Wayward - Blake Crouch - E-Book
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Wayward E-Book

Blake Crouch

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Beschreibung

Umgeben von einem Elektrozaun und 24 Stunden am Tag im Blick eines Scharfschützen: So idyllisch die Kleinstadt Wayward Pines nach außen hin sein mag, für ihre 461 Bewohner ist sie ein Gefängnis. Alle sind sie nach einem schweren Unfall hier aufgewacht, und alle führen sie ein streng reguliertes, ständig überwachtes Leben. Sheriff Ethan Burke ist einer der wenigen, der weiß, was Wayward Pines wirklich ist – und welch unfassbare Wahrheit sich auf der anderen Seite des Zauns verbirgt. Als Ethan nicht mehr schweigen will, kommt es zur Katastrophe ...

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Buch

Umgeben von einem Elektrozaun und 24 Stunden am Tag im Blick eines Scharfschützen: So idyllisch die Kleinstadt Wayward Pines nach außen hin sein mag, für ihre 461 Bewohner ist sie ein Gefängnis. Alle sind sie nach einem schweren Unfall hier aufgewacht, und alle führen sie ein streng reguliertes, ständig überwachtes Leben. Sheriff Ethan Burke ist einer der wenigen, die wissen, was Wayward Pines wirklich ist – und welch unfassbare Wahrheit sich auf der anderen Seite des Zauns verbirgt. Als Ethan nicht mehr schweigen will, kommt es zur Katastrophe …

Autor

Blake Crouch ist der Autor einiger höchst erfolgreicher Romane, darunter der internationale Bestseller »Dark Matter. Der Zeitenläufer« und die Wayward-Pines-Trilogie, die als TV-Serie verfilmt wurde. Blake Crouch lebt mit seiner Familie in Colorado.

Blake Crouch

Wayward

Ein Wayward-Pines-Thriller

Band 2

Aus dem amerikanischen Englisch von Kerstin Fricke

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Wayward« bei Thomas & Mercer, Las Vegas. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Textnachweis: Zitat aus Das verlorene Paradies von John Milton. Übersetzt von Adolf Böttiger. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig.Taschenbuchausgabe November 2019

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Deutsche Erstveröffentlichung bei AmazonCrossing, Luxembourg, August 2014

Copyright © 2013 der Originalausgabe by Blake Crouch

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Tim Robinson / Trevillion Images; FinePic®, München

An · Herstellung: kw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-25323-3V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Chad Hodge

Es ist der Geist sein eigner Raum, er kann in sich selbst einen Himmel aus der Hölle und aus dem Himmel eine Hölle schaffen.

John Milton, Das verlorene Paradies

Sieht man sich die Natur an, dann glaubt man ebenso den Scheintod zu erkennen wie die Unsterblichkeit.

Dr. Mark Roth, Zellbiologe

GESTERNISTGESCHICHTE.MORGENISTEINMYSTERIUM.HEUTEISTEINGESCHENK.DARUMMACHENSIEDASBESTEDARAUS.ARBEITENSIEHART, SEIENSIEGLÜCKLICHUNDGENIESSENSIEIHRLEBENINWAYWARDPINES!

Nachricht an alle Einwohner von Wayward Pines (gut sichtbar in jedem Wohnhaus und jedem Geschäft anzubringen)

I

Kapitel 1

Mustin hatte die Kreatur schon seit fast einer Stunde durch das Zielfernrohr beobachtet. Sie war bei Tagesanbruch in der Schlucht erschienen und hatte innegehalten, als die ersten Sonnenstrahlen auf ihre durchschimmernde Haut fielen. Danach war sie langsam und vorsichtig zwischen den herumliegenden Felsen durchgehuscht, um gelegentlich an den Überresten ihrer toten Artgenossen zu schnüffeln, die Mustin zum Opfer gefallen waren.

Der Scharfschütze justierte sein Zielfernrohr neu und visierte das Wesen dann an. Die Umstände waren ideal: gute Sicht, milde Temperaturen, kein Wind. Als er das Fadenkreuz auf fünfundzwanzigfachen Zoom gestellt hatte, hob sich die geisterhafte Silhouette der Kreatur vor den grauen Felsen deutlich ab. Auf eine Entfernung von zweieinhalb Kilometern war ihr Kopf nicht größer als ein Sandkorn.

Wenn er jetzt nicht schoss, musste er sein Ziel neu anvisieren. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass die Kreatur aus seinem Sichtfeld verschwunden war, bevor er sie erneut erfassen konnte. Das wäre noch kein Weltuntergang. Eine halbe Meile weiter die Schlucht entlang stand ein Elektrozaun. Falls es der Kreatur jedoch gelang, den Stacheldraht mithilfe der Felsen zu überwinden, hätte er ein Problem. Dann musste er das Ganze per Funk melden, und das bedeutete ein Team rufen, mehr Arbeit, größerer Zeitaufwand. Man würde alles versuchen, um zu verhindern, dass die Kreatur die Stadt erreichte. Und Pilcher würde ihm ordentlich den Arsch aufreißen.

Mustin holte tief Luft.

Er atmete ein.

Stieß die Luft wieder aus.

Sein Brustkorb fiel zusammen.

Seine Lunge war leer.

Sein Zwerchfell entspannte sich.

Er zählte bis drei und drückte den Abzug.

Das AWM prallte fest gegen seine Schulter, und der Knall wurde durch den Schalldämpfer gemindert. Nachdem sich Mustin von dem Rückstoß erholt hatte, entdeckte er sein Ziel mithilfe des Zielfernrohrs, und es kauerte noch immer auf einem flachen Felsen am Boden der Schlucht.

Verdammt.

Er hatte es verfehlt.

Die Entfernung war größer als bei vielen anderen Schüssen, und selbst unter perfekten Bedingungen gab es zahlreiche Faktoren zu beachten. Den Luftdruck. Die Luftfeuchtigkeit. Die Luftdichte. Die Temperatur des Laufs. Selbst die durch die Erdrotation hervorgerufene Corioliskraft musste er miteinbeziehen. Er hatte geglaubt, alles miteinberechnet zu haben, aber …

Der Kopf der Kreatur verschwand in einem rötlichen Nebel.

Mustin grinste.

Es hatte etwas über vier Sekunden gedauert, bis das .338er-Lapua-Magnum-Geschoss das Ziel erreicht hatte.

Was für ein Schuss.

Mustin setzte sich auf und erhob sich.

Er streckte sich.

Es war mitten am Vormittag. Der Himmel war stahlblau, und es war keine Wolke zu sehen. Von seiner Position auf dem zehn Meter hohen Wachturm, der auf dem felsigen Berggipfel errichtet worden war, konnte er über die Baumwipfel sehen. Er hatte von der offenen Plattform aus einen Panoramablick auf die Gipfel in der Umgebung, die Schlucht, den Wald und die Stadt Wayward Pines, die aus der Entfernung von fast tausenddreihundert Metern kaum mehr als ein Gitter aus miteinander verwobenen Straßen war, das geschützt in einem Tal lag.

Sein Funkgerät piepte.

»Mustin, over«, meldete er sich.

»Es gab gerade einen Angriff auf den Zaun in Zone vier, over.«

»Augenblick.«

Zone vier bestand aus dem Teil des Pinienwaldes, der an den Südrand der Stadt grenzte. Mustin hob sein Gewehr und nahm den Zaun unter den Baumwipfeln in diesem Bereich in Augenschein. Zuerst sah er den Rauch, kleine Wölkchen, die von der versengten Haut eines Tieres aufstiegen.

»Ich habe Sichtkontakt«, meldete er. »Es ist nur ein Hirsch, over.«

»Verstanden.«

Mustin schwenkte das Gewehr nördlich in Richtung Stadt.

