Gestohlene Erinnerung - Blake Crouch - E-Book
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Blake Crouch

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Beschreibung

Der New Yorker Detective Barry Sutton steht vor einem Rätsel: Ein geheimnisvolles Phänomen quält die Menschen mit falschen Erinnerungen und treibt sie in den Tod. Auch die Hirnforscherin Helena Smith weiß schon lange um die Macht der Erinnerung. Um diese zu bewahren, entwickelte sie eine Technologie, die uns unsere kostbarsten Momente noch einmal erleben lässt: den ersten Kuss, die Geburt eines Kindes. Doch nun bedroht der Missbrauch ihrer Erfindung das Schicksal der Menschheit. Im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner versuchen Helena und Barry, eine Katastrophe zu verhindern – während um sie herum alle Realität an Halt verliert …

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Buch

Der New Yorker Detective Barry Sutton steht vor einem Rätsel: Ein geheimnisvolles Phänomen quält die Menschen mit falschen Erinnerungen und treibt sie damit in den Tod. Auch die Hirnforscherin Helena Smith weiß schon lange um die Macht der Erinnerung. Um diese zu bewahren, entwickelte sie eine Technologie, die uns unsere kostbarsten Momente noch einmal erleben lässt: den ersten Kuss, die Geburt eines Kindes, die letzten Minuten mit einem geliebten Menschen. Doch dann geht etwas schief, und ihre Erfindung bedroht das Schicksal der gesamten Menschheit. Im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner versuchen Helena und Barry, eine Katastrophe zu verhindern – womit sie nicht gerechnet haben, ist, dass auch auf die Wirklichkeit bald kein Verlass mehr ist …

Weitere Informationen zu Blake Crouch und zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Blake Crouch

Die Originalausgabe erschien 2019unter dem Titel »Recursion« bei Crown, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2019 by Blake Crouch Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Kerstin von Dobschütz Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München, Th · Herstellung: ik

Für Jacque

BUCHEINS

Zeit ist nichts als eine Erinnerung, die entsteht.

Vladimir Nabokov

BARRY

2. November 2018

Barry Sutton hält in der Feuerwehrzufahrt am Haupteingang des Poe Buildings. Einem Art-déco-Hochhaus, das im Schein der Fassadenbeleuchtung weiß strahlt. Er steigt aus seinem Crown Vic, läuft quer über den Gehweg und stürmt durch die Drehtür in die Lobby.

Der Nachtwächter steht vor der Reihe der Aufzüge und hält ihm eine Tür auf. Barry eilt auf ihn zu, und seine Schritte hallen über den Marmorboden.

»Welcher Stock?«, fragt Barry, als er den Aufzug betritt.

»Einundvierzig. Wenn Sie oben ankommen, gehen Sie nach rechts und den ganzen Korridor entlang.«

»Gleich treffen noch mehr Polizisten ein. Sagen Sie denen, sie sollen sich zurückhalten, bis ein Signal von mir kommt.«

Der Aufzug saust in einem Tempo nach oben, das man bei dem Alter des Gebäudes nicht erwartet hätte, und nach ein paar Sekunden knackt es in Barrys Ohren. Als die Tür sich schließlich öffnet, sieht er das Schild einer Anwaltskanzlei vor sich. Hier und da brennt Licht, aber der Korridor liegt zum großen Teil im Dunkeln. Er läuft über den Teppichboden, vorbei an stillen Büros, einem Besprechungsraum, einem Pausenraum, einer Bibliothek. Der Korridor endet an einem Empfangsbereich, der zum größten Büro gehört.

Im Dämmerlicht verschwimmen die Farben aller Details in Grautönen. Ein ausladender Mahagonischreibtisch, begraben unter Akten und Unterlagen. Ein runder Tisch, bedeckt von Notizblöcken und Bechern mit kaltem, bitter riechendem Kaffee. Eine Bar mit Spülbecken, gut bestückt mit Flaschen von teuer aussehendem Scotch. Ein beleuchtetes Aquarium mit einem kleinen Hai und mehreren tropischen Fischen summt am anderen Ende des Raums.

Als Barry sich der Glastür nähert, schaltet er sein Telefon stumm und zieht sich die Schuhe aus. Er greift nach dem Türknauf, öffnet behutsam die Tür und schlüpft hinaus auf die Terrasse.

Die Wolkenkratzer der Upper East Side schimmern wie mystische Bauten durch die Nebelschleier. Der Lärm der Stadt ist laut und nah – Autohupen hallen zwischen den Gebäuden wider, und in der Ferne rasen Krankenwagen zu irgendwelchen anderen Tragödien. Die Spitze des Poe Buildings ragt keine fünfzehn Meter über ihm auf – eine Krone aus Glas und Stahl und gotischem Mauerwerk.

Die Frau sitzt neben einem verwitterten Wasserspeier mit dem Rücken zu Barry auf der Brüstung und lässt die Füße über die Kante baumeln.

Er schiebt sich näher heran, es sind etwa fünf Meter Entfernung zwischen ihm und ihr, und die nassen Bodenplatten durchfeuchten seine Socken. Wenn er nah genug herankommen kann, ohne dass sie ihn bemerkt, wird er sie von der Kante zurückreißen, ehe sie weiß, was …

»Ich kann Ihr Rasierwasser riechen«, sagt sie, ohne sich umzudrehen.

Er bleibt stehen.

Jetzt schaut sie sich um und sagt: »Noch ein Schritt, und ich bin weg.«

Im matten Licht ist es schwer zu sagen, aber sie scheint um die vierzig zu sein. Sie trägt einen dunklen Blazer und einen dazu passenden Rock, und anscheinend sitzt sie schon eine ganze Weile hier draußen, denn ihr Haar klebt feucht vom Nebel an ihrem Kopf.

»Wer sind Sie?«, fragt sie.

»Barry Sutton. Ich bin Detective beim Raubdezernat des NYPD.«

»Die schicken jemanden vom Raub…?«

»Ich war zufällig in der Nähe. Wie heißen Sie?«

»Ann Voss Peters.«

»Darf ich Sie Ann nennen?«

»Natürlich.«

»Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen kann?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Ich gehe hier zur Seite, damit Sie sich nicht den Hals verrenken, wenn Sie mich ansehen.«

Barry entfernt sich in einen Winkel, der ihn ebenfalls an den Rand der Terrasse bringt, zweieinhalb Meter weit neben ihr. Er wirft einen Blick über die Kante, und seine Eingeweide krampfen sich zusammen.

»Okay, lassen Sie hören«, sagt sie.

»Wie bitte?«

»Sind sie nicht hier, um es mir auszureden? Tun Sie Ihr Bestes.«

Er hat sich im Aufzug an sein Anti-Selbstmord-Training erinnert und entschieden, was er zu ihr sagen würde. Jetzt jedoch ist er sich nicht mehr so sicher. Sicher ist nur, dass er eiskalte Füße hat.

»Ich weiß, in diesem Augenblick kommt Ihnen alles hoffnungslos vor, aber das ist nur ein Augenblick, und Augenblicke vergehen.«

Ann starrt an der Flanke des Gebäudes entlang senkrecht nach unten auf die Straße einhundertzwanzig Meter tief unter ihr. Ihre Hände liegen flach auf dem Stein, der vom sauren Regen der Jahrzehnte verwittert ist. Sie braucht sich nur noch abzustoßen. Er vermutet, dass sie die nötigen Bewegungen im Geiste ablaufen lässt und sich auf Zehenspitzen dem Gedanken nähert, es zu tun, sobald der Druck groß genug ist.

Er sieht, dass sie fröstelt.

»Darf ich Ihnen meine Jacke geben?«, fragt er.

»Ich bin ziemlich sicher, dass Sie nicht näher kommen wollen, Detective.«

»Warum nicht?«

»Ich habe FMS.«

Barry widersteht dem Drang wegzulaufen. Natürlich hat er vom False Memory Syndrome schon gehört, dem Erinnerungsverfälschungssyndrom, aber er hat bisher noch niemanden gekannt oder nur gesehen, der daran leidet. Nie dieselbe Luft geatmet. Er weiß nicht, ob er jetzt noch versuchten sollte, sie zu packen. Er will nicht einmal in ihrer Nähe sein. Nein, scheiß drauf. Wenn sie zum Sprung ansetzt, wird er versuchen, sie zu retten, und wenn er sich dabei ansteckt, ist das nicht zu ändern. Solche Risiken geht man ein, wenn man Polizist wird.

»Wie lange schon?«, fragt er.

»Eines Morgens vor ungefähr einem Monat war ich plötzlich nicht zu Hause in Middlebury, Vermont, sondern in einem Apartment hier in der Stadt. Ich hatte rasende Kopfschmerzen und schreckliches Nasenbluten. Zuerst hatte ich keine Ahnung, wo ich war, aber dann erinnerte ich mich … auch an dieses Leben. Hier und jetzt. Ich bin ledig. Investmentbankerin. Ich lebe unter meinem Mädchennamen. Aber ich habe …« Sie kämpft sichtbar mit ihren Emotionen. »Ich habe Erinnerungen an mein anderes Leben in Vermont. Ich war die Mutter eines neunjährigen Jungen namens Sam. Ich hatte zusammen mit meinem Mann, Joe Behrman, eine Landschaftsgärtnerei. Ich war Ann Behrman. Wir waren so glücklich, wie man es mit Fug und Recht sein darf.«

»Wie fühlt sich das an?« Barry macht verstohlen einen Schritt auf sie zu.

