Gesundheitswissenschaft - Beata Blättner - E-Book

Gesundheitswissenschaft E-Book

Beata Blättner

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Beschreibung

Wie entsteht Gesundheit? Um darauf Antworten zu finden, befasst sich die Gesundheitswissenschaft mit der Frage, wie Gesundheit definiert werden kann, mit Risiken, Ressourcen und Bewältigungsstrategien sowie ihrer ungleichen Verteilung in der Bevölkerung. Die überarbeitete 6. Auflage dieses bewährten Standard-Lehrbuchs verschafft Studierenden aller mit gesundheitswissenschaftlichen Fragen befassten Fachrichtungen einen fundierten Überblick über die grundlegenden Theorien und ihre Anwendung.

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Autoreninfo

 

Prof. Dr. Beate Blättner lehrt Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda und forscht im Public Health Zentrum Fulda zu Prävention und Gesundheitsförderung u. a. in der stationären Pflege, in der Kommune oder im Betrieb.

 

Prof. Dr. Dr. Heiko Waller M. Sc. lehrte Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaft und war Leiter der Sektion Gesundheitssoziologie und Sozialmedizin im Zentrum für Angewandte Gesundheitswissenschaften der Universität Lüneburg.

Beate Blättner Heiko Waller

Gesundheitswissenschaft

Eine Einführung in Grundlagen, Theorie und Anwendung

6., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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6. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035012-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-035013-7

epub:   ISBN 978-3-17-035015-1

mobi:   ISBN 978-3-17-035016-8

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort

1 Entstehung von Gesundheit

1.1 Vorschlag für ein integrierendes theoretisches Modell

1.2 Historischer und wissenschaftlicher Kontext

1.3 Stand der Erkenntnis

2 Gesundheits- und Krankheitskonzepte

2.1 Sichtweisen auf Gesundheit

2.2 Alltagskonzepte von Gesundheit und Krankheit

2.3 Wissenschaftliche Konzepte von Gesundheit

2.4 Eine Arbeitsdefinition von Gesundheit

3 Gesundheitsressourcen und -risiken

3.1 Theoretische Einordnung

3.2 Lebensbereiche, ihre Gesundheitsressourcen und -risiken

3.3 Sozial ungleiche Verteilung

4 Vulnerabilität und Schutzfaktoren

4.1 Theoretische Einordnung

4.2 Die Idee der Resilienz

4.3 Empirische Befunde zur Resilienz bei Kindern

4.4 Psychische Merkmale

4.5 Soziale Unterstützung

4.6 Das Empfinden von Kohärenz

5 Gesundheitshandeln als Bewältigungsstrategie

5.1 Gesundheitsverhalten

5.2 Gesundheitshandeln

6 Prävention und Gesundheitsförderung

6.1 Prävention

6.2 Gesundheitsförderung

6.3 Die Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung

6.4 Der Setting-Ansatz in der Gesundheitsförderung

6.5 Politik für Gesundheit

6.6 Perspektiven

Literatur

Register

Vorwort

 

 

 

 

Angesichts der Differenzierung der Gesundheitswissenschaften in Forschung und Lehre gerade in Deutschland ist es im ersten Moment irritierend, wenn von einer Gesundheitswissenschaft gesprochen wird.

Mit dem Begriff Gesundheitswissenschaften werden diejenigen Wissenschaften bezeichnet, die sich – aus jeweils unterschiedlicher Perspektive – mit Gesundheit beschäftigen. Das gilt z. B. für die Gesundheitssoziologie, Gesundheitspsychologie, Gesundheitspädagogik oder Gesundheitsökonomie. Die Gesundheitswissenschaften sind ein interdisziplinäres Feld, das sehr unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen unter der Fragestellung vereint, wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen Gesundheit erhalten und wiederhergestellt werden kann. Ein Teil der beteiligten Wissenschaften, vor allem die Medizin, aber auch z. B. die Pflegewissenschaft und die Rehabilitationswissenschaften, befassen sich vor allem mit der Verbesserung der individuellen Gesundheit. Die Gesundheitswissenschaften im engeren Sinn befassen sich dagegen gezielt mit der Verbesserung der Gesundheit, der gesundheitsfördernden Veränderung von Lebensbedingungen und der Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Das ist das Feld von ›Public Health‹. Gesundheitswissenschaften sind grundsätzlich an der Anwendung ihrer Erkenntnisse in der Praxis ausgerichtet.

In dem vorliegenden Buch wird der Begriff Gesundheitswissenschaft bewusst im Singular benutzt, weil nicht die Beiträge der einzelnen Wissenschaften (wie Gesundheitssoziologie, Gesundheitsökonomie etc.) dargestellt werden sollen, sondern versucht wird, ihre wichtigsten Elemente zu einer Wissenschaft von der Entstehung von Gesundheit zu integrieren. Dazu wird vorgeschlagen, das Modell der Salutogenese als integrierendes theoretisches Modell zu betrachten, da es versucht, genau die Frage zu beantworten, die die Gesundheitswissenschaft begründet hat. Es ist, trotz kontroverser Diskussionen, in vielen Punkten weitgehend konsensfähig und zumindest bisher nicht durch neue Erkenntnisse überholt.

Das Modell der Salutogenese versucht die Frage zu beantworten, wie trotz allgemein widriger Umstände Gesundheit, genauer: Gesundsein, entstehen kann. Das einführende Kapitel erläutert, weshalb dieses Modell als theoretischer Rahmen geeignet sein könnte und was seine Kernelemente sind. Am Beispiel des Modells soll auch deutlich werden, dass Wissenschaft immer auch in einen historischen Kontext eingebunden ist.

Die Kapitel zwei bis fünf diskutieren jeweils den Erkenntnisstand zu den Kernelementen des Konzeptes: Was ist Gesundheit? Was sind Widerstandsressourcen und Widerstandsdefizite? Was sind Schutzfaktoren? Was ist Gesundheitshandeln und wie hängt dieses mit Bewältigungsstrategien zusammen? Das sechste Kapitel wirft einen Blick auf die Anwendung der Gesundheitswissenschaft in der Gesundheitsförderung und entwirft abschließend fünf Thesen für die künftige Entwicklung einer Praxis der Gesundheitsförderung.

Für die sechste Auflage wurde das Buch aktualisiert und in den Unterkapiteln teils neu strukturiert.

Wir hoffen damit Studierenden einer großen Vielfalt von Studiengängen auf Bachelor- und Masterebene, Spezialistinnen und Generalisten, einen Orientierungsrahmen in der Gesundheitswissenschaft bieten und Anregungen für die eigene Recherche nach dem jeweils neuesten Erkenntnisstand zu den aufgeworfenen Fragen geben zu können.

Beate Blättner und Heiko Waller

Fulda und Berlin, im April 2018

1          Entstehung von Gesundheit

 

 

1.1       Vorschlag für ein integrierendes theoretisches Modell

1.1.1     Gegenstand der Gesundheitswissenschaft

Der Einführung in eine Wissenschaftsdisziplin ein theoretisches Modell als Vorschlag für ein integrierendes Konzept zugrunde legen zu wollen, bedarf einer Begründung. Für ein Lehrbuch liegt eine didaktische Erklärung nahe: Der Überblick über ein Gebiet könnte sich Leserinnen und Lesern vielleicht leichter erschließen, wenn er über ein grundlegendes, theoretisches Modell mit integrierender Kraft hergestellt wird und sich damit zu diskutierende Fragen des Forschungsgebietes in eine verbindende Struktur einfügen lassen. Dieser didaktische Kniff ist aber nur dann machbar, wenn die Eigenart des Fachs selbst und sein Entwicklungsstand dies zulassen.

Von den Gesundheitswissenschaften, im Plural, wird dann gesprochen, wenn die Beiträge einzelner Wissenschaften zu einer bevölkerungsbezogenen Sicht auf Gesundheit gemeint sind, oder auch dann, wenn die Gesamtheit aller Fachgebiete bezeichnet werden soll, die sich mit Fragen von Gesundheit und Krankheit befassen. Sehr unterschiedliche Wissenschaftsgebiete wie die Medizin, die Pflegewissenschaft, die Epidemiologie, die Gesundheitsökonomie, die Gesundheitssoziologie oder die Gesundheitspsychologie liefern dafür Beiträge. Hierfür ein integrierendes theoretisches Modell vorschlagen zu wollen, wäre vermessen. In Abgrenzung zu den Gesundheitswissenschaften von einer Gesundheitswissenschaft, im Singular, zu sprechen zeigt, dass es demgegenüber um ein eher eingegrenztes Gebiet geht. Für ein eingegrenztes Gebiet erscheint ein grundlegendes theoretisches Modell zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr völlig ausgeschlossen.

Das Modell der Salutogenese, der Entstehung von Gesundheit von Aaron Antonovsky (1979) warf eine Frage auf, deren Beantwortung es überhaupt erst ermöglicht hat, eine Gesundheitswissenschaft entwickeln zu wollen, die sich in ihrem Gegenstand und ihren Zielen von anderen unterscheidet. So ist es etwa für die Medizin wichtig, nach der Entstehung von Krankheit, und vor allem: von einzelnen Krankheiten, zu fragen, um auf der Basis von geeigneten Theorien Konzepte zu ihrer Behandlung entwickeln und empirisch überprüfen zu können. Für die Epidemiologie ist dagegen wichtig, nach der Art der Verbreitung einzelner Krankheiten und dafür begünstigenden Faktoren zu fragen, um Konzepte der Vermeidung oder Eindämmung der Ausbreitung entwickeln zu können. Nicht alle Wissenschaftsgebiete beabsichtigen, mit den Fragen, die sie beantworten, konkrete Lösungen für die Praxis zu finden. So kann es etwa als das Ziel der Soziologie verstanden werden, soziales Handeln deutend zu verstehen, nicht darauf Einfluss nehmen zu wollen. Der Beitrag der Gesundheitssoziologie zu den Gesundheitswissenschaften wäre z. B. die Analyse, was in einer Gesellschaft als Gesundheit gilt (Kreher 2003, S. 325).

