Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik - Manfred Haubrock - E-Book

Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik E-Book

Manfred Haubrock

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Beschreibung

Führungskräfte und -personen in der Gesundheitswirtschaft benötigen für ihre Arbeit grundlegendes Wissen über gesundheitsökonomische Zusammenhänge und gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse. Der erfahrene Hochschuldozent Manfred Haubrock fasst das Basis-wissen zur Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik für Pflege-, Sozial- und Verwaltungsfachberufe verständlich und kompakt zusammen. Das Kurzlehrbuch •zeigt, wie deutsche Gesundheits- und Sozialversorgungssysteme für Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege-, Renten- und Unfallversicherung entstanden sind, wie sie sich entwickelt haben und was sie kennzeichnet •identifiziert die Besonderheiten der Gesundheitsversorgung in Form von sozialer Marktwirtschaft, Wettbewerb und bedarfsgerechtem Versorgungsauftrag •beschreibt den Wandel vom Gesundheitssystem zur Gesundheitswirtschaft mit dessen Grundlagen, Ursachen und Folgen, den veränderten Rahmenbedingungen und dem primären und sekundären Gesundheitsmarkt •skizziert politische Aspekte der Gesundheitsversorgung hinsichtlich ihrer Funktionen, Herausforderungen und Ziele, den möglichen Reformen und Handlungsspielräumen sowie deren Einbettung in den europäischen Kontext •stellt Träger und Organisationen der Gesundheitsversorgung differenziert dar •beschreibt Aspekte ausgewählter Versorgungssysteme, wie Krankenhausversorgung, ambulante ärztliche Versorgung, Arzneimittelversorgung, Heil- und Hilfsmittelversorgung, rehabilitative Versorgung, ambulante und stationäre pflegerische Versorgung, geburtshilfliche Versorgung, Hospiz- und Palliativversorgung, Versorgung durch Rettungsdienste, alters- und behindertengerechte Versorgung •erörtert die Relevanz von gesundheitsökonomischen Evaluationen, nennt Kriterien qualifizierter Evaluationen und beschreibt, wie Kosten-Nutzen-Betrachtungen erfolgen •zeigt, wie Versorgungsleistungen dokumentiert und präsentiert werden mittels Sozialberichterstattung,

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Seitenzahl: 1013

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Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik

Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik

Manfred Haubrock

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Gesundheit

Ansgar Gerhardus, Bremen; Klaus Hurrelmann, Berlin; Petra Kolip, Bielefeld; Milo Puhan, Zürich; Doris Schaeffer, Bielefeld

Manfred Haubrock

Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik

Lehrbuch für Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft

Prof. Dr. Manfred Haubrock, Dipl. Kaufmann, Dipl. Sozialwirt

Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Caprivistraße 30a

DE-49076 Osnabrück

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Hogrefe AG

Lektorat Pflege z.Hd.: Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Thomas Sonntag, Martina Kasper, Valeria Barucci

Bearbeitung: Thomas Sonntag

Herstellung: René Tschirren

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Illustration/Fotos (Kapiteltrenner): Jürgen Georg, Schüpfen

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Format: EPUB

1. Auflage 2020

© 2020 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95944-8)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75944-4)

ISBN 978-3-456-85944-6

http://doi.org/10.1024/85944-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Widmung

1 Grundlegende Aspekte des deutschen Sozialsystems

1.1 Entwicklung der sozialen Sicherung bis 1945

1.2 Entstehung der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland

1.3 Sozialversicherungen als Elemente der sozialen Sicherung

1.3.1 Merkmale der sozialen Sicherung

1.3.2 Grundprinzipien und Gemeinsamkeiten der Sozialversicherungen

1.3.3 Arbeitslosenversicherung

1.3.4 Krankenversicherung

1.3.5 Pflegeversicherung

1.3.6 Rentenversicherung

1.3.7 Unfallversicherung

1.4 Private Absicherung als alternative Versicherungsvariante

Literatur

Gesetze

2 Das Gesundheitssystem als wesentlicher Bestandteil des Sozialsystems

2.1 Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip

2.2 Wettbewerb als Koordinationsgröße

2.3 Bedarfsgerechte Versorgung als hoheitlicher Auftrag

2.4 Spezifika des ersten Gesundheitsmarktes

Literatur

Gesetze

3 Vom Gesundheitssystem zur Gesundheitswirtschaft

3.1 Kondratieff-Zyklen – die theoretische Basis

3.2 Merkmale eines Gesundheitssystems

3.3 Veränderung der Rahmenbedingungen

3.3.1 Demografischer Wandel und Finanzierungsproblematik

3.3.2 Sozioökonomischer Wandel

3.3.3 Medizinisch-technischer Fortschritt

3.3.4 Rechtliche und gesundheitspolitische Veränderungen

3.4 Primärer und sekundärer Gesundheitsmarkt

Literatur

4 Managed Care als alternatives Konzept der Gesundheitsversorgung

4.1 Grundlegende Aspekte

4.2 Historische Entwicklung von Managed Care

4.3 Managed-Care-Techniken

4.4 Organisationsformen von Managed Care

4.5 Umsetzungsansätze von Managed Care in den USA

4.6 Beispiele umgesetzter Managed-Care-Strukturen

4.7 Kritische Analyse der Managed-Care-Strukturen

4.8 Selektivverträge als Managed-Care-Ansatz in Deutschland

4.8.1 Relevanz des Kassenwettbewerbs

4.8.2 Kassenwettbewerb durch Versorgungsmanagement

4.8.3 Formen des Versorgungsmanagements

Literatur

Gesetze

5 Politische Aspekte der Gesundheitsversorgung

5.1 Ziele und Funktionen der Gesundheitspolitik

5.2 Gesundheitspolitische Herausforderungen

5.3 Relevante Gesundheitsreformen als Handlungsstrategien

Literatur

Gesetze

6 Versorgungssektoren des ersten Gesundheitsmarktes

6.1 Krankenhausversorgung

6.1.1 Grundlegende Aspekte

6.1.2 Finanzierung der Leistungen auf der Grundlage des DRG-Systems

6.1.3 Finanzierung der Leistungen auf der Grundlage des Psych-Entgeltsystems

6.2 Ambulante ärztliche Versorgung

6.3 Arzneimittelversorgung

6.4 Heilmittel-, Heilpraktiker- und Hilfsmittelversorgung

6.4.1 Heilmittelversorgung

6.4.2 Heilpraktikerversorgung

6.4.3 Hilfsmittelversorgung

6.5 Geburtshilfliche Versorgung

6.6 Hospiz- und Palliativversorgung

6.7 Notfallversorgung

6.8 Pflegerische Versorgung

6.9 Rehabilitative Versorgung

Literatur

Gesetze

7 Gesundheitsökonomische Evaluationen

7.1 Notwendigkeit der Evaluationen

7.2 Kriterien qualifizierter Evaluationen

7.3 Kosten-Nutzen-Betrachtungen

7.3.1 Überblick

7.3.2 Analyseverfahren

7.3.3 Grundmuster des Ablaufs bei Kosten-Nutzen-Betrachtungen

7.4 Relevanz für das deutsche Gesundheitssystem

Literatur

8 Berichterstattungssysteme im Gesundheits- und Sozialbereich

8.1 Sozialberichterstattung

8.1.1 Konzept der sozialen Lage

8.1.2 Arten der Sozialberichterstattung

8.2 Sozialbudget

8.3 Gesundheitsberichterstattung

8.4 Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung

Literatur

Sachwortverzeichnis

Widmung

Dieses Buch widme ich meinem Sohn Daniel-Lars Haubrock, der im Frühjahr dieses Jahres viel zu früh verstorben ist.

Ich bin sehr dankbar für die vielen schönen Jahre, die wir gemeinsam im Kreis der Familie verleben durften.

Osnabrück, den 25. Juni 2019

Manfred Haubrock

1 Grundlegende Aspekte des deutschen Sozialsystems

1.1 Entwicklung der sozialen Sicherung bis 1945

Das deutsche System der sozialen Sicherung, so wie es sich heute darstellt, ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinweg vollzogen hat. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Entstehung und Entwicklung dieses Systems im Wesentlichen von einer in der deutschen Geschichte und Kultur tief verwurzelten sozialpolitischen Grundüberzeugung, dem Prinzip der Selbstverwaltung sowie durch viele verschiedene gesellschaftliche und politische Gruppen beeinflusst worden ist.

Einige besonders charakteristische Merkmale des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen, wie etwa der auf christlichen Vorstellungen beruhende Leitgedanke der Solidarität gegenüber den Alten und Kranken. Hier stand jedoch nicht nur die Nächstenliebe im Fokus des Handelns, vielmehr spielte auch der Gedanke an den eigenen Seelenfrieden eine wichtige Rolle. Kirchliche Hospitäler dienten im Mittelalter der Krankenversorgung und zeichneten sich dadurch aus, dass sie fremden und nicht ortsansässigen Armen und Kranken Unterkunft und Pflege gewährten. Diese Hospitäler waren in erster Linie Armenpflegehäuser. Als die kirchliche Fürsorge ab Mitte des 15. Jahrhunderts unter anderem als Folge kirchlicher Reformen (Reformation) und den damit verbundenen Schließungen katholischer Häuser an Bedeutung verlor, traten an ihre Stelle zunehmend weltliche Versorgungsinstitutionen. In diesem Kontext spielen die genossenschaftlichen Selbsthilfeeinrichtungen der Gilden, Zünfte und Gesellenbruderschaften, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in den freien Städten stark geprägt haben, eine wesentliche Rolle.

Diese Veränderungsprozesse laufen vor dem Hintergrund einer Wirtschaftsstruktur ab, die – betrachtet man sie nach dem sogenannten Sektorenmodell – in den deutschen Ländern bis zum Jahr 1945 im Wesentlichen durch die Aktivitäten folgender zwei Sektoren geprägt wird:

primärer Sektor (Landwirtschaft, Bergbau, Forstwirtschaft und Fischerei)sekundärer Sektor (verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe, Energiewirtschaft).

Die Entwicklung dieser beiden Wirtschaftssektoren ist historisch bedingt. Bis zur industriellen Revolution, die im 18. Jahrhundert zum Beispiel durch die Entwicklung der Dampfmaschine von Newcomen (1705), der „Spinning Jenny“ von Hargreaves (1765), der Baumwollspinnmaschine von Arkwright (1769), des mechanischen Webstuhls von Cartwright (1784), des Puddelverfahrens bei der Eisengewinnung von Cort (1784) und der Baumwollreinigungsmaschine von Whitney (1792) ihren Anfang nahm, dominierte der primäre Sektor.

Der primäre Sektor, in dem bis zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert der Wirtschaftsbereich Landwirtschaft eine dominante Bedeutung spielte, ist durch den Einsatz der beiden volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Boden und Arbeit geprägt.