»Wie fühlt sich was an?«

»Ihre falschen Erinnerungen an das Leben in Vermont.«

»Ich erinnere mich nicht nur an meine Hochzeit. Ich erinnere mich an den Streit über die Form unserer Torte. Ich erinnere mich an die kleinsten Details unseres Hauses. An unseren Sohn. An jeden Augenblick seiner Geburt. An sein Lachen, das Muttermal auf seiner linken Wange. An seinen ersten Schultag, und wie er nicht wollte, dass ich wegging. Aber wenn ich versuche, mir Sam vorzustellen, ist sein Bild schwarz-weiß. Seine Augen haben keine Farbe. Ich sage mir, dass sie blau waren, aber ich sehe nur in Schwarz. Alle Erinnerungen an dieses Leben sind grau getönt, wie Standbilder aus einem Film noir. Sie kommen mir echt vor, aber es sind spukhafte Phantomerinnerungen.« Sie verliert die Fassung. »Alle glauben, FMS besteht nur aus falschen Erinnerungen an die großen Momente des Lebens, aber was viel mehr schmerzt, sind die kleinen Momente. Ich erinnere mich nicht nur an meinen Mann. Ich erinnere mich daran, wie sein Atem roch, wenn er sich morgens im Bett zu mir umdrehte. Wie er jedes Mal vor mir aufstand, um sich die Zähne zu putzen. Ich wusste dann, er würde zurückkommen und versuchen, mit mir zu schlafen. Das sind die Dinge, die mich umbringen. Die winzigen, aber perfekten Details, an denen ich erkenne, dass sie passiert sind.«

»Und was ist mit diesem Leben?«, fragt Barry. »Hat es keinen Wert für Sie?«

»Vielleicht bekommen manche Leute FMS und bevorzugen ihre neuen Erinnerungen vor den falschen, aber in diesem Leben gibt es nichts, was ich haben will. Ich habe mich bemüht, vier lange Wochen lang. Ich kann mich nicht mehr verstellen.« Tränen hinterlassen Spuren von Wimperntusche. »Mein Sohn hat nie existiert. Verstehen Sie das? Er ist nur eine wunderbare Fehlzündung in meinem Gehirn.«

Barry wagt noch einen Schritt auf sie zu, aber diesmal bemerkt sie es.

»Kommen Sie nicht näher.«

»Sie sind nicht allein.«

»Scheiße, ich bin mutterseelenallein.«

»Ich kenne Sie erst seit ein paar Minuten, und ich werde am Boden zerstört sein, wenn Sie springen. Denken Sie doch an die Leute in Ihrem Leben, die Sie lieben. Stellen Sie sich vor, was sie empfinden werden.«

»Ich habe Joe aufgespürt«, sagt Ann.

»Wen?«

»Meinen Mann. Er wohnt in einer Villa auf Long Island. Er tat, als kenne er mich nicht, aber ich weiß, dass er mich erkannte. Er hat ein völlig anderes Leben. Er ist verheiratet – keine Ahnung, mit wem. Ich weiß nicht, ob er Kinder hat. Er tat, als wäre ich verrückt.«

»Das tut mir leid, Ann.«

»Es schmerzt zu sehr.«

»Hören Sie, ich war auch schon da, wo Sie jetzt sind. Ich wollte alles beenden. Und jetzt stehe ich hier und sage Ihnen, ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Ich bin froh, dass ich die Kraft hatte, es durchzustehen. Dieser Tiefpunkt ist nicht das Buch Ihres Lebens. Er ist nur ein Kapitel.«

»Was ist Ihnen denn passiert?«

»Ich habe meine Tochter verloren. Das Leben hat auch mir das Herz gebrochen.«

Anns Blick ist auf die Skyline gerichtet. »Haben Sie Fotos von ihr? Sprechen Sie noch über sie mit anderen?«

»Ja.«

»Wenigstens hat sie einmal existiert.«

Darauf weiß er keine Antwort.

Ann schaut zwischen ihren Beinen nach unten. Sie streift einen ihrer Pumps ab.

Sieht ihm nach, als er hinunterfällt.

Dann schickt sie den zweiten hinterher.

»Ann, bitte.«

»In meinem vorigen, meinem falschen Leben ist Joes erste Frau, Franny, vor fünfzehn Jahren von diesem Gebäude gesprungen. Genau gesagt, von dieser Terrasse. Sie hatte klinische Depressionen. Ich weiß, dass er sich die Schuld daran gegeben hat. Bevor ich sein Haus auf Long Island verließ, habe ich ihm gesagt, ich würde heute Abend vom Poe Building springen, genau wie Franny. Es klingt albern und verzweifelt, aber ich habe gehofft, er würde heute hier oben auftauchen und mich retten. Wie er es in ihrem Fall nicht getan hat. Als Sie kamen, dachte ich im ersten Moment, er wäre es, aber er hat nie Rasierwasser benutzt.« Sie lächelt wehmütig und sagt: »Ich habe Durst.«

Barry wirft einen Blick durch die Terrassentür in das dunkle Büro und sieht zwei Streifenpolizisten, die einsatzbereit an der Empfangstheke stehen. Er schaut zu Ann hinüber. »Warum kommen Sie nicht von der Brüstung herunter, und wir gehen hinein und besorgen Ihnen ein Glas Wasser?«

»Würden Sie mir eins bringen?«

»Ich kann sie nicht allein lassen.«

Sie zittert, und er sieht plötzliche Entschlossenheit in ihren Augen.

Sie schaut ihn an. »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagt sie. »Es hat von Anfang an so enden müssen.«

»Ann, nein …«

»Mein Sohn ist ausradiert worden.«

Und mit lässiger Anmut gleitet sie von der Brüstung.

HELENA

22. Oktober 2007

Als sie um sechs Uhr morgens unter der Dusche steht und versucht, wach zu werden, während das heiße Wasser über ihre Haut strömt, hat Helena plötzlich das intensive Gefühl, genau diesen Augenblick schon einmal erlebt zu haben. Das ist nichts Neues. Déjà-vu-Erlebnisse plagen sie, seit sie zwanzig war. Außerdem ist an diesem Augenblick unter der Dusche nichts Besonderes. Sie fragt sich, ob Mountainside Capital ihren Antrag schon begutachtet hat. Es ist eine Woche her, dass sie ihn abgegeben hat, und inzwischen hätte sie etwas hören müssen. Sie hätten sie zumindest zu einem Meeting eingeladen, wenn sie interessiert wären.

Sie brüht eine Kanne Kaffee auf und macht sich ihr übliches Frühstück – schwarze Bohnen, drei Eier over easy, mit Ketchup beträufelt. Dann setzt sie sich zum Essen an den kleinen Tisch am Fenster und sieht zu, wie der Himmel über ihrem Viertel am Rand von San José sich mit Licht füllt.

Sie hat seit über einem Monat keinen Tag Zeit für die Wäsche gehabt, und die schmutzigen Sachen liegen wie ein Teppich auf dem Boden ihres Schlafzimmers. Sie wühlt darin, bis sie ein T-Shirt und eine Jeans gefunden hat, in denen sie das Haus verlassen kann, ohne sich in Grund und Boden zu schämen.

Das Telefon klingelt, als sie sich die Zähne putzt. Sie spuckt, spült sich den Mund aus und ist beim vierten Klingeln am Telefon in ihrem Schlafzimmer.

»Wie geht’s meinem Mädchen?«

Sie muss immer lächeln, wenn sie die Stimme ihres Vaters hört.

»Hey, Dad.«

»Ich dachte schon, ich hätte dich verpasst. Im Labor wollte ich dich nicht stören.«

»Nein, es ist okay. Was gibt’s denn?«

»Ich habe an dich gedacht. Hast du eine Antwort auf deinen Antrag?«

»Nein, noch nichts.«

»Ich habe ein wirklich gutes Gefühl dabei.«

»Ich weiß nicht. Das Leben in dieser Stadt ist hart. Jede Menge Konkurrenz. Jede Menge wirklich clevere Leute auf der Suche nach Geld.«

»Aber die sind nicht so clever wie mein Mädchen.«

Sie kann den Glauben ihres Vaters an sie nicht ertragen. Nicht an einem Morgen wie diesem, wenn das Gespenst des Scheiterns drohend vor ihr aufragt, hier in diesem kleinen, schmutzigen Schlafzimmer eines Hauses mit kahlen, schmucklosen Wänden, in dem seit über einem Jahr niemand mehr zu Besuch gewesen ist.