Die Gesundheitswissenschaft gehört zu den Wissenschaftsgebieten, die durchaus eine Anwendung ihrer Erkenntnisse beabsichtigen: Die Frage nach der Entstehung von Gesundheit soll ermöglichen, empirisch fundierte Theorien darüber zu generieren, mit welchen individuellen und mit welchen bevölkerungsbezogenen Interventionen Gesundheit erhalten oder verbessert werden kann. Das muss Fragen nach der Prävention einzelner Erkrankungen nicht ausschließen; diese stehen aber nicht im Zentrum.

Während verschiedene Krankheiten auf unterschiedlichen Wegen entstehen können, verfügen Menschen sprachlich nur über eine Gesundheit. Das gilt, obwohl sich Menschen in der Wahrnehmung ihres Gesundseins voneinander unterscheiden können und Gesundheit nicht einheitlich definiert ist. Die Frage nach der Entstehung von Gesundheit ist Grundlage für die Gesundheitswissenschaft. Gesundheitswissenschaft kann sich entsprechend in der Betrachtung von Teilaspekten ihrer Kernfrage und in unterschiedlichen möglichen Antworten ausdifferenzieren, nicht aber schon in der Beantwortung für verschiedene Arten von ›Gesundheiten‹. Gesundheitswissenschaft generiert sich dadurch, dass sie Modelle der Entstehung von Gesundheit entwickelt, empirisch überprüft und versucht, verschiedene theoretische Beiträge in ein schlüssiges Modell zu integrieren.

Antonovsky beschreibt den Weg seiner wissenschaftlichen Arbeit bis zur Ausbildung der Kernfrage der Gesundheitswissenschaft als eine Entwicklung in mehreren Schritten: »In meinem Vortrag […] behauptete ich, dass es zwei gesonderte Probleme zu untersuchen gelte; das eine Problem war das der Untersucher, die vom Interesse an einem bestimmten Krankheitsbild geleitet, retrospektiv forschten. Die Sozialwissenschaftler konzentrierten sich auf psychosoziale Faktoren. Aber einige von uns, und besonders ich, waren interessiert an den Krankheitsfolgen psychosozialer Faktoren, welchen Ausdruck auch immer diese Folgen annahmen. Ich schlug vor, dieses Problem die Erforschung des dis-ease zu nennen« (Antonovsky 1991, S. 119).

Weiter heißt es bei Antonovsky: »1968 war mir klar geworden, dass ich mich für dis-ease und nicht für diseases interessierte. Ich benötigte aber fast weitere zehn Jahre, in denen mir zunehmend die Allgegenwart von Stressoren und die Bedeutung von Widerstandsressourcen bewusst wurde, um den nächsten Schritt zu gehen. […] Ich hatte mich früher gefragt: ›Was macht die Leute krank?‹ Aber jetzt unternahm ich einen weiteren entscheidenden Schritt; es ging nicht nur darum, die Frage einfach umzudrehen: ›Was macht die Leute gesund?‹, sondern ich schlug vielmehr vor zu fragen: ›Was rückt die Leute in Richtung auf das gesunde Ende des Health-ease/dis-ease-Kontinuums?‹ Ich benötigte einen neuen Terminus für diese Denkweise und prägte so den Begriff ›Salutogenese‹«(Antonovsky 1991, S. 121f.).

›Genesis‹ bedeutet im Griechischen ›Entstehung‹, ›Ursprung‹. Im neunzehnten Jahrhundert wurde dieses Wort als ›Genese‹ eingedeutscht und findet sich z. B. im Begriff ›Pathogenese‹ (Entstehung von Krankheit) wieder. Das lateinische Wort ›salus‹ bedeutet ›Wohlbefinden‹, ›Gesundheit‹. ›Salutogenese‹ lässt sich entsprechend mit ›Ursprung der Gesundheit‹ oder ›Entstehung von Wohlbefinden‹ übersetzen.

Mit der von Antonovsky aufgeworfenen Frage nach der Genese der Gesundheit ist eine grundlegende Änderung des Blickwinkels auf ein wissenschaftliches Feld impliziert, nicht einfach nur ein neues theoretisches Modell eingeführt. Eine solche grundlegende Änderung entsteht meist dann, wenn Erkenntnisse generiert wurden, nach denen sich bis dato gültige Erklärungsmuster wissenschaftlich nicht mehr halten lassen. Dies führt in Regel nicht zur Ausgründung einer neuen Wissenschaftsdisziplin, sondern zu einem neuen, anfangs umstrittenen Konsens innerhalb der alten Disziplin.

In der Gesundheitswissenschaft ist die neuartige Erkenntnis die, dass Stressoren nicht schon durch ihre Art bestimmen, welche Auswirkungen sie auf die Gesundheit haben. Durch diese Einsicht sind die Fragestellungen von Therapiewissenschaften, wie der Medizin, nicht überflüssig geworden. Solche Fragestellungen werden durch einen neuen Blickwinkel ergänzt, keineswegs ersetzt. Sind die Therapiewissenschaften in ihrer Methodik im Kern von der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin bestimmt, so erfordert der neue, ergänzende Blickwinkel der Gesundheitswissenschaft, auf Methoden und Erkenntnisse unterschiedlicher, teils medizinferner, eher sozialwissenschaftlicher Wissenschaftstraditionen zurückgreifen zu können. Nur deshalb entstand mit einer neuen Fragerichtung ein neues Wissenschaftsgebiet, das in seinem Ansatz interdisziplinär ist.

Die vorläufige Definition des Gegenstandes dieses Buches kann also lauten: Gesundheitswissenschaftbefasstsich mit der Genese von Gesundheit. Sie beantwortet damit die Frage, die Antonovsky mit seinem theoretischen Modell aufgeworfen hat. Nur deshalb ist der didaktische Kniff möglich, sein theoretisches Modell als möglicherweise integrierendes Konzept in einem Lehrbuch allen weiteren Fragen voranzustellen.

Gesundheitswissenschaft ergänzt die Sichtweisen und Fragestellungen anderer Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit Fragen zu Themen von Gesundheit, Krankheit und Gesundheitsversorgung befassen. Da sehr unterschiedliche Faktoren zur Genese von Gesundheit beitragen, leisten auch unterschiedliche Wissenschaftsrichtungen einen möglichen Beitrag zur Gesundheitswissenschaft.

Es ist allerdings keineswegs so, dass die Antworten, die Antonovsky auf seine Frage gefunden hat, durchweg akzeptiert werden. Der aktuelle Forschungsstand zum theoretischen Modell der Salutogenese wird im Kapitel »Stand der Erkenntnis« ( Kap. 1.3) dargestellt, auch die Einwände einiger Theoretiker. Weitgehender Konsens ist aber, dass die Komponenten des Modells relevante Forschungsgebiete der Gesundheitswissenschaft sind. Diese Komponenten werden in den Kapiteln »Gesundheits- und Krankheitskonzepte«, »Gesundheitsressourcen und -risiken«, »Vulnerabilität und Schutzfaktoren« sowie »Gesundheitshandeln als Bewältigungsstrategie« ausführlich diskutiert ( Kap. 2,  Kap. 3,  Kap. 4,  Kap. 5). Im Folgenden geht es zunächst darum, die Komponenten zu benennen und ihren Bezug zueinander zu beschreiben.

1.1.2     Elemente des Modells der Salutogenese

Eine Unterscheidung der Frage nach der Entstehung von Gesundheit von der Frage nach der Entstehung von Krankheiten macht nur unter zwei Voraussetzungen Sinn:

1.  Gesundheit wird nicht einfach als das Gegenteil von Krankheit, als die Abwesenheit von Krankheiten, betrachtet, sondern ihr wird eine eigenständige Qualität zugesagt. Gesundheit wird als etwas gedacht, was unabhängig vom Krankheitsstatus steht. Gesundheit ist nicht die Vorstufe eines Krankheitsverlaufes, der im ungünstigen Fall zum Tod oder zum chronischen Siechtum führt, auch nicht der Zustand, der im günstigen Fall nach dem Abheilen einer Erkrankung wieder erreicht werden kann. Gesundheit muss in jedem Moment einer Lebensgeschichte mehr oder weniger vorhanden sein können. Gesundheit und Krankheit sind damit keine dichotomen Gegensätze, sondern eher Endpunkte eines Kontinuums, auf dem wir uns hin und her bewegen, solange wir leben. »Wir sind alle sterblich. Ebenso sind wir alle, solange ein Hauch von Leben in uns ist, in einem gewissen Ausmaß gesund. Der salutogenetische Ansatz sieht vor, dass wir die Position jeder Person auf diesem Kontinuum zu jedem beliebigen Zeitpunkt untersuchen« (Antonovsky 1997, S. 23).

