Gesundheitspolitik - Rolf Rosenstock - E-Book

Gesundheitspolitik E-Book

Rolf Rosenstock

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Beschreibung

Gesundheitspolitische Grundfragen, übertragen auf das Gesundheitswesen Gesundheitspolitik ist mehr als die Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Vielmehr wird sie in diesem Buch verstanden als gesellschaftliches Management von Gesundheitsrisiken vor und nach ihrem Eintritt – also in Prävention und Krankenversorgung. Dabei sollte Gesundheitspolitik das Ziel verfolgen, den Gesundheitszustand und die Versorgungsqualität für die gesamte Bevölkerung zu verbessern. Damit wird ein moderner und systematischer Zugang zu diesem Gegenstand eröffnet, der sowohl gesundheitswissenschaftliche als auch sozial- und politikwissenschaftliche Aspekte zusammenführt, und sich an den Zielen Effizienz und Chancengleichheit orientiert. Diese aktualisierte vierte Auflage analysiert Interessen, Institutionen, Normen, Akteure und Ressourceneinsatz im Hinblick auf ihren tatsächlichen und möglichen Beitrag zu einer so verstandenen Gesundheitspolitik. Themen des Buches sind u.a.: •   Geschichte und Typen von Gesundheitspolitik •   Prävention und Gesundheitsförderung •   Strukturen und Finanzierung des Krankenversicherungssystems •   Krankenversorgung (ambulante und stationäre Versorgung sowie Arzneimittelversorgung) •   Rehabilitation und Langzeitpflege

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Thomas Gerlinger

Rolf Rosenbrock

Gesundheitspolitik

Eine systematische Einführung

4., überarbeitete und erweiterte Auflage

Gesundheitspolitik

Thomas Gerlinger, Rolf Rosenbrock

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Gesundheit

Kevin Dadaczynski, Fulda; Ansgar Gerhardus, Bremen; Klaus Hurrelmann, Berlin; Milo Puhan, Zürich; Doris Schaeffer, Bielefeld

Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger

Arbeitsgruppe 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie

Fakultät für Gesundheitswissenschaften

Universität Bielefeld

Postfach 10 01 31

33501 Bielefeld

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Rolf Rosenbrock

Berlin School of Public Health

c/o Paritätischer Wohlfahrtsverband

Oranienburger Straße 13–14

10178 Berlin

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Hogrefe AG

Lektorat Gesundheit

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Ristea, Sibylle Khoumeri

Bearbeitung: Thomas Koch-Albrecht, Münchwald/Hunsrück

Herstellung: René Tschirren

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Format: EPUB

4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag, Bern

© 2004, 2006, 2014 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95968-9)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75968-5)

ISBN 978-3-456-85968-2

https://doi.org/10.1024/85968-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Gesundheitspolitik: Gegenstand, Ziele, Akteure, Steuerungsinstrumente

1.1 Gesundheitspolitik: Bestimmung des Gegenstands

1.2 Gesundheitspolitik als Gegenstand sozialwissenschaftlichen Interesses

1.3 Handlungsebenen und Akteure in der Gesundheitspolitik

1.3.1 Horizontale Differenzierungen und vertikale Verknüpfungen

1.3.2 Regulierung des Gesundheitssystems

1.4 Gesundheit im Interessenskonflikt

1.5 Interventionsebenen, Interventionstypen und Entscheidungsregeln in der Gesundheitspolitik

1.6 Der Public Health Action Cycle

2 Gesundheit und Gesundheitspolitik in Deutschland – ein Problemaufriss

2.1 Entwicklungslinien der Gesundheitspolitik

2.1.1 Gesundheitspolitik als Präventionspolitik

2.1.2 Gesundheitspolitik und soziale Sicherung

2.2 Das gesundheitliche Problempanorama

2.2.1 Morbidität und Mortalität

2.2.2 Chronische Krankheiten und demografischer Wandel

2.2.3 Sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen

2.3 Gesundheitspolitisches Problempanorama und gesundheitspolitischer Handlungsbedarf

2.4 Informationelle Grundlagen einer zielführenden Gesundheitspolitik

2.4.1 Gesundheitsberichterstattung und Versorgungsforschung

2.4.2 Gesundheitsziele

2.5 Die wirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens

3 Prävention

3.1 Prävention: Begriffsverständnis und Interventionsformen

3.1.1 Gegenstandsbereiche der Prävention

3.1.2 Interventionsphasen

3.1.3 Ebenen der Prävention

3.1.4 Zielgruppen

3.1.5 Instrumente der Prävention

3.1.6 Entscheidungsregeln

3.1.7 Belastungssenkung und Ressourcenstärkung

3.1.8 Akteure und Institutionen der Prävention

3.1.9 Prävention im Leistungsspektrum der Sozialversicherungen

3.2 Das Präventionsgesetz

3.2.1 Leitbegriffe

3.2.2 Leistungsarten

3.2.3 Ausgaben und Finanzierung

3.2.4 Governance

3.2.5 Qualität – Wirkung – Umsetzungsstand

3.3 Ausgaben für Prävention

3.4 Primärprävention

3.4.1 Prävention im Kontext von Infektionsepidemien – Covid-19

3.4.2 Verhaltens- und Verhältnisprävention

3.4.3 Gesundheitsförderung – Salutogenese

3.4.4 Typen und Arten moderner Primärprävention

3.4.5 Ausgewählte Handlungsfelder der Primärprävention

3.4.6 Qualitätssicherung und Evaluation in der Primärprävention und Gesundheitsförderung

3.4.7 Stand und Perspektiven primärer Prävention

3.5 Sekundärprävention

3.6 Tertiärprävention

4 Das Krankenversicherungssystem

4.1 Die gesetzliche Krankenversicherung

4.1.1 Versichertenkreis

4.1.2 Leistungen, Leistungsansprüche und Prinzipien der Leistungsgewährung

4.1.3 Finanzierung

4.1.4 Organisationsprinzipien der GKV

4.1.5 Ausgabenentwicklung

4.2 Die Private Krankenversicherung

4.2.1 Versicherungsformen und Versicherte

4.2.2 Beziehungen zwischen Versicherten, Krankenversicherung und Leistungserbringern

4.2.3 Beitragskalkulation und Altersrückstellungen

4.2.4 Basistarif

4.2.5 Ausgabenentwicklung in der PKV

4.2.6 Tendenzen einer Konvergenz zwischen PKV und GKV?

5 Ambulante Krankenversorgung

5.1 Versorgungsbedarf – Leistungserbringung – Leistungsanbieter

5.1.1 Zugang und Inanspruchnahme

5.1.2 Einrichtungen ambulanter Krankenversorgung

5.1.3 Ärzte in der ambulanten Versorgung

5.1.4 Hausärztliche und fachärztliche Versorgung

5.1.5 Ambulante spezialfachärztliche Versorgung

5.1.6 Ausgaben für die ambulante Versorgung und ärztliche Einkommen

5.1.7 Ärzte und ihre Verbände

5.2 Bedarfsplanung und Zulassung von Ärzten zur vertragsärztlichen Versorgung

5.3 Die Vergütung ambulanter ärztlicher Leistungen

5.3.1 Vergütungsformen und ihre Steuerungswirkungen

5.3.2 Strukturmerkmale des Vergütungsverfahrens

5.3.3 Die Entwicklung des Vergütungssystems

5.3.4 Kernmerkmale des aktuellen Vergütungssystems

5.3.5 Steuerungsprobleme des Vergütungssystems

5.4 Charakteristika des Regulierungssystems in der ambulanten Versorgung

5.4.1 Korporatistische Steuerung

5.4.2 Das Mehrebenensystem in der ambulanten Versorgung

5.4.3 Das ambulante Regulierungssystem im Wandel

5.4.4 Wachsende Gestaltungsmacht der Krankenkassen

5.4.5 Interessenkonflikte in den Kassenärztliche Vereinigungen

5.5 Qualität und Qualitätsmängel

5.5.1 Qualität

5.5.2 Qualitätsmängel

5.5.3 Gründe für Versorgungsmängel

6 Stationäre Krankenversorgung

6.1 Versorgungsbedarf – Leistungserbringung – Leistungsanbieter

6.1.1 Zugang und Inanspruchnahme

6.1.2 Einrichtungen stationärer Krankenversorgung

6.1.3 Krankenhäuser und Betten

6.1.4 Beschäftigung

6.1.5 Ausgaben

6.1.6 Verbände im Krankenhaussektor

6.2 Krankenhausplanung

6.2.1 Regelungen zur Krankenhausplanung

6.2.2 Krankenhausstrukturen im Umbau

6.3 Die Finanzierung von Krankenhausinvestitionen

6.3.1 Formen und Umfang der Krankenhausinvestitionen

6.3.2 Duale oder monistische Finanzierung?

6.4 Die Vergütung von Krankenhausleistungen

6.4.1 Vergütungsformen

6.4.2 Vergütungsverhandlungen und -verträge

6.4.3 Entwicklung der Krankenhausvergütung

6.4.4 Die Einführung von Diagnosis Related Groups

6.4.5 Steuerungsprobleme der Vergütungsreform

6.5 Charakteristika des Steuerungssystems in der stationären Versorgung

6.6 Qualität und Qualitätsmängel

7 Arzneimittelversorgung

7.1 Arzneimittelmarkt und -versorgung

7.1.1 Umfang und Art der Verordnungen

7.1.2 Arzneimittelausgaben

7.1.3 Arzneimittelherstellung

7.2 Arzneimittelzulassung und -distribution

7.2.1 Arzneimittelzulassung

7.2.2 Beobachtung von Arzneimittelrisiken

7.2.3 Arzneimitteldistribution

7.2.4 Patentschutz – Originalpräparate – Generika

7.3 Verordnungsfähigkeit, Preis- und Mengensteuerung

7.3.1 Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der GKV

7.3.2 Bildung der Arzneimittelpreise

7.3.3 Steuerung des ärztlichen Verordnungsverhaltens: von Budgets zu Richtgrößen und Zielvereinbarungen

7.3.4 Abgabe importierter Arzneimittel

7.3.5 Zuzahlungen

7.3.6 Selbstmedikation

7.4 Charakteristika des Regulierungssystems in der Arzneimittelversorgung

7.5 Qualität und Qualitätsmängel

7.5.1 Arzneimittelangebot

7.5.2 Zugang zu Arzneimitteln

7.5.3 Arzneimittelverordnung

7.5.4 Strukturprobleme

7.5.5 Fortschritte in der Arzneimittelversorgung

7.5.6 Wirtschaftlichkeitsreserven

8 Rehabilitation

8.1 Begriff – Leistungen – Kostenträger

8.1.1 Behinderung – Rehabilitation – Teilhabe

8.1.2 Leistungen und Leistungsprinzipien

8.1.3 Gegliedertes System der Rehabilitation

8.2 Medizinische Rehabilitation: Leistungsgeschehen und Leistungsanbieter

8.2.1 Leistungsarten und Leistungsansprüche

8.2.2 Einrichtungen und Einrichtungsträger

8.2.3 Leistungserbringung und Leistungsinanspruchnahme

8.2.4 Medizinische Rehabilitation in der jüngeren Reformpolitik

8.3 Finanzierung, Vergütung und Ausgaben in der medizinischen Rehabilitation

8.3.1 Finanzierung der Einrichtungen und Vergütung von Leistungen

8.3.2 Ausgaben und Ausgabenentwicklung

8.4 Charakteristika des Regulierungssystems in der medizinischen Rehabilitation

8.5 Qualitätssicherung und Qualitätsmängel

8.5.1 Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement

8.5.2 Qualität und Qualitätsmängel

9 Langzeitpflege

9.1 Langzeitpflege im Versorgungskontext

9.2 Pflegebedürftigkeit als soziales Risiko

9.3 Die Ziele der Pflegeversicherung

9.3.1 Die Absicherung von Pflegebedürftigkeit vor Einführung der Pflegeversicherung

9.3.2 Die Pflegeversicherung als nicht bedarfsdeckende Grundsicherung

9.4 Die Leistungen der Pflegeversicherung

9.4.1 Leistungsgrundsätze

9.4.2 Der Begriff der Pflegebedürftigkeit

9.4.3 Pflegegrade

9.4.4 Leistungsformen und Leistungsumfang

9.4.5 Pflegeleistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung

9.4.6 Pflegeberatung und Pflegestützpunkte

9.5 Die Organisation und Finanzierung der Pflegeversicherung

9.5.1 Organisation der Pflegeversicherung

9.5.2 Private Pflegeversicherung

9.5.3 Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung

9.5.4 Kritik an der Konzeption der Pflegeversicherung

9.6 Leistungserbringer – Leistungserbringung – Leistungsinanspruchnahme

9.6.1 Die Pflegeeinrichtungen

9.6.2 Die Träger der Pflegeeinrichtungen

9.6.3 Beschäftigte, Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen

9.6.4 Leistungsinanspruchnahme

9.6.5 Ausgaben und Ausgabenentwicklung in der sozialen Pflegeversicherung

9.6.6 Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung: Rückblick und Ausblick

