halbtür. Sie war blond und sah gut aus in ihrem jungfräulichen Weiß. Sie unterhielt sich leise ein paar Sekunden lang mit dem Chef, und Bobby grinste plötzlich übers ganze Gesicht, sodass die sonnenverbrannten Krähenfüße um seine Augen noch deutlicher sichtbar wurden. Ein paar Augenblicke später war sie wieder verschwunden, aber Bobby, der sichtlich zitterte, sagte plötzlich: »Tony! Behalt meinen Posten im Auge!«, und huschte prompt zur Hintertür hinaus.
Normalerweise wäre allein das schon ein gewichtiges Ereignis gewesen. Die Erlaubnis, am überlasteten Grillposten zu arbeiten, das Ruder zu übernehmen – wenn auch nur für ein paar Minuten –, war die Erfüllung eines Traums. Aber die Neugier übermannte alle noch in der Küche Verbliebenen. Wir mussten nachschauen.
Direkt vor dem Fenster beim Geschirrspüler befand sich ein eingezäunter Müllbereich, der den gestapelten Müll und die Tonnen mit essbarem Abfall, die das Restaurant an eine Schweinefarm Cape-aufwärts verkaufte, gegen den Parkplatz abschottete. In kürzester Zeit spähten wir alle – Tommy, Lydia, der neue Spüler und ich – durch das Fenster, wo Bobby, direkt im Blickfeld seiner versammelten Mannschaft, die Braut sehr geräuschvoll von hinten vögelte. Sie hielt sich bereitwillig über ein 250-Liter-Fass gebeugt, ihr Kleid war über die Hüften hochgeschoben. Bobby hatte seine Schürze gerafft, sie ruhte auf ihrem Rücken, während er heftig pumpte. Die Augen der jungen Frau verdrehten sich, ihr Mund flüsterte: »Ja, jaaaa … gut … gut …«
Während der frisch gebackene Bräutigam und die Familie nur ein paar Meter entfernt im Speiseraum des Dreadnaught fröhlich ihre Flunderfilets und frittierten Jakobsmuscheln mampften, stand hier die schüchterne Braut und schob eine spontane Abschiedsnummer mit einem total Fremden.
Und genau in diesem Augenblick, lieber Leser, wusste ich es: Ich wollte Chefkoch werden.
Ich möchte nicht, dass Sie den Eindruck gewinnen, es sei bis zu diesem Punkt nur um Ficken, freien Fusel und mühelosen Zugriff auf Drogen gegangen. Ich müsste für Sie eigentlich die Freuden von portugiesischem Kalmare-Eintopf heraufbeschwören, von Wellfleet-Austern in der offenen Schale, New England clam chowder, der fettigen, wunderbaren, feuerroten chorizo-Wurst, der Kohlsuppe – oder auch diese eine Nacht, in der die Streifenbarsche direkt aus dem Wasser auf die Tische von Cape Cod sprangen.
1974 gab es, soweit ich mir dessen bewusst war, keine kulinarische Kultur. Speziell in P-Town gab es nicht, wie etwa heute, irgendwelche Starköche – klassisch geschulte Typen, den Namen auf der Jacke eingestickt, deren Namen und Äußerungen sich Essens-Junkies zuwarfen, deren Fotos wie Baseballkarten getauscht wurden. Es gab keine geflügelten Worte wie »Bam!« und »Legen wir noch einen Zahn zu!«, wie man sie sich heutzutage vor einem gläubigen Publikum im Fernsehen zuschleudert. Das war die Frühzeit amerikanischer Gastronomie. Kalmare betrachtete man als »Müllfisch«, der an den Docks praktisch verschenkt wurde. Tunfisch wurde hauptsächlich als Katzenfutter verkauft oder an Dosenfabriken und an ein paar unternehmungslustige Japaner, die, wie man glaubte, »was verwechselten« bei den hohen Preisen, die sie bezahlten. Seeteufel hieß noch längst nicht Lotte und war auf den Dinnertafeln in Manhattan nicht zu finden. In P-Town wurde der meiste Fisch gräten- und hautlos auf Bleche geklatscht, mit geklärter Butter und Paprika bestreut und dann zu Tode gegrillt. Der Petersilienzweig und der Zitronenschnitz waren die schickste Deko. Unsere wenigen kulinarischen Helden im Dreadnaught wurden eher bewundert für ihre Potenz am Posten – das heißt die Anzahl von Gerichten, die jeden Abend serviert wurden, die Menge an Schmerz und Hitze, die sie ertrugen, die Gesamtzahl der Kellnerinnen, die sie gebumst hatten, und die Unmengen an Cocktails, die sie ohne sichtliche Wirkung schlucken konnten. Das waren Statistiken, die wir begriffen und zu schätzen wussten.