2.  Gesundheit kann nicht einfach als der Normalzustand des Lebens von Menschen betrachtet werden. Dann nämlich wäre nur die Abweichung vom Normalzustand, Krankheit, erklärungsbedürftig. Hinter dem Modell von Aaron Antonovsky steht vielmehr die Einsicht, dass das Leben voller widriger Umstände ist, voller potenziell destruktiver Einflussfaktoren, die die Gesundheit bedrohen und es wahrscheinlicher erscheinen lassen, dass Menschen nicht gesund sind. Antonovsky spricht hier von der Omnipräsenz von Stressoren (1997, S. 16) und von der grundsätzlichen »Annahme von Heterostase, Unordnung und ständigem Druck in Richtung auf zunehmende Entropie« (1997, S. 22).

»Die Forschung zu life events oder Stressoren tendiert zu der Unterstellung, im Allgemeinen sei das Menschenleben stabil, ereignislos und ausgeglichen, größere Streßfaktoren seien relativ selten. Wenn sie doch einmal vorkämen, hätten sie entscheidende Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen. Diese in der Tradition Parsons stehende Interpretation der sozialen Existenz ist meiner Meinung nach eine weniger angemessene Sichtweise als die, die das Leben als turbulent, konfliktreich oder, vereinfacht durch das Prisma von Murphys Gesetz (Sinngemäß: Alles was schiefgehen kann, geht auch irgendwann einmal schief) betrachtet« (Antonovsky 1991, S. 115).

Dieses Weltbild mag pessimistisch erscheinen, nimmt aber zur Kenntnis, dass destruktive Prozesse, Krankheit und Tod, Bestandteil des Lebens sind, vermutlich nicht durchweg vermeidbar und nicht zum Beispiel eine Frage individueller Schuld.

Die historische Situation, in der Antonovsky ein solches Weltbild entwickelt hat, wird im Kapitel «Historischer und wissenschaftlicher Kontext« ( Kap. 1.2) genauer beschrieben. Hier sei nur kurz angedeutet, dass diese Auffassung mit biologischen Theorien zu dem, was lebende Systeme eigentlich ausmacht, durchaus übereinstimmt (vgl. Maturana und Varela 2009). Lebende Systeme benötigen Energie, um den Zustand der Ordnung, der Struktur, die sie prägt, aufrechtzuerhalten. Antonovsky selbst bezeichnet seine frühen Publikationen als »von der Systemtheorie und dem Begriffspaar Ordnung/Unordnung« (Antonovsky 1991, S. 127) geprägt.

Gesundsein

In diesem Buch wird aus sprachlichen Gründen der Begriff ›Gesundsein/Kranksein-Kontinuum‹ benutzt. Gemeint ist damit immer auch subjektives Empfinden, das durch persönliche Wahrnehmung und auf sich selbst bezogenes Wissen entsteht, etwa Wissen über Risiken oder über die Diagnose einer Krankheit. Krankheit und Gesundheit sind sprachlich eigenständige Objekte, Gesundsein und Kranksein benötigen immer ein Subjekt, das diese Erfahrung macht, und genau darum geht es bei der Salutogenese. Es wird später noch zu sehen sein, dass es gute Gründe gibt, die Begriffe subjektive Gesundheit, Wohlbefinden, gesundheitsbezogene Lebensqualität und ›health ease‹ gleich zu setzen ( Kap. 2.3.4). ›Gesundsein‹ versucht sprachlich die Komponenten Gesundheit und Wohlbefinden zu integrieren.

Um der Idee der ›Gesundheitsfolgen psychosozialer Faktoren‹ zu entsprechen, muss noch hinzugefügt werden, dass es primär um das subjektive Empfinden als Folge einwirkender, sozial verursachter oder immer auch mit sozialen Folgen verbundener, Faktoren geht. Es sind nicht alleine psychosoziale Faktoren, die den aktuellen Stand einer Person auf dem Gesundsein/Kranksein-Kontinuum bestimmen, aber alle Faktoren, egal ob sie der körperlichen Konstitution, der biochemischen Umwelt, mentalen Prozessen oder sozialen Interaktionen entspringen, sind immer auch mit sozialen Prozessen verbunden. Gesundsein repräsentiert eine subjektive Erfahrung, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext und in einem bestimmten persönlichen Lebenskontext, der von gesellschaftlichen Entwicklungen geprägt ist, gemacht wird. Es ist eine Erfahrung, die in bestimmten Lebensbedingungen stattfindet, und nicht ohne diese betrachtet werden kann. Antonovsky war zuallererst Soziologe und betrachtete Menschen nie ohne ihren gesellschaftlichen Kontext.

Abb. 1.1: Kontinuum zwischen Wohlbefinden und Unwohlsein, zwischen persönlichem Erleben von Gesundsein und Kranksein

Die weiter oben genannte Definition kann jetzt entsprechend präzisiert werden: Gesundheitswissenschaft befasst sich mit der Genese von Gesundsein. Dazu untersucht sie, an welchem Punkt auf dem Gesundsein/Kranksein-Kontinuum sich eine Person befindet und wie dies mit ihren Lebensbedingungen in Verbindung steht.

Das Konzept von Gesundsein als Teil eines Kontinuums von Wohlbefinden und Unwohlsein, von Gesund- und Kranksein, in einer Welt voller potenziell destruktiver Prozesse ist der erste Baustein im Verständnis des Modells der Salutogenese ( Abb. 1.1). Gesundheitskonzepte sind damit ein erstes Kapitel der gesundheitswissenschaftlichen Grundlagen ( Kap. 2). Für die Gesundheitswissenschaft ist es wichtig zu wissen, wie der Gegenstand ›Gesundheit‹ bzw. ›Gesundsein‹, das Ziel der Interventionen, verstanden werden kann, wie die Wissenschaft dies definieren kann und wie Menschen den Begriff Gesundheit/Gesundsein in ihrem Alltag konzeptualisieren.

Widerstandsressourcen

Alltagssprachlich werden unterschiedliche Einflussfaktoren, die das Wohlbefinden beeinflussen, als Stress bezeichnet. Zu erwarten wäre deshalb, dass Stressoren in ihrem ungünstigen Einfluss auf das Wohlbefindens-Kontinuum betrachtet und Bemühungen unternommen werden zu erforschen, wie sie reduziert werden können. Stressoren sind in der Sicht von Antonovsky aber omnipotent, überall wirkend und lassen sich nicht generell vermeiden. Stressoren sind Reize, die potenziell auf das Gesundsein einwirken. Wie sie das tun, ist zunächst offen.

»Das Kernstück der salutogenetischen Orientierung ist die grundlegende philosophische Sichtweise, dass der menschliche Organismus sich prototypisch in einem dynamischen Zustand eines heterostatischen Ungleichgewichts befindet. Ob die Stressoren nun aus der inneren oder äußeren Umgebung stammen, ob es sich um alltägliche Widrigkeiten handelt, ob sie akut, chronisch oder endemisch sind, ob sie uns aufgezwungen werden oder wir sie frei gewählt haben, unser Leben ist reichlich mit Reizen angefüllt, auf die wir keine automatischen, angemessen adaptiven Antworten haben und auf die wir reagieren müssen. Solange nicht Sensoren zerstört worden sind, ist die Botschaft an das Gehirn klar: Du hast ein Problem« (Antonovsky 1997, S. 124f.).

Antonovsky formuliert die These, dass es, mit Ausnahme einiger sehr direkt destruktiver Stressoren, nicht die Stressoren selbst sind, die ihre Wirkung auf Wohlbefinden oder Gesundheit bestimmen. Stressoren entfalten seinem Modell nach vielmehr einen Spannungszustand, der prinzipiell krankmachende, neutrale oder Gesundheit fördernde Wirkung erzeugen kann.

Um zu verstehen, was primär über die Richtung der Wirkung von Stressoren entscheidet, ist es zunächst notwendig, sich mit einem zweiten Baustein des Modells, einem weiteren Kontinuum zu befassen. Antonovsky spricht hier von ›Generalisierten Widerstandsressourcen‹, englisch: ›general resistance resources‹ (GRR), auf der einen Seite des Kontinuums und ›Generalisierten Widerstandsdefiziten‹, ›general resistance deficits‹ (GRD), auf der anderen Seite ( Abb. 1.2). Weshalb Antonovsky diese Begriffe wählt und wie sie in den damaligen Stand der Stressforschung einzuordnen sind, ist im Kapitel «Historischer und wissenschaftlicher Kontext« ( Kap. 1.2) nachzulesen.

Abb. 1.2: Kontinuum zwischen Generalisierten Widerstandsressourcen (GRR) und Generalisierten Widerstandsdefiziten (GRD) als Einflussfaktor auf das Gesundsein/Kranksein-Kontinuum

Dieses Widerstands-Kontinuum umfasst chronische Stressoren, d. h. Lebensbedingungen, denen wir dauerhaft ausgesetzt sind, wichtige Lebensereignisse und die akuten, täglichen kleinen Ärgernisse. Auch hier gilt: Kein Mensch hat Zeit seines Lebens nur Ressourcen oder nur Risiken, allerdings wird sich später zeigen, dass ihre Verteilung keineswegs sozial gerecht erfolgt.

Wo eine Person auf dem Gesundsein/Kranksein-Kontinuum anzusiedeln ist, kann als Ergebnis eines interaktiven Prozesses zwischen belastenden Faktoren (Stressoren) und schützenden Faktoren (Widerstandsressourcen) im Kontext der Lebenserfahrungen einer Person beschrieben werden. Zu den belastenden Faktoren zählt Antonovsky die ganze Palette potenzieller psychosozialer, physischer und biochemischer Stressoren. Zu den Widerstandsressourcen rechnet Antonovsky ebenfalls umfassend körperliche, psychische, materielle, soziale, kulturelle und makrostrukturelle Faktoren.