9.7 Das Regulierungssystem der sozialen Pflegeversicherung

9.8 Die Vergütung von Pflegeleistungen

9.8.1 Grundsätze der Vergütung

9.8.2 Vergütungsvereinbarungen und Schiedsstellen

9.8.3 Vergütung in der ambulanten Pflege

9.8.4 Vergütung in der stationären Pflege

9.9 Wirkungen der Pflegeversicherung

9.9.1 Finanzielle Entlastung und finanzielle Belastung der Betroffenen

9.9.2 Herauslösung aus der Sozialhilfe und Entlastung der Sozialhilfeträger

9.9.3 Ausbau der Pflegeinfrastruktur

9.10 Qualität, Qualitätsmängel und Qualitätssicherung

9.10.1 Ambulante und stationäre Pflege

9.10.2 Häusliche Pflege durch Angehörige und ehrenamtliche Personen

9.10.3 Bestimmungen zur Qualitätssicherung

9.10.4 Langzeitpflege in der Covid-19-Pandemie

9.10.5 Ursachen für Qualitätsmängel

10 Ausgewählte Steuerungsprobleme des Krankenversorgungssystems

10.1 Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

10.1.1 Der Begriff der „Qualität“

10.1.2 Aufstieg des Handlungsfelds „Qualitätssicherung“

10.1.3 Gründe für Qualitätsmängel

10.1.4 Ebenen und Akteure der Qualitätssicherung

10.1.5 Probleme und Widersprüche der Qualitätssicherung

10.2 Integration der Versorgungsstrukturen

10.2.1 Integrationsbedarf und Integrationsbemühungen

10.2.2 Gesetzliche Regelungen zur Integration in den 1990er-Jahren

10.2.3 Gesetzliche Regelungen zur Integration seit den 2000er-Jahren

10.2.4 Implementation gesetzlicher Regelungen seit den 2000er-Jahren

10.2.5 Implementationshindernisse

10.3 Wettbewerb und Risikostrukturausgleich

10.3.1 Wettbewerb und Risikostrukturausgleich im Gesundheitsstrukturgesetz

10.3.2 Reformen des Risikostrukturausgleichs

10.3.3 Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich im Widerstreit der Positionen

10.4 Finanzierung und Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung

10.4.1 Befunde zum Reformbedarf im Finanzierungssystem

10.4.2 Verschiebungen in der Reformdiskussion

10.4.3 Das Konzept der Kopfpauschale

10.4.4 Kapitaldeckungsverfahren statt Umlageverfahren?

10.4.5 Bürgerversicherung – Grundkonzept, Modellvarianten und Wirkungen

10.4.6 Ausblick

10.5 Wohnortnahe Versorgung in Stadt und Land

10.5.1 Regionale Ungleichheiten bei der Vorhaltung ambulanter medizinischer Versorgungseinrichtungen

10.5.2 Ursachen von Verteilungsungleichheiten

10.5.3 Reform der Bedarfsplanung

10.5.4 Weitere Instrumente zur Abwendung von Unterversorgung

10.5.5 Maßnahmen auf Landes- und kommunaler Ebene

10.5.6 Ausblick

10.6 Die Regulierung des Krankenversorgungssystems zwischen Staat, Verbänden und Markt

10.6.1 Reformpolitik in der gesetzlichen Krankenversicherung

10.6.2 Gesundheitspolitik im Wechsel der Regierungskoalitionen

10.6.3 Transformation des GKV-Regulierungssystems

10.6.4 Ausblick

11 Europäische Integration und deutsche Gesundheitspolitik

11.1 Grundzüge des europäischen Integrationsprozesses

11.1.1 Entwicklung der europäischen Integration

11.1.2 Vorrang der „negativen Integration“

11.1.3 Politisches System und politische Institutionen der EU

11.2 Supranationale und nationalstaatliche Kompetenzen in der Gesundheitspolitik

11.2.1 Grundsätze der Kompetenzwahrnehmung durch die EU

11.2.2 Kompetenzen der Europäischen Union

11.2.3 Begrenzung der EU-Kompetenzen

11.2.4 Beharrungskraft nationalstaatlicher Unterschiede

11.2.5 Gesundheitspolitik als Teil einer Sozialinvestitionsstrategie

11.3 Mechanismen europäischer Einflussnahme auf die Gesundheitspolitik der EU-Mitgliedstaaten

11.3.1 Anpassung an den ökonomischen Kontext der Integration

11.3.2 Wahrnehmung primärrechtlicher Gestaltungskompetenzen

11.3.3 Das Europäische Semester

11.3.4 Die Offene Methode der Koordinierung

11.3.5 Nicht beabsichtigte Folgen des Integrationsprozesses

11.3.6 Europäischer Stabilitätsmechanismus und Europäischer Fiskalpakt

11.4 Prävention und öffentliche Gesundheit

11.4.1 Wahrnehmung von Regulierungskompetenzen durch die EU: das Beispiel des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz

11.4.2 Koordinierungs- und Unterstützungstätigkeit der EU

11.4.3 Die EU in der Covid-19-Pandemie

11.5 Krankenversorgung – der Einfluss des europäischen Marktrechts auf die Gesundheitssysteme in den EU-Mitgliedstaaten

11.5.1 Patientenrechte bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Leistungen

11.5.2 Europäisches Binnenmarktrecht und das deutsche Kollektivvertragssystem

11.5.3 Staatliche Beihilfen im Gesundheitswesen

11.5.4 Vergabe öffentlicher Aufträge im Gesundheitswesen

11.6 Auf dem Weg zu einem europäischen Gesundheitsmarkt? Die EU-Richtlinie zur Patientenmobilität

11.7 Ausblick

Literatur

Abkürzungsverzeichnis

Sachwortverzeichnis

|13|Vorwort

Wir freuen uns, hiermit die vierte Auflage dieses Werkes vorlegen zu können. Unsere Einführung ist umfassend überarbeitet und aktualisiert worden. Unser besonderer Dank gilt Rebecca Baumeister, Carl Beneke, Janett Geilert, Eduard Klukas, Caspar Lückenbach, Michael Minor, Leyla Polat, Phillip Florian Schmidt, Johannes Staender und Maximilian von Heyden, die die Arbeit an diesem Werk auf unterschiedliche Weise unterstützt haben. Für die verbleibenden Fehler sind freilich die Autoren allein zuständig.

Das generische Maskulinum ist nicht in der Lage, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden, auch nicht im Gesundheitswesen. Wir verwenden in diesem Buch deshalb häufig sowohl weibliche als auch männliche Bezeichnungen oder benutzen die beiden Formen abwechselnd. Wo dies nicht vollständig gelungen ist, bitten wir um Nachsicht.

Bielefeld und Berlin

Thomas Gerlinger und Rolf Rosenbrock

|15|1  Gesundheitspolitik: Gegenstand, Ziele, Akteure, Steuerungsinstrumente

1.1  Gesundheitspolitik: Bestimmung des Gegenstands

Die landläufigen Vorstellungen darüber, was unter Gesundheitspolitik zu verstehen ist, reichen weit auseinander. In der Öffentlichkeit und auch in wissenschaftlichen Analysen stößt man diesbezüglich immer wieder auf eine doppelte Verkürzung: Zum einen wird Gesundheitspolitik mit Krankenversorgungspolitik gleichgesetzt, zum anderen auf Kostendämpfungspolitik reduziert. Diese Verkürzungen sind wissenschaftlich nicht begründbar und führen zudem zur Ausblendung der eigentlich wichtigen Felder einer auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung bezogenen Politik.

Zentraler Bezugspunkt des hier zugrunde gelegten Verständnisses von Gesundheitspolitik ist die Zielgröße Gesundheit selbst. Um die Begrenzungen traditioneller Interpretationen zu überwinden, bedarf es eines Konzepts von Gesundheitspolitik, das das gesamte Spektrum politisch gestaltbarer Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit, also den gesellschaftlichen und bevölkerungsbezogenen Umgang mit Gesundheitsrisiken vor und nach ihrem Eintritt, umfasst. Gesundheitspolitik soll analytisch verstanden werden als die Gesamtheit der organisierten Anstrengungen, die auf die Gesundheit von Individuen oder sozialen Gruppen Einfluss nehmen – gleich ob sie die Gesundheit fördern, erhalten, (wieder-)herstellen oder auch nur die individuellen und sozialen Folgen von Krankheit lindern. Diese organisierten Anstrengungen umfassen den gesamten Politikzyklus von der Problemdefinition über die Politikformulierung (Definition von Zielen und Instrumenten) bis hin zur Implementation und Evaluation der Maßnahmen. Sie schließen insbesondere auch die Bemühungen zur Gestaltung der mit Gesundheit befassten Institutionen und zur Steuerung des Handelns der entsprechenden Berufsgruppen ein.

Das normative Ziel von Gesundheitspolitik ist die Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung durch die Vermeidung von Krankheit und vorzeitigem Tod sowie durch die Vermeidung oder Verringerung krankheitsbedingter Einschränkungen der Lebensqualität. Dies schließt die Senkung von Erkrankungswahrscheinlichkeiten (Prävention) durch Verringerung pathogener Belastungen und die Förderung salutogener Ressourcen ebenso ein wie die Gestaltung und Steuerung der Krankenversorgung, der Rehabilitation und der Pflege (z. B.: Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1995; Razum & Kolip, 2020). Gesundheitspolitik findet demnach überall dort statt, wo durch die Gestaltung von Verhältnissen, Verhaltensbedingungen oder Verhaltensanreizen die Wahrscheinlichkeit der Krankheitsentstehung sowie der Verlauf von und der Umgang mit Erkrankungen – positiv oder negativ – beeinflusst werden. Gesundheitspolitik, die sich an den skizzierten Zielen orientiert, ist somit eine Querschnittsaufgabe: Kriterien der Gesund|16|heitssicherung bzw. -förderung sollten auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Handlungsfeldern Berücksichtigung finden („Health in All Policies“).