Da gab es Jimmy Lester, den Grill-King, auf den wir große Stücke hielten. Er hatte jahrelang in einem nahe gelegenen Steakhouse gearbeitet und war berühmt für die gewaltige Anzahl von Steaks und Koteletts, die er gleichzeitig auf seinem großen Grill jonglieren konnte. Jimmy hatte »moves« drauf, was hieß, dass er das Fleisch drehte, wirbelte und stocherte, mit einem Stil und einer Anmut, die für einen 100-Kilo-Mann beachtlich waren. Und er wurde bewundert, weil er den »bump« beherrschte – eine Geschichte, bei der der Mann am Grill mit beiden Händen voller Bleche oder Teller den Grill mit der Hüfte zurück unter die Flammen kickt. Das gefiel uns.
Wer Lebensmittel und Geräte falsch, aber mit Aplomb behandelte, wurde grundsätzlich bewundert. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch heute noch. Metzger klatschen edle Fleischteile immer noch mit mehr Wucht und Lärm als nötig auf den Tresen. Postenköche können es sich nicht verkneifen, servierfertige Teller mit Effet der Rückhand durch den Pass zu schleudern, sodass sie erst kurz vor der Kante zum Stehen kommen. Die Ofentüren der meisten Küchen müssen ständig nachgezogen werden, weil sie von clogbeschuhten Füßen zugekickt werden. Und wir alle spielen für unser Leben gern mit Messern.
Die Jungs auf der anderen Seite der Straße galten als Meisterteam, ein Musterbeispiel für die kulinarischen Ideale der Zeit. Marios Restaurant war eine enorm erfolgreiche süditalienische Pinte, und die Mario-Crew war gefürchtet und geachtet, weil sie jeden Abend mehr Gerichte rausgab als andere, und zwar ein paar hundert mehr. Für die damalige Zeit waren das sogar recht aufwendige Sachen: Ganze Kalbshinterviertel wurden vor Ort zerlegt, Fonds wurden aus echten Knochen (nicht aus Fertigprodukten) gekocht, Saucen aus qualitativ hochwertigen Zutaten frisch hergestellt. Und die Crew des Mario war der lauteste, krasseste, mieseste Haufen von Köchen in der ganzen Stadt. Wenn sie nach der Arbeit auf ein paar Schluck ins Dreadnaught hereinschneiten, sah unser Haufen von Teilzeit-Messerschwingern richtig alt aus. Sie waren eindrucksvoller, selbstbewusster und traten noch um einiges stilvoller auf als unser zusammengewürfelter Haufen von Aussteigern und Amateuren. Sie bewegten sich im Rudel, und sie hatten ihre eigene Sprache – ein nasales, ultrafeminines affektiertes Gesäusel, gespickt mit Begriffen aus der englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts und Drillsprüchen des Marine Corps – eine saftige, einschüchternde, sarkastische Geheimsprache.
»Ihr, Sir, seid ein verachtenswertes Schwein. Zu ignorant, um Pisse aus einem Stiefel zu gießen! Euer Geruch beleidigt mich, und mein muschelgleiches Ohr lechzt danach, Eure Schmerzensschreie zu vernehmen. Ich bestehe darauf, dass Ihr Euer Gesicht abwendet und mir ein Getränk kredenzt, bevor ich Euren armseligen Arsch die Spitze meines Stiefels kosten lasse – verrotzter kleiner Schwanzlutscher!«
Sie gaben sich gegenseitig Frauennamen – schmerzhaft für das Ohr, da sie alle riesige, hässliche Gestalten mit wildem Blick waren, muskelbepackt, voller Narben und mit Ohrringen in Türklopfergröße. Außenseiter waren für sie Menschen zweiter Klasse; sie verständigten sich oft nur mit Blicken oder einem Lächeln, und sie bewegten sich durch die Straßen von P-Town wie Titanen. Sie hatten mehr Koks, besseres Gras, größere Goldteile, hübschere Frauen. Und ihr Schönstes war es, uns das unter die Nase zu schmieren.