Ob solche Lebensbedingungen und Lebensereignisse grundsätzlich positiv oder negativ wahrgenommen werden, besagt zunächst noch nichts über ihren prinzipiellen Stressgehalt. So haben beispielsweise Holmes und Rahe (1967) sehr unterschiedliche Lebensereignisse wie Scheidung oder Heirat, Tod eines Angehörigen oder Geburt eines Kindes, Karrieresprung oder Pensionierung als Stress erzeugende Lebensereignisse charakterisiert. Widerstandsressourcen und -defizite können innere und äußere Faktoren sein, so unterschiedliche Dinge wie z. B. die Stärke des Immunsystems oder die genetische Belastung, Wissen und Intelligenz, Reichtum oder Ich-Stärke, soziale Unterstützung oder Umweltbelastungen wie Lärm oder Feinstaub, kulturelle Stabilität, religiöse Überzeugungen und grundlegende Lebenseinstellungen. Das Kapitel »Gesundheitsressourcen und -risiken« ( Kap. 3) wird sich ausführlicher mit solchen Ressourcen und Risiken befassen.

Für Antonovsky ist das GRR/GRD-Kontinuum nicht einfach nur eine Ansammlung von Stressoren und ggf. unterstützenden Faktoren, sondern es lässt sich danach ordnen, inwieweit diese Ressourcen und Defizite dazu beitragen, im Leben

•  Erfahrungen der Teilhabe an der Gestaltung sozial anerkannter Aktivitäten (›participation in shaping outcome‹),

•  Erfahrungen der Beständigkeit und der Übereinstimmung (›consistency‹) und

•  Erfahrungen einer Balance zwischen Anforderungen und Ressourcen zu ihrer Bewältigung, eines Gleichgewichts zwischen Überbelastung und Unterforderung

zu sammeln oder dies eben nicht zu tun. Jemand der im Kontinuum stärker auf der Seite der Widerstandsressourcen seht, wird viele solcher Erfahrungen sammeln können, jemand der auf der anderen Seite steht, wenige.

Kohärenzempfinden

Solche Erfahrungen sind deswegen von so hoher Bedeutung, weil sie ursächlich für eine grundlegende Lebensorientierung sind, die im Laufe der Sozialisation eines Menschen entsteht, das Empfinden von Kohärenz (›Sense of coherence‹ – SOC). Dieses Kohärenzempfinden ist der dritte Baustein des theoretischen Modells. Es ist der Schutzfaktor, der verhindert, dass Stressoren negative Auswirkungen auf das Gesundsein/Kranksein-Kontinuum haben. Im Kapitel «Vulnerabilität und Schutzfaktoren« ( Kap. 4) werden unterschiedliche Schutzfaktoren, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zum Kohärenzempfinden, beschrieben.

Das Empfinden von Kohärenz umfasst drei Komponenten, die jeweils ursächlich auf eine der drei oben genannten Lebenserfahrungen zurückgehen.

•  Die wichtigste Komponente ist die Bedeutsamkeit oder Sinnhaftigkeit (›meaningfulness‹), die auf die Lebenserfahrung der Teilhabe zurückgeht. Sinnhaftigkeit stellt das motivationale Moment dar und bezieht sich auf das Ausmaß, in dem ein Leben emotional Sinn macht, das heißt indem die Probleme und Anforderungen des Lebens als solche erlebt werden, für die es sich einzusetzen lohnt.

•  Die zweite Komponente ist die der Verstehbarkeit (›comprehensibility‹), die nicht durch Information, sondern durch die Erfahrungen der Beständigkeit gestärkt wird. Verstehbarkeit umschreibt das Ausmaß, in dem die Reize und Situationen, mit denen man alltäglich konfrontiert wird, Sinn machen und kognitiv als klare, geordnete Informationen verstanden werden können. Verstehbarkeit ist dabei in der Regel Voraussetzung für eine dauerhafte Handhabbarkeit. Verstehbarkeit ist die kognitive Komponente.

•  Die dritte Komponente schließlich ist die der Handhabbarkeit (›manageability‹), die durch die Erfahrung entsteht, hinreichend über Ressourcen verfügen zu können, um den Anforderungen gerecht zu werden, die einem das Leben stellt. Handhabbarkeit meint das Ausmaß, in dem man die Anforderungen, die auf einen zukommen, mit den verfügbaren Ressourcen als bewältigbar wahrnimmt. Handhabbarkeit ist die instrumentelle Komponente.

Antonovsky zählt diese Komponenten nicht in der Reihenfolge ihrer Bedeutung auf, sondern eher in der Reihenfolge eines möglichen Entscheidungsprozesses:

»Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass

1.  die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;

2.  einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;

3.  diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen« (Antonovsky 1997, S. 36).

Damit kann der dritte Baustein in das Modell eingefügt werden ( Abb. 1.3), das Kohärenzempfinden (SOC). Es entsteht aus dem GRR/GRD-Kontinuum und wirkt auf das Gesundsein/Kranksein-Kontinuum. Ein hohes SOC resultiert aus vielen Widerstandsressourcen und führt zu hohem Wohlbefinden, lässt sich vereinfacht sagen. Wie das erfolgt, ist später noch zu klären.

Abb. 1.3: Das Kohärenzempfinden (SOC) entsteht aus dem GRR/GRD-Kontinuum und wirkt auf das Gesundsein/Kranksein-Kontinuum

Das Empfinden von Kohärenz ist der Teil des Modells, der in der Gesundheitswissenschaft am stärksten umstritten ist und am meisten mit dem Modell der Salutogenese in Verbindung gebracht wird. Im Kapitel »Vulnerabilität und Schutzfaktoren« ( Kap. 4) werden auch Alternativen zu diesem Konstrukt angesprochen.

Ein Punkt, der erfahrungsgemäß zu unterschiedlichen Interpretationen führt, weil Antonovsky selbst sich in diesem Punkt scheinbar widersprüchlich ausdrückt, soll noch angesprochen sein: Ist das SOC ab dem Lebensalter von 30 noch veränderbar? Das Empfinden von Kohärenz ist kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern entsteht aus Lebenserfahrungen, die wesentlich von den konkreten Lebensbedingungen geprägt sind. Solange sich solche Lebenserfahrungen neu entwickeln, ist der SOC auch veränderbar, d. h. bis in das hohe Alter. Allerdings ist es so, dass im Laufe der Entwicklung eines Menschen, seiner Sozialisation, grundlegende Veränderungen tendenziell unwahrscheinlicher werden. Neue Erfahrungen werden, zumindest bei grundlegend gleichbleibenden äußeren Lebensbedingungen, auf der Basis bisheriger Erfahrungen gemacht. Ganz grundsätzliche Veränderungen werden zunehmend unwahrscheinlicher, sind aber nie ausgeschlossen. Im Alter von etwa 30 ist ein Mensch erwachsen, hat vielleicht seinen Platz im Leben gefunden. Die Veränderungschancen für ein Neugeborenes sind höher. Aber solange neue Erfahrungen hinzukommen, gibt es auch grundsätzliche Möglichkeiten der Veränderung, jedenfalls dann, wenn die Veränderungen weitreichend und nicht nur kurzfristiger Art sind. Ein guter Rat, ein besuchter Kurs oder eine Kurzzeittherapie werden nicht grundsätzliche Veränderungen herbeiführen.

Antonovsky (1997, S. 37) schreibt der Zusammensetzung der einzelnen Komponenten des SOC die wahrscheinliche Dynamik der Veränderung zu. Ist die Komponente der Bedeutsamkeit im SOC hoch, sieht jemand demnach Sinn in seinem Leben und seinem Handeln, so wird die Tendenz zur Steigerung des SOCs oder seiner Stabilität bestehen. Ist die Komponente Bedeutsamkeit aber niedrig, so ist die Tendenz eher negativ, oder auf sehr niedrigem Niveau stabil. Damit haben die Erfahrungen der Teilhabe an der Gestaltung sozial anerkannter Aktivitäten unter den Widerstandsressourcen eine besondere Bedeutung.

Bewältigungsstrategien

Um nun die Wirkung des SOCs zu verstehen, muss das vierte Element in das Modell eingebaut werden ( Abb. 1.4), die Strategien der Bewältigung, das Coping, wohl gemerkt Bewältigungsstrategien des Lebens und nicht nur Bewältigung einer Erkrankung. In der Ausformulierung dieses Konzept schließt Antonovsky weitgehend an die Arbeiten des Stressforschers Richard S. Lazarus (1966) an. Neu ist im Wesentlichen seine Einordnung in das Gesamtkonzept und die grundsätzliche Sicht, dass Stressoren auch positive Wirkungen haben können. Bewältigungsstrategien entscheiden über die krank machende, neutrale oder das Wohlbefinden fördernde Wirkung von Stressoren. Das Kohärenzempfinden wirkt auf die Wahl der Bewältigungsstrategien und zugleich auch darauf, ob vorhandene Widerstandsressourcen aktiviert werden. Daneben scheint es auch einen unmittelbaren Einfluss auf das Gesundsein/Kranksein-Kontinuum zu haben.

Abb. 1.4: Bewältigungsstrategien als vermittelndes Element, Lebensbedingungen als Basis des gesamten Modells

Antonovsky nimmt an, dass sich das Kohärenzempfinden im Laufe der Kindheit und des Jugendalters entwickelt. Erst im frühen Erwachsenenalter soll es zu einem gefestigten Kohärenzsinn kommen. Nach Antonovsky unterscheidet sich der Kohärenzsinn von den klassischen stabilen Persönlichkeitseigenschaften dadurch, dass er erst in Belastungssituationen zur Geltung kommt. Er korreliert mit anderen Merkmalen seelischer Gesundheit – wie Optimismus und Widerstandsfähigkeit.