Die analytische und praktische Beschränkung von Gesundheitspolitik auf Krankenversorgung und Kostendämpfung ist unter diesen Gesichtspunkten nicht tragfähig. Erstens ist die Krankenversorgung in der Gesundheitspolitik nur ein Interventionsfeld unter anderen. Durch die Reduktion von Gesundheitspolitik auf Krankenversorgungspolitik geraten Prävention und Gesundheitsförderung sowie zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit aus dem Blickfeld. Einschlägige Berechnungen gehen insgesamt von einem geringen Einfluss des Krankenversorgungssystems auf die Gesundheit aus: In reichen Ländern ist der Anteil des Krankenversorgungssystems an der Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Gesamtbevölkerung bei den Männern auf zehn bis dreißig Prozent, bei den Frauen auf zwanzig bis vierzig Prozent zu veranschlagen (Sachverständigenrat, 2002a). Zweitens ist die Finanzierung und Bezahlbarkeit von Gesundheitsleistungen nicht das Ziel, sondern eine – gleichwohl sehr wichtige – Nebenbedingung von Gesundheitspolitik. Dabei ist es für die Praxis von erheblicher Bedeutung, ob sich Gesundheitspolitik vorrangig an der Erreichung bestimmter Gesundheitsziele oder an der Nichtüberschreitung eines bestimmten Ausgabenvolumens orientiert.

1.2  Gesundheitspolitik als Gegenstand sozialwissenschaftlichen Interesses

Gesundheitspolitik erfreut sich einer großen Aufmerksamkeit in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Ganz unterschiedliche Entwicklungen tragen dazu bei. So ist im Zuge des Wertewandels, der sich in den Nachkriegsjahrzehnten in den kapitalistischen Industriegesellschaften vollzog (Inglehart, 1977), die individuelle Gesundheit für viele Menschen zu einem zentralen Bezugspunkt ihres Handelns geworden (Kickbusch & Hartung, 2014; Kühn, 1993; Rodenstein, 1987). Gleichzeitig werden in Politik und Gesellschaft die vielfältigen neuen Herausforderungen für die Gesundheitspolitik thematisiert, ob es sich dabei um die Auswirkungen des demografischen Wandels, die Folgen der sich vertiefenden sozialen Spreizung in der Gesellschaft und des Klimawandels, die Bewältigung des medizinischen Fortschritts oder der zunehmenden Digitalisierung handelt. Darüber hinaus beschäftigen die erwünschten und unerwünschten Wirkungen der zahllosen Gesundheitsreformen beständig sowohl die Forschung und die Politik als auch Versicherte, Patienten und Leistungsanbieter. Schließlich hat sich das Gesundheitssystem, insbesondere das Krankenversorgungssystem, zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickelt, auf den über elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entfallen und der Arbeitsplätze für mehr als fünfeinhalb Millionen Personen, also etwa jeden achten Erwerbstätigen, bietet (Bundesministerium für Gesundheit, 2019a).

Probleme und Fragestellungen, die einen engen Bezug zur Gesundheitspolitik aufweisen, werden von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit je eigenen Fragestellungen, Perspektiven und Methoden bearbeitet. In der Soziologie befassen sich mehrere Subdisziplinen mit gesundheitspolitikrelevanten Fragen (Hurrelmann & Richter, 2013; Kriwy & Jungbauer-Gans, 2020). Wichtige Themen sind z. B. die Verbreitung von Ressourcen, Gesundheitsbelastungen, Krankheiten und gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen in der Gesellschaft (Lampert et al., 2016; Richter & Hurrelmann, 2009; Richter & Dragano, 2018) oder die individuellen und sozialen Voraussetzungen für gesundheitsgerechtes Individualverhalten (Rosenbrock & Michel, 2007; Schmidt, 2008). In dieser Hinsicht weisen soziologische Fragestellungen auch vielfältige Überschneidungen mit |17|der Gesundheitspsychologie (Faltermaier, 2017), der Pädagogik und der Sozialarbeit auf. Im Hinblick auf die Akteure im Gesundheitssystem stoßen vor allem das Handeln von Leistungserbringern und Finanzierungsträgern unter den sich verändernden Rahmenbedingungen auf großes Interesse (Bode, 2010a, 2010b; Bode & Vogd, 2016; Dieterich et al., 2019; Ewert, 2013; Vogd, 2006; Naegler & Wehkamp, 2018) aber auch die Interaktion zwischen Gesundheitsberufen und Patienten, also z. B. das Arzt-Patient-Verhältnis oder auch die Kooperation zwischen Ärzten und Pflegepersonal (z. B.: Begenau et al., 2010). Darüber hinaus befasst sich die Soziologie mit den Makrostrukturen von Gesundheitssystemen und deren Wandel, häufig auch im internationalen Vergleich (Wendt, 2013; Reibling & Wendt, 2020). Hier gibt es vielfältige Überschneidungen mit politikwissenschaftlichen und gesundheitsökonomischen Analysen (z. B.: Rothgang, Cacace et al., 2010; Schölkopf & Grimmeisen, 2021).

Politikwissenschaftliche Analysen richten ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die Inhalte gesundheitspolitischer Entscheidungen und Entwicklungen („policies“) – Analysen, die sich häufig auch als Teil der Wohlfahrtsstaatsforschung verstehen (z. B.: Alber & Bernardi-Schenkluhn, 1992; Blanke, 1994; Böhm, 2017a; Reiter, 2017) –, als auch – und dies vor allem – auf die Prozesse („politics“), die zu solchen Entscheidungen (oder Nichtentscheidungen) führen, bzw. die Akteursbeziehungen, die auf die Formulierung und Implementation politischer Entscheidungen Einfluss nehmen (Bandelow, 1998; Böhm, 2017b; Böhm et al., 2018; Döhler, 1990; Döhler & Manow, 1997; Ewert, 2019; Gerlinger, 2002, 2009a; Kania & Blanke, 2000; Klinke, 2008; Noweski, 2004; Perschke-Hartmann, 1994; Pressel, 2012; Rosewitz & Webber, 1990). Der Fokus liegt dabei zumeist auf der Steuerung des Krankenversorgungssystems. Weniger die gesundheitlichen Wirkungen politischer Entscheidungen als vielmehr die Rolle und der Wandel von Institutionen, Strukturen und Akteursbeziehungen stehen dabei im Mittelpunkt. Gesundheitspolitik interessiert hier vor allem als ein besonderes Politikfeld, auf dem übergreifende politikwissenschaftliche Fragestellungen wie die nach der Steuerungsfähigkeit des Staates oder der Implementation politischer Programme erörtert werden.

Die zunehmend thematisierte Knappheit der für die gesundheitliche Versorgung zur Verfügung gestellten Mittel und das Streben nach einer Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen hat in den zurückliegenden Jahren eine beständige Aufwertung der Gesundheitsökonomie begünstigt (Breyer, Zweifel & Kifmann, 2013; von der Schulenburg & Greiner, 2013; zur Kritik: Reiners, 2011a). Ihr Interesse gilt insbesondere den Strukturen und Abläufen in den Institutionen der Gesundheitsversorgung sowie der Steuerungsfunktion von Anreizen bei der Inanspruchnahme, Erbringung und Finanzierung von Gesundheitsleistungen.

Daneben haben sich in den letzten Jahren die Gesundheitswissenschaften als wissenschaftliche Disziplin etabliert (Blättner & Waller, 2018; Klemperer, 2020; Razum & Kolip, 2020). Sie sind durch den gemeinsamen Fokus auf den Gegenstand „Gesundheit“ gekennzeichnet, insbesondere auf solche Aspekte, die für die Gesundheit der Bevölkerung und großer Bevölkerungsgruppen relevant sind. Daher sind auch Analysen zur Gesundheitspolitik und zur Gesundheitssystementwicklung ein wichtiger Bestandteil dieser Disziplin. Bei den Gesundheitswissenschaften handelt es sich um eine Multidisziplin, in die Erkenntnisinteressen und Methoden verschiedener Einzeldisziplinen einfließen, darunter eben auch Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie.

Trotz vielfältiger thematischer Überschneidungen bewegen sich Rezeption und Diskussion sozialwissenschaftlicher Befunde zur Gesundheitspolitik zumeist in den von den jeweiligen Disziplinen vorgegebenen Bahnen. Wenn Erkenntnisse aus den Nachbardisziplinen herangezogen werden, so ist dies eher die Ausnahme als die Regel. Das vorliegende Lehrbuch will dazu beitragen, dieses Defizit zu über|18|winden und damit zugleich einen Beitrag zur Interdiszplinarität in den Gesundheitswissenschaften leisten. Es präsentiert Erkenntnisse und Erklärungsansätze aus verschiedenen mit Gesundheitspolitik befassten Disziplinen und bündelt unterschiedliche Perspektiven auf diesen Gegenstand. Damit will es zu einem besseren theoretischen Verständnis und zu einer besseren Praxis von Gesundheitspolitik beitragen.

1.3  Handlungsebenen und Akteure in der Gesundheitspolitik

Gesundheitspolitische Entscheidungen fallen auf verschiedenen Ebenen und unter Beteiligung ganz unterschiedlicher Akteure. Bei der Analyse von Gesundheitspolitik lassen sich eine Makro-, ein Meso- und ein Mikroebene unterscheiden. Zwar ist diese Unterscheidung nicht in allen Fällen trennscharf, aber für das Verständnis von Gesundheitspolitik doch sehr hilfreich.

Die Makroebene bezeichnet die nationalstaatliche und die supranationale Regulierungsebene der Gesundheitspolitik. In allen wohlhabenden Ländern haben die jeweiligen Regierungen einen überragenden Einfluss auf die Gestaltung des Gesundheitssystems. Dies gilt nicht nur für staatliche Gesundheitssysteme, sondern auch für jene Länder, in denen der Staat konkrete Entscheidungen über die Krankenversorgung in gewissem Umfang an Verbände und Institutionen (Krankenversicherungen, Ärzteorganisationen etc.) delegiert. Selbst in gewinnwirtschaftlich organisierten Versicherungssystemen spielt der Staat noch eine wichtige Rolle, denn auch hier gibt er manche Rahmenbedingungen vor und beruht die Entscheidung, bestimmte Fragen der Finanzierung und Versorgung den Marktkräften zu überlassen, in der Regel auf einem bewussten Steuerungsverzicht des Staates. Gesundheitspolitik lässt sich insofern als ein staatsnaher Politiksektor begreifen (Mayntz & Scharpf, 1995a). Die auf nationalstaatlicher Ebene getroffenen Regelungen betreffen z. B. die institutionelle Struktur der gesundheitlichen Versorgung, die Finanzierung von Gesundheitsleistungen und den Zugang der Bürgerinnen und Bürger zu den Versorgungseinrichtungen. Der Staat trifft hierzu gesetzliche Regelungen und überwacht deren Einhaltung.

Daneben haben im Zuge der fortschreitenden Globalisierung supranationale Institutionen in den zurückliegenden Jahren einen wachsenden Einfluss auf nationalstaatliche Gesundheitspolitik erlangt. Im Hinblick auf die deutsche Gesundheitspolitik ist vor allem die Europäische Union (EU) von wachsender Bedeutung. Auf sie sind im Zuge des europäischen Integrationsprozesses einige gesundheitspolitische Entscheidungskompetenzen übertragen worden sind. Einfluss hat die EU vor allem im Hinblick auf einige präventionspolitisch bedeutsame Felder erlangt, nämlich auf die Umweltpolitik, auf den Arbeitsschutz (Gerlinger, 2000), auf bestimmte Aspekte des Schutzes der öffentlichen Gesundheit (Becker, 2003; Greer, 2006; Hervey, 2002) und auf den gesundheitsbezogenen Verbraucherschutz. Im Hinblick auf die Organisation und Finanzierung der nationalstaatlichen Krankenversorgungssysteme ist die direkte Gestaltungsmacht der EU jedoch (noch) recht gering, denn diese Handlungsfelder sind Teil der sozialen Sicherungssysteme, die der nationalstaatlichen Souveränität unterliegen. Weil diesbezügliche Entscheidungen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung des Staatshaushalts bzw. der Arbeitskosten haben können, waren die Mitgliedstaaten hier bisher nicht bereit, ihre Souveränitätsrechte in nennenswertem Umfang aufzugeben (s. Kap. 11.2). Allerdings ist seit den 1990er-Jahren der EU-Einfluss auf die Gestaltung der nationalstaatlichen Gesundheitssysteme über verschiedene Kanäle gewachsen (Gerlinger, Mosebach et al., 2010; Gerlinger & Urban, 2006; Schölkopf & Grimmeisen, 2021).