Nun sah er Gebäude, farbenfrohe viktorianische Häuserfronten mit perfekten Rechtecken aus leuchtend grünem Gras davor. Weiße Lattenzäune. Er visierte den Park an, in dem eine Frau zwei Kinder auf Schaukeln anstieß. Ein kleines Mädchen glitt eine Rutsche herunter, die im Sonnenschein schimmerte.

Er schwenkte zum Schulhof.

Zum Krankenhaus.

Den Gemeindegärten.

Der Main Street.

Dabei musste er den vertrauten Anflug von Neid herunterschlucken.

Stadtbewohner.

Sie waren so ahnungslos. Sie alle. So wunderbar unwissend.

Nein, er hasste sie nicht. Er wollte auch nicht ihr Leben haben. Er hatte schon vor langer Zeit seine Rolle als Beschützer akzeptiert. Er war ein Wächter. Er wohnte in einem sterilen, fensterlosen Raum in einem Berg und hatte mit dieser Tatsache so weit Frieden geschlossen, wie es ihm möglich war. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er keinen Hauch von Nostalgie verspürte, wenn er an einem schönen Morgen auf das herabsah, was im wahrsten Sinne des Wortes das letzte Paradies auf Erden war. Vielleicht hatte er auch Heimweh nach dem, was einst gewesen war.

Denn es war unwiederbringlich verloren.

Ein Stück die Straße entlang sah Mustin durch das Zielfernrohr einen Mann, der schnell den Gehweg entlangging. Er trug ein tannengrünes Hemd, eine braune Hose und einen schwarzen Stetson-Cowboyhut.

In dem Messingstern an seinem Revers spiegelte sich das Sonnenlicht.

Der Mann ging um eine Ecke, und das Fadenkreuz war nun auf seinen Rücken gerichtet.

»Guten Morgen, Sheriff Burke«, sagte Mustin. »Kribbelt es gerade zwischen Ihren Schulterblättern?«

Kapitel 2

Es gab immer noch Momente wie diesen, in denen sich Wayward Pines wie ein wirklicher Ort anfühlte.

Das Tal war in Sonnenlicht getaucht.

Der Morgen war noch immer angenehm kühl.

Gänseblümchen blühten in einem Beet unter einem offenen Fenster, aus dem köstliche Essensgerüche nach draußen wehten.

Zahlreiche Menschen machten einen Morgenspaziergang.

Sprengten ihren Rasen.

Holten die Tageszeitung herein.

Tautropfen glitzerten auf einem schwarzen Briefkasten.

Ethan Burke geriet in Versuchung, den Augenblick zu genießen und so zu tun, als wäre alles genau so, wie es schien. Als würde er mit seiner Frau und seinem Sohn in einer perfekten kleinen Stadt leben, in der er der angesehene Sheriff war. In der sie Freunde hatten. Ein schönes Haus. Alles, was sie zum Leben brauchten. Indem er sich das vorstellte, begriff er erst so richtig, wie gut die Illusion funktionierte. Wie die Menschen ihr erliegen und in der wunderbaren Lüge aufgehen konnten, die sie alle umgab.

Eine Glocke klingelte über der Tür, als Ethan das »Steaming Bean« betrat. Er blieb vor dem Tresen stehen und lächelte die Barista an, eine Hippiebraut mit blonden Dreadlocks und seelenvollen Augen.

»Morgen, Miranda.«

»Hi, Ethan. Wie immer?«

»Ja, bitte.«

Während sie den Espresso für seinen Cappuccino zubereitete, blickte sich Ethan im Laden um. Alle Stammgäste waren da, natürlich auch die beiden alten Männer, Philipp und Clay, die sich über ein Schachbrett beugten. Ethan ging hinüber und sah sich das Spiel an. Wie es aussah, waren die beiden schon eine Weile da, da jeder nur noch einen König, eine Königin und mehrere Bauern hatte.

»Das scheint ja auf ein Patt hinauszulaufen«, kommentierte Ethan.

»Nicht so voreilig«, erwiderte Philipp. »Ich hab noch ein Ass im Ärmel.«

Sein Gegner, ein grauhaariger Bär von einem Mann, grinste durch seinen wilden Bart. »Damit will er sagen, dass er für jeden Zug so verdammt lange braucht, weil er darauf hofft, dass ich sterbe und er auf diese Weise gewinnen kann.«

»Ach, halt doch den Mund, Clay.«

Ethan ging an einem zerschlissenen Sofa vorbei zum Bücherregal und strich mit den Fingern über die Buchrücken. Hier standen lauter Klassiker. Faulkner. Dickens. Tolkien. Hugo. Joyce. Bradbury. Melville. Hawthorne. Poe. Austen. Fitzgerald. Shakespeare. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine Sammlung abgegriffener Taschenbücher. Er zog einen Band aus dem Regal. »Fiesta«. Auf dem Titel war eine impressionistische Stierkampfszene abgebildet. Ethan schluckte schwer, weil ihm ein Kloß die Kehle eng werden ließ. Diese Ausgabe von Hemingways erstem Roman mit ihren dünnen, zerschlissenen Seiten war vermutlich das einzige Exemplar, das davon noch existierte. Er bekam eine Gänsehaut und fand es gleichzeitig aufregend und tragisch, sie in den Händen zu halten.

»Der Kaffee ist fertig, Ethan!«

Er nahm noch ein weiteres Buch für seinen Sohn mit und ging zum Tresen, um seinen Cappuccino in Empfang zu nehmen.

»Danke, Miranda. Ich werde mir diese Bücher ausleihen, wenn das okay ist.«

»Natürlich.« Sie lächelte. »Und halten Sie die Straßen sauber, Sheriff.«

»Ich gebe mein Bestes.«

Ethan tippte sich an die Hutkrempe und ging zur Tür.

* * *

Zehn Minuten später drückte er die Glastür auf, über der folgendes Schild hing:

BÜRODESSHERIFFSVONWAYWARDPINES

Der Empfang war leer. Das war nichts Neues.

Seine Sekretärin saß an ihrem Schreibtisch und sah so gelangweilt aus wie immer. Sie spielte Solitär und legte die Karten in einem ruhigen, mechanischen Rhythmus ab.

»Guten Morgen, Belinda.«

»Guten Morgen, Sheriff.«

Sie sah nicht einmal auf.

»Irgendwelche Anrufe?«

»Nein, Sir.«

»Ist jemand vorbeigekommen?«

»Nein, Sir.«

»Wie war Ihr Abend?«

Diese Frage überraschte sie, und sie sah auf, während sie mit der rechten Hand das Pikass umklammerte.

»Was?«

Das war das erste Mal, seitdem er Sheriff geworden war, dass Ethan etwas anderes als ein paar flüchtige Worte zur Begrüßung oder zum Abschied für sie übrig hatte oder Verwaltungsangelegenheiten mit ihr besprach. Sie war früher einmal Kinderkrankenschwester gewesen, und er fragte sich, ob sie wusste, dass er darüber informiert war.

»Ich habe Sie nur gefragt, wie Ihr Abend gewesen ist. Ich möchte nur wissen, ob Sie einen schönen Abend hatten.«

»Oh.« Sie zupfte an ihrem langen silbergrauen Pferdeschwanz. »Er war nett.«

»Haben Sie etwas Besonderes unternommen?«

»Nein, eigentlich nicht.«

Er glaubte schon, sie würde sich ebenfalls nach seinem Abend erkundigen, doch nach fünfsekündigem betretenem Schweigen wandte sie den Blick ab und sagte noch immer nichts.

Schließlich klopfte Ethan auf den Schreibtisch. »Ich bin dann in meinem Büro.«

* * *

Er legte die Stiefel auf den massiven Schreibtisch, nahm den Becher mit dem heißen Kaffee in die Hand und lehnte sich auf dem Lederstuhl zurück. Der Kopf eines riesigen Elchs starrte ihm von der Wand gegenüber entgegen. Dank ihm und den drei alten Waffenschränken hinter dem Schreibtisch hatte Ethan das Gefühl, alle Insignien eines wahren Dorfsheriffs um sich zu haben.