Lebensbedingungen sind dabei die Basis des gesamten Konzeptes:

•  Lebensbedingungen entscheiden über die Widerstandsressourcen und -defizite. Sie entscheiden damit auch über die Wahrscheinlichkeit, Lebenserfahrungen machen zu können, die ein hohes SOC ausbilden.

•  Lebensbedingungen entscheiden darüber, welche Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. So ist es zum Beispiel für eine von ihrem Mann misshandelte Frau ein großer Unterschied in der Wahl ihrer Strategien, ob sie in einer Kultur lebt, die Gewalt gegen Frauen ächtet, oder in einer, in der die Züchtigung der Ehefrauen als Recht jeden Mannes gilt.

Lebensbedingungen entscheiden letztlich auch darüber, was wir selbst als gesund empfinden.

Was passiert im Schritt der Bewältigung und wieso ist hier das Empfinden von Kohärenz so relevant? Vereinfacht formuliert, erfolgen in der Bewältigung eines Stressreizes eine Reihe von Bewertungen, die nur zur theoretischen Klärung als nacheinander ablaufend beschrieben werden.

Im ersten Schritt geht es um die Bewertungen eines Reizes (primäre Bewertung), die darüber entscheidet, ob ein Reiz einen Spannungszustand erzeugt. Der erste Teilschritt ist die Bewertung eines eingehenden Reizes als Stressor oder Nicht-Stressor, d. h. die Bewertung, ob hinreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, um auf den Reiz zu reagieren, so dass keine Spannung entsteht: Es wird kühl, die Person zieht einen Pullover über, ein Spannungszustand entsteht nicht, solange sie etwas Wärmendes anziehen kann. Es wird in der Sonne zu warm, die Person kann in den kühleren Schatten gehen. Ein Spannungszustand entsteht erst dann, wenn z. B. ein körperlich immobiler älterer Mensch im festgestellten Rollstuhl hinter der besonnten Glasscheibe sitzt. Es wird warm, er kann den Ort aber nicht von sich aus verlassen. Spannung zwischen seinem Willen, aus der Wärme zu gehen, und der mangelnden Ressource, dies zu bewältigen, entsteht.

Antonovsky (1997, S. 126) vermutet, dass jemand mit einem hohen SOC Reize eher als Nicht-Stressoren bewerten wird als jemand mit einem niedrigen SOC. Das mag daran liegen, dass er die Erfahrung gemacht hat, über ausreichend Ressourcen zu verfügen. Das Beispiel zeigt allerdings, dass der SOC alleine nicht in allen Situationen ausreichend sein wird, um zu einer solchen Bewertung zu kommen. Zwar mag eine Person mit einem hohen SOC eher Vertrauen haben, dass in Kürze jemand vorbeikommen und den Rollstuhl aus der Hitze schieben wird, die Erfahrung, dass dies im Pflegeheim vielleicht nicht so ist, kann aber umgekehrt wieder zur Schwächung des SOCs beitragen.

Der zweite Teilschritt ist die Bewertung des Reizes als für das eigene Wohlbefinden bedrohlich, günstig oder irrelevant. Die Wärme hinter der Glasscheibe wird erst dann zum Stressor, wenn sie zugleich die Bewertung als ›zu warm‹, d. h. als nicht mehr zuträglich erfolgt. Prinzipiell ist bis zu einem bestimmten Punkt aber noch die Interpretation möglich: Es ist zwar sehr warm und man kann den Ort nicht aus eigener Kraft verlassen, aber schwitzen kann ja ganz schön sein, wenn man die Gelassenheit mitbringt, die Situation so zu ertragen.

Auch hier nimmt Antonovsky an, dass ein Mensch mit einem hohen SOC den Stressor eher als günstig oder irrelevant bewerten wird, als jemand mit einem niedrigen SOC. Die Person mit dem hohen SOC wird eher darauf vertrauen, dass auch dieses Mal, wie in der Vergangenheit, alles gut gehen wird. Antonovsky zieht hier die Verbindung zum Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung von Bandura (1977) ( Kap. 5).

Auch wenn Antonovsky davon ausgeht, dass bei Personen mit einem hohen SOC aufgrund der Bewertungen, die sie vor dem Hintergrund ihrer Lebenserfahrungen vornehmen, Reize seltener zu Spannungszuständen führen, meint er damit nicht, Spannungen können nicht mehr entstehen. Er meint auch nicht, dass Spannungen durch mentale Neubewertungen umgedeutet werden könnten. Er geht lediglich davon aus, dass einige Situationen bei hohem SOC nicht zu Spannungen führen müssen, weil das Vertrauen in die vorhandenen Ressourcen entsprechend groß sein kann. In anderen Situationen geht dies auch bei hohen SOC nicht, z. B. dann, wenn die Stressoren unmittelbar destruktive Wirkung haben.

Entsteht aufgrund der Bewertung des Reizes ein Spannungszustand, so geht es im zweiten Schritt darum, eine Strategie zur Bewältigung der Spannung zu entwickeln. Hier ist die instrumentelle Lösung des Spannungszustandes zu erreichen, aber zugleich auch die Kontrolle emotionaler und physiologischer Parameter.

Antonovsky ist es hier sehr wichtig hervorzuheben, dass nicht bestimmte Coping-Stile mit einem hohen SOC verbunden sind, sondern die angemessene Auswahl der jeweils passenden Strategie aus einer Fülle von Möglichkeiten. »Die Person mit einem starken SOC wählt die bestimmte Coping-Strategie aus, die am geeignetsten scheint, mit dem Stressor umzugehen, dem sie sich gegenüber sieht« (Antonovsky 1997, S. 130). Das erfordert zunächst, eine Vielfalt an Strategien zur Auswahl zu haben.

Ein hohes SOC entscheidet mit darüber, ob die vorhandenen Ressourcen des GRR/GRD-Kontinuums aktiviert werden. Antonovsky (1997, S. 131) sieht dabei in der Bedeutsamkeit die zentrale Komponente, die dafür ausschlaggebend ist, welche Ressourcen zur Bewältigung eines Problems mobilisiert werden.

Der Kenntnisstand zu einer Verbindung von Bewältigungsstilen, Gesundheitsverhalten und Gesundheitshandeln wird im Kapitel «Gesundheitshandeln als Bewältigungsstrategie« ( Kap. 5) diskutiert. Vorweg soll aber auch hier auf unterschiedliche Interpretationen verwiesen werden, die in der Literatur zu finden sind, weil sich Antonovsky in unterschiedlichen Publikationen selbst scheinbar widerspricht. Antonovsky beschreibt einerseits einen direkten Einfluss des Kohärenzempfindens auf das Gesundheitsverhalten: »Ich möchte ausdrücklich betonen, dass der SOC einen direkten Einfluss auf den Gesundheitszustand hat, in dem er zu gesundheitsförderndem Verhalten führt« (Antonovsky 1991, S. 127) und an anderer Stelle, dass die Zusammenhänge zwischen beiden weit mittelbarer sind: »Ich behaupte nicht, dass Personen mit einem starken SOC eher solche Verhaltensweisen realisieren, die nach Datenlage gut für die Gesundheit sind – zwischen den Mahlzeiten nicht zu essen, nicht zu rauchen, regelmäßige körperliche Aktivität und so weiter […]. Diese Verhaltensweisen sind weitaus stärker durch soziostrukturelle und kulturelle Faktoren als durch die persönliche Weltsicht determiniert, und ich möchte die beiden nicht durcheinanderbringen. Es kann gut sein, dass dieselben soziokulturellen Faktoren, die die Quoten von Rauchern verringern (die Schichtzugehörigkeit zum Beispiel), auch das Entstehen eines starken SOC beeinflussen, so dass die Chancen, dass eine Person mit einem starken SOC nicht rauchen wird, größer sind. Aber man sollte die Kausalitätsrichtung nicht verzerren.

Wenn wir uns jedoch allein auf das Coping mit Stressoren konzentrieren, können wir fragen: Wer wird bei Konfrontationen mit einem akuten oder chronischen Stressor wahrscheinlicher mit unangemessenem Gesundheitsverhalten wie verstärktem Rauchen oder Trinken, Verleugnung von Symptomen oder Nichteinhalten medizinischer Maßnahmen reagieren und wer eher mit adaptivem Gesundheitsverhalten wie Reduktion von Rauchen und Trinken, Wachsamkeit gegenüber Symptomen und Ausüben von Sport? Dann würde ich sagen, dass der Vorteil in den Händen derjenigen läge, die ein starkes SOC haben« (Antonovsky 1997, S. 141f.).

Was ist nun richtig? Haben Menschen mit einem hohen SOC nach Antonovskys Auffassung ein besseres Gesundheitsverhalten oder reagieren sie nur in der Auseinandersetzung mit Stressoren günstiger? Die Auflösung gelingt, wenn das erste Zitat in seinem Zusammenhang betrachtet wird: Menschen befinden sich in ständiger Auseinandersetzung mit Stressoren und in der Art der Wahl der Bewältigungsstrategien greift immer der SOC. Das was Antonovsky mit gesundheitsförderndem Verhalten im ersten Zitat meint, lässt sich nicht einfach auf die Regel ›mehr bewegen, besser essen, nicht rauchen‹, reduzieren, sondern meint, Spannungszustände mit einer angemessenen Bewältigungsstrategie abzubauen. Menschen mit einem hohen SOC werden eher angemessene Bewältigungsstrategien wählen. Das schließt nicht aus, dass sie einen Abend mit Pommes und reichlich Bier, dazu Zigaretten rauchend, auf dem Sofa vor dem Fernseher verbringen. Dass sie zur Bewältigung des Stresses in ihrem Beruf jeden Abend diese Strategie wählen, ist bei Menschen mit niedrigem SOC aber eher wahrscheinlich als bei Menschen mit hohem SOC. Diese Diskussion wird im Kapitel «Gesundheitshandeln als Bewältigungsstrategie« ( Kap. 5) noch einmal aufgegriffen.