Sie wechselt das Thema. »Wie ist das Wetter?«

»Hat letzte Nacht geschneit. Der erste Schnee dieses Winters.«

»Viel?«

»Drei, vier Zentimeter. Aber die Berge sind weiß.«

Sie sieht sie vor sich – die Front Range der Rockies, die Berge ihrer Kindheit.

»Wie geht’s Mom?«

Er zögert ganz kurz. »Deiner Mutter geht es gut.«

»Dad.«

»Was?«

»Wie geht’s Mom?«

Sie hört, wie er langsam ausatmet. »Wir hatten schon bessere Tage.«

»Ist alles okay mit ihr?«

»Ja. Sie ist oben und schläft.«

»Was ist passiert?«

»Nichts weiter.«

»Erzähl’s mir.«

»Gestern Abend nach dem Essen haben wir Gin Rommé gespielt, wie wir es immer tun. Und sie hat einfach … sie kannte die Regeln nicht mehr. Saß am Küchentisch, starrte in ihre Karten, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Wir spielen seit dreißig Jahren zusammen.«

Sie hört, wie er die Hand auf den Hörer legt.

Er weint, Tausende Meilen weit weg.

»Dad, ich komme nach Hause.«

»Nein, Helena.«

»Ihr braucht meine Hilfe.«

»Wir haben hier viel Unterstützung. Heute Nachmittag gehen wir zum Arzt. Wenn du deiner Mutter helfen willst, beschaff dir die Finanzierung und bau deinen Stuhl.«

Sie will es ihm nicht sagen, aber bis der Stuhl so weit ist, werden noch Jahre vergehen. Lichtjahre. Er ist ein Traum, eine Fata Morgana. Zum jetzigen Zeitpunkt versucht sie nur, lange genug zu überleben, um jemanden zu finden, der ihre Vision versteht.

Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Du weißt, ich tue das für sie.«

»Ich weiß, Schatz.«

Einen Moment lang schweigen sie beide und bemühen sich zu weinen, ohne dass der andere es merkt. Aber sie scheitern jämmerlich. Mehr als alles andere möchte sie ihm sagen, dass es klappen wird, aber das wäre gelogen.

»Ich rufe an, wenn ich heute Abend nach Hause komme«, sagt sie.

»Okay.«

»Bitte sag Mom, ich hab sie lieb.«

»Das sag ich ihr. Aber sie weiß es schon.«

Vier Stunden später, tief im Innern des Neurowissenschaftlichen Komplexes in Palo Alto, studiert Helena die Abbildung der Erinnerung einer Maus an Angst – fluoreszierend beleuchtete Neuronen, miteinander verbunden durch ein Spinnennetz von Synapsen –, als der Fremde in der Tür ihres Büros steht. Über den Rand ihres Monitors hinweg sieht sie einen Mann in Chinos und einem weißen T-Shirt, der sie ein wenig zu strahlend anlächelt.

»Helena Smith?«, fragt er.

»Ja?«

»Ich bin Jee-woon Chercover. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

»Dies ist ein abgesichertes Labor. Sie dürfen hier unten nicht sein.«

»Ich bitte um Entschuldigung für die Störung, aber ich glaube, Sie werden hören wollen, was ich zu sagen habe.«

Sie könnte ihn bitten zu gehen oder die Security rufen. Aber er sieht nicht bedrohlich aus.

»Okay«, sagt sie, und plötzlich dämmert ihr, dass dieser Mann ihr Büro sieht, das einem Schlachtfeld gleicht, der Traum einer Sammelwütigen – fensterlos, eng, mit angestrichenen Hohlblockwänden, und die klaustrophobische Wirkung wird noch verstärkt durch die Aufbewahrungsboxen aus Wellpappe, die sich einen Meter hoch und einen halben Meter tief um ihren Schreibtisch stapeln, vollgestopft mit Tausenden von Abstracts und Artikeln. »Entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich hole Ihnen einen Stuhl.«

»Ich mach’s schon.«

Jee-woon zieht einen Klappstuhl heran und setzt sich ihr gegenüber. Sein Blick wandert über die Wände, die fast verschwinden unter hochauflösenden Bildern von Mäuseerinnerungen und den neuronalen Funken im Gehirn von Demenz- und Alzheimerkranken.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragt sie.

»Mein Arbeitgeber ist sehr angetan von dem Artikel über Erinnerungsabbildungen, den Sie in Neuron veröffentlicht haben.«

»Hat Ihr Arbeitgeber einen Namen?«, fragt sie.

»Na ja, das kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Auf den Verlauf dieses Gesprächs.«

»Wieso sollte ich ein Gespräch mit jemandem führen, von dem ich nicht einmal weiß, für wen er spricht?«

»Weil Ihr Stanford-Stipendium in sechs Wochen ausläuft.«

Sie zieht eine Braue hoch.

»Mein Boss bezahlt mich sehr gut dafür, dass ich alles über die Leute weiß, die er interessant findet«, entgegnet er.

»Ihnen ist aber klar, dass es total gruselig klingt, was Sie da sagen, oder?«

Jee-woon greift in seine Ledermappe und nimmt ein Dokument in einer marineblauen Hülle heraus.

Ihr Antrag.

»Natürlich!«, sagt sie. »Sie kommen von Mountainside Capital!«

»Nein. Und die werden Sie auch nicht finanzieren.«

»Und woher haben Sie das dann?«

»Das ist unwichtig. Niemand wird Sie finanzieren.«

»Woher wissen Sie das?«

»Weil das hier«, er wirft ihren Förderungsantrag auf das Chaos auf ihrem Schreibtisch, »das hier zu zaghaft ist. Es ist nur ein klein wenig mehr als das, was Sie in den letzten drei Jahren in Stanford getan haben. Die Idee ist nicht groß genug. Sie sind achtunddreißig, und das ist in der akademischen Welt wie anderswo neunzig. Eines Morgens in nicht allzu ferner Zeit werden Sie aufwachen und erkennen, dass Sie Ihre besten Tage hinter sich haben. Dass Sie vergeudet haben, was …«

»Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen.«

»Ich will Sie nicht beleidigen. Ihr Problem, wenn ich das sagen darf, besteht darin, dass Sie nicht wagen zu verlangen, was Sie wirklich haben wollen.«

Sie erkennt, dass dieser Fremde sie aus irgendeinem Grund zu ködern versucht. Sie weiß, sie sollte nicht anbeißen, aber sie kann nicht anders.

»Und warum wage ich nicht zu verlangen, was ich wirklich haben will?«

»Weil das, was sie wirklich haben wollen, die Bank sprengen würde. Sie brauchen keinen siebenstelligen Betrag. Was Sie brauchen, ist neun-, vielleicht zehnstellig. Sie brauchen ein Team von Programmierern, das Ihnen hilft, einen Algorithmus für komplexe Erinnerungskatalogisierung und – projektion zu entwickeln. Die Infrastruktur für Menschenversuche.«

Sie starrt ihn über den Schreibtisch hinweg an. »Ich habe in diesem Antrag kein Wort über Menschenversuche geschrieben.«

»Was ist, wenn ich Ihnen sage, wir geben Ihnen alles, was Sie wollen? Unbegrenzte Mittel? Wären Sie interessiert?«

Ihr Herz schlägt immer schneller.

So soll es gehen?

Sie denkt an den Fünfzig-Millionen-Dollar-Stuhl, von dessen Konstruktion sie geträumt hat, seit ihre Mutter angefangen hat, das Leben zu vergessen. Seltsamerweise hat sie ihn im Geiste nie komplett fertig gesehen, sondern immer nur als technische Zeichnung in der Gebrauchsmusteranmeldung, die sie eines Tages einreichen wird: immersive Plattform zur Projektion langfristiger, expliziter episodischer Erinnerungen.

»Helena?«

»Wenn ich Ja sage, sagen Sie mir dann, wer Ihr Boss ist?«

»Ja.«

»Ja.«

Er sagt es ihr.

Ihr Unterkiefer klappt fast bis auf den Schreibtisch herunter, und Jee-woon zieht ein weiteres Papier aus seiner Tasche und reicht es über die Aufbewahrungsboxen hinweg.

»Was ist das?«, fragt sie.

»Eine Anstellungs- und Vertraulichkeitsvereinbarung. Nicht verhandelbar. Aber ich glaube, Sie werden die finanziellen Bedingungen sehr großzügig finden.«

BARRY

4. November 2018

Das Café liegt an einer malerischen Stelle am Ufer des Hudson im Schatten des West Side Highways. Barry ist fünf Minuten zu früh da, aber Julia sitzt bereits an einem Tisch unter einem Sonnenschirm. Sie umarmen einander kurz und behutsam, als wären sie beide aus Glas.

»Schön, dich zu sehen«, sagt er.

»Ich freue mich, dass du kommen wolltest.«

Sie setzen sich. Ein Kellner kommt vorbei und nimmt ihre Bestellung auf.

»Wie geht’s Anthony?«, fragt Barry.

»Großartig. Er hat alle Hände voll zu tun mit der Umgestaltung der Lobby im Lewis Building. Und wie ist es bei dir?«

Er erzählt ihr nichts von dem Selbstmord, den er vorgestern Abend nicht verhindern konnte. Stattdessen plaudern sie, bis der Kaffee kommt.