Seine Frau müsste jetzt bei der Arbeit sein. In ihrem vergangenen Leben hatte Theresa als Rechtsanwaltsgehilfin gearbeitet, doch hier in Wayward Pines war sie die einzige Grundstücksmaklerin der Stadt, was bedeutete, dass sie den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch in einem Büro an der Main Street saß, das so gut wie nie ein Mensch betrat. Sie hatte ebenso wie die meisten anderen Stadtbewohner einen eigentlich überflüssigen Job. All diese Leute taten nur so, als würden sie diesen Job ausüben, um den Anschein aufrechtzuerhalten. Nur vier- oder fünfmal im Jahr half sie irgendjemandem wirklich dabei, ein neues Haus zu kaufen. Vorbildliche Bürger wurden dadurch belohnt, dass sie sich alle paar Jahre ein besseres Haus kaufen durften. Die Einwohner, die schon am längsten hier lebten und nie gegen die Regeln verstoßen hatten, wohnten in den größten und schönsten viktorianischen Häusern. Außerdem durften auch Paare, die ein Kind bekamen, in ein neues, geräumigeres Haus umziehen.

In den nächsten vier Stunden hatte Ethan nichts zu tun und musste nirgendwohin.

Er schlug das Buch auf, das er aus dem Café mitgenommen hatte.

Es war spannend und großartig geschrieben.

Als er bei der Beschreibung des nächtlichen Paris angelangt war, bekam er einen Kloß im Hals.

Die Restaurants, die Bars, die Musik, der Rauch.

Die Lichter einer echten, lebendigen Stadt.

Das Gefühl einer ganzen Welt voller unterschiedlicher und faszinierender Menschen.

Die Freiheit, alles zu erkunden.

Nachdem er vierzig Seiten gelesen hatte, schloss er das Buch. Er konnte es einfach nicht ertragen. Hemingway lenkte ihn nicht ab, konnte ihn nicht aus der Realität von Wayward Pines entführen. Stattdessen wurde sie ihm nur umso deutlicher bewusst. Hemingway schüttete vielmehr Salz in eine Wunde, die niemals heilen würde.

* * *

Um 13:45 Uhr verließ Ethan zu Fuß das Büro.

Er schlenderte durch die ruhige Stadt.

Jeder, an dem er vorbeikam, lächelte, winkte ihm zu und begrüßte ihn mit einem Enthusiasmus, der ernst gemeint zu sein schien, als würde er schon seit Jahren hier leben. Falls sie ihn insgeheim fürchteten oder hassten, verbargen sie es gut. Warum sollten sie es auch nicht tun? Soweit er wusste, war er der einzige Einwohner von Wayward Pines, der die Wahrheit kannte, und es war sein Job, dafür zu sorgen, dass es auch so blieb. Er musste den Frieden wahren. Die Lüge. Alles selbst vor seiner Frau und seinem Sohn geheim halten. In seinen ersten Wochen als Sheriff hatte er die meiste Zeit damit verbracht, die Dossiers über jeden einzelnen Bewohner zu lesen und alles über sein vorheriges Leben in Erfahrung zu bringen. Er wusste jetzt alles über ihre Integration, kannte die Überwachungsberichte über ihr Leben danach. Inzwischen kannte er die Lebensgeschichte der halben Stadtbevölkerung. Ihre Geheimnisse und ihre Ängste. Er wusste, wem man vertrauen konnte, um diese wacklige Illusion aufrechtzuerhalten, und bei wem es erste Risse in der Fassade gab.

Er war zur Ein-Mann-Gestapo geworden.

Natürlich war ihm klar, dass es nicht ohne ging.

Dennoch hasste er es.

* * *

Ethan bog auf die Main Street ein und lief in Richtung Süden, bis der Bürgersteig endete und er nicht mehr von Gebäuden umgeben war. Die Straße führte weiter, und er ging am Straßenrand in einen Wald aus hoch aufragenden Pinien. Die Stadtgeräusche wurden immer leiser und waren schließlich nicht mehr zu hören.

Fünfzehn Meter hinter einem Straßenschild, das vor einer scharfen Kurve warnte, blieb Ethan stehen. Er warf einen Blick zurück nach Wayward Pines. Die Straße war leer. Alles war ruhig. Außer dem gelegentlichen Zwitschern eines Vogels war alles ruhig.

Er verließ die Straße und ging weiter in den Wald hinein.

Die Luft duftete nach Piniennadeln.

Ethan ging über den weichen Waldboden durch Flecken aus Licht und Schatten.

Er lief so schnell, dass sich auf seinem Hemdrücken der Schweiß abzeichnete und seine Haut an den Stellen, an denen der Stoff an ihr klebte, kühl wurde.

Es war ein schöner Spaziergang. Keine Überwachung, keine anderen Menschen. Nur ein Mann, der allein durch den Wald lief, allein mit seinen Gedanken.

Als er sich knapp zweihundert Meter von der Straße entfernt hatte, kam er zu den Felsen, einer Ansammlung von Granitblöcken, die zwischen den Pinien herumlagen. An einer Stelle, an der der Wald den Berghang hinaufreichte, ragte ein Felsvorsprung aus der Erde.

Aus etwa drei Meter Entfernung sah der glatte, vertikale Felsen, durch den sich eine Quarzader zog und der mit Moos und Flechten bewachsen war, ziemlich echt aus.

Doch je näher man kam, desto weniger überzeugte die Illusion, da die Dimensionen irgendwie zu eckig waren.

Etwa einen Meter davor blieb Ethan stehen.

Schon bald hörte er das leise mechanische Summen der Zahnräder, die sich in Bewegung setzten. Die gesamte Felsfläche wurde wie eine riesige Garagentür nach oben aufgeklappt, und die Öffnung war breit und groß genug, dass ein Sattelschlepper hindurchfahren konnte.

Ethan duckte sich unter der sich öffnenden Tür hindurch und betrat den dunklen, unterirdischen, kühlen Raum.

»Hallo, Ethan.«

»Marcus.«

Derselbe junge Mann, der Mitte zwanzig sein mochte und zerzaustes Haar sowie den kantigen Kiefer eines Soldaten oder Polizisten hatte, empfing ihn. Er trug eine gelbe Windjacke, und Ethan bemerkte, dass er mal wieder vergessen hatte, eine Jacke mitzubringen. Jetzt musste er bei der Fahrt wieder einmal frieren.

Marcus hatte den tür- und dachlosen Jeep im Leerlauf stehen lassen und bereits in die Richtung gewendet, aus der er gekommen war.

Ethan setzte sich auf den Beifahrersitz.

Das Tor schloss sich donnernd wieder hinter ihnen.

Marcus löste die Handbremse und legte einen Gang ein, während er in sein Headset sagte: »Ich habe Mr Burke. Wir sind unterwegs.«

Der Jeep fuhr an und beschleunigte auf der einspurigen Fahrbahn aus makellosem Asphalt.

Sie sausten eine Anhöhe hinauf. Die Wände des Tunnels bestanden aus nacktem Stein. An einigen Stellen flossen Rinnsale aus den Felswänden und zogen sich wie Spinnweben über die Straße. Hin und wieder klatschte ein Wassertropfen auf die Windschutzscheibe.

Die fluoreszierenden Leuchtstreifen an der Decke verschwommen zu blassem Orange.

Es roch nach Stein, Wasser und Abgasen.

Aufgrund des Motorengeräuschs und des Windes war es zu laut, um sich zu unterhalten. Aber das war Ethan ganz recht. Er lehnte sich auf dem grauen Vinylsitz zurück und unterdrückte den Drang, sich die Arme zu reiben, da er in der kalten, feuchten Luft fror.

In seinen Ohren baute sich Druck auf, sodass er das Dröhnen des Motors kaum noch hören konnte.

Er schluckte schwer.