Produktionsfaktoren sind materielle und immaterielle Ressourcen, die zur Erzeugung von Sachgütern bzw. zur Bereitstellung von Dienstleistungen notwendig sind. Ihr Einsatz ist somit auch für die Unternehmungen des ersten Wirtschaftssektors die Basis für die Herstellung bzw. Bereitstellung von wirtschaftlichen Gütern. Durch ihre Verwendung wird das Unternehmensziel, zum Beispiel der Anbau von Getreide, realisiert. Im Rahmen dieses sogenannten betrieblichen Wertschöpfungsprozesses werden die Produktionsfaktoren teilweise bzw. ganz „verbraucht“. Wird dieser Ressourcenverbrauch monetär bewertet, entstehen für ein Unternehmen Kosten. Kosten lassen sich folglich aus der ökonomischen Perspektive als zweckbezogene, monetäre Ressourcenverbräuche definieren.

Beim Faktor Boden wird wiederum in Anbau-, Abbau- und Standortboden unterschieden. Unter dem Anbauboden wird zum Beispiel der landwirtschaftlich genutzte Acker verstanden. Diese Art des Bodens ist in der vorindustriellen Phase eine wesentliche Grundlage für die wirtschaftliche Existenz. Bei dem Abbauboden werden die Rohstoffe, die sich in der Erde befinden (z.B. Gas, Kohle, Öl), ökonomisch genutzt. Der Standortboden dient den Unternehmen als Standort für ihre Tätigkeiten; er ist heute unter anderem relevant für Logistikunternehmen oder Gesundheitseinrichtungen, für die eine optimale Anbindung an die Infrastruktur und somit eine gute Erreichbarkeit von Bedeutung ist.

Der Faktor Arbeit wird in der Betriebswirtschaftslehre in die an der Bereitstellung von Dienstleistungen bzw. an der Erstellung von Sachgütern beteiligten Elementefaktoren sowie in die derivativen Faktoren unterteilt. Zu den Elementarfaktoren gehören neben den Betriebsmitteln (z.B. Röntgengerät, Investitionsgüter) und Werkstoffen (z.B. Medikamente, Verbrauchsgüter) auch die ausführenden, erwerbstätigen Menschen. Dieser Teil des Humankapitals wird in der Betriebswirtschaftslehre als sogenannter exekutiver Produktionsfaktor (ausführende Mitarbeiter) bezeichnet. Der so­genannte dispositive Faktor umfasst die Mitarbeiter der Unternehmensführung sowie die Tätigkeiten des Managements. Die Tätigkeiten der Unternehmensführung werden auch derivative Faktoren genannt. Zu den Managementfunktionen gehören die Festlegung von Zielen, die Planung, die Organisation und die Kontrolle.

Diese oben aufgezeigte Differenzierung der Mitarbeiterschaft ist die Grundlage für die Hierarchisierung des Faktors Arbeit. Eine hierarchische Ordnung (Aufbauorganisation, Unternehmensstruktur) besteht aus den Stellen (kleinste Organisationseinheit der ausführenden Arbeit) und den Instanzen (kleinste Organisationseinheit des Managements). Instanzen und Stellen bilden zusammen die Organisationseinheit Abteilung.

Der primäre Sektor ist geprägt durch die Agrargesellschaft. Die meisten Menschen lebten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von der Landwirtschaft und in ländlichen Siedlungen. In Deutschland waren zum Beispiel noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa 80% der Menschen direkt landwirtschaftlich tätig (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1975a). Ein wesentliches unternehmerisches Ziel in der Zeit des Absolutismus, die durch eine ständisch-agrarische Ordnung gekennzeichnet war, bestand für die adligen Grundherren darin, die volle Verfügungsgewalt über die beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Boden zu bekommen. Beim Produktionsfaktor Boden war folglich das Eigentum an der landwirtschaft­lichen Anbaufläche notwendig, um die Ver­fügungsgewalt über diesen Produktionsfaktor zu erhalten. Zu der wirtschaftlichen Elite gehörten zum Beispiel die ostelbischen Gutsherren. Dieser Stand kontrollierte somit die Bodennutzung und lebte zudem von den Abgaben und Dienstleistungen der von ihm abhängigen ­landwirtschaftlichen Mitarbeiterschaft. Die Bestimmung des wirtschaftlichen Einsatzes des Produktionsfaktors Arbeit erfolgte zunächst über die Leibeigenschaft und nach den relevanten Reformen über die Hand- und Spanndienste. Diese Dienste, die im preußischen Einflussbereich auch unter der Bezeichnung Heuerlings- oder Kötterwesen bekannt waren, zeichneten sich unter anderem dadurch aus, dass zwischen dem Dienstherren, also in der Regel einem Landadeligen, und den unselbstständigen Bauern eine wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit bestand. So wurden in den damals geltenden Gesetzen (in einigen Staaten als Heimatgesetz bekannt) Rechte und Pflichten für beide Seiten festgeschrieben. Die Pflicht der Bauern bestand unter anderem darin, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, während es die Pflicht des Lehnsherren war, zum Beispiel die soziale Sicherung der Mitarbeiter zu garantieren. Zu diesen sozialen Pflichten gehörte etwa die Versorgung im Fall einer Krankheit. Das System war zudem auf dem sogenannten Heimatgedanken aufgebaut, das heißt, die Dorfgemeinschaft bildete die soziale und wirtschaftliche Grundlage für die Menschen. Aus diesen ökonomischen Machtstrukturen ergaben sich politische Herrschaftsstrukturen. Die Führungsschichten der vorindustriellen Gesellschaften rekrutierten sich nahezu ausschließlich aus der Schicht des Adels, also aus der sozialen Schicht (Stand) der Eigentümer des Produktionsfaktors Boden. Der Absolutismus war folglich geprägt durch eine Interessengemeinschaft der politischen Führungselite und der wirtschaftlich mächtigen Personen.

Alternativ zu dieser ländlichen Struktur entwickelte sich in den Städten das Bürgertum. Dort spielten die Kaufleute und die Handwerker eine entscheidende Rolle. In den Städten, von denen einige im Laufe der Jahrhunderte bestimmte Privilegien erwerben konnten (z.B. das Marktrecht, das Münzrecht und das Gerichtsrecht), entwickelte sich ein anderes gesellschaftliches Leben. Diese sogenannten freien Städte waren die Wirtschaftszentren einer Region. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung war die Erlangung des Marktrechts. Dieses Recht konnte verliehen oder erworben werden. Das Wirtschaftsleben war durch den Tausch zwischen den Produkten aus den ländlichen Gebieten und den städtischen Handwerkserzeugnissen geprägt. Diese Tauschprozesse fanden auf bestimmten Plätzen, den sogenannten Märkten, statt. Der Marktplatz war somit der Ort, an dem gewirtschaftet wurde. Wirtschaften bedeutet, dass Waren angeboten und nachgefragt werden. Verständigen sich der Produzent und der Konsument auf einen Tauschwert, kommt der Kaufvertrag zustande. Aus den anfänglichen Naturaltauschprozessen entwickelte sich nach und nach ein Tausch von Geld/Münzen gegen Ware. Der Tausch von Geld gegen Ware setzt voraus, dass dieses Zahlungsmittel zur Verfügung gestellt wird. Zur Herstellung von Münzen erwarben zunächst die Städte und später auch private Geldhäuser Münzrechte. Historisch interessant ist hierbei unter anderem die Tatsache, dass zur Herstellung der Münzen zunächst nur Edelmetalle (Gold und Silber) verwendet wurden. Der Münzwert und der Tauschwert einer Münze waren identisch. Durch das Auswechseln der Edelmetalle gegen minderwertige Materialien (z.B. Bronze) konnte ein Münzgewinn erzielt werden. Dies bedeutete, dass der Herstellungswert und der Tauschwert einer Münze nicht mehr identisch waren.

Die heutige Wirtschaftsordnungsidee der Marktwirtschaft mit ihrem systemimmanenten Preiswettbewerb basiert auf den Erkenntnissen, die über die Tauschprozesse in den freien Städten gewonnen werden konnten.

Neben dieser Möglichkeit, Einkünfte zu erzielen, konnten die Städte ihre Haushaltslage durch Steuern und Gebühren verbessern. So mussten die Bauern, die ihre Produkte in der Stadt verkaufen wollten, bei der Ankunft in der Stadt ein „Eintrittsgeld“ zahlen. Wollte ein Händler sein Produkt mit einem bestimmten Qualitätsnachweis verkaufen, so musste diese Qualität durch Beauftragte der Städte festgestellt und bescheinigt werden. Die Städte hatten hierfür Qualitätsnormierungen (Qualitäts­standards) entwickelt, die eingehalten werden mussten. Für die Verleihung eines Qualitätszertifikats waren entsprechende Gebühren zu entrichten.

Das dritte Recht, das Gerichtsrecht, ergänzte die beiden anderen Rechte. Verstöße, die sich unter anderem aus einem unseriösen Marktverhalten ergeben konnten, wurden in der Regel zeitnah und vor Ort geahndet.

Die Städte hatten, im Vergleich zu der in den ländlichen Regionen üblichen Feudalherrschaft, eine alternative politische Führungskultur. Aus der Mitte der Handwerksmeister und der Kaufleute, die in der Bürgerversammlung vertreten waren, wurde als Primus inter Pares der Bürgermeister einer Stadt gewählt. Er war der höchste Repräsentant sowohl in politischen als auch in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Der Bürgermeister vertrat die städtischen Interessen nach außen und innen. Die Stadt hatte somit eine eigenständige Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur. Die gesundheitliche und soziale Absicherung der Menschen in den Städten erfolgte durch die Gilden bzw. Zünfte. Dabei handelte es sich um Selbstverwaltungsorgane, die ihre Angelegenheiten autonom geregelt haben. So konnten diese Verbände zum Beispiel Betten in den Hospitälern kaufen, um ihre Mitglieder im Krankheitsfall versorgen zu können. Ein weiteres Merkmal dieser Gesellenbruderschaften bestand darin, hoheitliche Funktionen zur Regulierung ihrer Berufsstände wahrzunehmen. Die heutigen gesetzlichen Krankenversicherungen beruhen letztlich auf dem Konzept dieser genossenschaftlichen Selbsthilfe. Weiterhin sind in diesem Kontext die Zwangsmitgliedschaften und die Erhebung von Zwangsbeiträgen (z.B. in Form eines Büchsenpfennigs) zu nennen. Diese und andere Kriterien des Gildewesens wurden Ende des 19. Jahrhunderts in die staatlichen sozialen Sicherungssysteme integriert. Als weitere Beispiele dafür seien in diesem Zusammenhang die folgenden Merkmale genannt:

Anbindung des sozialen Schutzes an ein ArbeitsverhältnisVersicherungspflichtBeitragsfinanzierungSolidarausgleichFamilienversicherungSelbstverwaltung.

Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Zünfte und Bruderschaften ab. Die Gewerbefreiheit und die Landreformen führten letztlich zur Auflösung der alten, teilweise bis ins Mittelalter zurückreichenden Versorgungsstrukturen. Die Regulierung der sozialen Sicherung wurde zunehmend von den Landesherren wahrgenommen. Durch das Preußische Landrecht von 1794 („Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten“) wurden nicht nur weitgehende Vorschriften über die Gewährung sozialer Leistungen erlassen, sondern primär wurde auch die grundsätzliche Anerkennung der staatlichen Verantwortung für die Versorgung bedürftiger Menschen festgeschrieben (dieser Grundsatz entspricht heute dem Sozialstaatsprinzip der Verfassung für die Bundesrepublik sowie der Verpflichtung des Staates zur Daseinsvorsorge und Fürsorge). Die Kommunalisierung der Armenfürsorge war eine Folge der preußischen Reformen. Die Kassen entwickelten sich folglich aus den Zunftbüchsen der Meister und Gesellen (Zusammenschlüsse eines bestimmten Berufsstands) über die Bruder- und Gesellenläden bis hin zu den Gewerbehilfskassen, die in Preußen nach der Einführung der Allgemeinen Gewerbeordnung die alten Versorgungseinrichtungen abgelöst haben.

Die gesundheitliche Absicherung der Arbeiterschaft im Bergbau war seit dem 17. Jahrhundert durch zunehmende staatliche Regulierung und Kontrolle geprägt. Dies führte dazu, dass schon zu damaliger Zeit neben den ärztlichen Behandlungen zum Beispiel Lohnfortzahlungen sowie Witwen- und Waisenrenten obligatorisch waren. Die Beiträge zu den sogenannten Revierkassen, die diese Leistungen zu finanzieren hatten, wurden durch die Bergleute (Knappen) und die Grubenbesitzer aufgebracht.

Die industrielle Revolution, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts begann, veränderte das gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben sowie die sozialen Strukturen nachhaltig. Sie steht stellvertretend für den beginnenden wirtschaftlichen Liberalismus und für die Umwälzung der Produktionsweisen und der Transporttechnik. Die industrielle Revolution wird in Europa durch die Französische Revolution und in Amerika durch die Boston Tea Party ausgelöst. Ziel der Französischen Revolution (1789–1799) war die Abschaffung des feudalabsolutistischen Ständestaats sowie die Umsetzung der Ideen und Werte der Aufklärung. Die Boston Tea Party (1773) bildete den Höhepunkt eines lange schwelenden Streits zwischen den nordamerikanischen Kolonien und dem Mutterland Großbritannien. Sie war somit ein Akt des Widerstands gegen die britische Kolonialpolitik. Mit diesen beiden Revolten verloren der Absolutismus sowie die Wirtschaftsidee des Merkantilismus (Lenkung der Wirtschaft durch den Staat) an Bedeutung. Wesentliche Ursachen für diese Revolutionen waren das aufklärerische politische Denken (Montesquieus Modell der Gewaltenteilung, Rousseaus Vorstellungen vom Eigentum als Ursache der Ungleichheit zwischen den Menschen) sowie die Vorstellungen des Wirtschaftsliberalismus. Diese Wirtschaftslehre forderte die wirtschaftliche Freiheit der Unternehmer, sie lehnte jeden staatlichen Eingriff ab. Das Programm, das wesentlich von Adam Smith als Gegenpol zum Merkantilismus geprägt worden ist, entsprach den Interessen der sich entwickelnden Industrie, deren Vertreter hauptsächlich aus calvinistischen Kreisen kamen. In seinem Buch „The Wealth of Nations“ („Der Wohlstand der Nationen“) geht Smith davon aus, dass es Aufgabe des Marktes ist, ein Zusammenfallen des Eigennutzens der Unternehmer mit dem Gemeinwohl zu erreichen. Der Wirtschaftsliberalismus geht davon aus, dass sich die Wirtschaft ohne staatliche Einmischung durch die „unsichtbare Hand des Marktes“ selbst steuert. Dieses liberale Konzept deckte sich mit den Vorstellungen der Industriellen. Die Einstellung dieser Unternehmer, durch den Einsatz von Kapital aus Eigeninteresse die Produktivität zu erhöhen, ist entscheidend für den Investitionsboom. Das Investitionskapital ist nunmehr die Basis für die Generierung unternehmerischer Gewinne. Somit wird der Kapitaleinsatz als dritter Produktionsfaktor zum Wachstumsmotor des 19. Jahrhunderts. Mit dem „Kapitalismus“ entsteht der zweite Wirtschaftssektor, der Sektor der warenproduzierenden Wirtschaft.

Zu den Investitionsobjekten gehörte auch der Ausbau der Verkehrswege. So ist in Deutschland 1825 die Dampfschifffahrt auf dem Rhein eröffnet worden. Zehn Jahre später fuhr die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth. In Großbritannien, in den USA und in Deutschland wurde das Streckennetz der Eisenbahn ab 1840 systematisch ausgebaut und verlängerte sich zum Beispiel in Deutschland von ca. 6000 km (1840) auf über 51000 km (1900) (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1975a). Entwicklungen wie das Bessemerverfahren (1856) und das Siemens-Martin-Verfahren in der Stahlerzeugung (1864) sind Beispiele für die Industrialisierung in Deutschland. Zusätzlich schuf die Vereinheitlichung des Geld- und Münzwesens im Jahre 1873 eine weitere Voraussetzung für das Anwachsen der Industrie.

Aufgrund einer agrarischen Revolution, die in England und Preußen (im Gegensatz zu großen Teilen des Kontinents) der industriellen Veränderung vorausgegangen war, standen genügend ehemalige Landarbeiter zur Verfügung. Sie bildeten eine mobile industrielle Reservearmee von ungelernten Arbeitskräften, die in der Industrie beschäftigt werden konnten. Im Gebiet des 1867 gegründeten Norddeutschen Bundes verließen im 19. Jahrhundert (deutlich zeitverzögert gegenüber England) durch die inzwischen eingeführte kapitalintensive Bodenbearbeitung sowie durch die Landreformen und die damit verbundene neugewonnene Freizügigkeit mehrere Millionen Menschen die ländlichen Gebiete, um in die Städte zu ziehen. Diese Binnenwanderung vollzog sich in Deutschland überwiegend aus Ost- und Westpreußen, Posen, Schlesien, Pommern und Mecklenburg in Richtung der aufblühenden Großstädte (z.B. Berlin) sowie in die sich neu entwickelnden Industriegebiete (z. B. das Ruhrgebiet). Dies hatte zur Folge, dass sich zum Beispiel die Bevölkerungszahl von Berlin bis zum Ende des 19. Jahrhunderts alle 25 Jahre verdoppelte. Durch die Aufhebung der Restriktionen, die in der sogenannten Heimatgesetzgebung festgeschrieben waren, und durch die medizinischen Fortschritte wuchs zudem die Bevölkerung insgesamt an, zum Beispiel in Deutschland zwischen 1800 und 1900 von 24,5 Mio. auf 56,4 Mio. Menschen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1975a). Die Agrarrevolution ist folglich durch das Bevölkerungswachstum, durch die Verstädterung (Urbanisierung), die Landflucht (Binnenwanderung) sowie durch die Absicherung der politischen und wirtschaftlichen Vorrangstellung der Großgrundbesitzer geprägt worden. Die Fabrikbesitzer nutzten das Überangebot an Arbeitskräften aus und ließen die Arbeiter zum Teil bis zu 18 Stunden am Tag und an sieben Tagen in der Woche arbeiten. Mit der Industrialisierung nahm die Zahl der unselbstständigen Arbeitnehmer rasch zu. Dagegen verringerte sich der Anteil der Handwerker und der in der Landwirtschaft Beschäftigten deutlich. Die Gesellschaft zerfiel quasi in zwei große Klassen: Arbeiter und Kapitalisten. In dieser Phase veränderte sich auch die Stellung der Familie nach außen und innen. In der vorindustriellen Welt waren Hausgemeinschaft und Arbeitsstelle in der Regel nicht getrennt, mit der Gründung der Industrieunternehmungen mussten die Arbeiter die Hausgemeinschaften verlassen, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Für die harte Arbeit wurden die Arbeiter nur gering entlohnt. Dies hatte zur Folge, dass Frauen und Kinder in die Arbeitsprozesse eingebunden werden mussten, um den Lebensunterhalt der Familien zu garantieren. Die Frauen- und Kinderarbeit wurde erst durch mehrere Schutzgesetze (ab 1833 in England, 1839 in Preußen) eingeschränkt, bis schließlich das Kinderarbeitsverbot durchgesetzt wurde.

Durch die schlechte Entlohnung konnten sich viele Lohnabhängige nur unzureichend ernähren und sich zudem keine oder nur sehr bescheidene Wohnungen leisten. Neben der Hungers- und der Wohnungsnot beklagten die Menschen aber vor allem ihre unzureichende soziale Absicherung.

Mit dem Entstehen des zweiten Wirtschaftssektors geht also eine soziale Verelendung breiter Bevölkerungsschichten einher. Mit dem Zusammenbruch der alten Gesellschaftsordnungen bricht auch das tradierte System der sozialen Sicherung zusammen. Die sich nunmehr bildende neue Schicht des Proletariats ist zunächst recht- und schutzlos. Ab 1836 etabliert sich die Arbeiterbewegung in Deutschland. So gründete sich 1836 der Bund der Gerechten, 1846 kam der von Kolping aufgebaute Katholische Gesellenverein hinzu, 1847 entstand der Bund der Kommunisten und 1863 und 1869 etablierten sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (Lassalle) bzw. die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Bebel und Liebknecht). Durch die Vereinigung dieser beiden Parteien entstand 1875 in Gotha die Sozialistische Arbeiterpartei (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1975a).

Das Agieren der Interessenvertretung der Arbeiter, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Politik mitzugestalten und das soziale Elend der Unterschicht zu beseitigen, sowie das politische Einwirken des aufstrebenden liberalen Bürgertums, das nicht mehr bereit war, die Willkür der Fürsten zu akzeptieren, führten in ganz Europa zu einer angespannten Situation, die sich zuerst in der Pariser Februarrevolution (1848) entlud. Diese griff schnell auf Deutschland über. Die liberalen Reformer planten, die Struktur und die Funktionen des seit 1815 bestehenden Deutschen Bundes, eines föderativen Zusammenschlusses von 37 „Souveränen Fürsten“ und vier „Freien Städten“, bei dem die Bundesversammlung als einziges gemeinsames Staatsorgan fungierte, radikal zu verändern. Zwar gelang es dem liberalen Bürgertum (Ernst Moritz Arndt, Friedrich Hecker, Friedrich Ludwig Jahn, Gustav von Struve u.a.), Wahlen für eine Nationalversammlung zu erreichen und sich dabei auch durchzusetzen. Das Frankfurter Parlament, das in der Paulskirche tagte, befasste sich in der Folge unter anderem mit Fragen der Grundrechte, der Staatsform und des Wahlrechts. Es gelang der Nationalversammlung, zu einer Einigung zu kommen und einen Entwurf für die Verfassung eines kleindeutschen föderalen Nationalstaats mit parlamentarischer Monarchie und egalitärem Wahlrecht unter preußischer Führung zu erlassen. Die Revolution scheiterte jedoch letztlich daran, dass der preußische König Friedrich Wilhelm IV. am 03.04.1849 die ihm angebotene Kaiserkrone ablehnte. Die preußische Führung zog kurz darauf ihre Abgeordneten aus Frankfurt ab und intensivierte ihre eigene Politik. Das Scheitern eines deutschen Verfassungs- und Nationalstaats war damit erst einmal besiegelt.