Zusammenfassend sind für den Soziologen Aaron Antonovsky Lebensbedingungen der selbstverständlich grundlegende Einflussfaktor auf das Wohlbefinden von Menschen. Die von ihm aufgeworfene Frage nach der Entstehung von Gesundheit, genauer dem Empfinden von Gesundsein trotz allgemein widriger Umstände, beantwortet er im Kern mit Lebenserfahrungen, die die grundlegende Lebensorientierung bestimmen. Diese Lebensorientierung beeinflusst seinem Modell nach die Entschiedenheit, mit der Menschen ihre Ressourcen aktivieren, um mit Anforderungen unterschiedlichster Art umgehen zu können, die der Situation angemessene Wahl von Bewältigungsstrategien und möglicherweise auch direkt das Wohlbefinden.

Diese grundlegende Lebensorientierung nennt Antonovsky Empfinden von Kohärenz. Er versteht sie als eine Einstellung zum Leben, die veränderbar und doch dauerhaft ist und die drei Komponenten umfasst. Um Kohärenzempfinden messen zu können, entwickelt er ein Instrument, einen Fragebogen mit 29 Items, die über eine Skala von 1 bis 7 beantwortet werden können. Die Messbarkeit des Konstrukt SOC ist Antonovsky nicht eigentlich als diagnostisches Instrument wichtig, sondern weil ein theoretisches Modell sich dadurch auszeichnet, dass es prinzipiell empirisch überprüfbar ist.

1.1.3     Die integrierende Kraft des Modells

Antonovskys theoretisches Modell ist keineswegs unumstritten. Viele Kritikpunkte setzten an dem Konstrukt SOC an. Diese Kritik und der Stand der Erforschung des theoretischen Modells werden im Kapitel «Stand und Erkenntnis« ( Kap. 1.3) behandelt. Als weitgehender Konsens kann aber betrachtet werden, dass die Frage nach der Entstehung von Gesundheit sich

1.  mit dem Gegenstand Gesundheit oder Gesundsein selbst,

2.  mit der Anwesenheit oder Abwesenheit von Stressoren, Risiken und Ressourcen,

3.  mit der Existenz möglicher Schutzfaktoren und

4.  mit den Bewältigungsstilen, den Verhaltensweisen oder dem Handeln von Menschen

befassen muss.

Die Unterschiede verschiedener theoretischer Ansätze liegen

1.  in der genauen theoretischen Beschreibung dieser vier Komponenten,

2.  in der Intensität, mit der einzelne Komponenten als wichtig erachtet werden, und

3.  in der Art und Weise, wie das Zusammenspiel der Komponenten beschrieben wird.

So kann etwa diskutiert werden, ob es zwischen Ressourcen und Schutzfaktoren einen Unterschied gibt, oder ob dies das Gleiche ist. Es muss besprochen werden, wie die Begriffe ›Verhalten‹ und ›Handeln‹ zueinander in Beziehung stehen. Es kann diskutiert werden, ob das Kontinuum von Widerstandsressourcen und Risiken das Gleiche ist wie Lebensbedingungen oder sich davon unterscheidet.

Es gibt derzeit in der Gesundheitswissenschaft kein gleichermaßen ausgearbeitetes, umfassendes und empirisch überprüftes theoretisches Modell wie das der Salutogenese. Dies rechtfertigt, das Modell als integratives Modell der Gesundheitswissenschaft vorzuschlagen und die Kontroversen zu diskutieren.

Überraschend ist dieser Konsens, trotz Kontroversen, allerdings nicht. Wer immer ein Modell der Entstehung von Gesundheit oder Krankheit entwickeln will, wird sich mit ähnlichen Komponenten befassen müssen. Es geht letztendlich um Ursachen, Wirkungen und die Art von Faktoren, die die Wirkungen beeinflussen können.

Zum Vergleich kann z. B. das erweiterte Modell der Risikofaktoren-Epidemiologie nach Gordis (2008) aufgezeichnet werden, das der Untersuchung dient, ob bestimmte Einflussfaktoren krank machen. Aus einer klar umrissenen Exposition entsteht ein Risiko, das Folgen für die Gesundheit haben kann. Solche Folgen lassen sich epidemiologisch an Mortalität, Morbidität oder Lebensqualität messen. Aus dem Risikofaktor ergeben sich noch nicht direkt die Folgen, sondern diese sind von der Suszeptibilität, der Empfänglichkeit, abhängig. Suszeptibilität lässt sich anhand von soziodemografischen Faktoren, Persönlichkeitsmerkmalen, Umwelteinflüssen oder Verhalten beschreiben. Die erlittenen gesundheitlichen Folgen haben wiederum Rückwirkungen auf die Suszeptibilität.

Neben ein solches epidemiologisches Modell lässt sich relativ mühelos ein vergleichbares Schema stellen, das zu den die Gesundheit beeinträchtigenden Faktoren immer auch Gesundheit schützende Faktoren stellt ( Abb. 1.5). Das Modell verliert dann allerdings schnell seine Eindeutigkeit von Abhängigkeiten und damit seine Berechenbarkeit, weil nicht mehr die Exposition mit einem Risikofaktor, sondern eine Kombination von Risiken und Ressourcen Ausgangspunkt des Modells ist. Dass die persönliche Gesundheits- oder Krankheitssituation zur Vulnerabilität oder zum Schutz beitragen kann, leuchtet ein. Diskutieren ließe sich allerdings, ob Bewältigungsstrategien zwischen Wirkung und Ursache stehen müssen, oder zu den Vulnerabilitäts- und Schutzfaktoren gehören. Das wiederum hängt von der genauen konzeptionellen Ausrichtung des theoretischen Modells ab. Darauf wird im Kapitel «Vulnerabilität und Schutzfaktoren« ( Kap. 4) nochmals einzugehen sein.

Abb. 1.5: Erweitertes Modell der Risikofaktoren-Epidemiologie nach Gordis (2008) neben einem Modell der Entstehung von Gesundsein/Kranksein

Betrachtet man nun Risiken und Ressourcen als GRR/GRD-Kontinuum, sieht in der Vulnerabilität das Empfinden von Kohärenz und versteht Gesundheit/Krankheit als Kontinuum, so ähnelt die Zeichnung schnell dem Modell der Salutogenese. Was gegenüber diesem fehlt, ist die lebensgeschichtliche Entstehung der Schutzfaktoren aus dem GRR/GRD-Kontinuum.

Aaron Antonovsky ist es mit dem theoretischen Modell der Salutogenese also einerseits gelungen, Zusammenhänge zwischen einzelnen Komponenten in ihrer Komplexität zu beschreiben und andererseits die einzelnen Komponenten theoretisch auszuformulieren. Eben dies ist bisher keinem anderen theoretischen Modell der Gesundheitswissenschaft gleichermaßen gelungen.

Was aber ein Modell der Entstehung von Gesundheit von einem Risikofaktorenmodell unterscheidet, ist immer auch die Fragerichtung. Die Epidemiologie möchte die Frage beantworten, ob und unter welchen Bedingungen die Exposition mit dem Risiko x negative Folgen für die Gesundheit haben kann. Die Frage nach der Entstehung von Gesundheit ist aber die danach, welche Faktoren den Platz auf dem Gesundsein/Kranksein-Kontinuum beeinflussen. Die Untersuchungsrichtung ist schlicht diagonal spiegelverkehrt ( Abb. 1.6). Eben diese spiegelverkehrte Fragerichtung und das Interesse nicht an einer Exposition, sondern am Ergebnis ist die gemeinsame Basis einer Gesundheitswissenschaft.

Abb. 1.6: Unterschiedliche Fragerichtungen beider Modelle

Diskutiert werden muss allerdings, ob die Erfahrung des Gesundseins/Krankseins nicht auch als Risiko und Ressource betrachtet werden muss, ob diese Erfahrung nicht die Vulnerabilität beeinflusst und wiederum, wie Schutzfaktoren und Ressourcen zueinander stehen. Damit wird angedeutet, dass es die Gesundheitswissenschaft möglicherweise mit einem Gegenstand zu tun hat, der reziproke Einflüsse zwischen Lebensbedingungen und gesundheitlichem Wohlbefinden beschreibt. Damit aber ist die Komplexität so hoch, dass das Modell nicht mehr empirisch überprüfbar wird. Um Überprüfbarkeit zu erreichen, muss die Komplexität reduziert werden. Damit wird es dann eben auch nicht ein alle Aspekte umfassendes Modell geben können. Dies gilt auch für das Modell von Antonovsky.