Der Krach kehrte zurück.

Sie fuhren weiter bergan.

Mit fünfundfünfzig km/h dauerte die Fahrt nur vier Minuten, doch sie kam ihm deutlich länger vor. Die Kälte, der Krach und der Wind wirkten irgendwie desorientierend und verzerrten sein Zeitgefühl.

Überdies war der Gedanke beunruhigend, sich innerhalb eines Berges zu bewegen.

Doch vor allem belastete es ihn, dass er ihn gleich sehen würde.

* * *

Der Tunnel ging in eine riesige Höhle über, in der zehn Lagerhäuser nebeneinander Platz gefunden hätten. Sie musste gute hunderttausend Quadratmeter groß sein und hätte einige Jets oder Raumschiffe aufnehmen können. Doch stattdessen wurden hier Lebensmittel gelagert. Riesige zylindrische Reservoirs voller Nahrung. Lange Reihen aus zwölf Meter hohen Regalen, in denen Holz und Vorräte lagerten. Alles, was die letzte Stadt auf Erden brauchte, damit ihre Einwohner die nächsten Jahre überlebten.

Marcus fuhr an einer Tür mit einer Glasscheibe vorbei, auf der »Suspension« stand. Dahinter leuchtete ein schwaches blaues Licht, und es lief Ethan eiskalt den Rücken herunter, als er daran denken musste, was sich dort befand.

Pilchers Suspensionseinheiten.

Hunderte davon.

Jeder Einwohner von Wayward Pines, auch er selbst, war in diesem Raum tausendachthundert Jahre lang in einem chemischen Tiefschlaf gehalten worden.

Neben einer Doppeltür aus Glas blieb der Jeep stehen.

Noch während Marcus den Motor ausschaltete, stieg Ethan aus.

Sein Begleiter gab über ein Tastenfeld einen Code ein, und die Türen glitten zur Seite.

Die beiden Männer gingen an einem Schild vorbei, auf dem »1. Etage« stand, und in einen langen, leeren Korridor.

Keine Fenster.

Die fluoreszierenden Lampen sirrten.

Der Boden war mit schwarz-weißen Kacheln ausgelegt. In einem Abstand von jeweils drei Metern befanden sich Türen mit einem kleinen, runden Fenster. Sie hatten weder Türklinke noch -knauf, sondern wurden per Schlüsselkarte geöffnet.

Hinter den meisten Fenstern war es dunkel.

Doch hinter einem stand eine Abscheulichkeit mit großen milchigen Augen, deren Pupillen vergrößert waren, und gebleckten rasiermesserscharfen Eckzähnen und klopfte mit einer schwarzen Klaue an das Glas.

Diese Wesen suchten ihn in seinen Albträumen heim. Wenn er schweißgebadet aufwachte, nachdem er den Angriff noch einmal durchlebt hatte, tätschelte ihm Theresa den Arm und flüsterte ihm zu, dass er zu Hause sei und dass er keine Angst haben müsse.

Sie blieben in der Mitte des Korridors vor einer nicht gekennzeichneten Tür stehen.

Marcus öffnete die Tür per Schlüsselkarte.

Ethan betrat die kleine Kabine.

Sein Begleiter steckte einen Schlüssel in eine Chromtafel und drückte den Knopf, als dieser zu blinken begann.

Mit einer sanften Bewegung fuhren sie los.

In Ethans Ohren knackte es bei dieser Fahrt immer, aber er wusste nie, ob sie jetzt nach unten oder nach oben fuhren.

Es nervte ihn ungemein, dass er noch immer wie ein Kind oder eine Bedrohung von einem Begleiter hergebracht wurde, obwohl er seinen Job jetzt schon seit zwei Wochen ausübte.

Zwei Wochen.

Großer Gott.

Es kam ihm so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass er Adam Hassler, dem leitenden Special Agent im Büro von Seattle, am Schreibtisch gegenübergesessen und den Auftrag erhalten hatte, in diese Stadt zu kommen und seine verschwundene Ex-Partnerin Kate Hewson zu suchen. Doch jetzt war er kein Agent des Secret Service mehr. Mit dieser Tatsache hatte er sich jedoch noch nicht ganz abgefunden.

Sie merkten nur, dass sie angehalten hatten, weil sich die Türen des Fahrstuhls öffneten.

Das Erste, was ihm ins Auge stach, war ein Picasso, den Ethan für echt hielt.

Sie gingen durch ein piekfeines Foyer. Hier gab es keine fluoreszierenden Lampen und kein kariertes Linoleum, sondern Marmorfliesen und prächtige Wandleuchter. Stuck unter der Decke. Selbst die Luft war angenehmer und nicht so abgestanden und schal wie im Rest des Komplexes.

Sie gingen an einem tiefer gelegenen Wohnzimmer vorbei.

Einer riesigen Küche.

Einer Bibliothek voller in Leder gebundener Bände, die samt und sonders antik und kostbar waren.

Nachdem sie um eine Ecke gegangen waren, konnten sie endlich die Doppeltür aus Eiche am Ende des Ganges sehen.

Marcus klopfte zweimal an, und eine Stimme rief von der anderen Seite: »Herein!«

»Gehen Sie nur, Mr Burke.«

Ethan öffnete die Tür und betrat ein spektakuläres Büro.

Der Boden bestand aus einem dunklen exotischen Hartholz, das auf Hochglanz poliert war.

Das Kernstück des Raumes war ein großer Tisch, auf dem unter Glas eine Miniatur von Wayward Pines zu sehen war, bei der sogar die Farbe von Ethans Haus stimmte.

An der linken Wand hingen Werke von Vincent van Gogh.

Die Wand gegenüber war vom Boden bis zur Decke mit Monitoren bestückt, neun übereinander und vierundzwanzig nebeneinander. Vor den Bildschirmen, die simultan zweihundertsechzehn Bilder aus Wayward Pines – Straßen, Badezimmer, Küchen und Hinterhöfe – zeigten, standen Ledersofas.

Immer wenn Ethan diese Bildschirme sah, verspürte er den unbändigen Drang, jemandem den Kopf abzureißen.

Er verstand zwar den Grund für diese Überwachung, aber dennoch …

»Diese Wut …«, sagte der Mann, der hinter dem mit feinen Schnitzereien verzierten Mahagonischreibtisch saß. »Sie spiegelt sich jedes Mal auf Ihrem Gesicht wider, wenn Sie mich aufsuchen.«

Ethan zuckte mit den Achseln. »Sie spionieren das Privatleben anderer Menschen aus, da ist das eine nur natürliche Reaktion.«

»Finden Sie, dass es in unserer Stadt eine Privatsphäre geben sollte?«

»Natürlich nicht.«

Ethan ging auf den riesigen Schreibtisch zu, während sich die Türen hinter ihm schlossen.

Er schob seinen Stetson unter seinen rechten Arm und ließ sich auf einem der Stühle nieder.

Dann starrte er David Pilcher an.

Er war der Milliardär (aus der Zeit, als Geld noch etwas bedeutete) und Erfinder, der hinter Wayward Pines steckte und der auch den Komplex innerhalb des Berges errichtet hatte. 1971 hatte Pilcher entdeckt, dass sich das Genom der Menschen nach und nach zersetzte, und er hatte vorausgesagt, dass die Menschheit innerhalb der nächsten dreißig bis vierzig Generationen aussterben würde. Daher hatte er diese Suspensionsanlage bauen lassen, um eine bestimmte Anzahl reiner Menschen zu erhalten, bevor die Genomverseuchung die kritische Masse erreichte.

Neben seinem inneren Kreis aus einhundertsechzig wahren Gläubigen war Pilcher für die Entführung von sechshundertfünfzig Menschen verantwortlich, die ebenso wie er selbst in einem Suspensionszustand geschwebt hatten.