Es ist Sonntag, und der Brunch ist in vollem Gange. Jeder Tisch um sie herum sprudelt von Unterhaltung und Gelächter, nur sie beide trinken ihren Kaffee ruhig im Schatten des Sonnenschirms.

Es gibt nichts und alles zu sagen.

Ein Schmetterling flattert um Barrys Kopf herum, bis er ihn sanft wegwedelt.

Manchmal, spät nachts, malt er sich ausführliche Gespräche mit Julia aus. Dann sagt er alles, was all die Jahre in seinem Herzen geschwärt hat – der Schmerz, die Wut, die Liebe –, und dann hört er zu, wenn sie das Gleiche tut. So reinigen sie die Luft, bis er sie endlich versteht und sie ihn auch.

Aber von Angesicht zu Angesicht fühlt es sich niemals richtig an. Er bringt es nicht über sich zu sagen, was er auf dem Herzen hat, das sich immer verkrampft und verschlossen anfühlt, umhüllt von Narbengewebe. Aber die Unbeholfenheit stört ihn nicht mehr so sehr wie früher. Er hat seinen Frieden mit dem Gedanken gemacht, dass ein Teil des Lebens darin besteht, seinen Fehlschlägen ins Auge zu sehen. Manchmal sind diese Fehlschläge andere Menschen.

»Was täte sie wohl heute?«, sagt Julia.

»Ich hoffe, sie würde hier bei uns sitzen.«

»Ich meine, beruflich.«

»Ah. Sie wäre natürlich Anwältin.«

Julia lacht. Eins der großartigsten Geräusche, die er je gehört hat – und er weiß nicht, wann er es das letzte Mal gehört hat. Ein schönes, niederschmetterndes Erlebnis. Ein geheimes Fenster zu der Person, die er einmal kannte.

»Sie hat sich über alles gestritten«, sagt Julia. »Und sie hat immer gewonnen.«

»Wir waren aber auch leichte Gegner für sie.«

»Einer von uns jedenfalls.«

»Ich?«, fragt er mit gespielter Entrüstung.

»Mit fünf hatte sie dich als das schwächste Glied identifiziert.«

»Weißt du noch, wie sie uns überredet hat, mit ihr das Rückwärtseinfahren in die Zufahrt zu üben?«

»Sie hat dich überredet …«

»Und dann hat sie meinen Wagen durch das Garagentor gefahren.«

Julia lacht schnaubend. »Sie war so aufgebracht.«

»Nein, verlegen.« Eine halbe Sekunde lang lebt die Erinnerung vor seinem geistigen Auge auf. Zumindest ein Teil davon. Meghan am Steuer seines alten Camry, dessen vordere Hälfte das Garagentor durchbrochen hat, und sie, wie sie mit rotem Gesicht und strömenden Tränen das Steuer so fest umklammert hat, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. »Sie war hartnäckig und gescheit, und sie hätte etwas Interessantes aus ihrem Leben gemacht.« Er trinkt seinen Kaffee aus und gießt sich noch eine Tasse aus der Edelstahl-Cafetière ein, die sie sich teilen.

»Es ist schön, über sie zu reden«, sagt Julia.

»Ich bin froh, dass ich es endlich kann.«

Der Kellner kommt und nimmt ihre Essensbestellung auf, und der Schmetterling kehrt zurück und landet auf der Tischplatte neben Barrys gefalteter Serviette. Breitet die Flügel aus. Spreizt sich. Barry versucht, die Idee zu vertreiben, dass es Meghan ist, die ihn ausgerechnet heute verfolgt. Das ist natürlich eine alberne Vorstellung, aber der Gedanke bleibt. Wie neulich, als ein Zaunkönig ihn acht Blocks weit durch NoHo verfolgt hat. Oder wie bei dem Spaziergang mit seinem Hund im Washington Park, als ein Marienkäfer immer wieder auf seinem Handrücken landete.

Das Essen kommt, und Barry stellt sich vor, dass Meghan bei ihnen am Tisch sitzt. Die harten Kanten des Teenageralters glatt geschliffen. Das ganze Leben noch vor sich. Er kann ihr Gesicht nicht sehen, sosehr er sich auch bemüht – nur ihre Hände, die ständig in Bewegung sind, wenn sie spricht, genau wie ihre Mutter sich bewegt, wenn sie aus irgendeinem Grund zuversichtlich und begeistert ist.

Er hat keinen Hunger, aber er zwingt sich zum Essen. Irgendetwas scheint Julia zu beschäftigen, aber sie stochert nur in den Überresten ihrer Frittata, und er trinkt einen Schluck Wasser, beißt in sein Sandwich und starrt zum Fluss hinüber.

Der Hudson entspringt aus einem kleinen Bergsee in den Adirondacks namens Lake Tear of the Clouds. Sie waren einmal im Sommer dort, als Meghan acht oder neun war. Haben im Tannenwald gezeltet, den Sternschnuppen zugesehen und versucht zu begreifen, dass dieser winzige Bergsee die Quelle des Hudson sein sollte. Das ist eine Erinnerung, von der er beinahe besessen ist.

»Du siehst nachdenklich aus«, sagt Julia.

»Ich dachte gerade an unseren Ausflug zum Lake Tear of the Clouds. Erinnerst du dich?«

»Natürlich. Wir haben zwei Stunden gebraucht, um in diesem Sturzregen das Zelt aufzubauen.«

»Ich dachte, es war klares Wetter.«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Wir haben die ganze Nacht im Zelt gefroren, und keiner von uns konnte schlafen.«

»Bist du da sicher?«

»Dieser Ausflug war das Fundament meines Nie-wieder-Wildnis-Grundsatzes.«

»Stimmt.«

»Wie konntest du das vergessen?«

»Ich weiß es nicht.« Tatsache ist, dass es ihm ständig passiert. Er schaut oft zurück, lebt mehr in seinen Erinnerungen als in der Gegenwart und verändert sie oft, um sie schöner zu machen. Um sie perfekt zu machen. Für ihn ist Nostalgie ein Betäubungsmittel wie Alkohol. Schließlich sagt er: »Vielleicht war die Erinnerung daran, mit meinen Frauen die Sternschnuppen zu beobachten, einfach die bessere.«

Sie wirft ihre Serviette auf den Teller und lehnt sich zurück. »Ich bin kürzlich an unserem alten Haus vorbeigefahren. Wow, es hat sich verändert. Tust du das auch manchmal?«

»Ab und zu.«

Tatsächlich fährt er jedes Mal an ihrem alten Haus vorbei, wenn er in Jersey irgendetwas zu tun hat. Er und Julia haben es ein Jahr nach Meghans Tod bei einer Zwangsvollstreckung verloren, und heute hat es kaum noch Ähnlichkeit mit ihrem alten Zuhause. Die Bäume sind höher, voller, grüner. Über der Garage ist ein Stockwerk hinzugefügt worden, und jetzt wohnt dort eine junge Familie. Die ganze Fassade ist mit Stein verkleidet worden, und neue Fenster sind dazugekommen. Die Einfahrt ist verbreitert und neu gepflastert worden. Die Schaukel, die an der alten Eiche hing, hat man schon vor Jahren entfernt, aber die Initialen, die er und Meghan unten in den Stamm geschnitzt haben, sind noch da. Er hat sie letztes Jahr berührt, nachdem er aus irgendeinem Grund gefunden hatte, eine Taxifahrt nach New Jersey um zwei Uhr morgens nach einem Abend mit Gwen und den anderen vom Zentralen Raubdezernat sei eine gute Idee. Die neuen Eigentümer riefen die Polizei und meldeten einen Landstreicher in ihrem Vorgarten. Ein Cop aus Jersey City erschien. Barry war sturzbetrunken, aber er wurde nicht verhaftet. Der Polizist wusste von Barry, und er wusste auch, was ihm passiert war. Er rief ein neues Taxi und half Barry auf den Rücksitz. Er bezahlte das Fahrgeld nach Manhattan im Voraus und ließ ihn fahren.

Der Wind, der vom Wasser herüberweht, hat eine kühle Schärfe, und die Sonne scheint warm auf seine Schultern – ein angenehmer Kontrast. Touristenboote fahren auf dem Fluss auf und ab. Der Verkehrslärm auf dem Highway über ihnen reißt nicht ab. Die Kondensstreifen von Tausend Flugzeugen ziehen sich kreuz und quer über den Himmel. Es ist Spätherbst in der Stadt, einer der letzten schönen Tage des Jahres.

Er denkt an den Winter, der bald kommt. Dann wird wieder ein Jahr vergangen sein und ein neues auf dem Hauklotz liegen, und die Zeit vergeht schneller und immer schneller. Das Leben heute hat kein bisschen Ähnlichkeit mit dem, was er in jüngeren Jahren erwartet hat, als er noch in dem Wahn lebte, man könne es steuern. Nichts kann man steuern. Man kann es nur ertragen.