»Wie viele?«, fragten sie dann nach einem geschäftigen Samstagabend.
»Oh, eins fünfzig, zweihundert«, erklärte Bobby, was natürlich ein bisschen übertrieben war.
»Wir haben… wie viel? Wie viele waren das, Alexandra, Schatz?«, fragte dann der Küchenchef von Mario’s lässig. »Vierhundertfünfzig? Fünf?«
»Sechs, glaub ich«, meinte darauf Dimitri, der Pasta-Mann von Mario – ein Mann, der später eine wichtige Rolle in meiner Laufbahn spielen sollte.
»Ja … sechs. Schlaffer Abend, möchte ich sagen. Wirklich armselig. Die Schweine haben wohl heute Abend ihre Rüssel in andere Tröge gesteckt. Wahrscheinlich im Dairy Queen.«
Und dann war da Howard Mitcham. Howard war der einzige Küchenchef der Stadt, der einen »Namen« hatte. Er war um die fünfzig, heftiger Alkoholiker und stocktaub – die Folge eines Unfalls mit Feuerwerkskörpern in seiner Kindheit. Er war fast jede Nacht nach der Arbeit unterwegs, hielt sich an den Tresen der Fischerkneipen fest oder torkelte grölend durch die Stadt (er sang auch gerne). Howard war zwar die meiste Zeit betrunken und obendrein kaum zu verstehen, aber er war der verehrte Nestor der Kochszene von Cape Cod, der respektierte Küchenchef eines blendend laufenden Restaurants und Autor zweier sehr angesehener Kochbücher: The Provincetown Seafood Cookbook und Creole, Gumbo und All That Jazz – zwei Bände, die ich immer noch benutze und die mich und meine kulinarischen Kollegen der damaligen Zeit stark beeinflusst haben.
Er hatte eine zerzauste weiße Mähne, einen roten Gin-Teint, die Plauze eines Säufers und trug immer die kurzärmligen Druckknopfhemden der Tellerwäscher. Und sowohl er als auch seine Bücher waren eine wahre Fundgrube von Rezepten, Erinnerungen, Geschichte, Volksweisheiten und Illustrationen, ohne jegliche Prätention und geprägt von seiner dauerhaften Liebe für die bescheidene, einheimische Küche der Arbeiterklasse.
Howard liebte Meeresfrüchte. Alle Meeresfrüchte. Im Gegensatz zu den meisten von uns konnte er auch damit umgehen. Vor allem die weniger populären Fische der damaligen Zeit hatten es ihm angetan, und er verarbeitete Tunfisch, Makrele, Tintenfisch, Roten Tunfisch und Kabeljau zu Köstlichkeiten. Sein Markenzeichen war Schellfisch almandine, und die Leute nahmen dafür eine stundenlange Anfahrt aus Boston in Kauf. Er war der erste Küchenchef, den ich kannte, der die einheimische Portugee -Küche wirklich zu schätzen wusste: die würzigen, mit Kreuzkümmel parfümierten Tintenfischeintöpfe, die mit linguica gewürzten Kohlsuppen, die Paarung von Fisch und Schweinewürsten. Und er war ein heißer Verfechter der mystischen Kräfte der Venusmuschel, dieser unscheinbaren, etwas zähen hiesigen Muschelart.