Dann war Pilchers Vorhersage wahr geworden. In diesem Augenblick lebten außerhalb des Zauns, der Wayward Pines umgab, mehrere Hundert Millionen dieser Wesen, zu denen sich die Menschen weiterentwickelt hatten – wahre Abscheulichkeiten.

Trotz allem sah Pilcher ganz anders aus, als man ihn sich vorstellen würde. Er sah nicht im Geringsten bedrohlich aus, war vielleicht 1,65 Meter groß und bis auf einen feinen silberfarbenen Flaum, der eher an Chrom als an Winterwolken erinnerte, glatzköpfig. Nun blickte er Ethan mit winzigen Augen an, die ebenso schwarz wie undurchdringlich aussahen.

Pilcher schob einen Aktenordner über die mit Leder bezogene Schreibtischplatte.

»Was ist das?«, wollte Ethan wissen.

»Ein Überwachungsbericht.«

Ethan schlug den Ordner auf.

Er enthielt einen Schwarz-Weiß-Screenshot eines Mannes, den er kannte: Peter McCall. Der Mann war Chefredakteur der einzigen Zeitung der Stadt, des »Wayward Light«. Auf dem Foto lag McCall auf seiner Seite des Bettes und starrte mit leeren Augen ins Nichts.

»Was macht er da?«, erkundigte sich Ethan.

»Tja, er macht nichts. Genau das ist das Problem. Peter ist seit zwei Tagen nicht zur Arbeit gegangen.«

»Vielleicht ist er krank?«

»Er hat über keinerlei Beschwerden geklagt, und Ted, mein Überwachungstechniker, hat ein ungutes Gefühl.«

»Glaubt er, McCall würde über eine Flucht nachdenken?«

»Vielleicht, oder er hat etwas Unüberlegtes vor.«

»Ich habe seine Akte gelesen«, sagte Ethan. »Aber da stand nichts von größeren Integrationsproblemen. Bisher hat er kein ungewöhnliches Verhalten an den Tag gelegt. Hat er etwas Irritierendes gesagt?«

»McCall hat seit achtundvierzig Stunden keinen Ton von sich gegeben und nicht einmal mit seinen Kindern gesprochen.«

»Was genau erwarten Sie von mir?«

»Behalten Sie ihn im Auge. Gehen Sie mal vorbei und sehen Sie nach dem Rechten. Sie sollten nie unterschätzen, welche Auswirkungen Ihre Anwesenheit haben kann.«

»Sie haben doch kein Fest im Sinn, oder?«

»Nein. Feste sind jenen vorbehalten, die tatsächlich Verrat begehen und versuchen, andere mit hineinzuziehen. Sie tragen ja gar nicht Ihre Waffe.«

»Ich finde, damit vermittle ich die falschen Signale.«

Pilcher grinste breit und zeigte dabei seine winzigen weißen Zähne. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie an die Signale denken würden, die meine einzige Autoritätsperson in der Stadt meiner Meinung nach ausstrahlen sollte. Das ist mein voller Ernst. Was möchten Sie ausstrahlen, Ethan?«

»Dass ich hier bin, um zu helfen. Zu unterstützen. Zu beschützen.«

»Aber das alles tun Sie doch eigentlich gar nicht. Ich habe mich unklar ausgedrückt, das muss ich zugeben. Ihre Anwesenheit soll nur an meine Gegenwart erinnern.«

»Verstanden.«

»Kann ich also davon ausgehen, dass Sie Ihre größte, gemeinste Waffe bei sich tragen, wenn ich Sie das nächste Mal auf einem meiner Bildschirme über die Straße gehen sehe?«

»Natürlich.«

»Hervorragend.«

Ethan spürte, wie sein Herz schnell und wild gegen seine Rippen donnerte.

»Bitte glauben Sie jetzt nicht, dieser geringfügige Tadel würde meine Meinung über Ihre Arbeit hier widerspiegeln, Ethan. Ich finde, dass Sie sich sehr gut in Ihre neue Position einfügen. Sind Sie da meiner Meinung?«

Ethan sah über Pilchers Schulter. Die Wand hinter dem Schreibtisch bestand aus robustem Stein. In der Mitte war ein Fenster eingelassen worden, durch das man die Berge, die Schlucht und Wayward Pines sehen konnte, das sechshundert Meter unter ihnen lag.

»Ich finde mich mit jedem Tag besser zurecht«, erwiderte Ethan.

»Haben Sie die Akten der Einwohner genau studiert?«

»Ich habe sie alle einmal durchgesehen.«

»Ihr Vorgänger, Mr Pope, kannte sie auswendig.«

»Da komme ich auch noch hin.«

»Freut mich, das zu hören. Aber Sie haben sie heute Morgen nicht gelesen, nicht wahr?«

»Haben Sie mich überwacht?«

»Ich habe Sie nicht überwacht, nur gesehen. Ihr Büro ist einige Male auf den Bildschirmen aufgetaucht. Was haben Sie da gelesen? Ich konnte es nicht genau erkennen.«

»›Fiesta‹.«

»Ah, Hemingway. Einer meiner Lieblingsautoren. Ich glaube immer noch, dass wir hier große Kunstwerke schaffen werden. Aus genau diesem Grund habe ich auch unseren Pianisten Hecter Gaither mitgenommen. In der Suspension sind auch noch andere bekannte Autoren und Maler. Poeten. Und wir halten weiterhin nach Talenten Ausschau, die wir in der Schule fördern können. Ben zeichnet sich im Kunstunterricht aus.«

Innerlich widerstrebte es Ethan, den Namen seines Sohnes aus Pilchers Mund zu hören, aber er meinte nur: »Die Einwohner von Pines sind nicht in der Stimmung, Kunstwerke zu erschaffen.«

»Wie meinen Sie das, Ethan?«

Pilcher stellte die Frage so, wie sie ein Therapeut stellen würde – mit intellektueller Neugier, nicht voller Aggression.

»Sie leben unter ständiger Beobachtung. Sie wissen, dass sie nie von hier wegkönnen. Was für Kunstwerke würden in einer unterdrückten Gesellschaft denn schon entstehen?«

Pilcher lächelte. »Ethan, wenn ich Sie so reden höre, frage ich mich, ob Sie wirklich auf meiner Seite stehen. Ob Sie wirklich an das glauben, was wir tun.«

»Natürlich glaube ich daran.«

»Natürlich tun Sie das. Ich hatte heute einen Bericht von einem meiner Nomaden auf dem Tisch, der von einer zweiwöchigen Mission zurückgekehrt ist. Er hat eine Herde aus geschätzten zweitausend Abbys gesehen, die gerade mal dreißig Kilometer vom Stadtzentrum von Wayward Pines entfernt war. Sie waren östlich der Berge auf den Ebenen hinter einer Büffelherde her. Ich werde jeden Tag daran erinnert, wie gefährdet wir in diesem Tal sind. Wie unsicher und wacklig unsere Existenz ist. Und Sie sitzen hier und sehen mich an, als wäre ich das Oberhaupt der DDR oder der Roten Khmer. Es gefällt Ihnen nicht, und das kann ich respektieren. Mir wäre es doch auch lieber, wenn die Dinge anders stünden. Aber es gibt Gründe für das, was ich tue, und einer dieser Gründe ist die Erhaltung von Leben, von unserer Spezies.«

»Gibt es nicht immer Gründe?«

»Sie haben ein Gewissen, und das weiß ich zu schätzen«, entgegnete Pilcher. »Ich möchte auch niemanden in Ihrer Position haben, bei dem das anders ist. Jede Ressource, die mir zur Verfügung steht, jeder Mensch, der für mich arbeitet, alles ist nur einer Sache gewidmet: die vierhunderteinundsechzig Menschen, die in diesem Tal leben und zu denen auch Ihre Frau und Ihr Sohn gehören, am Leben zu halten.«

»Was ist mit der Wahrheit?«, fragte Ethan.