Für die Arbeiterschaft, die sich aus einem Teil der ehemaligen Handwerker und aus den Landarbeitern zusammensetzte, vollzog sich ein radikaler Wandel ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse. Dieser Wandel führte ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund von Wirtschaftskrisen (z.B. durch Überproduktionen) und wegen des fehlenden sozialen Verständnisses der Regierungen zu wirtschaftlichen Nöten und zu sozialen Spannungen. Mit der Gründung von Arbeiterparteien, Genossenschaften und Gewerkschaften entstand eine proletarische Bewegung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu verändern.

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen versuchten die einzelnen Länder, einen Krankenversicherungsschutz speziell für Arbeiter, Dienstboten und die wandernden Handwerksgesellen aufzubauen. So wurden beispielsweise Handwerks- und Gewerbeordnungen erlassen, die die Gründung von Unterstützungs- und Hilfskassen ermöglichten. Damit war es unter anderem den Gemeinden möglich, Zwangshilfskassen (Vorläufer der Allgemeinen Ortskrankenkassen) zu gründen. Einige Landesherren erlaubten zudem die Gründung von Betriebskrankenkassen. Auf dieser Rechtsgrundlage konnte die Firma Krupp im Jahre 1836 ihre eigene Betriebskrankenkasse gründen. Diese Kasse basierte zunächst auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und ab 1855 auf einer verpflichtenden Mitgliedschaft. Gleichzeitig wurde für diese Kasse die paritätische Finanzierung eingeführt.

Durch die Reichsgründung(1871) wurde der preußische König Wilhelm Friedrich Ludwig aus dem Haus Hohenzollern, der seit 1867 zugleich Präsident des Norddeutschen Bundes war, zum deutschen Kaiser (Wilhelm I.) gewählt. Die Leitung der Regierungsgeschäfte wurde dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck übertragen. Aufgeschreckt durch die Arbeiterbewegung, deren Eisenacher Programmatik sich nicht mit seinen Vorstellungen vom Staat deckte, ging Bismarck in seiner Funktion als Reichskanzler leidenschaftlich gegen die Sozialdemokratie vor. Die Reichsverfassung sah für Deutschland eine konstitutionelle Monarchie vor. Der Kaiser hatte weitreichende Machtbefugnisse (u.a. völkerrechtliche Vertretung, Oberbefehl über Heer und Flotte), dem Reichskanzler standen der Vorsitz im Bundesrat (Vertreter der Länderregierungen) sowie die „Leitung der Geschäfte“ zu. Der Reichstag setzte sich auf der Grundlage von allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen aus Vertretern der Parteien zusammen. Seit 1874 war die Nationalliberale Partei die stärkste Fraktion im Reichstag, zudem waren unter anderem Arbeiterparteien (z.B. die Sozialdemokratische Arbeiterpartei) vertreten. Das innenpolitische Lager war gespalten. Bei dieser Zusammensetzung des Reichstags bekam Bismarck für sein geplantes Sozialistengesetz keine politische Mehrheit. Mit diesem Gesetz sollten sozialdemokratische, sozialistische und kommunistische Bestrebungen und Organisationen unterbunden bzw. verboten werden. Das dritte Attentat auf den Kaiser (Juni 1878) nutzte Bismarck aus, um den Bundesrat zu veranlassen, den Reichstag aufzulösen. Die Auflösung erfolgte mit Zustimmung des Kaisers. Bei den Neuwahlen konnten die konservativen Parteien Gewinne erzielen, die Nationalliberale Partei, die Fortschrittspartei und die Arbeiterparteien verloren Stimmenanteile. Durch die neue Zusammensetzung des Reichstags war es Bismarck nun möglich, das Sozialistengesetz durchzusetzen. Das Sozialistengesetz, das „Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ aus dem Jahre 1878, erwies sich jedoch als Fehlschlag. Es radikalisierte die Arbeiter und schuf Märtyrer, daher wurde es 1890 außer Kraft gesetzt. Parallel zur „Peitsche“ setzte Bismarck nun das „Zuckerbrot“ als politisches Instrument ein. Mit dieser Kehrtwendung versuchte er, die Arbeiter von ihren politischen Forderungen abzubringen. Sein Hauptziel bestand darin, die Arbeiterschaft aus dem Einflussbereich der sozialdemokratischen „Reichsfeinde“ zu lösen und fester an den Staat und dessen konservative Führung zu binden. Die Sozialpolitik stand somit eindeutig unter dem Gesichtspunkt, die bestehenden Strukturen zu bewahren. Im Jahre 1881 verkündete der deutsche Kaiser seine Kaiserliche Botschaft, in der die Einführung staatlicher Schutz- und Fürsorgemaßnahmen gegen Unfall, Krankheit, Alter und Invalidität angekündigt wurde.

Mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung wurden die Grundlagen des heutigen deutschen Sozialversicherungssystems gelegt. Dazu gehörten:

das Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (1883)das Unfallversicherungsgesetz (1884)das Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889).

Diese Gesetze galten vorrangig für die Arbeiterschaft, die durch die Belastungen körperlicher Arbeit besonders gefährdet war. Angestellte blieben zunächst ausgeklammert, erst im Dezember 1911 wurde das Versicherungsgesetz für Angestellte verabschiedet, die damit als eigenständige soziale Gruppe anerkannt wurden.

Am Beispiel der gesetzlichen Krankenversicherung sollen einige Gestaltungsprinzipien verdeutlicht werden, die auch heute noch relevant sind. Als Arbeiterkassen wurden letztlich die folgenden Arten zugelassen:

Allgemeine OrtskrankenkassenBetriebskrankenkassenInnungskrankenkassenReichsknappschaftSee-KrankenkasseLandwirtschaftliche Krankenkassen.

Alle gesetzlichen Krankenversicherungen wurden in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung gegründet. Diese Rechtsform bewirkt, dass die Kassen hoheitliche, das heißt staatliche Aufgaben übernehmen können. Der Staat delegiert seine Schutzfunktionen quasi an „seine“ Sozialversicherungen. Die Organisation der Kassen ist Aufgabe der Mitglieder. Mittels der sogenannten Sozialwahlen werden Vertreter aus der Mitte der Mitglieder gewählt, die diese Managementaufgaben übernehmen müssen. Ein weiteres zentrales Element ist das solidarische Umlageprinzip. Die Beiträge, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden, werden prozentual vom Bruttoentgelt aller Kassenmitglieder erhoben und durch den Arbeitgeber an die Krankenkassen weitergeleitet. Das Geld wird dann bei Eintritt des sogenannten Versicherungsfalles von den Kassen für die Behandlung der betroffenen Personen an die Leistungserbringer gezahlt. Nach diesem Sachleistungsprinzip finanzieren die Kassen die Leistungserbringer. Es entsteht der sogenannte Zahlungsumweg. Die Familienversicherung, die beitragsfreie Mitversicherung der Familienangehörigen, konnte seinerzeit als Satzungsleistung von der Selbstverwaltung der Kassen beschlossen werden. Die dadurch entstandenen Zusatzausgaben wurden im Rahmen des Solidarausgleichs von allen Mitgliedern getragen. Für alle Fabrikarbeiter bestand eine Versicherungspflicht. Diese konnte seitens der Gemeinden per statutarische Anordnung auf andere Personengruppen ausgedehnt werden. Im Jahre 1885 existierten 18971 Krankenkassen, die ca. 10 v.H. der Wohnbevölkerung versichert hatten (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015a). Zwischen 1885 und 1903 wurde der versicherungspflichtige Personenkreis durch elf Abänderungsgesetze zu den drei bestehenden Sozialversicherungsgesetzen weiter ausgedehnt. Dennoch waren im Jahre 1911 nur ca. 18% der Menschen in Deutschland versichert. Durch die Zusammenfassung der Rechtsvorschriften der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung zur Reichsversicherungsordnung im Jahre 1911 wurde die Versicherungspflicht erneut ausgeweitet. Mit dieser Ausweitung war 1913 rund ein Viertel der Bevölkerung krankenversichert.

Mithilfe dieser Gesetze konnten in der Tat die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung stabilisiert werden. Erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ist das tradierte System zerfallen und durch eine demokratische Gesellschaftsform abgelöst worden. Am Rande sei erwähnt, dass durch die Veränderungen, die sich im 19. Jahrhundert vollzogen haben, einige Millionen Europäer mit der Hoffnung nach Amerika ausgewandert sind, in der neuen Heimat mehr Rechte und umfassendere soziale und wirtschaftliche Sicherheit zu bekommen.

Das in Deutschland eingeführte Modell wird auch als sogenanntes Bismarck-Modell bezeichnet. Von diesem Ansatz ist das britische Modell abzugrenzen. In Großbritannien koordiniert der Staat die Versorgungsaufgaben mittels seines National Health Service. Als Leistungserbringer sind neben den staatlichen Einrichtungen auch frei-gemeinnützige und private Institutionen zugelassen. Die Gesundheitsleistungen werden durch Steuern finanziert. Dieses Grundsicherungssystem wird auch als Beveridge-­Modell bezeichnet. Es wird auf William Henry Beveridge zurückgeführt, der Mitglied der liberalen Fraktion des britischen Parlaments war. Ein drittes Grundmodell eines Versicherungsschutzes ist das Marktmodell. Es basiert auf den liberalen Vorstellungen, das heißt, die Personen müssen sich individuell absichern. Es ist das Grundmodell der US-amerikanischen Gesellschaft. Ein viertes Modell, das heute nur noch punktuell existiert, ist das Staatsmodell. In diesem Konzept werden die Leistungen nur durch den Staat erbracht, die Finanzierung erfolgt auch hier über die Steuern.