Die Rechnung kommt, und Julia will bezahlen, aber er nimmt sie an sich und wirft seine Kreditkarte auf den Tisch.

»Danke, Barry.«

»Danke für die Einladung.«

»Lass uns nicht wieder ein Jahr warten, bis wir uns sehen.« Sie hebt ihr Glas mit Eiswasser. »Auf unser Geburtstagsmädchen.«

»Auf unser Geburtstagsmädchen.« Er spürt, wie sich die Trauer in seiner Brust verdichtet, aber er atmet hindurch, und als er wieder spricht, klingt seine Stimme beinahe normal. »Sechsundzwanzig Jahre alt.«

Nach dem Brunch geht er zum Central Park. Die Stille in seinem Apartment kommt ihm vor wie eine Drohung an Meghans Geburtstag. Die letzten fünf sind nicht gut gelaufen.

Julia zu sehen bringt ihn immer durcheinander. Noch lange nach dem Ende ihrer Ehe hat er gedacht, seine Ex fehle ihm. Er werde nie über sie hinwegkommen. Oft träumte er von ihr, und dann weckte ihn der Schmerz ihrer Abwesenheit, der ihn bei lebendigem Leib verzehrte. Die Träume – halb Erinnerungen, halb Fantasien – verletzten ihn tief, denn in ihnen erschien sie ihm wie die Julia von früher. Ihr Lächeln. Das spontane Lachen. Die Leichtigkeit des Seins. Sie war wieder die Frau, die ihm sein Herz gestohlen hatte. Während des darauffolgenden Morgens ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Die Totalität des Verlustes starrte ihn unverwandt an, bis der emotionale Kater des Traums ihn schließlich aus seinen Klauen entließ wie ein Nebel, der sich langsam hebt. Einmal sah er Julia im Kielwasser eines solchen Traums; auf der Party einer alten Freundin lief er ihr unerwartet über den Weg. Zu seiner Überraschung fühlte er nichts, als sie auf der Veranda steif miteinander plauderten. Ihre Anwesenheit zerschnitt die Entzugserscheinungen nach dem Traum. Er wollte sie nicht. Das war eine befreiende Offenbarung, so vernichtend sie auch wirkte. Befreiend, weil sie bedeutete, dass er diese Julia nicht liebte. Er liebte die, die sie früher war. Vernichtend, weil die Frau, die durch seine Träume spukte, wirklich fort war. So unerreichbar wie die Toten.

Die Bäume im Park wechseln nach dem harten Frost in den letzten Nächten die Farbe. Das Laub strahlt in spätherbstlicher Pracht.

Er findet ein Fleckchen in dem Waldstück namens Ramble, wo er sich Schuhe und Socken auszieht und sich an einen makellos schräg geneigten Baum lehnt. Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und versucht, die Biografie zu lesen, mit der er sich jetzt schon fast ein Jahr plagt, aber es fällt ihm schwer, sich darauf zu konzentrieren.

Ann Voss Peters verfolgt ihn. Wie sie lautlos von der Kante fiel, starr und aufrecht. Es hat fünf Sekunden gedauert, und er hat nicht weggeschaut, als sie auf dem Lincoln Town Car aufschlug, der unten am Randstein parkte.

Wenn er sich nicht das Gespräch mit ihr durch den Kopf gehen lässt, kämpft er mit der Angst. Prüft seine Erinnerungen, testet ihre Wahrheitstreue. Fragt sich …

Woran würde ich erkennen, dass sich eine verändert hat? Wie würde sich das anfühlen?

Rote und orangegelbe Blätter wehen durch die Sonnenstrahlen herunter und sammeln sich um ihn herum im lichtgetüpfelten Schatten. Von seiner hohen Warte zwischen den Bäumen aus sieht er die Leute, die auf den Wegen unterwegs sind und am See entlangschlendern. Die meisten sind in Gruppen, aber ein paar sind auch allein wie er.

Auf seinem Telefon erscheint eine Textnachricht von seiner Freundin Gwendoline Archer, der Leiterin des Hercules Teams, eines Anti-Terror-Sondereinsatzkommandos innerhalb der Notfalleinsatzeinheit des NYPD.

Musste heute an dich denken. Alles okay?

Er antwortet:

Ja. Habe eben Julia getroffen.

Wie war das?

Gut. Schwer. Was machst du gerade?

Bin eben ein bisschen rumgefahren. Trinke jetzt was im Isaac’s. Lust auf Gesellschaft?

O ja. Bin unterwegs.

Es sind vierzig Minuten zu Fuß zu der Bar in der Nähe von Gwens Apartment in Hell’s Kitchen, deren einziger erkennbarer Vorzug in ihrer fünfundvierzigjährigen Langlebigkeit besteht. Kratzbürstige Barkeeper schenken langweilige amerikanische Biere aus, und es gibt keinen Whiskey, den man nicht in jedem Laden für unter dreißig Dollar die Flasche bekommt. Die Toiletten sind ekelhaft, und man findet dort immer noch Kondomautomaten mit Inhalt. In der Musikbox läuft ausschließlich Rock der 70er und 80er, und wenn niemand Geld einwirft, gibt es auch keine Musik.

Gwen sitzt am hinteren Ende der Bar. Sie trägt Biker-Shorts und ein verschossenes Brooklyn-Marathon-T-Shirt, und als Barry herankommt, wischt sie auf einer Dating-App nach links.

»Ich dachte, das hättest du aufgegeben«, sagt er.

»Eine Zeit lang habe ich dein Gender überhaupt aufgegeben, aber mein Therapeut sitzt mir im Nacken und meint, ich soll es noch mal versuchen.«

Sie rutscht vom Hocker herunter und umarmt ihn. Der leichte Schweißgeruch von ihrer Fahrt verbindet sich mit den Resten von Duschgel und Deodorant, und das Resultat erinnert an Salzkaramell.

»Danke, dass du dich um mich kümmerst«, sagt er.

»Du solltest heute nicht allein sein.«

Sie ist fünfzehn Jahre jünger als er, Mitte dreißig und mit einem Meter neunzig die größte Frau, die er persönlich kennt. Mit ihrem kurzen blonden Haar und den skandinavischen Zügen ist sie nicht gerade schön, aber majestätisch, oft auch streng, ohne es zu wollen. Er hat ihr einmal gesagt, sie habe das Gesicht einer ruhenden Monarchin.

Kennengelernt und befreundet haben sie sich vor ein paar Jahren bei einem Bankraub, der sich zu einer Geiselnahme entwickelte. Am darauffolgenden Weihnachtsfest landeten sie dann miteinander im Bett, und das war einer der peinlicheren Augenblicke in Barrys Dasein. Es war auf einer der vielen Festtagspartys bei der New Yorker Polizei, und der Abend war für sie beide außer Kontrolle geraten. Er wachte um drei Uhr morgens in ihrem Apartment auf, und das Zimmer drehte sich immer noch. Sein Fehler war, dass er sich hinausschleichen wollte, ohne dass er schon wieder einen klaren Kopf hatte. Er übergab sich neben ihrem Bett auf den Boden und war dabei, alles wieder sauber zu machen, als Gwen aufwachte und ihn anschrie: »Ich wische deine Kotze morgen weg. Hau einfach ab!« An Sex kann er sich nicht erinnern – ob sie welchen hatten oder es nur versuchten –, und er kann nur hoffen, dass sie die gleiche barmherzige Erinnerungslücke hat.

Wie auch immer, keiner von beiden hat es seitdem noch einmal angesprochen.

Der Bartender kommt, um Barrys Bestellung aufzunehmen, und bringt Gwen noch einen Wild Turkey. Sie trinken und albern ein Weilchen herum, und als Barry schließlich spürt, dass die Welt sich lockert, sagt Gwen: »Ich hab gehört, du hattest Freitagabend einen FMS-Suizid.«

»Ja.«

Er erzählt ihr detailliert, was vorgefallen ist.

»Sei ehrlich«, sagt sie. »Wie ausgeflippt bist du?«

»Na ja, ich hab mich gestern im Internet zum FMS-Fachmann ausgebildet.«

»Und?«

»Vor acht Monaten hat die Seuchenkontroll- und Präventionsbehörde im Nordosten vierundsechzig Fälle identifiziert, die Ähnlichkeiten aufwiesen. In jedem dieser Fälle klagte ein Patient über akute falsche Erinnerungen. Und es ging nicht nur um eine oder zwei, sondern um eine vollständig imaginierte alternative Geschichte, die sich über weite Bereiche ihres Lebens bis zum aktuellen Augenblick erstreckte. Meistens über Monate oder Jahre. In Einzelfällen sogar über Jahrzehnte.«

»Und sie verlieren die Erinnerung an ihr wirkliches Leben?«

»Nein, sie haben plötzlich zwei Versionen von Erinnerungen. Die eine ist wahr, die andere nicht. In einigen Fällen hatten die Patienten das Gefühl, ihre Erinnerungen und ihr Bewusstsein seien von einem Leben in ein anderes gewandert. In anderen erlebten die Patienten den plötzlichen Flash-in von falschen Erinnerungen aus einem Leben, das sie nie gehabt hatten.«

»Und was ist die Ursache?«

»Das weiß niemand. Man hat bei den Betroffenen nicht eine einzige physiologische oder neurologische Abnormalität erkennen können. Das einzige Symptom sind die falschen Erinnerungen selbst. Ach, und ungefähr zehn Prozent der Leute, die es bekommen, bringen sich um.«

»O Gott.«

»Die Zahl könnte noch höher sein. Viel höher. Dies ist nur das Ergebnis der bekannten Fälle.«

»Die Selbstmordrate in den fünf Stadtbezirken ist dieses Jahr hoch.«

Barry zieht den Blick des Barkeepers auf sich und signalisiert ihm, dass er noch eine Runde bringen soll.