»Unter gewissen Umständen schließen Sicherheit und Wahrheit einander aus. Ich bin davon ausgegangen, dass ein ehemaliger Angestellter der Regierung dieses Konzept verinnerlicht hätte.«

Ethan starrte die Monitorwand an. Auf einem Bildschirm in der linken unteren Ecke war seine Frau zu sehen.

Sie saß allein in ihrem Büro an der Main Street.

Reglos.

Gelangweilt.

Auf dem Monitor daneben war ein Kamera-Feed zu sehen, den Ethan bisher noch nicht kannte: eine Vogelperspektive von etwas, das sich etwa dreißig Meter über dem dichten Wald befand und mit beachtlicher Geschwindigkeit fortbewegte.

»Was ist das für eine Kamera?«, wollte er wissen und deutete auf die Wand.

»Welche?«

Das Bild wurde durch die Innenansicht des Opernhauses ersetzt.

»Jetzt ist es weg, aber es sah aus, als würde etwas über den Bäumen fliegen.«

»Ach, das ist nur eine meiner Drohnen.«

»Drohnen?«

»Unbemannte Flugzeuge. Das ist eine MQ-9-Reaper-Drohne. Wir schicken sie hin und wieder auf Erkundungsmissionen. Sie hat eine Reichweite von etwa 1,6 Kilometern. Ich glaube, heute fliegt sie einen Bogen um den Großen Salzsee.«

»Haben Sie schon mal etwas gefunden?«

»Noch nicht. Passen Sie mal auf, Ethan. Ich bitte Sie nicht darum, das zu mögen. Mir gefällt es ja auch nicht.«

»Aber wo soll das hinführen?«, fragte Ethan, als das Bild seiner Frau von dem zweier Jungen ersetzt wurde, die in einem Sandkasten Burgen bauten. »Wie soll es mit uns als Spezies weitergehen?« Erneut starrte er Pilcher an. »Mir ist durchaus bewusst, was Sie hier erreicht haben. Sie haben unsere Existenz weit über das, was die Evolution für uns geplant hatte, erhalten. Aber nur für das hier? Damit eine kleine Gruppe Menschen unter ständiger Beobachtung in einem Tal leben kann? Abgeschirmt von der Wahrheit? Und gelegentlich gezwungen ist, einen der ihren zu töten? Das ist doch kein Leben, David. Das ist ein Gefängnis. Und Sie haben mich zum Wärter gemacht. Ich möchte das Beste für diese Leute. Für meine Familie.«

Pilcher schob seinen Stuhl vom Schreibtisch weg, drehte ihn herum und starrte durch das Fenster auf die Stadt herab, die er geschaffen hatte.

»Wir sind jetzt seit vierzehn Jahren hier, Ethan. Es gibt weniger als eintausend von uns und mehrere Hundert Millionen von ihnen. Manchmal ist das Beste einfach zu überleben.«

* * *

Der getarnte Tunneleingang schloss sich hinter ihm.

Ethan stand allein im Wald.

Er entfernte sich von dem Felsvorsprung und ging zurück zur Straße.

Die Sonne war bereits hinter der westlichen Bergkette untergegangen.

Der Himmel hatte sich golden verfärbt.

Eine nächtliche Kühle machte sich in der Luft breit.

Die Straße, die nach Pines hineinführte, war leer, und Ethan ging direkt auf dem Mittelstreifen entlang.

* * *

Sein Zuhause war in einem viktorianischen Gebäude in der 1040 Sixth Street, nicht weit von der Main Street entfernt. Das Haus war gelb und hatte weiße Fensterrahmen. Es sah hübsch und ordentlich aus. Ethan ging über die Steinplatten zur Veranda.

Er öffnete erst die Fliegengittertür und danach die robuste Holztür.

Er betrat das Haus.

Rief: »Schatz, ich bin zu Hause.«

Doch er bekam keine Antwort.

Da war nichts als die lautlose, geballte Energie eines leeren Hauses.

Er legte seinen Cowboyhut auf die Garderobe und setzte sich auf einen Stuhl mit Lederlehne, um sich die Stiefel auszuziehen.

Auf Socken ging er in die Küche. Die Milch war geliefert worden. Die vier Glasflaschen klirrten, als er die Kühlschranktür öffnete. Er nahm sich eine und ging damit durch den Flur in sein Arbeitszimmer, sein Lieblingszimmer im ganzen Haus. Wenn er in dem riesigen Sessel am Fenster saß, hatte er die Gewissheit, dass er nicht beobachtet wurde.

In den meisten Gebäuden in Pines gab es ein oder zwei blinde Flecken. Bei seinem dritten Besuch in der Suprastruktur war er auf die Überwachungspläne für sein Haus gestoßen. Er hatte sich die Position jeder Kamera gemerkt. Natürlich hatte er Pilcher darum gebeten, dass sie entfernt würden, und diese Bitte war ihm abgeschlagen worden. Pilcher wollte, dass Ethan ebenso wie alle anderen unter ständiger Beobachtung lebte, damit er die Menschen, auf die er aufpasste, verstehen konnte.

Doch es tröstete ihn ungemein, dass ihn in diesem Moment niemand sehen konnte. Selbstverständlich wussten sie dank des Mikrochips unter seiner Achillessehne zu jeder Zeit genau, wo er sich aufhielt. Ethan hatte gar nicht erst versucht, sich dieser Sicherheitsmaßnahme zu entziehen.

Er schraubte die Glasflasche auf und trank einen Schluck.

Das gehörte nicht zu den Dingen, die er Theresa sagen konnte (wenn niemand zuhörte), aber er dachte oft, dass trotz all der schrecklichen Umstände, die ihr Leben in Pines mit sich brachte – keine Privatsphäre, keine Freiheit, ständige Todesgefahr –, diese täglich frische Milch aus der Molkerei in der südöstlichen Ecke des Tals einen der positiven Aspekte darstellte.

Sie war kalt, cremig, frisch und süß.

Durch das Fenster sah er den Garten ihrer Nachbarn. Jennifer Rochester kniete vor einem Hochbeet und schaufelte mit den Händen Erde aus einer roten Schubkarre hinüber. Er dachte an ihre Akte, bevor er überhaupt wusste, was er da tat. In ihrem früheren Leben war sie Professorin für Pädagogik an der Washington State University gewesen. Hier in Pines arbeitete sie an vier Abenden in der Woche als Kellnerin im Biergarten. Abgesehen von ihrer brutalen Integration, die beinahe gescheitert wäre, war sie eine vorbildliche Bürgerin.

Hör auf.

Er wollte nicht an die Arbeit oder Einzelheiten aus dem Privatleben seiner Nachbarn denken.

Was sie wohl insgeheim über ihn denken mochten?

Er erschauderte bei dem Gedanken daran, was aus seinem Leben geworden war.

Diese Augenblicke der Verzweiflung überkamen ihn gelegentlich. Es gab keinen Ausweg, und er konnte kein anderer Mann sein – nicht, wenn er seine Familie beschützen wollte.

Das hatte man ihm in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben.

Ethan wusste, dass er sich den Bericht über McCall durchlesen sollte, aber stattdessen zog er die Schublade des Beistelltischs neben sich auf und nahm einen Gedichtband heraus.

Robert Frost.

Eine Sammlung seiner Naturgedichte.

Während ihn Hemingway an diesem Morgen deprimiert hatte, fand er stets Trost bei Frost.

Er las etwa eine Stunde lang in dem Buch.

Vom Flicken von Mauern, verschneiten Wäldern und Wegen, die man nicht beschritten hatte.

Der Himmel wurde dunkler.

Er hörte die Schritte seiner Frau auf der Veranda.

Ethan ging zur Tür, um sie zu begrüßen.

»Wie war dein Tag?«, erkundigte er sich.