Schließlich sind auf zwischenstaatlicher Ebene jene internationalen Organisationen von Bedeutung, die ausschließlich oder teilweise mit gesundheitsbezogenen Fragen befasst sind. |19|Zu den wichtigsten von ihnen zählen die World Health Organization (WHO), die International Labour Organization (ILO), die Food and Agriculture Organization (FAO) sowie die 1996 aus dem Global Programme on HIV/AIDS hervorgegangene UNAIDS. Sie unterscheiden sich in ihren Handlungsmöglichkeiten allerdings ganz erheblich von denen supranationaler Staatenorganisationen. Ihre Entscheidungen, Entschließungen und Programme haben für einzelne Staaten in den meisten Fällen keine bindende Wirkung, und auch sonst verfügen sie über keine wirksamen Sanktionsinstrumente, um ihren politischen Willen durchzusetzen. Für die nationale Gesetzgebung verbindlich werden Beschlüsse lediglich durch Selbstverpflichtung der Signatarstaaten (z. B. Framework Convention on Tobacco Control [2003]; UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen [2008]). Auch sind diese Organisationen mit – gemessen an der Größe ihrer Aufgabe – vollkommen unzureichenden Finanzmitteln ausgestattet. Dies bietet finanzstarken privaten Akteuren (z. B. Melinda und Bill Gates Stiftung) die Möglichkeit, durch die Bereitstellung projektbezogener Finanzmittel Einfluss auf Programm und Aktivitäten der WHO zu nehmen und damit ihrer eigenen gesundheitspolitischen Agenda eine weltweite Plattform zu schaffen.

Neben der beschränkten materiellen Unterstützung gesundheitsbezogener Projekte bleibt den internationalen Organisationen also vor allem die Möglichkeit, auf Probleme hinzuweisen, zu ermahnen und anzuregen. Bei ihrem Engagement für die Verbesserung der Gesundheit ist ihre hohe moralische Autorität die wohl schärfste Waffe dieser Organisationen.

Die Mesoebene bezeichnet die regionale Ebene bzw. die Ebene der untergesetzlichen Regulierung bei der Gestaltung des Gesundheitssystems. Nationalstaatliche und erst recht supranationale Akteure beschränken sich in vielen Fällen auf die Formulierung von Rahmenvorgaben („Generalnormen“). Die Konkretisierung dieser Vorgaben überlassen sie regionalen Untergliederungen oder Gremien bzw. Organisationen beteiligter Akteure (Finanzierungsträger, Ärzte etc.). In der deutschen Gesundheitspolitik sind für die Krankenversorgung z. B. die Bundesländer (vor allem im Hinblick auf den Krankenhaussektor) sowie die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) für die Konkretisierung bundesstaatlicher Rahmenvorgaben von sehr großer Bedeutung. Ebenso nehmen die zuständigen Länderministerien auch einen erheblichen Einfluss auf Bereiche wie den betrieblichen Gesundheitsschutz oder den Umweltschutz. In regionalisierten staatlichen Gesundheitssystemen (z. B. Spanien, Schweden) verfügen die Regionen sogar über ein hohes Maß an Autonomie. Die Gründe für die institutionelle Komplexität von Steuerungsregimen in der Gesundheitspolitik liegen auf der Hand: Erstens unterscheiden sich die regionalen und örtlichen Bedingungen zum Teil erheblich voneinander und würde es einheitlichen übergreifenden Regelungen daher an Zielgenauigkeit mangeln, zweitens verfügen Akteure in Politik und Verwaltung in der Regel nicht über das für die Detailsteuerung notwendige Expertenwissen.

Die Mikroebene bezeichnet das Handeln der individuellen Akteure, das Einfluss auf den Umgang mit Gesundheit und Krankheit nehmen kann. Dies betrifft im Bereich der Prävention z. B. die gesundheitsbezogenen Aktivitäten von Unternehmen, im Bereich der Krankenversorgung vor allem das Handeln einzelner Krankenkassen, Krankenhäuser, Ärzte, Pflegeeinrichtungen, Versicherter oder Patienten. Bei ihrer Orientierung an ihren eigenen Präferenzen können sich die Akteure auf der Mikroebene geltende Regelungen zunutze machen, aber auch versuchen, sie zu umgehen. Von übergeordneten Ebenen ausgehende Steuerungsversuche können also sowohl zu erwünschten als auch zu unerwünschten Ergebnissen führen. Die Akteure auf der Makro- und der Mesoebene verfügen gerade in der Gesundheitspolitik häufig nicht über angemessene Ressourcen zur Steuerung des Handelns auf der Mikroebene.

|20|1.3.1  Horizontale Differenzierungen und vertikale Verknüpfungen

Jede dieser Ebenen ist horizontal stark differenziert. Hier sind zahlreiche Akteure mit eigenen Interessen, Wertvorstellungen und Problemwahrnehmungsmustern tätig, die Einfluss auf gesundheitspolitische Entscheidungen nehmen. Auf der supranationalen Ebene z. B. haben wir es mit einer Vielzahl von Nationalstaaten zu tun. Die staatliche Willensbildung in der Gesundheitspolitik wird wiederum beeinflusst von der Zusammensetzung der Regierung, von den Parteien und Parlamentsfraktionen, den Ministerien und Ministerialbürokratien, den im Rahmen des Korporatismus beteiligten Verbänden, freien Lobbyverbänden und gelegentlich auch von einzelnen besonders einflussreichen Experten (z. B. für die Krankenhauspolitik: Simon, 2000a). Dabei schränken vorangegangene Entscheidungen die Handlungsfreiheit der Akteure häufig ein. Gesundheitspolitik ist stark von nationalen Traditionen geprägt, die oftmals eine spezifische Pfadabhängigkeit von Entwicklungen begründen (z. B.: North, 1990). Im Mikrobereich sind in der Versorgung u. a. niedergelassene und Krankenhausärzte, unterschiedliche ärztliche Fachgruppen, Pflegekräfte, Pflegeheime und ambulante Pflegedienste, beide wiederum in unterschiedlicher Trägerschaft, aber auch Selbsthilfegruppen tätig, in der Prävention u. a. Gesundheitsämter, Umweltämter, Nichtregierungsorganisationen wie die Landesvereinigungen für Gesundheit, Sozialarbeiter, Betriebsärzte, Sicherheitsfachkräfte, Betriebsräte, Unternehmer und Unternehmensberater. Nicht immer sind einzelne Entscheidungsträger bestimmten Entscheidungsebenen eindeutig zuzuordnen: So sind die Bundesländer z. B. am Zustandekommen vieler Bundesgesetze zur Gesundheitspolitik unmittelbar beteiligt (Makroebene), zugleich aber auch mit der Konkretisierung staatlicher Rahmenvorgaben beauftragt (Mesoebene).

Weiterhin existieren vielfältige vertikale Verknüpfungen zwischen diesen Entscheidungsebenen und den jeweils handelnden Entscheidungsträgern (Scharpf, 2000). Zum einen schaffen die Entscheidungen auf jeder Ebene für die jeweils nachgeordneten Akteure bestimmte Rahmenbedingungen, das heißt Anreize, Handlungszwänge, Gestaltungsmöglichkeiten etc. Zum anderen vollzieht Gesundheitspolitik sich keineswegs nur als Top-down-Prozess, sondern in vielen Fällen auch als Bottom-up-Prozess. So wirken z. B. Organisationen auf der Mesoebene, wie die Verbände der Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenhausgesellschaften oder Wohlfahrtsverbände, auf Regierungsentscheidungen ein (Makroebene) und werden dabei ihrerseits maßgeblich von den Interessen ihrer Mitglieder geleitet, also von einzelnen Krankenhäusern, Ärzten und Arztgruppen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen bzw. Pflegediensten (Mikroebene). Akteure auf der Mesoebene sind also keineswegs auf die Rolle von Erfüllungsgehilfen zentralstaatlich-politischer Entscheidungsträger beschränkt, sondern können im politischen Prozess selbst eine eigenständige Rolle spielen, indem sie z. B. „von oben“ kommende Steuerungsversuche kanalisieren oder unterlaufen sowie selbst Themen auf die politische Tagesordnung setzen. Auf einigen Gebieten der Gesundheitspolitik sind Entscheidungen der oberen Ebene auch von der Zustimmung der unteren Ebene abhängig. So bedürfen z. B. Gesetzesinitiativen des Bundestages zur Krankenhauspolitik der Einwilligung des Bundesrates, also der Länderkammer. Er kann also bei derartigen Entscheidungen die Rolle eines Veto-Spielers einnehmen.

1.3.2  Regulierung des Gesundheitssystems

An der Regulierung des Gesundheitssystems sind zahlreiche Akteure beteiligt. Das institutionelle Zentrum der Regulierung des Gesundheitssystems ist der Staat. Dies ergibt sich zum einen aus seiner formalen Zuständigkeit. Das Grundgesetz (GG) weist ihm die Aufgabe zu, die Gesundheit und körperliche Unversehrtheit der |21|Bürger zu gewährleisten (Art. 2 Abs. 2 GG). Zu diesem Zweck erlässt er eine Vielzahl von Regelungen; außerdem haben die staatlichen Exekutivorgane für die Einhaltung dieser Normen zu sorgen. Hier sind insbesondere Maßnahmen des Arbeitsschutzes, des Umweltschutzes und des gesundheitsbezogenen Verbraucherschutzes von Bedeutung. Man kann derartige regulative Maßnahmen auch als marktkorrigierendes Handeln begreifen: Der Staat verpflichtet die Akteure auf solche Verhaltensweisen, die die Regulierungsmechanismen des freien Marktes nicht hervorbringen würden. Des Weiteren erlässt der Staat als Ausdruck seiner im Grundgesetz festgeschriebenen Verpflichtung als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 GG) verbindliche Bestimmungen für die Erbringung und Finanzierung von Gesundheitsleistungen und schreibt diesbezüglich die Rechte und Pflichten der Beteiligten fest. Damit schafft er einen allgemeinen Ordnungsrahmen für die Gestaltung des Gesundheitswesens, insbesondere des Krankenversorgungssystems.

Der Staat setzt bei der Verfolgung seiner Ziele unterschiedliche Steuerungsmedien und Steuerungsinstrumente ein (dazu grundsätzlich z. B.: Benz, 2008; Howlett et al., 2009; Mayntz, 1983; Offe, 1972; Reiter & Töller, 2014; Scharpf, 2000; Schubert & Bandelow, 2014):

Er bedient sich des Mediums Recht, erteilt also Ge- und Verbote und droht für den Fall der Zuwiderhandlung mit Sanktionen. Die Kombination aus Kontrollwahrscheinlichkeit und angedrohter Strafe soll die nachgeordneten Akteure dazu bewegen, den Verhaltenserwartungen zu folgen.

Er versucht, vor allem mithilfe des Mediums Geld die Interessen der Akteure so zu beeinflussen, dass deren egoistisch-rationales Handeln auf die Erfüllung staatlicher Steuerungsziele gelenkt wird. Die Aussicht auf die Erzielung finanzieller Vorteile und auf die Vermeidung finanzieller Nachteile soll das Verhalten von Steuerungsadressaten in die gewünschte Richtung lenken. Dazu gehört in der Krankenversorgung z. B. die Festschreibung von Ausgabenobergrenzen (Budgets) für bestimmte Leistungen oder die Einführung pauschalierter, behandlungsfallbezogener anstelle leistungsmengenbezogener Vergütungsformen – Instrumente, mit denen das Ziel der Ausgabenbegrenzung erreicht werden soll.