Der Aufbau der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kam nicht nur den Versicherten zugute, er wirkte sich auch positiv auf die Entwicklung des Gesundheitssystems aus. Für die Krankenhäuser bedeutete die Ausweitung der Versicherungspflicht beispielsweise den Ausbau der Versorgungskapazitäten. Zudem waren die Krankenhäuser nicht mehr auf Spenden und öffentliche Geldmittel angewiesen. Durch die mit den Kassen abgeschlossenen Selektivverträge wurde die Finanzierung der Leistungserbringung für alle GKV-Versicherten gewährleistet.

In der ambulanten ärztlichen Versorgung entstand am Ende des 19. Jahrhunderts ein tiefgreifender Konflikt. Mit dem Änderungsgesetz von 1892 erhielten die Krankenkassen unter anderem das Recht, ihr individuelles Arztsystem aufzubauen. Sie konnten somit per Satzung die Personen und die Zahl der Kassenärzte festlegen, mit denen sie Einzelverträge abschließen wollten. Zudem hatten sie die Möglichkeit festzulegen, dass die Lieferung von Arzneimitteln nur durch ausgesuchte Apotheken erfolgen durfte.

Dies führte unter anderem zu Auseinandersetzungen zwischen den Kassen und den Ärzten. Auf Initiative des Leipziger Arztes Hermann Hartmann gründeten Ärzte im Jahre 1900 den „Schutzverband der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“. Bis 1924 wurde in der Regel die Kurzform Leipziger Verband verwendet (der Verband wurde später in „Hartmannbund“ umbenannt). Eine zentrale Forderung der Ärzteschaft war es, die Zulassung aller Ärzte für die GKV-Versicherten durchzusetzen. Dies sollte durch die Einführung von Kollektivverträgen erfolgen, welche die Selektivverträge ersetzen sollten. Die Taktik des Leipziger Verbandes, als alleiniger Verhandlungspartner der Ärzteschaft gegenüber den Kassen aufzutreten, sowie die Ankündigung eines Generalstreiks der Ärzteverbände für den 01.01.1914 führten im Dezember 1913 zum Berliner Abkommen. In diesem zwischen dem Verband und den großen Kassenverbänden geschlossenen Abkommen wurde festgeschrieben, dass die Kassen nicht mehr allein, sondern nur noch unter Mitwirkung der Kassenärzte über die Zulassung von Ärzten entscheiden konnten. Des Weiteren wurde für einige Krankenkassen eine Verhältniszahl für die Anzahl der Kassenärzte festgelegt (mindestens ein Arzt auf 1350 Versicherte) (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015c). Der Abschluss von Verträgen unterlag ab 1913 der Zustimmung eines paritätisch besetzten Vertragsausschusses. Damit wurde die Anstellungsautonomie der Kassen beendet. Mit dem Berliner Abkommen wurde eine wichtige Grundlage der vertragsärztlichen Versorgung sowie der Ausgangspunkt der gemeinsamen Selbstverwaltung geschaffen.

Der Versicherungsschutz hatte sich im Jahre 1913 deutlich ausgeweitet. In diesem Jahr versicherten 21492 Krankenkassen ca. 23 Mio. Menschen, dies entsprach 34,3% der Wohnbevölkerung (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015a, S. 4).

In der Verfassung der Weimarer Republik, die nach dem Ende des Kaiserreichs und des Ersten Weltkriegs im Jahre 1918 gegründet wurde, schrieb Artikel 161 fest, dass der Staat ein umfassendes Versicherungswesen unter anderem zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft sowie zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter und Schwäche unter Mitwirkung der Versicherten aufzubauen hatte. Damit wurde die Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems zur zentralen Aufgabe des Staates erklärt.

In den Jahren 1920 bis 1923 kam es zu punktuellen Streikaktionen der Ärzte. Durch das Auslaufen des Berliner Abkommens wurden die Streikmaßnahmen ausgeweitet. Als Reaktion auf diese Streiks bauten einige Krankenkassen eigene Ambulatorien auf und betrieben sogar eigene Krankenhäuser. Mit der „Verordnung über Krankenhilfe bei den Krankenkassen“ vom Oktober 1923 bekamen die Kassenvorstände das Recht, die Zulassung von Ärzten auf die Verhältniszahl von 1:1350 Versicherten pro Arzt zu beschränken (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015c, S. 2). Zudem wurden die Ärzte auf eine „wirtschaftliche Behandlungshilfe“ verpflichtet. Kassenvorstände wurden berechtigt, Ärzten bei wiederholten Verstößen gegen ihre in der Verordnung festgelegten Pflichten fristlos zu kündigen und sie von der kassenärztlichen Versorgung auszuschließen. Als Folge dieser Verordnung kam es im Dezember 1923 erneut zum Streik.

Im Oktober 1923 trat auch die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen in Kraft. Damit wurde im Prinzip das Berliner Abkommen fortgesetzt. Mit dieser Verordnung ist die Gründung des Reichsausschusses für Ärzte und Krankenkassen verbunden.

Der Bestand an Versicherten stieg im Jahre 1925 noch einmal an, gleichzeitig sank die Zahl der Krankenkassen. In diesem Jahr waren ca. 31 Mio. Versicherte (51,3% Anteil an der Wohnbevölkerung) bei nur noch 7709 Kassen eingeschrieben (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015b, S. 3).

Infolge der Wirtschaftskrise und der damit verbundenen schlechten Finanzlage der Krankenkassen wurden unter anderem im Jahre 1930 Notverordnungen erlassen, mit denen zum Beispiel die Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln, die Krankenscheingebühr und die Karenztage bei Arbeitsunfähigkeit eingeführt wurden. Weiterhin mussten die Kassen einen Vertrauensärztlichen Dienst einführen. Zudem wurde die Verhältniszahl für Kassenärzte auf 1:1000 gesenkt (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015c).

Die Gründung der Kassenärztlichen Vereinigungen als öffentlich-rechtliche Körperschaften erfolgte durch drei Notverordnungen des Reichspräsidenten aus den Jahren 1931/32. Damit wurde erstmals eine körperschaftliche Selbstverwaltung der Ärzte gegenüber den Krankenkassen eingeführt. Im Laufe der nächsten Jahre wurden weitere Notverordnungen erlassen. Sie sahen unter anderem vor, dass die Kassen ihre Beiträge nicht mehr autonom festsetzen durften. In einem weiteren Schritt wurden zum Beispiel Veränderungen im Vergütungssystem vorgegeben.

Die Notverordnungen in den Jahren 1930 bis 1932 bewirkten einen Rückgang der jährlichen Gesamtausgaben je Mitglieder der Krankenversicherungen von ca. 91 auf ca. 65 Reichsmark (vgl. Forum Gesundheitspolitik, 2015b, S. 4). Die Reformen zeigten somit die politisch gewollte Wirkung.

Neben der Absicherung der gesetzlichen Krankenkassen wurden auch öffentliche Dienste mit der medizinischen Versorgung der Bevölkerung betraut. Zu diesen Diensten gehörten:

die sogenannten Kreisphysikusse (zuständig für die Gesundheitsaufsicht) unddie Stadtärzte (Übernahme von sozialmedizinischen Aufgaben im Bereich der Gesundheitsfürsorge).

Mit dem Vereinheitlichungsgesetz von 1934 wurden beide Institutionen in dem neugeschaffenen Öffentlichen Gesundheitsdienst zusammengefasst. Dieser Dienst musste sowohl gesundheitspolizeiliche als auch gesundheitsfürsorgliche Aufgaben wahrnehmen. In der Zeit des Nationalsozialismus emigrierten viele Amtsärzte oder wurden aus ihren Ämtern entfernt. Hierdurch gingen in erheblichem Umfang sozialmedizinische Kompetenzen verloren.

Im Jahre 1931 veröffentlichte die katholische Kirche die Enzyklika „Quadragesimo anno“. Mit dieser Enzyklika wird das Subsidiaritätsprinzip als soziales Gestaltungsprinzip als Ergänzungskonzept zum Solidaritätsprinzip vorgestellt.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 beseitigten diese schrittweise die Selbstverwaltung in der gesamten Sozialversicherung. Mit der Reichsärzteordnung vom Dezember 1935 wurde die Reichsärztekammer gegründet. Mit der Gründung wurden die bestehenden ärztlichen Verbände aufgelöst. In den folgenden Jahren erfolgte die Zwangs­mitgliedschaft der Ärzte in der Reichsärztekammer und in der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands, die danach allein für die Verteilung der ärztlichen Vergütung zuständig war. Bereits im März 1933 unterstellte der Reichs­arbeitsminister die Krankenkassen seiner Aufsicht. Der Leistungsbereich der GKV blieb ­während der Zeit des Nationalsozialismus größtenteils bestehen und wurde in einigen Teilen weiter ausgebaut. So wurde zum Beispiel die zeitliche Leistungsgewährung bei Krankheit aufgehoben, die Mutterfürsorge erheblich verbessert und der Leistungsanspruch bei Zahnersatz ausgeweitet. Im Jahre 1941 wurde die Krankenversicherung der Rentner eingeführt.

1.2 Entstehung der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland

Auf der Konferenz von Jalta (04.02. bis 11.02.1945) verhandelten die drei alliierten Staatschefs Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Großbritannien) und Josef Stalin (UdSSR) im Wesentlichen über die drei folgenden Themen:

Einrichtung eines WeltsicherheitsratesKriegführung im Fernen OstenNachkriegsordnung in Europa (insbesondere für Deutschland und Osteuropa).

Für die Neuordnung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde festgehalten, dass es in Besatzungszonen aufgeteilt werden solle. Das Protokoll von Jalta sah vor, dass Frankreich von den drei anderen Siegermächten aufgefordert wurde, eine eigene Besatzungszone zu übernehmen. Diese französische Zone wurde dann später aus den Teilen der amerikanischen und der britischen Zone gebildet.

Schon auf dieser Konferenz kam es zwischen den westlichen Vertretern und der UdSSR zu Meinungsverschiedenheiten, die Grenzen der zukünftigen Zusammenarbeit wurden sichtbar. Speziell Churchill wollte ein starkes neues Deutschland, um das Vordringen der UdSSR in Europa durch einen „Westblock“ zu stoppen und den Einfluss der UdSSR in Osteuropa aufzuhalten (vgl. Potsdamer Konferenz, 2019). Am 05.06.1945, also etwa einen Monat nach der ­Kapitulation Deutschlands und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, übernahm der Alliierte Kontrollrat, der sich aus den Oberbefehlshabern der Besatzungsstreitkräfte zusammensetzte, die Regierungsgewalt in Deutschland. Dieser Kontrollrat, der für die gesamtdeutschen Belange zuständig war, funktionierte unter anderem aufgrund des Zwangs zur Einstimmigkeit nur unzureichend. Auf der Potsdamer Konferenz (17.07. bis 02.08.1945) brachen die Gegensätze zwischen dem britischen Premierminister Attlee, dem amerikanischen Präsidenten Truman und dem sowjetischen Marschall Stalin offen aus. Daher verständigten sich die drei Siegermächte lediglich auf einen Minimalkonsens, der unter anderem die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen festlegte. Auf der Konferenz wurde jedoch nicht die Teilung Deutschlands beschlossen. Die Landesgrenzen sollten endgültig erst in einem Friedensvertrag festgelegt werden. Im Laufe der nächsten Jahre verschärften sich die politischen Spannungen zwischen Ost und West.