Einmal jeden Sommer schmissen Howard und seine Freunde – hauptsächlich Künstler, Fischer, Autoren und Säufer – eine Party, genannt John J. Gaspie Memorial Clambake, zu Ehren eines verschiedenen Fischerfreundes. Es war das größte gesellschaftliche Ereignis für die ständigen Bewohner von P-Town und für diejenigen von uns, die während der Saison in der Gastronomie arbeiteten. Howard und seine Freunde buddelten Gruben in den Sand, versenkten glänzende neue Mülleimer darin – füllten sie mit Venusmuscheln, Hummern, Kabeljau, Gemüse, Kartoffeln und Mais und ließen dann alles langsam über glühenden Kohlen tief im Sand vergraben schmoren, während sich alle bewusstlos soffen.
Für uns im Dreadnaught war Howard ein Zauberer, ein Orakel, das in vielen Zungen sprach. Howard verstanden wir vielleicht nicht, aber wir verstanden seine Bücher. Auch wenn es nicht einfach war, sein öffentliches Verhalten mit dem trockenen, musikalischen und liebevoll-informativen Ton seiner Schreiberei in Einklang zu bringen, reichte uns das, um diesen Mann zu respektieren für das, was er wusste und zu Wege bringen konnte. Hier war jemand, der das Essen liebte, nicht nur das Leben eines Kochs. Howard zeigte uns, wie wir für uns selbst kochen konnten, aus reiner Lust am Essen, nicht nur für die Touristenhorden.
Howard zeigte uns, dass es für uns Köche Hoffnung gab. Dass Essen eine Berufung sein konnte. Dass das Zeug selbst etwas war, auf das wir tatsächlich stolz sein konnten, ein Lebensinhalt. Vor kurzem las ich im New York Times Magazine eine Kolumne von Molly O’Neill, in der sie die Freuden portugiesisch beeinflusster Cape-Cod-Gerichte wie weiße Bohnen, Kohl und chorizo schilderte, und da wusste ich, dass sie das Essen des alten Mannes gekostet und wahrscheinlich auch seine Bücher gelesen hatte. Auch wenn sein Name nicht erwähnt wurde, hatte Howard sich über die Jahrzehnte bis in meine Sonntagszeitung behauptet –, und ich freute mich darüber.
Es gab noch ein inspirierendes Ereignis: eine raue, stürmische, mondbeschienene Nacht auf dem Wasser. Als der Geschäftsführer des Dreadnaught aus dem Fenster schaute, sah er plötzlich, wie tausende kleiner Köderfische die Oberfläche durchbrachen und in Panik Richtung Ufer schwammen. Er wusste, was das bedeutete, so gut wie auch jeder andere in der Stadt, der ein Boot, ein Gaff und ein Toastbrot als Köder besaß: die Streifenbarsche schwärmten!
Tausende der hoch geschätzten, relativ teuren Streifenbarsche waren, in einem raren Fressrausch, plötzlich da und leicht zu fangen. Man musste buchstäblich nur Brot ins Wasser werfen, dem leckeren Fisch das Gaff auf den Kopf hauen und ihn dann einholen. Man fing sie hundertpfundweise. Jedes Restaurant in der Stadt deckte sich damit ein, und aus jedem Parkplatz wurde auf einen Schlag eine mit Kerosinlampen beleuchtete Bühne fürs Schuppen, Ausnehmen und Einpacken. Auch der Dreadnaught-Parkplatz war schlagartig voller blutbesudelter Köche und Spüler, die unter flackernden Gaslaternen und nackten Glühbirnen arbeiteten, um das wertvolle weiße Fleisch zu säubern, einzupacken und einzufrieren. Wir arbeiteten stundenlang mit unseren Messern, Fischschuppen funkelten in unserem Haar wie Schneeflocken, während wir schuppten, rissen, filetierten. Am Ende dieser nächtlichen Arbeit brachte ich ein 35-pfündiges Monster, noch gekrümmt von Leichenstarre, nach Hause. Meine Mitbewohner rauchten gerade Gras, als ich in unser kleines Heim am Strand zurückkam, und, wie so oft bei solchen Gelegenheiten, waren sie hungrig. Wir hatten nur den Barsch, ein bisschen Butter und eine Zitrone als Zutaten, aber wir brieten den Schlemihl unter dem winzigen Haushaltsgrill und servierten ihn auf Aluminiumfolie, zerfetzten ihn mit den Fingern. Es war eine mondhelle Nacht, eine bösartige Flut leckte an den Kanten unseres Hauses, und während die Fenster in ihren Rahmen zu zittern begannen, erfüllte ein Geruch von weißer Gischt und Salz die Luft, und wir aßen. Es war das frischeste Stück Fisch, das ich je gegessen hatte, und ich weiß nicht, ob es daran lag, dass das Wetter plötzlich so dramatisch wurde, aber es traf mich direkt in die Hirnschale. Dank dieser Mahlzeit bekam ich ein besseres Gefühl für alles; sie machte mich besser, weil ich sie verspeist hatte, irgendwie gescheiter, irgendwie … Es war ein Proteinflash in den Kortex, ein sauberes Drei-Zutaten-High, mit den Händen gegessen. Konnte denn irgendetwas besser sein?