Er überträgt in einer Reihe von Politikfeldern die konkretisierende Regelsetzung oder exekutive Funktionen an nachgeordnete Institutionen (z. B. Krankenkassen, KVen oder Berufsgenossenschaften). Durch die Veränderung von Verfahrens- und Entscheidungsregeln, also auf dem Wege der prozeduralen Steuerung, kann der Staat einzelne Akteure mit Handlungsressourcen ausstatten bzw. ihre Interessenlage verändern und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass in dem betreffenden Subsystem die gewünschten Entscheidungen fallen (Offe, 1972). So legt der Staat z. B. die Zusammensetzung sowie die Entscheidungsverfahren und -regeln im institutionellen Gefüge der Selbstverwaltung fest. Er weist den Akteuren auf diese Weise Handlungsressourcen und damit Macht zu – ebenfalls um sicherzustellen, dass die konkretisierende Rechtsetzung den staatlichen Steuerungszielen nicht zuwiderhandelt (Scharpf, 2000). Der Staat ist insofern auch der Architekt der politischen Ordnung in der Gesundheitspolitik (Döhler, 1995). Dieser Steuerungstyp ist insbesondere in der GKV von großer Bedeutung.

Das deutsche Gesundheitssystem lässt sich als ein „System komplexer Vielfachsteuerung“ charakterisieren (Alber, 1992, S. 157), das auf den einzelnen Regelungsfeldern je eigene Steuerungssysteme mit einem spezifischen Mischungsverhältnis aus staatlichen, verbandlichen (korporatistischen) und marktbezogenen Elementen hervorgebracht hat. Bei aller Steuerungsvielfalt sind für die Gesundheitspolitik in Deutschland korporatistische Regulierungsformen von besonderer Bedeutung. Korporatistische Steuerung ist dadurch gekennzeichnet, |22|dass der Staat bei der Steuerung einzelner Politikbereiche einen allgemeinen Ordnungsrahmen setzt und Kompetenzen zur konkretisierenden Regelsetzung an Verbände delegiert. Die Verbände werden dabei auf die Verfolgung öffentlicher Ziele verpflichtet und füllen diesen Rahmen durch Kollektivverhandlungen und -verträge aus. Zugleich stattet der Staat sie – zumeist über die Schaffung von Zwangsmitgliedschaften für die vertretene Klientel oder über die Verleihung von Vertretungsmonopolen, wie dies z. B. bei den KVen oder den Krankenkassen und ihren Verbänden der Fall ist – mit der Fähigkeit aus, den Verhandlungsergebnissen gegenüber den Betroffenen (z. B. Vertragsärzten, Versicherten) Verbindlichkeit zu verleihen. Dabei sichert er sich durch die Einführung von Genehmigungsvorbehalten und Beanstandungsrechten sowie durch die Drohung mit Ersatzvornahmen eine Art Letztentscheidungsrecht über den Inhalt der Vereinbarungen nachgeordneter Akteure (z. B.: Döhler & Manow-Borgwardt, 1992a). Insofern handelt es sich bei einer derartigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Verbände stets um eine „Selbstorganisation im Schatten des Staates“ (Scharpf, 2000, S. 327). Da der Staat mit den skizzierten Steuerungsinstrumenten eine aktive Interessenpolitik betreibt, wird er auch zum wichtigsten Bezugspunkt der beteiligten Akteure und ihrer konflikthaften Handlungen.

Der Staat kann sich auf dem Wege der korporatistischen Steuerung die Handlungsressourcen der Verbände, vor allem das dort vorhandene Expertenwissen, zunutze machen (Molina & Rhodes, 2002; Streeck & Schmitter, 1985). Allerdings wurden auf diese Weise in den einzelnen Politikfeldern starke Verbände etabliert, die sich ihrerseits überwiegend von den – mit den staatlichen Steuerungszielen oftmals nicht kompatiblen – Partialinteressen ihrer Mitglieder leiten lassen und sich den staatlichen Steuerungsansprüchen des Öfteren – und dies durchaus nicht ohne Erfolg – widersetzen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Krankenversorgung und hier wiederum für die ambulante Versorgung, aber auch für zahlreiche andere Politikfelder. Die einzelnen Politikbereiche verfügen also über eine vergleichsweise ausgeprägte Autonomie – ein Charakteristikum, das es wiederum beträchtlich erschwert, Gesundheitspolitik als eine Querschnittsaufgabe zu betreiben.

Neben korporatistischen Arrangements spielen auch Netzwerke bei der Steuerung des Gesundheitswesens eine Rolle. Netzwerke sind aus einer Vielzahl von Akteuren bestehende formelle und informelle Formen politischer Kooperation, die an der Steuerung einzelner Politikfelder mitwirken (Jansen & Schubert, 1995). Auch hier sind üblicherweise staatliche, halbstaatliche und private Akteure beteiligt, die relativ autonom sind und unterschiedliche Interessen verfolgen, dabei aber mehr oder weniger aufeinander angewiesen sind (Mayntz, 1993). Als ein Netzwerk lässt sich z. B. die Gemeinschaft der an regionalen Gesundheitskonferenzen beteiligten Akteure begreifen, deren Handeln darauf gerichtet ist, regionale Versorgungsbedarfe zu identifizieren sowie sich auf Gesundheitsziele in der Region und auf einschlägige Umsetzungsmaßnahmen zu verständigen. Netzwerke lassen sich vor allem dadurch von korporatistischen Arrangements unterscheiden, dass

in ihnen nicht mehr die hierarchische Steuerung (privater) Steuerungsobjekte durch ein (staatliches) Steuerungssubjekt, sondern die Handlungskoordinierung in einem eher horizontal geprägten Beziehungsgeflecht kollektiver Akteure dominiert,

sie daher auch ergebnisoffener sind und

an ihnen eine größere Zahl von Akteuren beteiligt ist.

Das System der politischen Steuerung in Deutschland ist, auch in der Gesundheitspolitik, also hochgradig fragmentiert und dabei in doppelter Hinsicht durch eine starke mittlere Handlungsebene gekennzeichnet (Streeck, 1995): Horizontal sind es insbesondere die erwähnten korporatistischen Arrangements so|23|wie die ausdifferenzierten und tief gestaffelten Netzwerke in den politischen Teilsektoren, die erhebliche Barrieren gegen direkte staatliche Steuerungsversuche errichten können; vertikal ist die Stärke der mittleren Handlungsebene vor allem eine Folge des föderalistischen Staatsaufbaus. Diese politisch-institutionellen Merkmale des deutschen Regulierungssystems tragen häufig dazu bei, dass rasche Politikwechsel und flexible Reaktionen auf neue Herausforderungen erschwert werden. Insgesamt verteilen sich staatliches Handeln und gesellschaftliche Steuerungstätigkeit in der deutschen Gesundheitspolitik auf eine Vielzahl von Akteuren und fallen politische Entscheidungen in einer Vielzahl von Arenen.

Daran wird zugleich deutlich, dass Gesundheitspolitik keineswegs eine bloß staatliche Angelegenheit ist. Bei der gesundheitsrelevanten Gestaltung von Arbeits- und Lebensverhältnissen, von Anreizen und Normen für gesundheitsrelevantes Verhalten und auch bei der Gestaltung und Steuerung der Krankenversorgung sind gewählte Regierungen und staatliche Institutionen nur eine Akteursgruppe unter vielen anderen, und auf manchen Feldern nicht einmal die wichtigste oder mächtigste. Staatliches Handeln in der Politik im Allgemeinen wie in der Gesundheitspolitik im Besonderen vollzieht sich in der Regel nicht einfach als einseitiges, hierarchisches Dekretieren und Durchsetzen autonom getroffener Entscheidungen. Vielmehr ist der Staat zugleich Gegenstand vielfältiger lobbyistischer Beeinflussungsversuche von Verbänden und anderen Akteuren. Zu den wichtigsten von ihnen zählen wirtschaftliche bzw. professionspolitische Interessengruppen, Unternehmen, die Interessenverbände von Kapital und Arbeit, die auf Gesundheitsrisiken und Krankenversorgung einwirkenden Verbände und Gruppen (z. B. der Freien Wohlfahrtspflege) sowie soziale Bewegungen, die einen Bezug zum Thema „Gesundheit“ haben. Entscheidungen, durch die die gesundheitliche Lage sowie die Krankenversorgung der Bevölkerung, von Bevölkerungsgruppen und Individuen beeinflusst werden, sind also in der Regel Ergebnisse von Aushandlungs- und Konfliktprozessen, in die neben dem Staat auch die genannten Akteure ihre Interessen und Machtpotenziale einbringen. Schließlich sind die eingesetzten Steuerungsinstrumente häufig nicht zielgenau, insbesondere verfügen die Steuerungsadressaten in vielen Fällen über schwer kontrollierbare Ausweichmöglichkeiten. Damit üben sie eine eigenständige Gestaltungsmacht im Hinblick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit aus.

1.4  Gesundheit im Interessenskonflikt

An der Formulierung und Umsetzung von Gesundheitspolitik ist also eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. Diese Akteure unterscheiden sich voneinander nach ihren Interessen, Wertvorstellungen und Problemwahrnehmungsmustern und damit in der Regel auch in den Handlungslogiken, denen sie folgen. Unter Interessen können auf einer allgemeinen Ebene zunächst diejenigen funktionalen Imperative verstanden werden, die auf das langfristig erfolgreiche Bestehen von Individuen, Gruppen oder Institutionen gerichtet und ihnen daher gleichsam objektiv zuzuschreiben sind (Mayntz & Scharpf, 1995b). Dazu zählen insbesondere Ziele wie Handlungsautonomie, das eigene Wohlergehen, die Verfügung über die dafür erforderlichen Ressourcen und die Aufrechterhaltung der Identität. Ein solchermaßen gefasster Interessenbegriff schließt sowohl die Dimension des selbstbezogenen Nutzens als auch die der normativen und kognitiven Orientierungen ein und kennzeichnet die Zielsysteme sowohl von Institutionen als auch von Individuen. Der Inhalt dieser Interessen konkretisiert sich in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen und Positionen der Akteure, und erst vor diesem Hintergrund werden Interessen, sofern sie von |24|den Handelnden als solche wahrgenommen werden, handlungsleitend. In diesem Sinne sind auch die in die Gesundheitspolitik einbezogenen Akteure Träger spezifischer Interessen. Entsprechend ihren unterschiedlichen Positionen und Funktionen in der Gesellschaft können für sie unterschiedliche Aspekte von Gesundheit und Gesundheitspolitik von Bedeutung und unterschiedliche, darauf gerichtete Strategien interessant sein. Bei gesundheitspolitischen Entscheidungen muss es also keineswegs um eine gesundheitsbezogene – gleichsam gemeinwohlorientierte – Problemlösung gehen (Mayntz, 2001), vielmehr gehen mit den Problemdefinitionen und den anvisierten Handlungsstrategien der jeweiligen Akteure in der Regel spezifische Interessen einher und werden häufig von diesen auch überlagert (z. B.: Rosewitz & Webber, 1990). Für die in den jeweiligen Handlungskontexten tätigen Akteure sind somit unterschiedliche Relevanzkriterien handlungsleitend.