Die Besatzungszonen wurden zunächst ausschließlich von den jeweiligen Militärregierungen nach deren jeweils eigenen Vorstellungen geleitet. Zum Beispiel betrieb die amerikanische Militärregierung von Anfang an die Bildung eines föderativen Staatswesens. Aus diesem Grunde setzte diese Besatzungsmacht bereits in den von ihnen gegründeten Bundesländern im Mai 1945 Auftragsregierungen ein, die mit begrenzten Vollmachten ausgestattet waren. Zu ihren Funktionen gehörte neben der Ausführung der alliierten Anordnungen der Wiederaufbau der Verwaltung, der Wirtschaft und des Verkehrs. Im Oktober 1945 wurde im Besatzungsgebiet der USA ein Länderrat gegründet, der sich aus den von den Amerikanern ernannten Ministerpräsidenten zusammensetzte. Ihre Aufgabe war es, Vorschläge zur Lösung der aktuellen Schwierigkeiten zu unterbreiten. Bereits im Januar 1946 fanden im amerikanischen Bereich die ersten Wahlen zu den Gemeindeparlamenten statt. Auf der Grundlage der Ausarbeitung von demokratischen Länderverfassungen sowie deren Genehmigung wurden ab 1946 die ersten Landtage gewählt: im November in Württemberg-Baden, im Dezember in Bayern und Hessen und im Oktober 1947 in Bremen.

Im Einflussbereich der Briten und der Franzosen dauerte es länger, bis deutsche Beratungsgremien eingebunden oder Landtage gewählt wurden. Dies ist daraus zu erklären, dass die Engländer ihre Vorstellungen über Staat und Gesellschaft nur zeitlich verzögert durchsetzen konnten. Im britischen Besatzungsgebiet wurden im Oktober 1946 die Landtage von Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gewählt. Das Votum in Schleswig-Holstein erfolgte erst im April 1947. Einen Monat später erlaubten die Franzosen Wahlen in Baden, Rheinland-Pfalz und in Württemberg-Hohenzollern.

Auf der Außenministerkonferenz der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, die im Frühjahr 1947 in Moskau stattfand, traten die Konflikte der Großmächte über die Lösung der deutschen Frage offen zutage. Bereits im Vorfeld der Konferenz gab es Gespräche zwischen den Amerikanern und den Briten über die Errichtung einer deutschen bizonalen Wirtschaftsbehörde, die die wirtschaftliche Verschmelzung beider Zonen vorbereiten sollte. Nach dem Scheitern der Außenministerkonferenz gründeten die Amerikaner und die Briten diese Behörde, die dezentral organisiert war. Dieser Zweizonen-Wirtschaftsrat aus Delegierten der amerikanischen und der britischen Zone hatte die Aufgabe, Verwaltungsabkommen für die Ressorts Finanzen, Landwirtschaft, Post- und Fernmeldewesen, Verkehr und Wirtschaft zu erarbeiten. Erst durch die Zentralisierung dieser bizonalen Organe im Jahre 1947, die bis dahin auf verschiedene Städte (Bad Homburg, Bielefeld, Frankfurt, Hamburg, Minden, Stuttgart) verteilt war, wurde aus der Bizone das gewünschte Vereinigte Wirtschaftsgebiet. Als Lenkungsorgane agierten die Direktoren der Verwaltungen, ein Exekutivrat aus Vertretern der acht in der Bizone gegründeten Länder, und der Wirtschaftsrat. Letzterer, quasi das Wirtschaftsparlament, setzte sich zunächst aus 52 Abgeordneten der Länderlandtage zusammen. Alle Organe wurden in Frankfurt am Main angesiedelt. Der Zentralisierungsprozess konnte nach dem Inkrafttreten des sogenannten Frankfurter Status, der im Februar 1948 von den Amerikanern und den Briten unterzeichnet wurde, erfolgreich abgeschlossen werden. Der Beschluss sah eine Verdoppelung der Mitglieder des Wirtschaftsrates vor. Eine wesentliche Aufgabe des Wirtschaftsrates bestand darin, ein Konzept für die künftige Wirtschaftspolitik zu erarbeiten.

Im Rahmen dieser Konzeptentwicklung spielte Ludwig Erhard, 1945–1947 Wirtschaftsminister in Bayern, eine wichtige Rolle. Erhard war von dem Konzept des Ordoliberalismus und dem Ansatz der Sozialen Marktwirtschaft überzeugt. Diese von der Freiburger Schule der Nationalökonomie entwickelte Wirtschaftstheorie ist ein Konzept für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, in der der ökonomische Wettbewerb und die Freiheit der Marktteilnehmer durch einen vom Staat ­geschaffenen Ordnungsrahmen gewährleistet werden (vgl. Peters, 2000). Walter Eucken, Begründer der Freiburger Schule, sowie seine Mitarbeiter Franz Böhm, Leonard Miksch und Hans Großmann-Doerth gehen davon aus, dass weder der Staatsinterventionismus noch ein Laissez-faire-Liberalismus geeignet sind, das Wirtschaftsleben optimal zu gestalten. Der Ordoliberalismus sieht in einem vom Staat festgelegten Ordnungsrahmen die Grundlage für einen funktionierenden Preiswettbewerb. Für Eucken lässt sich sein Konzept durch das folgende Leitbild verdeutlichen: „Staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein“ (Peters, 2000, S. 151). Die wesentlichen Prinzipien einer Wettbewerbsordnung lassen sich nach Eucken wie folgt formulieren:

Dezentralismusfreier Zugang zu den Märktenfunktionsfähiges PreissystemHaftungsprinzipLeistungsprinzipPrivateigentum an den Produktionsmittelnsoziale Gerechtigkeitsoziale Sicherheitstaatlicher OrdnungsrahmenVertragsfreiheit.

Für Eucken ist eine staatliche Rahmenordnung notwendig, da seiner Meinung nach der freie Markt dazu neigt, sich selbst aufzulösen. Ein wesentlicher Bestandteil der Ordnungspolitik ist die Sozialpolitik, durch sie sollen soziale Gerechtigkeit erreicht und soziale Sicherheit gestaltet werden.

Auf dem Konzept des Ordoliberalismus basiert die wirtschaftspolitische Leitidee der Sozialen Marktwirtschaft, die von Alfred Müller-Armack entwickelt wurde. Nach dessen Auffassung muss der Staat neben einer umfassenden Sozialpolitik auch eine Konjunktur- und Strukturpolitik betreiben. Staatliche Interventionen sind notwendig, um einen sozialen Ausgleich zu erzielen und gegebenenfalls Marktergebnisse zu korrigieren. Der Ansatz von Müller-Armack sieht somit nicht nur eine Ordnungs-, sondern auch eine Prozesspolitik vor.

In den Winterkrisen 1946/47 und 1947/48 brach die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln (Ernährungskrise) und Energie (Kohlenkrise) zusammen. Ausgelöst unter anderem durch ein Gutachten über die schlechte Versorgungssituation in Deutschland, das der ehemalige amerikanische Präsident Hoover Anfang 1947 verfasst hatte, veränderte sich schrittweise die Einstellung der Amerikaner zu den Deutschen. Die Vorstellungen des ehemaligen amerikanischen Finanzministers Henry Morgenthau (Morgenthau-Plan, 1944), die unter anderem die Vernichtung der gesamten deutschen Rüstungsindustrie, große Gebietsabtretungen sowie eine Absenkung des Lebensstandards der Deutschen vorsahen, wurden zugunsten einer politischen und wirtschaftlichen Bindungsstrategie aufgegeben. Diese Bewusstseinsveränderung zeigte sich auch durch die Bestellung von Georg C. Marshall zum neuen amerikanischen Außenminister. Zu seinem außenpolitischen Konzept gehörte die finanzielle Unterstützung Westeuropas. Mit dem European Recovery Program (ERP), kurz Marshall-Plan genannt, sollte einerseits ein wirtschaftliches Hilfsprogramm ausgeführt, aber auch eine politische Anbindung Westeuropas an die USA erreicht werden. Allein in den Jahren 1948/49 umfassten die ERP-Einfuhren für Nahrungsmittel, Rohstoffe, Maschinen etc. etwa 390 Mio. Dollar (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1998, S. 38).

Bis zum Januar 1948 wurde auf den Ebenen der Außenminister und des Alliierten Kontrollrates über eine vierzonale Währungsreform verhandelt. An der Forderung der UdSSR, eine zentrale Finanzverwaltung für alle Besatzungsgebiete aufzubauen, scheiterten die Gespräche. Infolge dieser Ausgangslage leiteten die westlichen Siegermächte im Alleingang im Juni 1948 die Neuordnung des Geldwesens in die Wege. Die Währungsreform ist ohne Beteiligung der deutschen Organe durchgeführt worden. Selbst der Frankfurter Wirtschaftsrat wurde überrascht. Die bislang gültige Reichsmark und die alliierte Militärmark wurden durch die Deutsche Mark (D-Mark, DM) abgelöst. Als „Kopfquote“ waren für jeden Einwohner der drei Westzonen für 60 Reichsmark 60 Deutsche Mark vorgesehen. Vierzig D-Mark wurden sofort, also am 20. Juni 1948, gegen Vorzeigen der Kenn- und Lebensmittelkarte und gegen Ablieferung von 60 Reichsmark bar ausgezahlt. Die restlichen 20 ­D-Mark wurden erst im August freigegeben. ­Ansonsten wurde das Umwandlungsverhältnis ­zwischen Reichsmark und D-Mark auf 10:1 festgelegt. Parallel zur Währungsreform leitete der Frankfurter Wirtschaftsrat auf Initiative von Erhard, der im März 1948 vom Rat zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft gewählt worden war, die Lockerung der Bewirtschaftungsvorschriften ein. Mit dem „Gesetz über die wirtschaftspolitischen Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform“ wurden die Grundlagen für die Einführung einer marktwirtschaftlichen Ordnung gelegt.

Auf der Sechsmächte-Konferenz in London (Februar/März und April bis Juni 1948) beschlossen die Benelux-Staaten, Frankreich, Groß­britannien und die USA, die drei westlichen Besatzungszonen in ein europäisch-atlantisches Bündnissystem einzubinden. Der wirtschaftliche Wiederaufbau sollte dabei durch Gelder aus dem Marshall-Plan erfolgen. Die entsprechende Zustimmung Frankreichs wurde erst durch die Zusage erreicht, das Saargebiet in das französische Wirtschaftssystem einbeziehen zu dürfen. Am 01.06.1948 übergaben die westlichen Militärgouverneure den elf deutschen Länderregierungen die folgenden drei Dokumente:

Ermächtigung der deutschen Ministerpräsidenten zur Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, die spätestens zum 01.09.1948 einberufen werden mussteAussagen zur Neugliederung der Länder und zur Gestaltung der LandesgrenzenVorbehaltsrechte der Alliierten.