Als die Saison zu Ende ging, driftete die Stammcrew allmählich davon, machte sich auf zur Arbeit in Wintersportorten in Colorado, auf Charterbooten in der Karibik, in Restaurants und Crab Shacks in Key West. Und so bekam ich meine Aufstiegschance während der letzten Wochen, bevor das Dreadnaught für dieses Jahr schloss. Ich arbeitete an der Frittierstation, stippte panierte Muscheln und Shrimps in heißes Öl und schaffte eine beachtliche Strecke von Hummern auf dem Doppeldeckerdämpfer. Schließlich wurde ich sogar noch weiter befördert: Ich durfte ein paar Schichten an dem mächtigen Grill schieben.
Ich kann Ihnen die schiere Freude, die Macht, diesen monströsen, Feuer speienden Eisen- und Stahlofen zu befehligen, gar nicht beschreiben, wenn ich den Grill mit der Hüfte unter die Flammen bugsierte, so wie ich es bei Bobby und Jimmy gesehen hatte. Es war grandios. Ich hätte im Cockpit einer F-16 nicht glücklicher sein und mich auch nicht mächtiger fühlen können. Für ein paar kurze Wochen regierte ich die Welt, und ich war wild entschlossen, diese Station im folgenden Sommer zu meiner eigenen zu machen.
Traurigerweise lief es nicht so, wie ich es geplant hatte. Im nächsten Sommer kaufte Mario unser langsam havarierendes Restaurant. Mario war so gütig, diejenigen von uns, die dort im vorigen Jahr gearbeitet hatten, für unsere alten Jobs mit ein paar Schichten in seiner Küche vortanzen zu lassen. Ich war ganz aus dem Häuschen wegen dieser Chance und machte mich im April voller Hoffnung und Zuversicht auf den Weg nach P-Town, überzeugt davon, ich würde den Schnitt machen, diesen Top-Grill-Job an Land ziehen, das große Geld, den Gig, der mich zu einem der Piratenelite machen würde, einen arschtretenden, kehlenaufschlitzenden Platzhirsch, der den Salatmännern, den Fritteusenköchen und den Vorbereitungsdrohnen in weniger erfolgreichen Restaurants zeigen könnte, was ein Chefkoch ist.
Ich rollte in der Stadt ein, angetan, wie ich mich entsinne – Gott steh mir bei –, mit einem nagelneuen, hellblauen Pierre-Cardin-Seersucker-Anzug. Auch die Schuhe waren blau. Da war ich also, kam per Anhalter in eine Stadt, die eigentlich ein bescheidenes, lockeres portugiesisches Fischerdorf und eine Künstlerkolonie sein sollte, eine Stadt, in der sich die Leute schlicht anzogen – Jeans, Militärklamotten, alte Khakisachen. Und ich hatte mich in einem Anfall von früher Siebzigerjahre-Disco-Hybris dazu entschlossen, in einem schultergepolsterten Robert-Palmer-Out-fit einzulaufen, weil es mich unter den Nägeln juckte, den hiesigen Tölpeln zu zeigen, wie wir das in New York City machten.