Theresas Augen schienen ihm zuzuflüstern: »Ich habe acht Stunden an einem Schreibtisch gesessen, einen bedeutungslosen Job gemacht und mit keiner Menschenseele gesprochen«, aber sie zwang sich zu einem Lächeln und antwortete: »Er war toll. Und deiner?«

»Ich habe mich mit dem Mann getroffen, der für dieses Gefängnis verantwortlich ist, das wir unser Zuhause nennen, und eine geheime Akte über einen unserer Nachbarn abgeholt.«

»Ich hatte auch einen schönen Tag.«

Sie strich ihm mit der Hand über die Brust. »Schön, dass du dich noch nicht umgezogen hast. Ich sehe dich so gern in Uniform.«

Ethan umarmte seine Frau.

Atmete ihren Duft ein.

Ließ seine Finger durch ihr langes blondes Haar gleiten.

»Ich habe nachgedacht.«

»Ja?«

»Ben ist noch etwa eine Stunde bei Matthew.«

»Ach was?«

Sie nahm Ethans Hand und zog ihn in Richtung Treppe.

»Bist du sicher?«, fragte er. In den zwei Wochen seit ihrem Wiedersehen waren sie erst zweimal intim geworden, und beide Male auf Ethans Lieblingssessel im Arbeitszimmer, während Theresa auf seinem Schoß saß und er die Hände auf ihren Hüften liegen hatte – bequem war etwas anderes.

»Ich will dich«, sagte sie.

»Lass uns ins Arbeitszimmer gehen.«

»Nein«, beharrte sie. »Ins Bett.«

Er ging hinter ihr die Treppe hinauf und den Flur im ersten Stock entlang, wobei der Hartholzboden unter ihren Füßen knarrte.

Sie taumelten ins Schlafzimmer und küssten sich dabei, während ihre Hände den Körper des anderen erforschten. Ethan versuchte, nur in diesem Augenblick zu sein, aber er bekam den Gedanken an all die Kameras einfach nicht aus dem Kopf.

Eine hinter dem Thermostat an der Wand neben der Badezimmertür.

Eine in der Lampe unter der Decke, die direkt auf ihr Bett gerichtet war.

Er zögerte, da er sich unsicher war, und Theresa spürte es.

»Was ist los, Schatz?«

»Nichts.«

Sie standen neben dem Bett.

Draußen vor dem Fenster gingen in Pines die Lichter an, die Straßenlaternen, Verandalampen, Hausbeleuchtungen.

Das Zirpen einer Grille war durch das offene Fenster zu hören.

Das sprichwörtliche Geräusch einer friedlichen Nacht.

Nur dass nichts davon real war. Es gab keine Grillen mehr. Das Geräusch kam aus einem winzigen Lautsprecher, der in einem Busch verborgen war. Er fragte sich, ob seine Frau das wusste, überlegte, wie viel von der Wahrheit sie bereits erraten hatte.

»Willst du mich denn nicht?«, fragte Theresa in diesem todernsten Tonfall, in den er sich schon bei ihrer ersten Begegnung verliebt hatte.

»Natürlich will ich dich.«

»Dann benimm dich auch entsprechend.«

Langsam knöpfte er ihr weißes Sommerkleid auf. Er war aus der Übung, und das hatte etwas ebenso Wunderbares wie Schreckliches an sich. Es war nicht wie in der Highschool, aber auch nicht weit davon entfernt. Dieser Mangel an Kontrolle hatte ihm bereits auf dem Flur eine Erektion beschert.

Er versuchte, die Bettdecke über ihre Körper zu ziehen, aber sie ließ es nicht zu, sondern sagte, sie wolle die kühle Brise, die durch das Fenster hereinwehte, auf ihrer Haut spüren.

Das Bett war altmodisch und knarrte ebenso stark wie der Rest des Hauses.

Die Federn quietschten, und als Theresa stöhnte, versuchte Ethan, jeden Gedanken an die Kamera über ihnen aus seinem Kopf zu verbannen. Pilcher hatte ihm versichert, dass es streng verboten war, Paare in derart intimen Augenblicken zu beobachten. Dass die Kamera-Feeds in dem Moment unterbrochen wurden, in dem man sich auszog.

Aber Ethan fragte sich, ob das wirklich stimmte.

Oder sah einer der Überwachungstechniker Ethan gerade dabei zu, wie er mit seiner Frau schlief? Begutachtete Ethans nackten Hintern. Wie sich Theresas Beine um seinen Körper wickelten.

Bei den ersten beiden Malen war Ethan vor Theresa gekommen. Doch jetzt störte der Gedanke an die Kamera über ihm seine Leidenschaft. Er nutzte seine Wut, um länger durchzuhalten.

Theresa kam so heftig, dass Ethan daran erinnert wurde, wie gut sie zusammenpassten.

Als auch er den Höhepunkt erreicht hatte, lagen sie still nebeneinander. Sie waren atemlos, und er konnte spüren, wie ihr Herz gegen seine Rippen schlug. Die Abendluft fühlte sich fast schon kalt an, als sie seine schweißbedeckte Haut traf. Es hätte ein perfekter Moment sein können, aber das Wissen über alles um ihn herum brach erneut durch. Würde er eines Tages einen Punkt erreichen, an dem er es abblocken konnte? Würde er den unerwarteten Frieden und die Schönheit solcher Augenblicke irgendwann genießen und den darunterliegenden Schrecken vergessen können? War es das, was die Menschen hier seit Jahren machten, damit sie nicht den Verstand verloren?

»Das können wir also immer noch«, sagte er, und sie mussten beide lachen.

Er drehte sich auf den Rücken, und Theresa kuschelte sich an ihn.

Ethan vergewisserte sich, dass sie die Augen geschlossen hatte.

Dann sah er grinsend direkt nach oben und hob den Mittelfinger.

* * *

Ethan und Theresa bereiteten gemeinsam das Abendessen zu und standen nebeneinander in der Küche an der Arbeitsplatte.

Es war Erntezeit in den Gemeindegärten, das Ende der Saison, und der Kühlschrank der Burkes quoll über mit frischem Obst und Gemüse. Das waren vermutlich die Monate, in denen in Wayward Pines die köstlichsten Gerichte auf den Tisch kamen. Sobald die Blätter Frost bekamen und die Schneegrenze schnell bis auf den Boden des Tals herabsank, nahm der Speiseplan jedoch eine schaurige Wendung zu Gefriergetrocknetem. Von Oktober bis März erwarteten sie sechs Monate lang abgepackte, getrocknete Langeweile. Theresa hatte Ethan schon gewarnt, dass man sich im Dezember im Supermarkt vorkam, als wäre man auf einer Weltraummission, da man nichts als chromfarbene Pakete in den Regalen sah, auf deren Etiketten die erstaunlichsten Dinge standen: Crème brulée, gegrilltes Käsesandwich, Filet Mignon, Hummerschwanz. Sie hatte ihm gedroht, gefriergetrocknetes Steak und Hummer als Weihnachtsessen zu servieren.

Sie hatten gerade einen herzhaften Salat aus Zwiebeln, Rettich und Himbeeren auf einem Bett aus Spinat und rotem Salat angerichtet, als Ben mit roten Wangen durch die Tür stürmte und nach Schweiß und dem Spielen im Freien roch.

Er befand sich noch auf dieser schmalen Schwelle zwischen Junge und Mann.

Theresa ging zu ihrem Sohn, küsste ihn und erkundigte sich, wie sein Tag gewesen war.

Ethan schaltete das uralte Philips-Radio, ein Röhrenradio aus den 1950er-Jahren, das in einem einwandfreien Zustand war, ein. Seltsamerweise hatte Pilcher ein solches Gerät in jedes bewohnte Haus stellen lassen.

Die Sendersuche war einfach, da es nur einen Sender gab. Die meiste Zeit empfingen sie bloß statisches Rauschen, aber es gab auch ein oder zwei Talkshows und jeden Abend zwischen 19:00 und 20:00 Uhr »Dinner mit Hecter«.