Nach intensiven und zum Teil kontroversen Diskussionen über das erste Dokument verständigten sich die deutschen Ministerpräsidenten auf zwei Konferenzen (Koblenz und Niederwald) darauf, die Ergebnisse der verfassungsgebenden Versammlung nur durch die Landtage und nicht durch eine Volksabstimmung genehmigen zu lassen. Trotz Bedenken stimmten die Alliierten dieser Forderung letztlich zu. Im Konsens mit den Militärgouverneuren beschlossen die Ministerpräsidenten, der Parlamentarische Rat solle durch gleichlautende Gesetze der Landtage zum 01.09.1948 einberufen werden.

Am 01.09.1948 konstituierte sich der Rat in den Räumen des Naturhistorischen Museums Alexander König in Bonn. Die 65 Abgeordneten wurden von den Landtagen entsandt. Der Rat wählte Konrad Adenauer zum Präsidenten. Durch die Zusammensetzung des Rates, die unter anderem durch die Mehrheitsverhältnisse der Parteien vorgegeben worden war, kam es unter anderem bei den staatstheoretischen Auffassungen und bei den Vorstellungen zu der seitens der Westmächte geforderten föderalen Struktur zu Meinungsverschiedenheiten. Letztlich verabschiedete der Parlamentarische Rat am 08.05.1949 mit 53 Ja-Stimmen das Grundgesetz. Die Militärverwaltungen der drei west­lichen Besatzungsgebiete genehmigten am 12. Mai das Verfassungswerk, die elf Landtage ratifizierten das Gesetz in den folgenden Tagen. Am 23.05.1949 erfolgte die feierliche Verkündigung und am gleichen Tag wurde das Grundgesetz (GG) im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Es trat am 24.05.1949 in Kraft. Eine weitere Entscheidung des Parlamentarischen Rates bestand darin, sich auf Bonn als provisorische Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland festzulegen.

Die Wahl zum Bundestag wurde am 14. 08.1949 durchgeführt. Am 07.09.1949 konstituierte sich der 1. Deutsche Bundestag und wählte Konrad Adenauer (CDU) zum ersten Bundeskanzler. Durch die Vereidigung der Mitglieder der Bundesregierung wurde, juristisch gesehen, die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Bundesregierung hatte aber noch nicht die volle Souveränität, da die Alliierte Hohe Kommission bis zum Mai 1955 weiterhin die Interessen des Besatzungsregimes verfolgte.

Seit 1947 war sichtbar geworden, dass Frankreich, Großbritannien und die USA eine westliche Teillösung suchten. Als Reaktion auf diesen Alleingang wurde in der sogenannten Ostzone der „Deutsche Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden“ gegründet. Im März 1949 fanden in der sowjetischen Zone und in Ost-Berlin nach dem Prinzip der Einheitsliste Wahlen statt. Aus diesen Wahlen ergab sich die Zusammensetzung des 3. Volkskongresses. Dieser wählte im Mai 1949 den 2. Deutschen Volksrat als provisorische Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. Gleichzeitig wurde die Verfassung der DDR in Kraft gesetzt. Damit war auch formal die Teilung vollzogen.

In Artikel 20 der Verfassung für die BundesrepublikDeutschland wurden unter anderem die folgenden Grundsätze festgelegt (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1977):

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Ordnung gebunden.

Weiterhin schreibt Artikel 28 des Grundgesetzes vor, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und des sozialen Rechtsstaats im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen müsse (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1977).

Hieraus lassen sich die Strukturprinzipien der Bundesrepublik Deutschland ableiten. Sie lauten wie folgt:

BundesstaatsprinzipDemokratieprinzipRechtsstaatsprinzipSozialstaatsprinzip.

Nach dem Bundesstaatsprinzip ist es unter anderem Aufgabe der Bundesländer, die gesundheitliche Versorgung der Menschen sicherzustellen. Zur Realisierung der damit verbundenen Funktionen haben die Länder Versorgungs- bzw. Sicherstellungsaufträge zu erteilen. Die Versorgungsaufträge betreffen die stationäre Versorgung. Hierzu erlassen die Länder Krankenhauspläne. Durch die unterschiedlichen Vorgaben der Landeskrankenhausgesetze der einzelnen Bundesländer sind die Vorgaben für die Umsetzung der Krankenhauspläne sehr heterogen. Allen Landesgesetzen ist gemeinsam, dass die Länder direkt mit den Eigentümern der Krankenhäuser (Krankenhausträger) die Versorgungsvorgaben besprechen (Details zur Gestaltung der Krankenhausplanung sind in Kap. 6.1 nachzulesen). Bei den Sicherstellungsaufträgen veranlassen die Länder die beiden Körperschaften des öffentlichen Rechts, nämlich die gesetzlichen Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen, sich vertraglich über die medizinische Versorgung zu verständigen. Hierbei haben die Krankenkassen die Pflicht, die Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen sich um die bedarfsgerechte personelle medizinische Ausstattung kümmern.

Das Demokratieprinzip (Volksherrschaft) war ursprünglich als eine Staatsform anzusehen, bei der sich alle sogenannten Vollbürger zum Zweck der Beratung oder Entscheidung versammelt haben. Heute wird darunter ein Regierungssystem verstanden, „das auf der Grundlage eines freien, gleichen und allgemeinen Wahlrechts Repräsentativkörperschaften (Parlamente) mit der Wahrnehmung der Staatsgeschäfte beauftragt“ (Bundeszentrale für politische Bildung, 1975b, S. 3). Die Identitäts- und die Konkurrenztheorie stellen unterschiedliche Konzepte über die Zulässigkeit einer Repräsentation dar. Die Identitätstheorie, deren Hauptvertreter Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ist, geht davon aus, dass die Staatsgewalt (Volk) mit dem ausführenden Organ der Staatsgewalt (Regierung) zusammenfällt. Dadurch entsteht eine Identität der Regierenden und der Regierten. Eine Repräsentation ist damit ausgeschlossen. Die angelsächsische Konkurrenztheorie basiert auf der Vorstellung einer gespaltenen Gesellschaft. Jeder Gesellschaftsteil hat unterschiedliche ökonomische und politische Interessen. Aufgabe des „Trusts der sozialen Kräfte“ (Bundeszentrale für politische Bildung, 1975b, S. 4) ist es, immer wieder einen Interessenausgleich zu erreichen. Der demokratische Staat wird als ein System von Spielregeln verstanden, in dem Konflikte ausgetragen werden. Die Konkurrenz ist also ein Hauptmerkmal der Demokratie. Dieser Ansatz der Konkurrenztheorie hat sich zu einer Pluralismustheorie weiterentwickelt. Pluralismus wird als Legitimation der gesellschaftlichen Heterogenität gesehen. Konflikte innerhalb der Gesellschaft gelten als legitim und sogar als notwendig. In diesem Modell wird jedoch davon ausgegangen, dass mindestens auf der Ebene des menschlichen Zusammenlebens, der sozialen Gerechtigkeit und/oder der Verfassungsprinzipien ein Konsens erzielt werden muss.

Auch im Gesundheits- und Sozialsystem müssen diese demokratischen Vorgaben beachtet werden. Als Beispiel kann die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Bereich der Personalvertretungsregelungen bzw. im Geltungsbereich des Betriebsverfassungsgesetzes dienen.

Das Rechtsstaatsprinzip basiert auf den ökonomischen und politischen Vorstellungen des Liberalismus. Mit dem Liberalismus wird die individuelle Freiheit, aber auch die Eigenverantwortung in den Fokus gestellt. In Mitteleuropa ist der Liberalismus eng mit den Zielen der Französischen Revolution und mit der Industrialisierung verbunden.

Zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit gehören die folgenden Gesichtspunkte:

FreiheitssicherungRechtsgleichheitRechtssicherheitGewaltenteilung.

Im Rahmen der Freiheitssicherung soll die Privatsphäre des Individuums, auch vor Zugriffen des Staates, geschützt werden. In diesem Zusammenhang spielt die Einhaltung der Menschenrechte eine zentrale Rolle. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahre 1776, in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus dem Jahre 1789 und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 sind diese Rechte verankert. Auch in Artikel 1 des Grundgesetzes, der als Leitprinzip der Verfassung anzusehen ist, wird auf die Menschenrechte Bezug genommen:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es ist die Verpflichtung des Staates, diese zu achten und zu schützen.Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Nach diesen Festlegungen wird der Mensch als Träger höchster geistig-sittlicher Werte gesehen und wegen seiner Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Selbstbestimmung (Menschenwürde) respektiert. Der Staat muss eingreifen, sobald die Menschenrechte bedroht werden. Zu den Freiheitsrechten zählen unter anderem:

das Recht auf Lebendie Gewissensfreiheitdie Glaubensfreiheitdie Meinungsfreiheit.

Von den Menschenrechten sind die Bürgerrechte abzugrenzen. Ein Bürgerrecht ist ein gesetzliches Recht, das der Staat seinen Bürgern zugesteht. Diese Rechte sollen das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern regeln. In Deutschland zählen zum Beispiel das Wahlrecht, die Versammlungsfreiheit und die Ver­einigungsfreiheit zu den Bürgerrechten. Menschenrechte und Bürgerrechte bilden zusammen die Grundrechte.

Im Rahmen der Rechtsgleichheit geht es um die Vermeidung von Privilegien. Die Gesetze müssen für alle Personen gleich angewendet werden. Im Rahmen der Verwaltungsvorschriften, bei der Rechtsprechung und bei der Gesetzgebung dürfen keine Unterschiede gemacht werden. Die Rechtssicherheit soll gewährleisten, dass der Staat zum Beispiel bestehendes Recht und die Gesetze beachtet und dass er in die Privatsphäre eines Menschen nur aufgrund eines Gesetzes eingreifen darf.

Die Gewaltenteilung sieht die Trennung zwischen der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt vor. Neben dieser Trennung in Legislative, Exekutive und Judikative spielt hier die rechtliche Unabhängigkeit eine Rolle.

Wie oben bereits erwähnt, wird im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips die Eigenverantwortung eingefordert. Diese Verantwortung beruht auf der Vorstellung einer sich selbst regulierenden Gesellschaft, „die vom Staat lediglich geschützt und gegen den Staat in ihrer Selbstständigkeit gesichert werden sollte“ (Bundeszentrale für politische Bildung, 1983, S. 16). Die im Jahre 1931 veröffentlichte Enzyklika „Quadragesimo anno“ der katholischen Kirche nimmt diese Vorstellung auf, indem sie das Subsidiaritätsprinzip als Ergänzung zum Solidaritätsprinzip vorstellt. Danach muss die Selbsthilfe Vorrang vor der Fremdhilfe haben: Da soziale Risiken, denen jeder Mensch im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist, nicht vollständig durch den Staat abgedeckt werden können, muss sich der Einzelne in einem bestimmten Rahmen zunächst selbst helfen, bevor er die Hilfe der Gemeinschaft in Anspruch nehmen kann. Mit diesem Prinzip wird die Entfaltung der personalen Kräfte angesprochen, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sollen gefördert werden.