Für die Akteure des politischen Systems (also z. B. Parteien, Regierungen) ist bei der Problemwahrnehmung und Handlungsorientierung das Kriterium der Erlangung, Aufrechterhaltung und Ausweitung von Macht von zentraler Bedeutung. In demokratisch verfassten Gesellschaften wird Macht über Wahlen zugewiesen und ist insoweit über kurz oder lang auch immer an Zustimmung gebunden. Gesundheit und Gesundheitspolitik sind somit für die Akteure des politischen Systems (z. B. Regierungen, Parteien) vor allem insoweit handlungsrelevant, als sie sich von einer bestimmten Form der Problembearbeitung einen Gewinn an Zustimmung oder zumindest eine Reduzierung von Legitimationsrisiken und -defiziten erhoffen können.

Für Unternehmen als im Wirtschaftssystem tätige Akteure ist der Erhalt und die Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit sowie die Steigerung des Gewinns die maßgebliche Zielgröße ihres Handelns. Das Verwertungsinteresse des Kapitals und das Gesundheitsinteresse der Beschäftigten repräsentieren im Kern unterschiedliche Zielorientierungen und setzen in der Regel nichtkongruente Handlungslogiken frei. Zwar sind Konstellationen, in denen der Gesundheitsschutz und die Gesundheitsförderung von Beschäftigten einerseits sowie die Gewinnsteigerung eines Unternehmens andererseits synchron verlaufen, durchaus denkbar und finden sich auch in der Realität (Bertelsmann Stiftung & Hans-Böckler-Stiftung, 2004; Faller, 2017; Lenhardt et al., 1997; Lenhardt & Rosenbrock, 2006). So kann z. B. eine Reduzierung krankheitsbedingter Fehlzeiten auch dazu beitragen, aufwendige und kostspielige Umstellungen der Arbeitsorganisation zu vermeiden oder die Kosten der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu sparen. Allerdings verbleiben den Unternehmen in der Realität kapitalistischer Gesellschaften vielfältige Möglichkeiten, die Kosten von gesundheitlichen Belastungen zu externalisieren, sie also den betroffenen Individuen selbst oder der Gesellschaft insgesamt aufzuerlegen. Zudem liegen gerade für die zurückliegenden Jahre zahlreiche empirische Hinweise auf einen beträchtlichen Anstieg der Leistungsdichte und insbesondere psychisch-mentaler Belastungen vor (z. B.: Parent-Thirion et al., 2019). Außerdem können ökonomische und gesundheitliche Ziele unterschiedliche Zeithorizonte beinhalten. Während eine Orientierung an der Förderung von Gesundheit einen langfristigen, schonenden, am Grundsatz der Nachhaltigkeit („sustainability“) orientierten Umgang mit der inneren – und äußeren – Natur des Menschen erfordert, sind ökonomische Ziele wie Gewinnsteigerung oder Wettbewerbsfähigkeit und die daran orientierte (Ver-)Nutzung menschlicher Arbeitskraft und Gesundheit meist an mehr oder weniger kurzen Fristen orientiert.

Die mit der Krankenbehandlung befassten Institutionen und die in ihnen tätigen Ange|25|hörigen von Gesundheitsberufen agieren im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen und Handlungslogiken. Der zentrale Bezugspunkt der beruflichen (und in aller Regel auch der Mehrzahl der persönlichen) Wertmaßstäbe von Angehörigen von Gesundheitsberufen ist das Handeln für das Wohl des Patienten. Als Individuen und Wirtschaftssubjekte (Arbeitnehmer, Selbstständige) mit sozialen und ökonomischen Interessen sind sie mit der Knappheit der zur Verfügung stehenden Ressourcen konfrontiert und damit häufig genug mit der Notwendigkeit, Aufwand und Kosten zu begrenzen. Sind die unterschiedlichen Interessen und Handlungslogiken nicht kompatibel, so sind Kompromisse zwischen ihnen notwendig. So wird ein Arzt, dessen Budget „ausgeschöpft“ ist und der daher durch die Behandlung eines zusätzlichen Patienten sein Einkommen nicht mehr weiter steigern kann, dazu neigen, ihm Leistungen vorzuenthalten, die Behandlung ins kommende Quartal zu verschieben oder ihn an einen Kollegen zu überweisen. Wo der Kompromiss zwischen den Handlungslogiken angesiedelt ist, hängt vor allem von den individuellen Handlungspräferenzen der professionellen Akteure und von der Artikulations- und Durchsetzungsfähigkeit der Klienten ab.

Andere Maßstäbe sind wiederum für das selbstbezogene Gesundheitshandeln von Individuen maßgeblich. Zwar ist allen Individuen ein Interesse an Gesundheit objektiv zuzuschreiben, jedoch mag es aktuell im Widerspruch zu anderen Interessen stehen – etwa dem nach Arbeitsplatzsicherheit oder kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung – oder zumindest so wahrgenommen werden. Darüber hinaus haben die Sozialstruktur-, die Lebensstil- und die Sozialisationsforschung gezeigt, dass sich der Stellenwert und die mit dem Wert „Gesundheit“ verknüpften Ursachenzuschreibungen und Verhaltensweisen je nach Schichtzugehörigkeit und sozialen Räumen, nach Lebensphasen und Geschlechtszugehörigkeit erheblich voneinander unterscheiden können (z. B.: Gawatz, 1993; Kolip et al., 2013; Maschewsky-Schneider, 1997; Richter & Hurrelmann, 2009). Auch speisen sich die Handlungsmotive für „Gesundheit“ zumeist aus anderen Zielen als dem des unmittelbaren Wohlergehens. Insbesondere „Leistungsfähigkeit“ und „Attraktivität“ sind Ziele, die eine hohe Affinität zum Wert „Gesundheit“ aufweisen. Gesundheitsbezogene Verhaltensweisen werden in einem lebenslangen Sozialisationsprozess zu Merkmalen des „Habitus“ (Bourdieu, 1982) und damit zu nur schwer veränderbaren Bestandteilen der individuellen Person-Umwelt-Arrangements.

Obwohl allgemeine Interessen nicht eindeutig hierarchisch geordnet sind, bilden Akteure üblicherweise stabile Präferenzen heraus, die für sie situationsübergreifend handlungsleitend sind. Zugleich sind Interessen für jeden Akteur aber stets auch situationsabhängig und können dementsprechend selektiv mobilisiert werden (Mayntz & Scharpf, 1995b). Daher erlaubt die Einbindung von Akteuren in spezifische Logiken und Handlungszwänge nicht die Schlussfolgerung, dass damit ihr Handeln gleichsam determiniert sei. Handeln – auch gesundheitsbezogenes und gesundheitspolitisches Handeln – ist stets kontingent, also immer auch anders möglich. Träger gemeinsamer Interessen und Wertorientierungen bilden in den einzelnen Politikfeldern üblicherweise recht stabile Koalitionen (Sabatier, 1993).

Freilich bedeutet dies nicht, dass Akteure ihre egoistischen Interessen auch stets rational verfolgen. Prinzipiell ist es möglich – wenn wohl auch nicht sehr wahrscheinlich –, dass sie sich primär an normativen Maßstäben (also z. B. an der Verringerung von Gesundheitsbelastungen) auch dann orientieren, wenn es aus dem Blickwinkel der systemischen Handlungslogik nicht als rational erscheint und daher ihren Interessen widerspricht. So können Unternehmer z. B. auch dann Gesundheitsförderungsprogramme |26|verfolgen, wenn sie dies mehr Geld kostet als es ihnen einbringt. Allerdings ist im Sinne der Orientierung an systemspezifischen Handlungslogiken „irrationales“ Handeln auch aus einem anderen Grund möglich: Akteure handeln in aller Regel unter der Bedingung unvollständiger Information über die Bedingungen und Folgen des eigenen Handelns und über das Handeln bzw. die Handlungsabsichten anderer Akteure (Partner, Konkurrenten, Widersacher), mit denen sie interagieren. Daher ist nicht jedes intentionale – auf die Verwirklichung der eigenen Interessen gerichtete – Handeln notwendig zugleich auch objektiv rational. So kann ein Unternehmer z. B. – sei es, weil er nichts über ihren Nutzen weiß, sei es, weil es seinem Handlungs- bzw. Führungsstil widerspricht – auf Maßnahmen zur Gesundheitsförderung verzichten, obwohl sie sich betriebswirtschaftlich für ihn zumindest mittelfristig „rechnen“ würden (z. B.: Lenhardt & Rosenbrock, 1998). Allerdings nehmen Individuen und andere Akteure derartige rationale Kalküle häufig nicht vor, sondern orientieren sich an Handlungsmustern und Überzeugungssystemen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben.

Inwiefern sich die unterschiedlichen Interessen in der Gestaltung der Gesundheitspolitik praktisch Geltung verschaffen, hängt vor allem von der Macht der jeweiligen Akteure ab. Unter Macht soll in Anschluss an Max Weber die Fähigkeit von Individuen oder Gruppen verstanden werden, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht ([…].“ (Weber, 1976, S. 28) Machtressourcen können sehr verschiedenartig sein. Dazu zählen z. B.

die Verfügung über bzw. die Kontrolle des Zugangs zu Ressourcen, auf die andere zur Verfolgung ihrer Interessen angewiesen sind: Zum Beispiel gestattet die Verfügung über Produktionsmittel (und damit die Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen und Arbeitnehmern den Verdienst ihres Lebensunterhalts zu ermöglichen) es den Unternehmern, entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der – auch gesundheitsrelevanten – Arbeitsbedingungen zu nehmen; ebenso können Akteure Macht in gesundheitspolitischen Entscheidungsprozessen ausüben, wenn sie z. B. glaubwürdig damit drohen können, die Öffentlichkeit zu mobilisieren und damit der Politik Zustimmung zu entziehen;

die Fähigkeit, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen und ihre Einhaltung – notfalls auch mit Zwang – durchzusetzen: Zum Beispiel kann der Staat den Arbeitgebern bestimmte Gesundheitsschutzpflichten in der Arbeitswelt auferlegen und für den Fall der Zuwiderhandlungen Sanktionen androhen (Geld- oder Gefängnisstrafen);

informelle Mechanismen wie z. B. der bevorzugte Zugang zu bestimmten Entscheidungsträgern oder das öffentliche Ansehen: Ärzte und Ärzteverbände haben größere Chancen, sich bei Entscheidungsträgern und in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen als z. B. die Interessenverbände der Pflege und anderer Gesundheitsberufe;

die Verfügung über Informationen und Wissen: Zum Beispiel können Ärzte mit ihrem Expertenwissen über die Behandlung von Krankheiten maßgeblichen Einfluss auf Art und Umfang medizinischer Interventionen und damit auf die Kosten der Versorgung und auf die Höhe des eigenen Einkommens nehmen.

Die Macht und der Einfluss eines Akteurs wachsen in dem Maße, wie er über jene Ressourcen verfügt, auf die andere Akteure angewiesen sind, wenn sie ihre eigenen Ziele erfolgreich verfolgen wollen (Héritier, 1993; Mayntz, 1993; Ostheim & Schmidt, 2007; Schmalz & Dörre, 2014). Insofern sind sie mehr oder weniger voneinander abhängig. Ein Blick auf die in der Gesundheitspolitik handelnden Akteure zeigt aber auch, dass sie in sehr unterschiedlichem Maße über die hier erörterten Machtressourcen verfügen. Vor allem unterscheiden sich die Akteursgruppen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die |27|individuellen Handlungen ihrer Mitglieder zu koordinieren, sich also zu organisieren. Darin liegt ein wichtiger Grund z. B. für das geringe Gewicht von Patienteninteressen in der Gesundheitspolitik. Allerdings können sich die Machtressourcen von Akteuren im Zeitverlauf durchaus verändern. Zu den Veränderungen können sowohl objektive Rahmenbedingungen wie auch subjektive Lernprozesse beitragen.