Sie klopften gerade Kalbfleisch in der Küche, als ich ankam. Die ganze Crew hämmerte auf jeder verfügbaren horizontalen Oberfläche mit schweren Stahlfleischklopfern Kalbskoteletts für scallopine. Der Testosteronspiegel war hoch, sehr hoch. Diese Typen waren das A-Team, und sie wussten es. Jeder wusste es. Das Servicepersonal, die Manager und selbst Mario bewegten sich in ihrer Nähe wie auf Glatteis, so als ob einer von ihnen plötzlich durch die Gitterstäbe hechten und ihnen ein Stück rausbeißen könnte. Nur ich alleine war zu dämlich zu erkennen, wie fehl am Platz ich unter diesen prachtvollen Kochmaschinen war. Ich hatte ein paar hundert Mahlzeiten rausgegeben, in entspanntem Tempo, in einer nicht sehr geschäftigen Pinte, außerhalb der Saison. Diese Typen klopften im Eilzugtempo vier-, fünf-, sechshundert hochwertige Mahlzeiten pro Abend raus!
Es war Freitag, eine Stunde vor Servicebeginn, als man mich Tyrone, dem Grillmann, vorstellte, dem ich hinterhertappen sollte. In meiner Erinnerung ist Tyrone mindestens zwei Meter zehn groß, vierhundert Pfund schweres, gemeißeltes Obsidian, mit rasiertem Kopf, einem nicht zu übersehenden, mit Silber überkrontem Vorderzahn und dem unerlässlichen faustgroßen Goldohrring. Seine wahren Ausmaße waren wahrscheinlich erheblich bescheidener, aber damit Sie eine Vorstellung kriegen: Er war riesig, schwarz, unglaublich muskulös, und seine Kochjacke Größe 56 spannte sich wie ein Trommelfell über seinen Rücken. Er war ein Riese, ein schwarzer Wikinger, Conan der Barbar, John Wayne und der Golem, alles in einer Person. Aber ich, unbeeindruckt, wie es nur die Unwissenden sein können, begann sofort loszuquatschen und erfreute meine neuen Kumpel mit sehr übertriebenen Berichten meiner Abenteuer im alten Dreadnaught – was für schlimme Buben wir gewesen waren. Ich brabbelte über New York, versuchte mich als straßenerfahrenen, abgefeimten, sogar etwas gefährlichen, professionellen Revolverhelden der Kochszene darzustellen.
Sie waren, gelinde gesagt, nicht beeindruckt. Was mich aber nicht im Geringsten daran hinderte weiterzuplappern, immer weiter. Ich ignorierte alle Anzeichen. Alle. Verdrehte Augen, verkniffenes Lächeln. Ich schwatzte einfach weiter, registrierte überhaupt nicht, was in der Küche um mich herum passierte. Die monströsen Mengen von Lebensmitteln, die in Schubladen und Schränken für die mise-en-place verstaut wurden. Ich verpasste das entschlossene Schärfen der Messer, das sorgfältige Arrangieren und Falten von Handtüchern in Stapeln mit Knickecke, das Schichten von Lieblingspfannen, Eis, Extratöpfen mit heißem Wasser, Notfallvorräten von allem. Sie waren wie Marines, die sich für die Belagerung von Khe Sanh eingruben, und ich kapierte nichts.
Ich hätte dieses eingeübte Ritual als das erkennen müssen, was es war, begreifen, auf welch hohem Niveau hier in Mario-Land gearbeitet wurde. Ich hätte dankbar sein müssen für die Erfahrung der Zeit, die sie gemeinsam abgedient hatten und die es diesen Riesen erlaubte, wortlos in dem engen, schwer bemannten Raum hinter den Posten umeinander herumzutanzen, ohne aneinander zu stoßen, ohne eine Bewegung zu viel. Sie hievten dreihundert Pfund schwere Brühetöpfe auf Herdplatten, schleuderten Kalbshaxen wie Hähnchen herum, blanchierten hunderte Pfund von Pasta und ertrugen dabei kommentarlos mein endloses, selbstverherrlichendes, hirnloses Gewäsch. Ich hätte dieses femme-Sträflings-Patois, diese Geschichte mit den Frauennamen und den archaischen Ausdrücken erkennen müssen als das, was es war: das Endergebnis jahrelanger Zusammenarbeit auf engstem Raum, unter extremem Druck. Ich hätte es begreifen sollen. Aber das war nicht der Fall.