»Ist es ansteckend?«, fragt Gwen.

»Da konnte ich keine eindeutige Antwort finden. Die Seuchenbehörde hat kein Pathogen gefunden. Durch Blut oder Luft wird also anscheinend kein Krankheitserreger übertragen. Aber ein Artikel im New England Journal of Medicine enthält die Spekulation, es verbreite sich über das soziale Netzwerk eines Trägers.«

»Wie Facebook? Wie kann das …?«

»Nein, ich meine, wenn jemand mit FMS infiziert ist, können einige der Leute, die er kennt, infiziert werden. Ihre Eltern haben die gleichen falschen Erinnerungen, aber in einem geringeren Maß. Ihre Brüder, Schwestern, guten Freunde. Es gab die Fallgeschichte eines Mannes, der eines Morgens aufwachte und sich an ein völlig anderes Leben erinnerte, in dem er mit einer anderen Frau verheiratet war, in einem anderen Haus wohnte, andere Kinder hatte und in einem anderen Beruf arbeitete. Aus seinen Erinnerungen rekonstruierte man die Gästeliste seiner Hochzeit – an die er sich erinnerte, die aber nie stattgefunden hatte. Vierzehn Personen von dieser Liste konnte man ausfindig machen, und auch sie erinnerten sich allesamt an die Hochzeit, die nie stattgefunden hatte. Schon mal was vom Mandela-Effekt gehört?«

»Ich weiß nicht. Kann sein.«

Die nächste Runde kommt. Barry trinkt seinen Old Grand-Dad und spült ihn mit einem Coors herunter. Das Licht, das durch die Fenster hereinfällt, schwindet. Der Abend dämmert.

»Anscheinend«, sagt Barry, »erinnern sich Tausende von Menschen, dass Nelson Mandela in den 80er-Jahren im Gefängnis gestorben ist. Aber er hat bis 2013 gelebt.«

»Davon hab ich gehört. Das ist wie die Sache mit den Berenstain-Bären.«

»Keine Ahnung, was das ist.«

»Weil du zu alt bist.«

»Leck mich am Arsch.«

»Das waren Kinderbücher, als ich klein war, und viele Leute erinnern sich, dass sie Die Berenstein-Bären hießen – S-T-E-I-N –, aber tatsächlich wurden sie mit A geschrieben: Berenstain.«

»Komisch.«

»Beängstigend eher, denn ich erinnere mich tatsächlich an Berenstein.« Gwen kippt ihren Whiskey herunter.

»Außerdem – und niemand weiß, ob das etwas mit FMS zu tun hat – registriert man eine zunehmende Zahl von Déjà-vu-Erlebnissen«, sagt Barry.

»Was bedeutet das?«

»Die Leute haben, manchmal in einem lähmenden Ausmaß, das Gefühl, ganze Abschnitte ihres Lebens noch einmal zu erleben.«

»Das passiert mir manchmal.«

»Mir auch.«

»Hat dein Suizid nicht gesagt, die erste Frau ihres Ehemanns sei auch vom Poe Building gesprungen?«, fragt Gwen.

»Doch. Warum?«

»Ich weiß nicht. Klingt einfach … unwahrscheinlich.«

Barry sieht sie an. In der Bar ist es allmählich voll und laut.

»Worauf willst du hinaus?«, fragt er.

»Vielleicht hatte sie ja kein False Memory Syndrome. Vielleicht war dieses Luder einfach verrückt. Vielleicht solltest du dir nicht so sehr den Kopf zerbrechen.«

Drei Stunden später sitzt er betrunken in einer anderen Bar. Es ist der holzgetäfelte feuchte Traum eines Bierliebhabers mit präparierten Büffel- und Hirschschädeln am den Wänden und einer Million Zapfhähnen vor den indirekt beleuchteten Regalen.

Gwen will mit ihm essen gehen, aber die Empfangsdame sieht, wie er schwankend vor ihrem Pult steht, und will ihnen keinen Tisch geben. Als sie wieder draußen sind, fühlt es sich an, als habe die Stadt sich aus der Verankerung gerissen, und Barry konzentriert sich laserscharf darauf zu verhindern, dass die Gebäude sich drehen, während Gwen seinen rechten Arm festhält und ihn die Straße hinunterbugsiert.

Er merkt plötzlich, dass sie Gott-weiß-wo an einer Straßenecke stehen und mit einem Polizisten sprechen. Gwen zeigt ihm ihre Dienstmarke und erklärt ihm, dass sie dabei ist, Barry nach Hause zu bringen, aber Angst hat, er könnte sich im Taxi übergeben.

Dann gehen sie stolpernd weiter. Das futuristische nächtliche Blitzen des Times Square wirbelt herum wie ein kitschiger Jahrmarkt. Er sieht eine Uhr – 23:22 –, und er fragt sich, in welches schwarze Loch die letzten sechs Stunden gefallen sind.

»’ch will nich nach Hause«, sagt er zu niemandem.

Als Nächstes starrt er auf eine Digitaluhr, die 04:15 anzeigt. Es fühlt sich an, als habe ihm jemand im Schlaf den Schädel eingeschlagen, und seine Zunge ist trocken wie ein Stück Leder. Er ist nicht in seinem Apartment. Er liegt auf dem Sofa in Gwens Wohnzimmer.

Er versucht zurückzuschauen und den Abend mit Klebstreifen zusammenzusetzen, aber die einzelnen Teile sind zersplittert. Er erinnert sich an Julia und an den Park. An die erste Stunde in der ersten Bar mit Gwen. Aber danach ist alles düster und durchzogen von bitterer Reue.

Sein Herz klopft in seinen Ohren. Seine Gedanken überschlagen sich.

Dies ist die einsame Stunde der Nacht, und sie ist ihm nur allzu vertraut – die Stadt schläft, aber er nicht, und alles, was er in seinem Leben bereut, wütet mit unerträglicher Intensität in seinem Kopf.

Der Gedanke an seinen Vater, der starb, als er selbst noch jung war, und an die hartnäckige Frage: Hat er gewusst, dass ich ihn liebte?

Und Meghan. Immer wieder Meghan.

Als kleines Mädchen war seine Tochter überzeugt, dass in der Aussteuertruhe am Fußende ihres Bettes ein Ungeheuer wohnte. Tagsüber kam sie nie auf diesen Gedanken, aber wenn die Sonne unterging und er sie für die Nacht zugedeckt hatte, rief sie unweigerlich nach ihm. Dann lief er in ihr Zimmer, kniete neben ihrem Bett nieder und erinnerte sie daran, dass nachts immer alles furchterregend aussah.

Das ist eine Illusion. Ein Streich, den die Dunkelheit uns spielt.

Wie merkwürdig, dass er sich Jahrzehnte später und in einem Leben, das so weit von seinem geplanten Kurs abgekommen war, auf der Couch im Apartment einer Freundin wiederfand und seine Ängste mit derselben Logik zu besänftigen suchte, die er vor all den Jahren bei seinem Kind angewandt hatte.

Morgen früh sieht alles besser aus.

Wenn es hell ist, kommt auch die Hoffnung zurück.

Die Verzweiflung ist oft eine Illusion, ein Streich, den die Dunkelheit uns spielt.

Und er schließt seine Augen und tröstet sich mit der Erinnerung an den Campingausflug zum Lake Tear of the Clouds. Zu diesem perfekten Augenblick.

Dort funkelten die Sterne.

Er würde für immer dableiben, wenn er könnte.

HELENA

1. November 2007

Tag 1

Ihr Magen krampft sich zusammen, als sie sieht, wie die nordkalifornische Küste am Horizont versinkt. Sie sitzt hinter dem Piloten unter den dröhnenden Rotorblättern, und das Meer strömt hundertfünfzig Meter tief unter den Helikopterkufen vorbei.

Es ist kein guter Tag auf See. Die Wolken hängen tief, und das Wasser ist grau mit weißen Spitzen. Je weiter sie sich vom Land entfernen, desto dunkler wird die Welt.

Durch die vom Regen streifige Frontscheibe des Hubschraubers sieht Helena, wie weit vor ihnen etwas Gestalt annimmt – ein Gerüst, das aus dem Wasser ragt, immer noch eine oder zwei Meilen weit entfernt.

Sie spricht in ihr Mikrofon. »Ist es das?«

»Ja, Ma’am.«

Sie beugt sich vor, so weit der Schultergurt es gestattet, und verfolgt mit großer Neugier, wie der Hubschrauber seinen Anflug beginnt. Er fliegt jetzt langsam und senkt sich auf den Koloss aus Eisen, Stahl und Beton hinab, der auf drei Beinen im Meer steht wie ein gigantischer Dreifuß. Der Pilot drückt das Steuerhorn nach vorn, und der Helikopter legt sich auf die Seite zu einer langsamen Linkskurve um das Gerüst herum, dessen Hauptplattform ungefähr zwanzig Stockwerke hoch über dem Meeresspiegel liegt. Ein paar Kräne ragen noch über den Seiten heraus – Überbleibsel aus den Tagen der Gas- und Ölbohrinsel. Davon abgesehen sind alle industriellen Anlagen ab- oder umgebaut worden. Auf der Hauptplattform sieht Helena ein Baseballfeld. Einen Swimmingpool. Ein Treibhaus. Außen herum führt eine Laufstrecke.

Sie landen auf einem Helipad. Die Turbinenwelle läuft langsamer, und durch ihr Fenster sieht Helena einen Mann in einer gelben Bomberjacke, der auf den Hubschrauber zugelaufen kommt. Während er die Kabinentür öffnet, fummelt sie an den Befestigungen ihres Dreipunktgurts herum, bis sie endlich aufgehen.

Der Mann hilft ihr aus dem Hubschrauber auf die Stufe und dann auf die Landefläche, und sie folgt ihm zu einer Treppe, die vom Helipad hinunter auf die Hauptplattform führt. Der Wind pfeift durch ihr Hoodie und das T-Shirt, und als sie an der Treppe ist, verstummt der Hubschrauberlärm und hinterlässt nur die gähnende Stille der offenen See.

Von der letzten Stufe treten sie hinunter auf die ausgedehnte Betonfläche, und da sieht sie ihn. Er kommt quer über die Plattform auf sie zu.

Ihr Herz setzt einmal aus.

Sein Bart ist zerzaust, und sein dunkles Haar weht wild im Wind. Er trägt Jeans und ein verblichenes Sweatshirt, und er ist unverkennbar Marcus Slade – Erfinder, Philanthrop, Industriemagnat, Gründer von mehr bahnbrechenden Technologiefirmen, als sie aufzählen kann, und das auf so unterschiedlichen Gebieten wie Cloud Computing, Mobilität, Raumfahrt und KI. Er ist einer der reichsten und einflussreichsten Menschen der Welt. Ein Highschool-Abbrecher. Und erst vierunddreißig Jahre alt.

Er lächelt. »Wir machen es!«

Seine Begeisterung beruhigt ihre Nerven, und als sie einander gegenüberstehen, weiß sie nicht genau, was von ihr erwartet wird. Ein Händedruck? Eine höfliche Umarmung? Slade nimmt ihr die Entscheidung ab und drückt sie herzlich an sich.

»Willkommen auf Fawkes Station.«

»Fawkes?«

»Guy Fawkes – Sie erinnern sich? Die Pulververschwörung? Remember, remember, the fifth of November?«

»Ach so. Klar. Wegen der Erinnerung?«

»Weil die Zerstörung des Status quo mein Ding ist. Sie müssen frieren. Gehen wir hinein.« Sie steuern auf einen fünfstöckigen Aufbau am anderen Ende der Plattform zu.

»Nicht ganz das, was ich erwartet habe«, sagt Helena.

»Ich hab’s vor ein paar Jahren von ExxonMobil gekauft, als das Ölfeld erschöpft war. Erst hatte ich vor, hier ein neues Zuhause für mich einzurichten.«

»Eine Festung der Einsamkeit, meinen Sie?«

»Absolut. Aber dann wurde mir klar, dass ich hier leben und die Anlage zugleich als perfekte Forschungseinrichtung nutzen konnte.«

»Wieso perfekt?«

»Da gibt’s eine Million Gründe, aber zu den entscheidenden gehören Privatsphäre und Sicherheit. Ich arbeite auf einer ganzen Reihe von Gebieten, auf denen Industriespionage zum Alltag gehört, und wenn man eine kontrollierte Umgebung braucht, findet sich wohl nichts Besseres als das hier, oder?«

Sie gehen am Swimmingpool vorbei, der für den Winter abgedeckt worden ist. Die Plane flattert heftig im Novemberwind.

»Als Erstes möchte ich Ihnen danken. Und zweitens – warum ich?«

»Weil Sie eine Technologie im Kopf haben, die die Menschheit verändern könnte.«

»Inwiefern?«

»Was ist kostbarer als unsere Erinnerungen? Sie definieren, wer wir sind, und formen unsere Identität.«

»Außerdem wird es im nächsten Jahrzehnt einen Milliarden-Dollar-Markt für Alzheimer-Medikamente geben«, sagt sie.

Marcus lächelt nur.

»Nur damit Sie es wissen«, sagt sie. »Mein Hauptziel ist es, den Menschen zu helfen. Ich suche eine Möglichkeit für ein verfallendes Gehirn, Erinnerungen aufzubewahren, die es selbst nicht mehr hervorholen kann. Eine Zeitkapsel für das Kerngedächtnis.«

»Ich verstehe. Aber wüssten Sie einen Grund, weshalb das nicht ein philanthropisches und zugleich ein kommerzielles Unternehmen sein kann?«

Sie kommen am Eingang eines großen Treibhauses vorbei. Die Glaswände sind innen beschlagen, und Kondenswasser tropft an ihnen herunter.

»Wie weit draußen sind wir hier?«, fragt sie und schaut über die Plattform hinweg auf das Meer, wo eine schwere graue Wolke sich auf sie zuwälzt.

»Hundertdreiundsiebzig Meilen. Wie würden Ihre Verwandten und Freunde die Neuigkeit aufnehmen, dass Sie kurz davor sind, über den Rand der Erde zu fallen, um supergeheime Forschung zu betreiben?«

Sie weiß nicht genau, was sie darauf antworten soll. In letzter Zeit spielte sich ihr Leben unter den Leuchtstoffröhren von Labors ab und drehte sich um die Verarbeitung von Rohdaten. Sie hat es nie geschafft, die nötige Fluchtgeschwindigkeit zu entwickeln, um dem unwiderstehlichen Gravitationsfeld ihrer Arbeit zu entkommen – wegen ihrer Mom, aber wenn sie ehrlich ist, auch wegen ihr selbst. Nichts gibt ihr das Gefühl, lebendig zu sein, wie die Arbeit es tut, und mehr als einmal hat sie sich schon gefragt, ob das bedeutet, dass etwas mit ihr nicht stimmt.

»Ich arbeite viel, eigentlich mache ich nichts anderes«, sagt sie. »Deshalb gab es nur sechs Leute, denen ich es erzählen konnte. Mein Dad hat geweint, aber er weint immer. Niemand war wirklich überrascht. Gott, das klingt erbärmlich, was?«

Slade schaut sie an und sagt: »Ich glaube, Work-Life-Balance ist etwas für Leute, die nicht wissen, warum sie hier sind.«

Darüber muss sie nachdenken. Auf der Highschool und dem College hat man sie immer wieder ermuntert, ihre Leidenschaft zu finden – einen Grund dafür, aufzustehen und zu atmen. Nach ihrer Erfahrung haben nur wenige Leute je die Raison d’Être gefunden.

Wovon Lehrer und Professoren ihr nie erzählt haben, ist die dunkle Seite der Suche nach einem Ziel. Der Teil, der dich verzehrt. Der deine Beziehungen und dein Glück zerstört. Eintauschen würde sie es trotzdem nicht. Sie weiß nicht, welche Person sie sonst sein soll.

Sie nähern sich dem Eingang des Aufbaus.

»Warten Sie eine Sekunde«, sagt Slade. »Schauen Sie.« Er deutet auf die Nebelwand, die über die Plattform kriecht. Die Luft wird kalt und still. Helena kann nicht einmal mehr bis zum Helipad sehen. Das Herz einer Wolke hat sie erfasst.

Slade sieht sie an. »Möchten Sie mit mir die Welt verändern?«

»Darum bin ich hier.«

»Gut. Dann schauen wir uns an, was ich für Sie gebaut habe.«

BARRY

5. November 2018

NEW YORK CITY POLICE DEPARTMENT

24TH PRECINCT, 151TH WEST 100TH ST.