Der Gegenstand der Gesundheitswissenschaft könnte nun genauer umschrieben werden, indem verallgemeinert hinzugefügt wird, mit welchen Fragen sich die Gesundheitswissenschaft befassen muss:

1.  Was wird unter Gesundheit verstanden und inwieweit bezieht dieses Verständnis die subjektive Wahrnehmung der betroffenen Personen ein? ( Kap. 2)

2.  Welche Risiken und Ressourcen wirken auf die Genese der Gesundheit ein und wie tun sie das? ( Kap. 3)

3.  Welche Art von Schutzfaktoren (oder Vulnerabilitätsfaktoren) beeinflussen, wie sich Risiken und Ressourcen auswirken, und wie unterscheiden sie sich von Risiken und Ressourcen? ( Kap. 4)

4.  Welche Strategien wählen handelnde Personen, wodurch beeinflusst, um Risiken zu bewältigen und Ressourcen für sich zu nutzen, und mit welchen Folgen? ( Kap. 5)

5.  Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Anwendung der Gesundheitswissenschaft in der Praxis ziehen? ( Kap. 6)

Die bisherige Definition von Gesundheitswissenschaft kann zusammenfassend also weiter präzisiert werden: Gesundheitswissenschaft befasst sich mit der Genese vonGesundseinund untersucht dazu die Wirkung beeinträchtigender und schützender Faktoren. Die Erkenntnisse der Gesundheitswissenschaft könnten genutzt werden, um daraus abzuleiten, ob und wodurch Gesundheit gefördert werden kann. Gesundheitswissenschaft wird dazu wahrscheinlich auf eine interdisziplinäre Herangehensweise angewiesen sein.

Die – trotz der genannten Einschränkungen – potenzielle Integrationskraft des Modells der Salutogenese ist nicht zufällig entstanden. Antonovsky hat sein theoretisches Modell nicht voraussetzungslos und kontextunabhängig entwickelt. Vielmehr erschwert er denjenigen, die sich neu mit Gesundheitswissenschaft befassen, die Lektüre seiner Texte dadurch, dass er auf eine Fülle von Theorien, Erkenntnissen und Situationen anspielt, die sich nicht sofort erschließen lassen, wenn man nicht gleichermaßen über den Erkenntnisstand seiner Zeit verfügt.

Da Theorien, wie das Modell der Salutogenese, immer in einem historischen und wissenschaftlichen Kontext entstehen, der auch die Art der Theorie beeinflusst, sollen im Folgenden zunächst der biografische, der wissenschaftsbiografische und der historische Entstehungskontext des Modells erläutert werden, um ein tieferes Verständnis zu ermöglichen.

1.2       Historischer und wissenschaftlicher Kontext

1.2.1     Leben unter widrigen Umständen

Antonovsky war Zeit seines Lebens biografisch und beruflich mit gesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert, die sich mit dem Begriff ›widrig‹ nur unzureichend umschreiben lassen: Krieg, Antisemitismus und Rassismus, Migration sowie soziale Not bzw. Armut prägten das Leben vieler Menschen seiner sozialen Umgebung. Angesichts dieser Erfahrungen und deren Folgen wird verständlich, dass Antonovsky Gesundheit nicht als homöostatischen Normalzustand beschreiben kann, der durch störende Reize oder falschen Lebenswandel aus der Balance geraten kann. Gesundheit ist für ihn keine Selbstverständlichkeit, sondern angesichts der Omnipräsenz von Stressoren ein höchst erfreuliches, erklärungsbedürftiges Phänomen.

Aaron Antonovsky wurde 1923 in Brooklyn, New York, geboren und wuchs in der Nähe des Borough Parks auf, wo noch heute eine der größten jüdischen Gemeinden der Welt existiert. Seine Eltern, Isaac und Esther, gehörten zu den fast zwei Millionen osteuropäischer Juden, die zwischen 1881 und 1920 aufgrund der zunehmenden religiösen Verfolgung aus ihren Heimatstaaten in die USA geflohen waren. Die meisten von ihnen ließen sich zunächst in New York nieder. Polnisch- und russischstämmige Juden arbeiteten im New York des beginnenden 20. Jahrhundert vor allem im Schneiderei-Handwerk und auf den sogenannten Pushcart Markets, also Märkten, auf denen Waren auf kleinen Wägen angeboten wurden. Große Teile der ärmeren und orthodoxen jüdischen Gemeinde New Yorks lebten in dem günstigen und multiethnischen Wohngebiet in Brooklyn.

In breiten Bevölkerungsschichten der USA erlebte der Rassismus und der Antisemitismus in dieser Zeit einen neuen Aufschwung, der sich z. B. an der erneuten Gründung des Ku Klux Clan 1915 festmachen lässt. Mit dem New Yorker Börsencrash am 24. Oktober 1929 begann die Wirtschaftskrise, die zu Arbeitslosigkeit und Armut gerade auch für einen großen Teil der osteuropäischen Einwanderer führte. Erst das Wirtschafts- und Sozialprogramm des Präsidenten Roosevelt (staatliche Investitionen, die Einführung eines Sozialversicherungssystems, eine progressive Besteuerung und eine Arbeitszeitverkürzung zur gerechteren Verteilung der Arbeit) führte die USA ab 1933 aus der Krise.

Aaron Antonovsky hatte trotz der schwierigen Lebensbedingungen in seinem Umfeld die Chance, zunächst das Brooklyn-College zu besuchen und anschließend an der Universität Yale ein Studium in Geschichte und Wirtschaftswissenschaften zu beginnen. Eine Ausbildung in Yale kann für einen Sohn russisch-jüdischer Emigranten keine Selbstverständlichkeit gewesen sein. Es ist davon auszugehen, dass seinem Elternhaus Bildung sehr wichtig war. Neben Harvard galt und gilt Yale als renommierteste amerikanische Hochschule. Sie versteht sich ausdrücklich als Ausbildungsstätte für Führungspersonen. Stipendien der Eliteuniversitäten wurden und werden nur an überragende College-Abgänger vergeben.

1941 tritt die USA in den zweiten Weltkrieg ein. Antonovsky unterbricht sein Studium und dient auf Seiten der US-Armee. Aus dem Krieg zurückgekehrt, erwarb er 1952 in Yale seinen Master of Arts (M.A.), drei Jahre später den Doctor of Philosophy (Ph.D.) in Soziologie. Sein Doktorvater war der New Yorker Psychiater August Hollingshead (1958), der sich mit dem Zusammenhang von sozialer Klasse und psychischer Gesundheit beschäftigte, den er über seine Nebentätigkeiten, mit denen er sein Studium finanzierte, kennen gelernt hatte (Antonovsky 1991, S. 112). Antonovskys Interessensschwerpunkte waren in dieser Zeit Kultur und Persönlichkeit, schichtspezifische Prozesse und ethnische Beziehungen.

Wohl schon während seines Studiums wurde Aaron Antonovsky von der Sozialpsychologie beeinflusst, die in den USA nach dem Ende des zweiten Weltkrieges von sozialkritischen Emigranten aus Europa, darunter Paul Felix Lazarsfeld (Jahoda et al. 1975, Pearlin 1989), weiterentwickelt wurde und soziale Determinanten psychischer Gesundheit erforschte. Lazarsfeld arbeitete vor allem mit quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung und hat unter anderem zu den Auswirkungen sozialer Entwicklungen auf die (psychische) Gesundheit betroffener Menschen gearbeitet.

Typisch für die Sozialpsychologie war ihr sozialkritisches Engagement. Das galt auch für Antonovsky: In den fünfziger Jahren formierte sich in den USA angesichts der immer noch bestehenden Rassentrennung eine neue Bürgerrechtsbewegung, die sich für die Überwindung der Rassentrennung und für die Gewährung des uneingeschränkten Wahlrechts einsetzte. Antonovsky wurde 1956 Leiter der Forschungsabteilung des Anti-Diskriminierungsausschusses des Staates New York. Unter seiner Ägide veröffentlichte der Ausschuss unter anderem eine 381-seitige Studie zu Diskriminierung und niedrigen Einkommen. Zudem betätigte sich Antonovsky als Herausgeber der Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung in den USA. Etwa zur gleichen Zeit war er als Lehrer am Brooklyn-College tätig.

1959 erhielt Antonovsky die Fulbright-Professur für Soziologie in Teheran. Im Gegensatz zum heutigen Iran galt das frühere Persien nach dem Zweiten Weltkrieg als westlich orientiert.

1960 emigrierte Antonovsky nach Israel, seine Frau Helen lebte schon einige Jahre dort (Antonovsky 1991, S. 117). Helen Antonovsky arbeitete als Entwicklungspsychologin. Sie inspirierte und kritisierte ihren Mann immer wieder und hatte so einen Einfluss auf seine Arbeit, dessen Bedeutung wahrscheinlich unterschätzt wird. So schreibt Antonovsky (1997, S. 20) selbst: »Und vor allem muss ich Helen meinen Dank aussprechen. Auf einer tieferen Ebene habe ich von ihr gelernt, wie unwichtig es ist, die Kontrolle zu haben, wenn es einen geliebten Menschen gibt, dem man vertraut und mit dem man zusammenlebt. In der konkreten Arbeit war es Helen, die den Begriff ›das Kohärenzgefühl‹ vorschlug, der genau das ausdrückt, was ich sagen wollte. Als Entwicklungspsychologin mit anthropologischer Ausbildung war sie eine äußerst kompetente professionelle Kritikerin. Sie urteilte kompromisslos und glasklar, sagte mir die kritischen Dinge in ihrer überaus sanften Art und machte noch Vorschläge zur Problemlösung – diese außerordentliche Kombination war ungemein hilfreich.«

Helen Antonovsky tat mehr als dies: Sie forschte selbst unter anderem über die Entstehung des Empfindens von Kohärenz, auch noch nach dem Tod ihres Mannes. So befasst sich z. B. eine retrospektive Studie von Shifra Sagy und Helen Antonovsky (2000) mit der Entstehung des SOCs in der Kindheit.