Das Akteurshandeln in der Gesundheitspolitik vollzieht sich in und durch Institutionen (Regierungen, Parlamente, Behörden, Verbände, Kammern, Unternehmen etc.). Institutionen nehmen einen entscheidenden Einfluss darauf, wie welche Aufgaben behandelt werden (z. B.: Héritier, 1993; Weaver & Rockman, 1993a). Sie entwickeln eigene Muster der Wahrnehmung, Definition und Bearbeitung von Problemen und binden sich an formalisierte Handlungsregeln, die gewohnheitsmäßig Anwendung finden und sich zu einer Handlungsroutine verstetigen (Giddens, 1995; March & Olsen, 1989). Diese Routinen beinhalten u. a. auch bestimmte Vorstellungen über die Ziele der Gesundheitspolitik und über die Aufgabenverteilung zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum. Dazu zählen z. B. Vorstellungen darüber, ob und in welchem Umfang Gesundheitsrisiken bei der Arbeit hinzunehmen sind und in welchem Verhältnis Kosten und Nutzen in der arbeitsweltbezogenen Prävention zueinander zu stehen haben. Dies betrifft aber auch die Ausrichtung des betrieblichen Gesundheitsschutzes, etwa die Orientierung an personenzentrierten oder an umgebungszentrierten Präventionsstrategien, die Beschränkung auf toxisch-physikalische Einwirkungen oder die Ausweitung auf arbeitsorganisatorisch-qualitative Aspekte (Rosenbrock, 1996). Auch wenn solche normativen Orientierungen häufig auch von Interessen mitgeformt sind, bemühen sich die Akteure zumeist, ihre jeweiligen Interessen als sachgerechte Problemlösungen und als im gesellschaftlichen Interesse liegend darzustellen. Interessenkonflikte werden in der Gesundheitspolitik – wie auch auf anderen Politikfeldern – zugleich als Konflikte um die Definition von Problemen und die Geltung und Gewichtung von Normen geführt.

Gleichzeitig können Institutionen die Handlungsfähigkeit von Akteuren beeinflussen, indem sie politikfeldspezifische Veränderungen begrenzen, kanalisieren oder stimulieren, das Handeln in bestimmte Bahnen lenken, Handlungskorridore eröffnen, bestimmte Lösungen erleichtern und andere erschweren (Krasner, 1988). Dabei sind sie üblicherweise bestrebt, ihren Fortbestand zu sichern und ihre eingeschliffenen Handlungsmuster aufrechtzuerhalten; die Anpassung an veränderte Aufgaben erfolgt in der Regel nur langsam und allmählich (March & Olsen, 1989). Nicht selten können sie ein beachtliches Beharrungsvermögen entwickeln und ihre Existenz und Handlungsroutinen auch dann aufrechterhalten, wenn sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Problemlösungsfähigkeit oder Effizienz als suboptimal gelten müssen. So hat z. B. die traditionelle Orientierung von staatlicher Gewerbeaufsicht und Unfallversicherungsträgern an technischen Normungsverfahren eine angemessene Berücksichtigung psychosozialer Arbeitsbelastungen lange Zeit nachdrücklich erschwert (Wellmann & Lempert-Horstkotte, 2009).

Sind erst einmal Entscheidungen über eine bestimmte Form der Problembearbeitung getroffen, so sind damit Sichtweisen, Institutionen und Interessen konstituiert, die künftige Wahlmöglichkeiten einschränken und alternative Entwicklungen erschweren oder bisweilen sogar ausschließen können (z. B.: David, 1985). Derartige Entscheidungen können also eine Pfadabhängigkeit künftiger Entwicklungen begründen. So zeigt z. B. der internationale Vergleich von Gesundheitssystemen, dass nahezu alle westlichen Staaten an ihren in den sozial- und gesundheitspolitischen Traditionen wurzelnden institutionellen Strukturen festhalten, auch wenn sich ein übergreifender Trend zur administrativen Ausgabenbegrenzung, zur Einführung von Wettbewerbsmechanismen und zur Privatisierung des Krankenversicherungsschutzes bemerkbar macht (z. B.: |28|Blank et al., 2017; Freeman & Moran, 2000; Gerlinger, 2013b; Marmor et al., 2009; Rothgang et al., 2010; Schmid et al., 2010; Wendt, 2009a). Das grundsätzliche Festhalten an gewachsenen Strukturen und Institutionen trifft nicht nur auf das Krankenversicherungssystem zu, sondern auch auf die Versorgungsstrukturen sowie auf den Stellenwert und die Ausrichtung von Prävention im Rahmen eines Gesundheitssystems. Im internationalen Vergleich kann mit Blick auf Deutschland z. B. die doppelte Besetzung der Facharztschiene, also die Vorhaltung fachärztlicher Kapazitäten sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich, als ein solcher Entwicklungspfad begriffen werden.

1.5  Interventionsebenen, Interventionstypen und Entscheidungsregeln in der Gesundheitspolitik

Gegenstandsbereich und Interventionsfelder der Gesundheitspolitik lassen sich grob (und keineswegs trennscharf) auf einem Kontinuum darstellen, das die Zustände menschlicher Gesundheit vom Optimalzustand (Gesundheit als Zustand körperlichen und geistigen Wohlbefindens) über verschiedene Stufen der Risikoexposition, Gesundheitseinschränkung und Erkrankung bis hin zum Tod umfasst (Tabelle 1-1). Den verschiedenen Zuständen entsprechen dabei unterschiedliche Interventionstypen sowie unterschiedliche politische, administrative und professionelle Zuständigkeiten.

Normatives Ziel von Gesundheitspolitik ist es, für die gesamte Bevölkerung die jedem „Zustand“ entsprechende „Intervention“ bereitzustellen und den Zugang dazu tatsächlich zu ermöglichen. Auf diese Weise soll Gesundheit so weit wie möglich erhalten und den sich einstellenden Verschlechterungen des Gesundheitszustandes so weit wie möglich entgegengewirkt werden (in Tabelle 1-1 von links nach rechts).

Gesundheitsförderung, Krankheitsverhütung, medizinische bzw. psychotherapeutische Behandlung, Pflege, Betreuung, Rehabilitation und Selbsthilfe sind dabei zunächst gleichrangige Felder der Gesundheitspolitik. Soll die bevölkerungsbezogene, gesundheitliche Wirksamkeit von Gesundheitspolitik maximiert werden, so hängt die Auswahl und Gewichtung der Interventionsfelder und Interventionsinstrumente von der Beantwortung folgender Leitfrage ab: In welchem Verursachungsbereich oder auf welcher Strecke des Kontinuums zwischen Gesundheit und schwerer Erkrankung bzw. vorzeitigem Tod ist mit welchem Interventionstyp – und dies möglichst kostengünstig – der epidemiologisch größte Gesundheitsgewinn zu erzielen? Die Antworten auf diese Frage können je nach Gesundheitsproblem, Zielgruppe und verfügbarem Wissen unterschiedlich ausfallen.

Zwar sind die Probleme und Interventionen, die im Bereich einer solchermaßen weit definierten Gesundheitspolitik liegen, ebenso verschiedenartig wie die Handlungslogiken der dafür zuständigen Institutionen und Berufsgruppen mit ihren durch Sozialisation und Ausbildung sowie durch Ressourcenausstattung, Normen und Anreize geprägten Motiven und Verhaltensbedingungen. Aber ungeachtet dieser Unterschiede lassen sich folgende normative Leitlinien bei der Entscheidung über gesundheitsbezogene Interventionen – gleich ob sie sich auf Individuen oder auf Populationen beziehen – formulieren:

Gesundheitliche Beeinträchtigungen und Funktionseinbußen, die über das normale Maß der Alterung hinausgehen, sollen – so weit wie praktisch möglich und ethisch zulässig – verhütet werden. Im Falle ihres Eintretens sollen sie nicht nur im notwendigen Umfang durch professionelle Intervention physisch und psychisch bekämpft, sondern auch subjektiv individuell im Sinne möglichst hoher Selbstbestimmung und Lebensqualität verarbeitet (bewältigt) werden können (Uexküll & Wesiack, 1998).

|29|Unter den Gesichtspunkten der Wirksamkeit unter kontrollierten klinischen Bedingungen („efficacy“) oder unter realen Alltagsbedingungen („effectiveness“) und der Effizienz („efficiency“, Wirksamkeit im Verhältnis zu Kosten) sollten bei der Auswahl der Interventionsfelder, der Interventionsinstrumente und ihrer Gewichtung die gleichen Entscheidungsregeln gelten, die auch die kurative Medizin für therapeutische Interventionen am Individuum entwickelt hat:

In der Regel sollen schwere und häufig auftretende Probleme vor leichteren und selteneren bearbeitet werden. Realistischerweise ist trotz einer grundsätzlichen Präferenz für die Eliminierung von Problemen und Risiken in aller Regel die Schadensbegrenzung und die Senkung von Wahrscheinlichkeiten das vordringlichste Ziel.

In die Beurteilung einer Maßnahme oder bei der Entscheidung zwischen Alternativen ist die Gesamtheit der erwünschten und unerwünschten Wirkungen einzubeziehen, und zwar unter gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten. Dabei müssen die erwünschten Wirkungen eindeutig überwiegen und die unerwünschten Wirkungen insgesamt tolerabel sein.

Wie für die Medizin gelten auch für die Gesundheitspolitik darüber hinaus die Grundsätze der Selbstbestimmung des Individuums (z. B. als „informed consent“) und des Schutzes der Schwachen („positive Diskriminierung“) sowie die Bevorzugung von Selbststeuerung gegenüber Fremdsteuerung (z. B. möglichst wenig professionelle Intervention).

Tabelle 1-1:  Gesundheitspolitik. Quelle: Rosenbrock, 1998a.

Interventionsfelder und Interventionstypen

Zustand

spezifische und unspezifische Gesundheitsrisiken, Befindlichkeitsstörungen

behandlungsfähige Befunde ohne Symptome

akute und chronische Erkrankungen, Behinderungen

Tod

Interventionstyp

Gesundheitsförderung (Primärprävention)

Belastungssenkung und Gesundheitsförderung (Primärprävention)

Früherkennung und Frühbehandlung, Belastungssenkung und Gesundheitsförderung (Sekundärprävention)

medizinische Behandlungen; medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation; Pflege; Belastungssenkung und Gesundheitsförderung (Sozialhilfe, Tertiärprävention)

Die Umsetzung von Entscheidungsregeln durch die beteiligten Institutionen und Personen(-gruppen) unterliegt dem Einfluss der beruflichen Sozialisation und der Steuerung durch vielfältige materielle und immaterielle Anreize. Durch politisches Handeln gesetzte Anreize sollen Partikularinteressen möglichst weitgehend mit den Steuerungszielen zur Deckung gebracht werden. Die Erfahrung zeigt, dass auf Dauer (positive und negative, formelle und informelle) Anreize in der Regel stärker auf die Problemwahrnehmung und Problembearbeitung durch Individuen, Gruppen und Institutionen wirken als Programme, „Philosophien“ und „gute Vorsätze“. Die Gestaltung und Weiterentwicklung dieser Steuerung ist Gegenstand der prakti|30|schen und theoretischen Beschäftigung mit Gesundheitspolitik.

Ihr Erfolg lässt sich zumindest grob mit qualitativen und quantitativen Indikatoren messen und ausdrücken. Zu den wichtigsten von ihnen zählen:

der Zugewinn an Lebensjahren,

die Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen,

die Vermeidung von Einschränkungen und Behinderungen,

der Verschiebung der Manifestation von Erkrankungen im Lebensverlauf („compression of morbidity“, s. Kap. 2.2),

die Reduzierung von Inzidenzen und Prävalenzen,

die Erhöhung von Lebensqualität,

die Steigerung von Handlungsressourcen und Partizipationschancen.