Hecter Gaither war in seinem früheren Leben ein relativ berühmter Konzertpianist gewesen.

In Pines gab er jedem Lernwilligen Klavierunterricht und spielte an jedem Abend für die Stadt.

Ethan drehte das Radio lauter.

»Guten Abend, Wayward Pines. Hier ist Hecter Gaither.«

Als Familienoberhaupt war es Ethans Aufgabe, den Salat zu verteilen.

»Ich sitze an meinem Steinway, einem wunderbaren Boston Baby Grand.«

Zuerst bekam seine Frau etwas.

»Heute Abend werde ich die ›Goldberg-Variationen‹ spielen, ein Werk, das Johann Sebastian Bach eigentlich für das Cembalo komponiert hat.«

Danach sein Sohn.

»Dieses Werk ist eine Arie, der dreißig Variationen folgen. Viel Spaß.«

Als Ethan sich selbst Salat auftat und Platz nahm, war das Knarren der Klavierbank deutlich im Lautsprecher zu hören.

* * *

Nach dem Essen nahmen die Burkes Schalen mit selbst gemachtem Eis mit auf die Veranda.

Sie setzten sich auf Schaukelstühle.

Aßen und lauschten.

Durch die offenen Fenster der Häuser in der Nachbarschaft konnte Ethan Hecters Musik hören.

Sie erfüllte das Tal.

Saubere und wunderbare Töne stiegen zwischen den vom Alpenglühen geröteten Berghängen auf.

Sie blieben lange dort sitzen.

Dank eines Jahrtausends ohne Luft- und Lichtverschmutzung war der Himmel pechschwarz.

Die Sterne erschienen nicht einfach nur.

Sie schienen förmlich zu explodieren.

Wie Diamanten auf schwarzem Samt.

Man konnte den Blick einfach nicht davon abwenden.

Ethan nahm Theresas Hand.

Bach und Galaxien.

Die Nachtluft wurde kalt.

Als Hecter aufhörte, klatschten die Menschen in ihren Häusern.

Auf der anderen Straßenseite rief ein Mann: »Bravo! Bravo!«

Ethan sah zu Theresa hinüber.

Ihr standen Tränen in den Augen.

»Ist alles okay?«, fragte er.

Sie nickte und wischte sich über die Wangen. »Ich bin nur froh, dass du wieder zu Hause bist.«

* * *

Ethan spülte das Geschirr ab und ging dann nach oben. Bens Zimmer lag am Ende des Flurs, und die Tür war geschlossen, nur ein schmaler Lichtstreifen war darunter zu sehen.

Ethan klopfte an.

»Komm rein.«

Ben saß auf dem Bett und zeichnete – er machte mit Kohle eine Skizze auf Kraftpapier.

Ethan setzte sich. »Darf ich mal sehen?«

Ben hob die Arme.

Die Skizze zeigte das, was der Junge momentan von seiner Position auf dem Bett aus sah: die Wand, den Schreibtisch, den Fensterrahmen, die Lichtpunkte, die durch die Fensterscheibe zu sehen waren.

»Das ist richtig gut«, sagte Ethan.

»Es ist noch nicht so, wie ich es haben wollte. Die Nacht hinter dem Fenster sieht noch nicht richtig aus.«

»Das kriegst du auch noch hin. Hey, ich habe dir heute aus dem Café ein Buch mitgebracht.«

Das schien Ben aufzumuntern. »Welches denn?«

»Es heißt ›Der Hobbit‹.«

»Nie davon gehört.«

»Das war eines meiner Lieblingsbücher, als ich in deinem Alter war. Ich hatte überlegt, es dir vorzulesen.«

»Ich kann selbst lesen, Dad.«

»Das weiß ich. Aber ich habe es selbst seit Jahren nicht gelesen. Es macht bestimmt Spaß, wenn wir es zusammen lesen.«

»Ist es unheimlich?«

»Es hat einige gruselige Stellen. Geh dir die Zähne putzen, dann fangen wir an.«

* * *

Ethan lehnte sich ans Kopfende des Bettes und las im Licht der Nachttischlampe.

Ben war schon vor Ende des ersten Kapitels eingeschlafen, und Ethan hoffte, dass er jetzt von tiefen, uralten Höhlen träumte. Von irgendetwas anderem als Wayward Pines.

Ethan legte das Taschenbuch zur Seite und schaltete die Lampe aus.

Er zog seinem Sohn die Bettdecke über die Schultern.

Legte die Hand auf Bens Brust.

Es gab nichts Schöneres auf der Welt als dieses Gefühl, wie sich die Brust seines schlafenden Kindes hob und senkte.

Ethan hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, dass sein Sohn in Wayward Pines aufwachsen musste. Er bezweifelte, dass er sich je damit abfinden würde. Allerdings gab es da die kleinen Dinge, die besser waren – zumindest versuchte er, sich das einzureden. Der heutige Abend beispielsweise. Wäre Ben in der alten Welt aufgewachsen, dann hätte Ethan das Zimmer seines Sohnes betreten und ihn vermutlich mit einem iPhone in der Hand angetroffen.

Wie er einem Freund eine SMS schrieb.

Oder Fernsehen guckte.

Ein Videospiel spielte.

Twitter und Facebook nutzte.

Ethan vermisste all diese Dinge nicht. Er bedauerte es nicht, dass sein Sohn nicht in einer Welt aufwuchs, in der die Menschen nur den ganzen Tag auf irgendwelche Bildschirme starrten. Wo sich die Kommunikation darauf beschränkte, winzige Tasten zu drücken, und die Menschheit vor allem darauf wartete, den nächsten Endorphinkick durch das Ping einer eintreffenden SMS oder einer neuen E-Mail zu bekommen.

Stattdessen traf er seinen Sohn, der fast schon ein Teenager war, dabei an, wie er auf dem Bett saß und zeichnete.

Daran gab es ja wohl nichts auszusetzen.

Doch die Aussicht auf die kommenden Jahre ließ Ethans Herz schwer werden.

Worauf konnte sich Ben freuen?

Er konnte keine höhere Schule besuchen, keine Karriere machen.

Verschwunden waren die Zeiten, in denen es hieß …

Du kannst werden, was immer du willst.

Was du dir auch in den Kopf setzt.

Folge einfach deinem Herzen und lebe deine Träume.

Die guten alten Plattitüden einer ausgestorbenen Spezies.

Wenn die Menschen nicht von allein einen Partner fanden, wurden die Ehen in Pines oft arrangiert. In jedem Fall war die Auswahl potenzieller Partner erschreckend klein.

Ben würde nie nach Paris fahren können.

Oder den Yellowstone-Park besuchen.

Sich vielleicht nie verlieben.

Er würde nie wissen, wie es war, aufs College zu gehen.

Oder Flitterwochen zu machen.

Oder einfach so aus einer Laune heraus durch das Land fahren, nur weil er zweiundzwanzig Jahre alt war und das tun konnte.

Ethan hasste die Überwachung, die Abbys und die Illusionskultur in Pines.

Aber was ihn bis spät in die Nacht beschäftigte, waren die Gedanken an seinen Sohn. Ben lebte seit fünf Jahren in Pines, fast so lange, wie er zuvor in der alten Welt gelebt hatte. Während die erwachsenen Einwohner von Pines jeden Tag von den Erinnerungen an ihr früheres Leben gepeinigt wurden, war Ben ebenso ein Kind dieser Stadt, dieser seltsamen, neuen Zeit. Nicht einmal Ethan wusste, was sein Sohn in der Schule lernte. Pilcher ließ ständig einige seiner Männer in Zivilkleidung auf dem Schulgelände patrouillieren, das die Eltern nicht betreten durften.

* * *

3:30 Uhr.

Ethan lag wach im Bett und hielt seine Frau in den Armen.

An Schlaf war nicht zu denken.

Er spürte Theresas Wimpern, die seine Brust bei jedem Blinzeln kitzelten.

Was denkst du?