NEW YORK, NY 10025

* CHIEF OF POLICE*

TELEFON

JOHN R. POOLE

(212) 555-18-1811

[X]VORLÄUFIGER BERICHT

[ ]ERGÄNZENDER BERICHT

CSRR

DATUM

ZEIT

Tag

ORT

01457C

11.07.03

21:30

FR

2000 WEST 106ND,41. STOCK

POLIZEILICHE SCHILDERUNG

ICH, POLICE OFFICER RIVELLI, WURDE WEGEN EINES DROHENDEN SUIZIDS ZUR DACHTERRASSE DES BÜROS DER HUILTQUIST LLC IM POE BUILDING GERUFEN. ICH TRAF EINE FRAU AN, DIE AUF DER BRÜSTUNG DER DACHTERRASSE STAND. ICH GAB MICH ALS POLIZIST ZU ERKENNEN UND BAT SIE HERUNTERZUKOMMEN. SIE WEIGERTE SICH UND WARNTE MICH, NÄHER ZU KOMMEN, DA SIE SONST SPRINGEN WERDE. ICH FRAGTE SIE NACH IHREM NAMEN, UND SIE GAB AN, SIE HEISSE FRANNY BEHRMAN [WEISS/WEIBLICH, GEB. 06.12.63, WOHNHAFT 509 EAST 110TH ST.]. SIE SCHIEN NICHT UNTER DEM EINFLUSS VON ALKOHOL ODER DROGEN ZU STEHEN. ICH FRAGTE, OB ICH JEMANDEN FÜR SIE ANRUFEN KÖNNE, UND SIE VERNEINTE. ICH FRAGTE, WARUM SIE IHREM LEBEN EIN ENDE MACHEN WOLLE. SIE ANTWORTETE, NICHTS KÖNNE SIE GLÜCKLICH MACHEN, UND IHR MANN UND IHRE FAMILIE SEIEN OHNE SIE BESSER DRAN. ICH VERSICHERTE IHR, DIES SEI NICHT DER FALL.

DARAUFHIN ANTWORTETE SIE NICHT MEHR AUF MEINE FRAGEN, SONDERN BEMÜHTE SICH ANSCHEINEND, DEN MUT ZUM SPRUNG AUFZUBRINGEN. ICH WOLLTE VERSUCHEN, SIE MIT KÖRPERLICHEM EINSATZ VON DER DACHKANTE ZURÜCKZUHOLEN, ALS MICH EIN FUNKSPRUCH VON POLICE OFFICER DECARLO ERREICHTE, DER MIR MITTEILTE, MRS BEHRMANS EHEMANN [JOE BEHRMAN, WEISS/MÄNNLICH, GEB. 12.03.61, WOHNHAFT 509 EAST 110TH ST.] KOMME MIT DEM AUFZUG HERAUF, UM SEINE FRAU ZU SEHEN. DIES TEILTE ICH MRS BEHRMAN MIT.

MR BEHRMAN ERSCHIEN AUF DEM DACH, NÄHERTE SICH SEINER FRAU UND ÜBERREDETE SIE, VON DER BRÜSTUNG AUF DIE TERRASSE ZURÜCKZUKEHREN.

ICH BEGLEITETE MR UND MRS BEHRMAN HINUNTER ZUR STRASSE, WO SIE MIT EINEM RETTUNGSWAGEN ZUR UNTERSUCHUNG ZUM SISTERS OF MERCY HOSPITAL GEBRACHT WURDE.

BERICHT PO RIVELLI DIENSTHABENDER OFFICER SGT

DAWES

Barry sitzt mit einem scheußlichen Kater an seinem Schreibtisch im Großraumbüro und liest den Bericht des Polizisten zum dritten Mal. Er geht seinem Verstand in jeder Hinsicht gegen den Strich, denn er ist das genaue Gegenteil von dem, was Ann Voss Peters ihm über ihren Mann und seine erste Frau erzählt hat. Sie dachte, Franny sei gesprungen.

Er legt den Bericht zur Seite, weckt seinen Monitor aus dem Stand-by und loggt sich in die Datenbank der New Yorker Straßenverkehrsbehörde ein. Es pocht hinter seinen Augen.

Seine Suche nach Joe und Franny Behrman erbringt als letzte bekannte Adresse 6 Pinewood Lane in Montauk.

Er sollte das alles auf sich beruhen lassen Er sollte FMS und Ann Voss Peters vergessen und sich den schwankenden Stapeln aus Unterlagen und offenen Fallakten widmen, die sich auf seinem Schreibtisch türmen. Es gibt hier kein Verbrechen, das seiner Zeit wert wäre. Nur ein paar … Unstimmigkeiten.

Aber Tatsache ist, er ist jetzt ungeheuer neugierig.

Er ist seit dreiundzwanzig Jahren Detective, weil er Rätsel liebt, und dieses hier, diese Kette von widersprüchlichen Ereignissen, raunt ihm verlockend ins Ohr – eine Abweichung, die er zwanghaft richtigstellen muss.

Er riskiert eine Abmahnung, wenn er mit seinem Crown Vic in einer Angelegenheit, die eindeutig nicht in der Zuständigkeit der Polizei liegt, bis ans Ende von Long Island fährt. Aber mit diesen Kopfschmerzen würde er sowieso nicht so weit fahren.

Also ruft er die MTA-Website auf und studiert die Fahrpläne.

In knapp einer Stunde geht ein Zug von der Penn Station nach Montauk.

HELENA

18. Januar 2008 – 29. Oktober 2008

Tag 79

Das Leben auf Slades ausgemusterter Ölbohrinsel ist, als würde man für den Aufenthalt in einem Fünf-Sterne-Resort bezahlt, der einem zufällig auch als Büro dient. Jeden Morgen wacht sie im obersten Stock des Aufbaus auf, wo die Quartiere der Besatzung liegen. Sie hat ein geräumiges Eck-Apartment mit Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen und deren Scheiben aus regenabweisendem Glas bestehen. Sie atomisieren die Wassertropfen, sodass ihr Blick auf das endlose Meer selbst bei schlechtestem Wetter völlig klar bleibt. Einmal in der Woche putzt das Hauspersonal ihr Apartment und holt die Wäsche ab. Ein Koch mit einem Michelin-Stern bereitet die meisten Mahlzeiten zu, oft mit frisch gefangenem Fisch und Obst und Gemüse aus dem Treibhaus.

Marcus besteht darauf, dass sie an fünf Tagen in der Woche Sport treibt, damit ihre Stimmung gut und ihr Verstand scharf bleibt. In der ersten Etage befindet sich ein Fitnessstudio, das sie bei schlechtem Wetter nutzt. An den seltenen ruhigen Wintertagen joggt sie auf der Bahn, die um die Plattform herumführt. Das Laufen macht ihr die größte Freude, denn es fühlt sich an, als jogge sie auf dem Dach der Welt.

Ihr Forschungslabor hat eine Grundfläche von fast Tausend Quadratmetern – es füllt den gesamten dritten Stock des Aufbaus aus –, und sie hat in den letzten zehn Wochen mehr Fortschritte gemacht als in den ganzen fünf Jahren an der Stanford University. Sie bekommt hier alles, was sie braucht. Sie muss keine Rechnungen bezahlen, keine Beziehungen pflegen. Sie kann sich voll und ganz auf ihre Forschung konzentrieren.

Bis jetzt hat sie die Erinnerungen von Mäusen manipuliert und dabei mit speziellen Zellclustern gearbeitet, die gentechnisch auf Lichtempfindlichkeit spezialisiert waren. Wenn ein Zellcluster etikettiert und mit einer gespeicherten Erinnerung assoziiert war (beispielsweise mit der Erinnerung an einen Stromschlag), dann reaktivierte sie die Erinnerung der Maus an ihre Angst, indem sie die lichtempfindlichen Zellcluster mit einem speziellen optogenetischen Laser reizte, der durch Filamente in den Schädel der Maus geleitet wurde.

Aber ihre Arbeit auf der Ölplattform ist eine ganz andere Sache.

Helena leitet die Gruppe, die sich mit dem Hauptproblem beschäftigt, das zufällig auch ihr eigenes Spezialgebiet ist: mit dem Markieren und Katalogisieren der Neuronencluster, die mit einer speziellen Erinnerung verbunden sind, um dann ein digitales Modell des Gehirns zu konstruieren, das ihnen ermöglicht, Erinnerungen zu verfolgen und zu kartieren.

Im Prinzip ist es nichts anderes als das, was sie mit den Mäusehirnen getan hat, nur eben unendlich viel komplexer.

Die Technologie, mit der die anderen drei Teams sich beschäftigen, ist schwierig, aber nicht bahnbrechend – avantgardistisch, ja, aber mit den richtigen Leuten und mit Marcus’ unerschöpflichem Konto sollten sie in der Lage sein, ohne ernsthafte Hindernisse voranzukommen.

Helena hat zwanzig Mitarbeiter, die in vier Gruppen arbeiten. Sie selbst leitet das Kartierungsteam. Das Abbildungsteam hat die Aufgabe, eine Möglichkeit zu finden, neuronales Feuern zu filmen, ohne dass man einem Menschen einen Laser durch die Schädeldecke ins Hirn schiebt. Sie sind bei einem Gerät angekommen, das eine fortgeschrittene Form der Magnetoenzephalographie, kurz MEG, anwendet. Ein SQUID (ein Superconducting Quantum Interference Device, also eine supraleitende Quanteninterferenzeinheit) erfasst winzige Magnetfelder, hervorgerufen durch individuelle Neuronen, die im menschlichen Gehirn feuern, so weit, dass die Position jedes einzelnen Neurons bestimmt werden kann. Sie nennen es MEG-Mikroskop.