Tatsächlich richtet sich Gesundheitspolitik im Ergebnis der Steuerung nur selten und eher zufällig nach den abstrakt von allen Akteuren akzeptierten Entscheidungsregeln. Vielmehr variieren Ressourceneinsatz und Anstrengungen zur Erreichung von Gesundheitszielen wie auch die Gewichtung von Teilzielen und Interventionsfeldern historisch und international erheblich. Alle Gesellschaften und Staaten nehmen die in ihnen vorkommenden bzw. durch sie produzierten Gesundheitsprobleme nur selektiv wahr und bearbeiten sie auch nur selektiv (Frevert, 1984; Labisch, 1987; Levine & Lilienfeld, 1987; McKeown, 1979). Gesundheitlich positive und negative Einwirkungen von politischen Interventionen (z. B. bildungs- oder verkehrspolitische Maßnahmen) werden dabei nur zum Teil explizit als Gesundheitspolitik wahrgenommen. Ungeachtet dessen sind gesundheitliche Wirkungen oft und teilweise in größerem Umfang Konsequenz von Politiken, die weder nach der Selbstdefinition noch in der öffentlichen Wahrnehmung primär der Erreichung von Gesundheitszielen dienen (implizite Gesundheitspolitik). In den letzten Jahren wird wissenschaftlich und vereinzelt auch politisch praktisch daran gearbeitet, die gesundheitlichen Folgen auch impliziter Gesundheitspolitik bei der Entscheidungsfindung und Gestaltung mit dem Ziel der Gesundheitsverträglichkeit bzw. -förderlichkeit zu berücksichtigen(„healthy public policy“; Milio, 1981; Stahl et al., 2006; „Health in all Policies“; World Health Organization, 2010; Böhm et al. 2020).

Veränderungen in der Wahrnehmung und Thematisierung von Gesundheitsproblemen erklären sich durch unterschiedliche Faktoren. Zu den wichtigsten zählen

der Stand des Wissens über Ätiologie und Präventions- bzw. Therapiemöglichkeiten von Erkrankungen: Zum Beispiel kann die Entdeckung physiologischer Zusammenhänge und die Entwicklung von darauf basierenden Therapiemöglichkeiten eine Vernachlässigung sozialer oder psychischer Aspekte der Krankheitsentstehung begünstigen, wie z. B. die Entdeckung des Helicobacter pylori gezeigt hat (Heiskel, 2001);

politische und ökonomische Konjunkturen: Zum Beispiel begünstigen soziale Reformphasen und Zeiten ökonomischer Prosperität die Ausweitung öffentlich finanzierter Gesundheitsleistungen (hingegen nicht unbedingt die Behebung qualitativer Versorgungsdefizite oder die Steigerung der Effizienz von Gesundheitsleistungen); umgekehrt wird in ökonomischen Krisenzeiten die Reduzierung öffentlich finanzierter Gesundheitsleistungen (aber auch der Bedarf nach Effizienzsteigerung des Gesundheitssystems) im Allgemeinen stärker und wirkungsmächtiger thematisiert.

Erheblich variieren auch die Zuständigkeitszuschreibungen für die Bearbeitung öffentlich wahrgenommener Gesundheitsprobleme. Längsschnittanalysen (historische Vergleiche) und Querschnittsanalysen (internationale Vergleiche) zeigen, dass für zum Teil identische Aufgaben neben den Gliederungen des Staates (Zentral- bzw. Bundesstaat, Regionen, Kommunen) so unterschiedliche Akteure wie Kirchen, |31|Medizin, Polizei, Militär, private Unternehmen und Gewerkschaften, privat organisierte Wohlfahrtspflege etc. infrage kommen.

Ebenso können die Gründe für gesundheitsbezogenes Engagement variieren. Neben humanitären Motiven können z. B. bevölkerungspolitische und ökonomische Motive, das Streben nach sozialer Kontrolle, berufsgruppen- und standespolitische Interessen oder das Streben nach Wissenserweiterung entscheidende Triebkräfte sein (z. B.: Labisch, 1992). So hat z. B. Ute Frevert gezeigt, dass sich in der – seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert forcierten – Politisierung des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit, die zunächst in den wachsenden staatlichen Interventions- und Kontrollansprüchen, dann in den rasch an Bedeutung gewinnenden Krankenkassen zum Ausdruck kommt, die Interessen unterschiedlicher Akteure bündeln: Der Staat hat ein Interesse an der Sicherung und Ausweitung seiner Ressourcen; gemeinsam mit den Unternehmen hat er ein Interesse an der Ausschaltung von Krankheit als einem Faktor sozialer Destabilisierung und politischer Unruhe, an der Vermeidung von physischer Arbeitsunfähigkeit und Unterstützungsbedürftigkeit von Bürgern, an ihrer Disziplinierung und Kontrolle. Die Ärzteschaft hat ein Interesse an der Stabilisierung von kaufkräftiger Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, an der Errichtung eines Behandlungsmonopols und generell an der Absicherung ihrer Professionalisierungsbemühungen (Frevert, 1984).

1.6  Der Public Health Action Cycle

Die Beschreibung gesundheitspolitischer Entscheidungsprozesse bezieht sich häufig auf den aus der Politikwissenschaft stammenden Policy Cycle (z. B.: Knill & Tosun, 2015), der in der Gesundheitspolitikforschung als Health Policy Cycle oder Public Health Action Cycle bezeichnet wird (Abbildung 1-1) (Rosenbrock, 1995). Er unterteilt Entscheidungsabläufe in vier – manchmal auch fünf – Phasen, die als Antworten auf folgende (nur analytisch voneinander zu trennende) Grundfragen der Gesundheitspolitik zu verstehen sind:

Was ist der Problembestand (Gefährdungen und Erkrankungen), der mit Gesundheitspolitik angegangen werden kann und soll? (Problemdefinition, „assessment“)

Welche Ziele werden formuliert? Mit welchen Instrumenten sollen sie erreicht werden? (Politik- bzw. Strategieformulierung, „policy formulation“)

Wie kann die Anwendung der Interventionsinstrumente sichergestellt werden? (Umsetzung, „assurance/implementation“)

Welche gesundheitlichen und anderen Wirkungen von Gesundheitspolitik lassen sich feststellen? (Bewertung, „evaluation“)

Der Public Health Action Cycle bezeichnet auf abstrakter Ebene den gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit als sich beständig weiterentwickelnde Lernspirale mit den Stufen: Problembewertung – Politikformulierung – Implementation – Evaluation – erneute Bewertung – erneute Politikreformulierung etc. Er ist auf alle Ebenen nichtspontanen Handelns anwendbar – als individuelles Handlungsprogramm, für die Planung und Strukturierung einer Maßnahme oder eines Projektes der Gesundheitssicherung sowie für Interventionen, Programme und Strategien auf Mikro-, Meso- und Makroebene. Dabei handelt es sich allerdings um einen Idealtypus, dem weder die Realität der Gesundheitspolitik noch irgendeiner anderen Politik kaum jemals entspricht. Die in der Gesundheitspolitik häufig entscheidende Frage bzw. Phase des „agenda setting“ (Wie wird aus einem gesundheitlichen Problem ein gesundheitspolitisches Thema?) liegt gewissermaßen vor dem Kreislauf. Gegenüber dem verwandten, aus der industriellen Qualitätssicherung stammenden Deming-Cycle („plan – act – check –do“) vernachlässigt das Modell die häufig wichtige Phase des Probehan|32|delns (z. B. Modellversuch). Die Lernspirale hat vor allem eine heuristische Funktion: Ihr Nutzen liegt in erster Linie in der Modellbildung, mit der reale Politiken („policies“, s. u.) (Verhaltens- und Verhältnisprävention, medizinische und nichtmedizinische Interventionen) verglichen, analysiert und bewertet werden können – z. B. im Hinblick auf Effektivität, Chancengleichheit, Effizienz.

Abbildung 1-1:  Public Health Action Cycle (Lernspirale). Quelle: National Academy of Sciences & Institute of Medicine, 1988.

Die Wirklichkeit gesundheitspolitischer Prozesse weicht vor allem in folgender Hinsicht von dem hier zugrunde gelegten Schema ab:

Erstens lassen sich die einzelnen Ebenen oft nicht trennscharf unterscheiden (Héritier, 1993) und handelt es sich nicht unbedingt um zeitlich aufeinander folgende Phasen des Politikprozesses. Es ist keineswegs unüblich, dass sich die im Modell unterstellte Handlungssequenz in der gesundheitspolitischen Realität gleichsam umdreht, wenn z. B. Problemabschätzung („assessment“) und Strategieformulierung („policy formulation“) im Lichte bestehender Umsetzungsmöglichkeiten („assurance“) vorgenommen werden.

Zweitens vollzieht sich die Formulierung und Implementation politischer Maßnahmen in aller Regel nicht als administrative Durchsetzung einer von einem einheitlichen staatlichen Akteur autonom formulierten Politik („Top-down“-Handeln), sondern erfolgt auf jeder dieser Stufen in der Interaktion einer Reihe staatlicher, parastaatlicher, verbandlicher und privater Akteure. Dies gilt sowohl für die Politik im Allgemeinen (z. B.: Hirsch, 1990; Scharpf, 2000) als auch für die Gesundheitspolitik im Besonderen (z. B.: Rosewitz & Webber, 1990). So nahmen z. B. bei der Aids-Prävention die Betroffeneninitiativen sowie Fachleute aus Wissenschaft und Praxis einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der staatlicherseits schließlich eingeschlagenen Handlungsstrategie (Rosenbrock et al., 2002), bevor eine verlässliche Abschätzung der Größe und Dynamik der Epidemie möglich war.

Drittens weist der Politikzyklus in aller Regel nicht ein derartiges Maß an Rationalität auf, wie in dem Modell unterstellt wird (Howlett et al., 2009). Gesundheitspolitische Entscheidungen folgen häufig nicht einem Plan, der vorab von einem Akteur entwickelt worden wäre, sondern stellen sich eher als Ergebnis des Handelns zahlreicher, in der Regel heterogener Akteure ein – was nicht bedeuten soll, dass einzelne Akteure nicht höchst planvoll an Gesundheitspolitik herangehen würden.

|33|Viertens orientieren sich gesundheitspolitische Entscheidungen – wie ebenfalls bereits erwähnt – häufig nicht an den Erfordernissen einer gesundheitsbezogenen Sachlogik. Vielmehr beschränken Interessen- und Machtkonstellationen im Interventionsfeld häufig die Auswahl der zu bearbeitenden Gesundheitsprobleme; sie beeinflussen die Ursachenzuschreibungen und damit die zu ihrer Bearbeitung verfolgten Strategien – also Ziele, Ansatzpunkte und Instrumente der Intervention (Kühn, 1993).

Für die Analyse des „agenda setting“ sowie der mit den Phasen des „Public Health Action Cycle“ bezeichneten Phasen empfiehlt es sich, zwischen den „policies“, „politics“ und „polity“ zu unterscheiden.

„Policy“ bezeichnet die Inhalte der Politik, also eine Regelung oder eine Vorschrift, sei es als verabschiedetes Gesetz oder als formulierte Strategie eines Akteurs oder einer Akteurskoalition. Eine „policy“ ist in aller Regel das Ergebnis mehr oder weniger konflikthafter Prozesse. Diese Prozesse werden als „politics“ bezeichnet. Die Akteure einer solchen Auseinandersetzung agieren dabei auf der Grundlage bestehender Normen und kultureller Orientierungen sowie im Rahmen bestimmter Institutionen. Diese bilden die „polity“ und definieren gewissermaßen die Spielregeln der „politics“ (Knill & Tosun, 2015).