In Jerusalem übernahm Aaron Antonovsky eine Stelle als Medizinsoziologe am Institut für angewandte Sozialforschung und lehrte im Aufbaustudiengang zum Master of Public Health (MPH) an der Universität von Jerusalem-Hadassah. Neben der Lehre wandte er sich vor allem der Stressforschung und der epidemiologischen Forschung zu. Er forschte über den Zusammenhang zwischen Krankheit und sozialer Klasse, über die psychosozialen Risiken koronarer Herzerkrankungen, über präventives Zahnpflegeverhalten und über die Epidemiologie Multipler Sklerose. Gegen Ende der 1960er Jahre erschienen mehrere Artikel über die Unterschiede der Prädisposition für Krankheitsanfälligkeit und Sterblichkeit in den unterschiedlichen sozialen Schichten und er war Mitherausgeber eines Buches, das solche sozialen Unterschiede beschrieb (Antonovsky 1967, Antonovsky 1968, Antonovsky und Bernstein 1977, Kosa et al. 1969). Antonovsky war einer der ersten Forscher, der sich mit sozialer Ungleichheit von Gesundheitschancen befasste.

Ab 1972 hatte Antonovsky entscheidenden Anteil am Aufbau einer gemeindeorientierten medizinischen Fakultät an der Ben-Gurion-Universität des Negev. Auf den Namen ›Faculty of Health Sciences‹ (Gesundheitswissenschaftliche Fakultät) für den medizinischen Fachbereich bestand Antonovsky, dem schon zu diesem Zeitpunkt ein integratives Konzept vorschwebte – eine Integration von Gesundheitslehre und Medizin, von präventiver und kurativer Medizin, von einer auf die Gemeinde gerichteten Fürsorge, Lehre und Forschung. Er setzte durch, dass sein Lehrstuhl mit ›Soziologie der Gesundheit‹, nicht mit ›Medizinsoziologie‹, bezeichnet wurde. Antonovsky war für die verhaltenswissenschaftlichen und soziologischen Anteile des Curriculums zuständig. Als Vorsitzender des Zulassungsausschusses entwickelte er ein Auswahlverfahren, in dem es mehr auf Einstellung, Engagement und Verantwortungsübernahme als auf Schulnoten und Testergebnisse ankam.

Für Antonovskys Leben in Israel waren außen- und innenpolitische Krisen der Normalfall: Im Sechstagekrieg 1967 kam Israel einem sich abzeichnenden gemeinsamen Angriff Ägyptens, Syriens und Jordaniens durch einen Präventivschlag zuvor. In Folge des Krieges flohen mehr als 175 000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihrer Heimat und Israel begann mit dem Bau von jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Schon direkt nach dem Sechstagekrieg 1967 wurde die israelische Gesetzgebung auch auf den besetzten Ostteil Jerusalems ausgeweitet. 1973 folgte der sogenannte Jom-Kippur-Krieg. Der jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur wurde von den Angreifern Syrien und Ägypten gewählt, da man glaubte, am höchsten jüdischen Feiertag, an dem das öffentliche Leben in Israel weitgehend stillsteht, erhebliche Erfolge erzielen zu können. Israel gelang es, die arabischen Armeen zu schlagen. Als Reaktion auf den verlorenen Krieg verringerten die arabischen Ölförderstaaten die Ölfördermenge drastisch, um so politischen Druck auszuüben und initiierten so die auch die westlichen Staaten betreffende Ölkrise von 1973. 1979 wurde auf Initiative des ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat ein Friedensprozess in Gang gesetzt und der israelisch-ägyptische Friedensvertrag unterzeichnet, der unter anderem die Rückgabe des Sinai bis 1982 regelte. Am 30. Juli 1980 verabschiedete das israelische Parlament Knesset das Jerusalemgesetz und erklärte damit Jerusalem zur ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels. Die Annexion Ostjerusalems wie auch die 1981 erfolgte Annektierung der Golanhöhen wurden allerdings international nicht anerkannt und verurteilt. Im Juni 1981 griff Israel in den irakisch-iranischen Konflikt ein: Israelische Flugzeuge bombardierten den Atomreaktor Osirak in der Nähe von Bagdad und zerstörten ihn. Begründet wurde dieser Zwischenfall mit der atomaren Bedrohung Israels durch den Irak. Ab den 1980er Jahren nahmen die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern immer mehr zu. Im Jahre 1987 brachen gewalttätige Unruhen zwischen Palästinensern und Israelis aus, die sogenannte Erste Intifada. Die Folgejahre standen im Zeichen dieser Auseinandersetzung, aber auch von Friedensverhandlungen, die zur Einführung einer palästinensischen Selbstverwaltung für die Gebiete des Gazastreifens und des Westjordanlandes führten.

Trotz solcher permanenten Bedrohungen des Friedens in seiner Wahlheimat betrieb Antonovsky sehr engagierten Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Ländern. In den Jahren 1977/78 und 1983/84 übernahm Antonovsky Gastprofessuren für Public Health an der Universität Berkeley während seiner Forschungssemester. Sein Gastgeber war George A. Kaplan. Kaplan (2004) lehrte damals an der Stanford University und der University of California in Berkeley. Von 1981 bis 1997 war er Leiter des Human Population Laboratory des California Department of Health. Er beschäftigte sich mit der Frage, wie soziologische, psychologische und sozioökonomische Faktoren Krankheit vermeiden und Wohlbefinden fördern können.

1991 traf sich Antonovsky mit schwedischen Forscherinnen und Forschern in Lund und blieb für ein Jahr als Gastprofessor beim Institut der Kinderpsychiatrie. Gleichzeitig war er in stetem Kontakt mit der Nordic School of Public Health in Göteborg, an der er ein häufiger Gastdozent wurde. Wie in Schweden beeinflusste seine Arbeit auch die Forschung in der Schweiz und Finnland stark, in Finnland insbesondere die der Abteilung für Sozialpolitik in Turku.

1993 zog sich Antonovsky formell aus dem wissenschaftlichen Betrieb zurück, forschte aber von seinem Zuhause in Jerusalem weiter und hielt seine zahlreichen internationalen Kontakte aufrecht. Seine letzten Arbeiten befassten sich unter anderem mit den Auswirkungen der Pensionierung auf die Gesundheit. Gleichzeitig war Antonovsky weltweit zu Vortragsreisen unterwegs. Noch kurz vor seinem Tod nahm er an einem von der europäischen Sektion der World Health Organisation organisierten Treffen auf Einladung von Ilona Kickbusch teil und hielt einen viel beachteten Vortrag über seine Theorien. Mit dem ›The Sense of Coherence Newsletter‹, dessen Herausgeber er war, wollte Antonovsky ein Diskussionsforum für die an der Salutogenese Interessierten schaffen. Er beabsichtige, eine Bibliografie für Veröffentlichungen, Artikel und normative Daten zu erstellen, um die Entstehung eines Forschungsnetzwerkes zu unterstützen.

Aaron Antonovsky ist nur einmal in seinem Leben öffentlich in Deutschland aufgetreten: Bei einem Kongress für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) 1990 in Berlin. In diesem Vortrag betonte Antonovsky vor großem Publikum, dass das Kohärenzempfinden nicht moralisch sei und eben auch Nationalsozialisten, religiöse Fundamentalisten oder Extremisten ein hohes Kohärenzgefühl haben können wie alle anderen Menschen. In seiner letzten Veröffentlichung ›The moral and the healthy: Identical, overlapping or orthogonal‹ von 1995 setzt sich Antonovsky mit der Frage von Moralität und Gesundheit auseinander. Hier zitiert er einige Passagen aus dem 1990 in Berlin gehaltenen Vortrag, in denen deutlich wird, dass es für ihn selbst 45 Jahre nach Kriegsende eine Belastung und Herausforderung war, in Deutschland zu sprechen. Auf einer seiner letzten Europareisen besuchte er mit seiner Frau Helen das Konzentrationslager in Auschwitz.

Aaron Antonovsky erkrankte während einer Konferenz in Lissabon im Mai 1994 schwer. Im Juni 1994 schrieb er ein kurzes Fax an Freunde und Wegbegleiter in aller Welt, dass er an einer akuten myeloischen Leukämie erkrankt war und eine Behandlung in Kürze starten sollte. Die Nachricht endete mit einem Aufruf, für seine Gesundheit zu beten. Antonovsky starb schon am 7. Juli 1994 im Alter von 71 Jahren in Beerscheba.

Zusammenfassend ist für Antonovskys Leben kennzeichnend, dass er in seinem Lebensumfeld hinreichend Erfahrungen mit dem Einfluss von Lebensbedingungen auf die Gesundheitschancen gewinnen musste, selbst aber die Chance hatte, solche Krisen gut bewältigen zu können. Ihm ging es nicht einfach um die Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern immer auch um ihre Anwendung zur Verbesserung der Gesundheitschancen einer Bevölkerung.

Antonovsky pflegte intensiven internationalen Austausch mit Forschenden, die sich mit ähnlichen Fragestellungen befassten, so dass sein theoretisches Modell auch ein Stück Erkenntnisstand einer Wissenschaftsepoche zu seiner Fragestellung widerspiegelt. Dies fand in einer Zeit statt, in der Internationalisierung aus vielerlei Gründen nicht der Normalfall sein konnte. Es lässt sich sagen, dass Antonovsky durch seine Forschung, seine Theoriebildung und seine Vernetzungsarbeit intensiv zu einer Entstehung der Gesundheitswissenschaft beigetragen hat.

1.2.2     Erforschung des Kohärenzempfindens