Durch die Verankerung des Rechtsstaatsprinzips im deutschen Grundgesetz beeinflusst das Subsidiaritätsprinzip auch die Umsetzung der sozialen Absicherung. Beispielhaft soll an dieser Stelle schon einmal auf die Vorschriften der Sozialgesetzbücher II (Grundsicherung für Arbeitsuchende), XII (Sozialhilfe) und XI (Soziale Pflegeversicherung) hingewiesen werden.

Die Entwicklung des Sozialstaatsprinzips geht zurück auf die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen, die sich infolge der Industrialisierung ergeben haben. Die Erkenntnis, dass der Staat den Schutz seiner Bevölkerung übernehmen muss, resultiert nicht aus humanitären Gründen, sondern diente der Machterhaltung des Kaisers und seines Reichskanzlers. Im Gegensatz zum Rechtsstaat verlangt der Sozialstaat den bewussten Eingriff des Staates in die privaten Bereiche, soweit dies erforderlich erscheint. Somit gehören eine aktive Gesundheits- und Sozialpolitik zu den Aufgaben des Staates. Nicht die einzelne Person steht im Mittelpunkt, die Gesamtheit der betroffenen Menschen soll durch den Staat geschützt werden. Staat und Gesellschaft sind miteinander verbunden. Das Sozialstaatsprinzip „bringt die Werte Freiheit und Gleichheit nicht nur als rechtliche Garantien, sondern in der sozialen Wirklichkeit zur Durchsetzung“ (Bundeszentrale für politische Bildung, 1975b, S. 18). Mit dem Sozialstaatsprinzip ist das Solidaritätsprinzip verbunden. Nach diesem Prinzip ist die Gemeinschaft der Versicherten, das Kollektiv, Träger der sozialen Sicherungsmaßnahmen. Dieses Prinzip wird geprägt von dem Leitmotiv „Einer für alle, alle für einen“. Dieser Leitsatz zeigt sich in dem solidarischen Umlageverfahren der Sozialversicherungen. Nach diesem Verfahren finanziert der Gesunde den Kranken, der junge Mensch beteiligt sich an den altersbedingten Ausgaben.

Einzelheiten zu den Gestaltungsmerkmalen des Subsidiaritäts- und des Solidaritätsprinzips werden in Tabelle 1.2-1 aufgeführt.

Tabelle 1.2-1: Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip (Quelle: Haubrock, 2018, S. 41)

In Zusammenhang mit der sozialen Absicherung scheinen sich das Rechts- und das ­Sozialstaatsprinzip zu widersprechen. Das Rechtsstaatsprinzip beruht ursprünglich auf der Vorstellung einer sich selbst regulierenden bürgerlichen Gesellschaft, in der dem Staat nur ordnungspolitische Aufgaben zugewiesen werden. Das Prinzip des Sozialstaats enthält umgekehrt die Forderung nach weitgehenden staat­lichen Eingriffen in die Gesellschaftsordnung. Auf der einen Seite soll demnach das Individuum in den Mittelpunkt gestellt werden, auf der anderen Seite ist die Gemeinschaft Zentrum der Überlegungen. Das Grundgesetz normiert Rechts- und Sozialstaat jedoch nicht als Gegensätze: Es will vielmehr den „sozialen Rechtsstaat“, der die soziale Gerechtigkeit fördern soll.

Zur Beseitigung dieses scheinbaren Widerspruchs ist in Deutschland im Rahmen der sozialen Absicherung eine „Vorfahrtsregel“ eingeführt worden: Das Sozialstaatsprinzip hat Vorfahrt vor dem Rechtsstaatsprinzip. Nach dieser Regel kann primär der Schutz der sozialen Versicherungen in Anspruch genommen werden. Endet diese solidarische Absicherung, greift der subsidiäre Schutzmechanismus. Als Beispiel sollen an dieser Stelle die Arbeitslosengeld-1- und -2-Regelungen genannt werden.

Werden die Aspekte Demokratiebezug auf der einen Seite und Gestaltungsfunktion des Staates auf der anderen Seite zur Erklärung des Sozialstaats herangezogen, dann muss zwischen der sozialen Sicherung und der sozialen Teilhabe unterschieden werden. Die soziale Sicherung entspricht den vielfältigen Aktivitäten der Sozialversicherungen und des Staates, um den Schutz der Bevölkerung zu ermöglichen. Die Gestaltung dieser Aktivitäten ist Gegenstand der Sozialpolitik. Die Ziele der Sozialpolitik liegen in der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der sozialen Stellung von Personen, die als wirtschaftlich und/oder sozial schwach eingestuft werden. Weiterhin werden Personen dazu gezählt, die nicht in der Lage sind, sich selbst abzusichern. Sozialpolitik setzt die sogenannte soziale Frage voraus. Unter der sozialen Frage wird die Existenz von Unterschieden in den politischen, persönlichen und wirtschaftlichen Rechten verstanden. Hinzu kommen große Unterschiede in den Verfügungsmöglichkeiten über wirtschaftliche Güter, die dazu führen können, dass der soziale Friede und damit die Existenz des Staates bedroht sind.

Die soziale Teilhabe bedeutet dagegen die Gestaltungsmöglichkeit des Staates, den betroffenen Personen oder ihren Verbänden Wege aufzuzeigen, wie sie Interessen vortragen und möglicherweise durchsetzen können. Dazu gehören beispielsweise Regeln zur Koalitionsfreiheit, zur Tarifautonomie, zur Vermögensverteilung und zur Mitbestimmung. Diese Bereiche sind Gegenstand der Gesellschaftspolitik. In Tabelle 1.2-2 werden diese Ansätze aufgelistet.

Tabelle 1.2-2: Aspekte des Sozialstaats (Quelle: Haubrock, 2018, S. 43)

Die Vorgaben der Verfassung haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich die unten aufgezeigten vier Verfassungsinterpretationen des Sozialstaats herausgebildet haben:

der konfliktreduzierende Ansatzder notmindernde und gerechtigkeitsorientierte Ansatzder demokratie-identische Ansatzder steuerpolitische Ansatz.

Nach dem ersten Ansatz soll der Sozialstaat dazu beitragen, ein konfliktarmes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Der Staat hat somit eine Befriedungsfunktion. Die zweite Interpretation schreibt dem Staat die Verpflichtung zu, die soziale Not zu lindern oder gar zu beheben. Hier spielt das Ziel der sozialen Gerechtigkeit eine Rolle. Die dritte Überlegung geht davon aus, dass der demokratische Gedanke auf die Wirtschafts- und Sozialordnung übertragen werden kann. Es erfolgt eine Verbindung zwischen dem Demokratie- und dem Sozialstaatsprinzip. Der steuerpolitische Ansatz hebt die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in die Wirtschaftsabläufe hervor.

Wie bereits aufgezeigt, war nach den Auffassungen von Eucken und Müller-Armack, die mit ihren Konzepten die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen geprägt haben, aufgrund der während der Weimarer Republik gemachten negativen Erfahrungen mit der „Freien Marktwirtschaft“ und der damit verbundenen ausschließlichen Rolle des Staates als rahmengebender Ordnungsfaktor („Nachtwächterstaat“) das Marktmodell der Sozialen Marktwirtschaft geeignet, um für eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Stabilität zu sorgen. In diesem Modell werden dem Staat bei Versagen der Marktkräfte Interventionsrechte zugestanden. Die verfassungsgebende Versammlung der Bundesrepublik Deutschland übernahm diese ­wirtschafts- und sozialpolitische Komponente und verknüpfte im Grundgesetz rechts- und sozialpolitische Elemente miteinander. So entstanden neben dem Demokratie- und dem Bundesstaatsprinzip die beiden anderen konstitutionellen Säulen des Grundgesetzes: das Rechts- und das Sozialstaatsprinzip.

Das Grundgesetz liefert folglich die verfassungsrechtlichen Grundlagen des bundesrepublikanischen Sozialstaats (s. Tab. 1.2-3). Hieraus leitet sich die Verpflichtung des Staates zum sozialen Handeln ab.

Tabelle 1.2-3: Verfassungsrechtliche Grundlagen des Sozialstaates (Quelle: Haubrock, 2018, S. 44)

Im Sozialstaat hat der Staat nicht länger nur Ordnungs-, sondern auch Ablaufpolitik zu betreiben. Dieser Vorgang wird manchmal als Verstaatlichung der Gesellschaft bezeichnet. Dieser Tendenz steht jedoch die Vergesellschaftung des Staates gegenüber, das heißt die Bestrebung der verbandlichen und parteipolitischen Organisationen, soziale, besonders ökonomische Teilinteressen durchzusetzen. Der Sozialstaat liegt daher stets im Spannungsfeld zwischen Gruppeninteressen und staatlichem Handlungsspielraum.

Sozialpolitik umfasst das politische Handeln, das darauf abzielt, die wirtschaftliche und soziale Stellung von wirtschaftlich und/oder sozial schwachen Personen durch den Einsatz geeignet erscheinender Mittel zu verbessern bzw. den Eintritt wirtschaftlicher und/oder sozialer Schwäche zu vermeiden. Die Sozialpolitik hat somit eine ökonomische und eine politische Funktion. Ein Teilaspekt der Sozialpolitik ist die Gesundheitspolitik. Hierbei hat die Gesundheitspolitik die Aufgabe, den Rahmen für die Entfaltung der wirtschaftlichen Aktivitäten der Ärzte, Patienten, Krankenhausträger und Krankenkassen so zu gestalten (zu ordnen, zu beeinflussen, unmittelbar festzulegen), dass das gesellschaftliche Ziel einer Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung optimal erreicht wird.

Während über das Ziel der Gesundheitspolitik weitgehend Einigkeit besteht, weichen die Vorstellungen über den gewünschten staatlichen Einfluss auf die Anbieter von und die Nachfrager nach Gesundheitsgütern weit voneinander ab. Durch Entscheidungen der Regierungen können Abläufe im Gesundheitssektor sowie Strukturen des Systems verändert werden.

Die soziale Sicherung und das daraus resultierende sozialstaatliche Handeln bestehen im Wesentlichen darin, die materiellen Existenzbedingungen der Mitglieder einer Gesellschaft zu beeinflussen. Hieraus lassen sich konkrete Aufgaben des Systems der sozialen Sicherung ableiten, wie: