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Eigentlich geht es in der stillen Marschlandschaft von Lincolnshire am Rande der Nordsee recht beschaulich zu. Doch dann wird Verna Dunn, eine Schauspielerin mit Starallüren, tot am Strand aufgefunden. Und wenig später treibt die Leiche eines erdrosselten Dienstmädchens in einem der zahlreichen Kanäle. Die Spuren beider Fälle führen nach Fengate, dem Landsitz eines reichen Kunstsammlers, und schnell fällt der Verdacht der Ortspolizei auf Lady Kennington, die auf einer Party dort zu Gast war. Verzweifelt wendet sich die mutmaßliche Täterin an ihren alten Freund Inspektor Jury. Doch während dieser seine heimliche Liebe zu verteidigen sucht, wird die Last der Gegenbeweise immer drückender ...
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Seitenzahl: 640
MarthaGrimes
Gewagtes Spiel
Deutsch von Sigrid Ruschmeier
Buch
In der stillen Marschlandschaft von Lincolnshire am Rande der Nordsee, zwischen kleinen Farmen, abgelegenen Pubs und ein paar Herrenhäusern, geht es eigentlich recht beschaulich zu. Doch dann ereignen sich gleich zwei mysteriöse Morde. Verna Dunn, eine Schauspielerin mit Starallüren, wird tot am Strand aufgefunden. Und wenig später treibt die Leiche eines erdrosselten Dienstmädchens in einem der zahlreichen Kanäle. Die Spuren beider Fälle führen nach Fengate, dem Landsitz eines reichen Kunstsammlers, und schnell fällt der Verdacht der Ortspolizei auf Lady Kennington, die auf einer Party dort zu Gast war. Verzweifelt wendet sich die mutmaßliche Täterin an ihren alten Freund Inspektor Jury. Doch während dieser seine heimliche Liebe zu verteidigen sucht, wird die Last der Gegenbeweise immer drückender. Und die Angeklagte selbst schweigt eisern über den wahren Verlauf des Abends. Gegen seinen Willen beschleichen schließlich auch Jury quälende Zweifel ...
Autorin
Die Originalausgabe von »Gewagtes Spiel« erschien 1997 unter dem Titel »The Case Has Altered« bei Henry Holt, New York.
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Einmalige Sonderausgabe Juni 2008Gewagtes Spiel Copyright © der Originalausgabe 1997 by Martha Grimes Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1997 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
Dorcas haßte die Fens.
Ein Niemandsland, wenn man einmal am Pub vorbei war, dessen Fensterscheiben kalt hinter ihr glänzten wie eine Reihe goldener Fingerabdrücke. Ansonsten kam nur Licht von den Autos, die ab und zu über die A17 fuhren. Die endlose Monotonie der Fens war schon bei Tage schlimm, aber bei Nacht wurde es richtig gespenstisch. Immer wieder blickte Dorcas sich um, sah aber nichts als eine ungeheuer weite schwarze Ebene und die winzigen Lichter des Pub.
Es war kurz nach elf Uhr an einem kühlen Februarabend. Mitte Februar, um genau zu sein. Dorcas wanderte über das Wyndham Fen, dessen klitschiger Boden von dem unaufhörlichen Regen noch matschiger war. Sie hätte die Pumps nicht anziehen sollen. Die Absätze waren vier Zentimeter hoch! Doch ihre Beine sahen einfach besser damit aus. Sie war überzeugt, daß es hier Treibsand gab, obwohl die Leute immer behaupteten, die Fens seien Marschland und man müsse nicht befürchten, verschlungen zu werden, selbst wenn der Untergrund morastig und weich sei. Aber man weiß ja nie, dachte sie.
Das Pub lag nun ein ganzes Stück hinter ihr, gewiß achthundert Meter, die Lichter sah man immer noch. Sie wirkten so weit weg wie Sterne, und zwischen ihr und dem Rand des schwarzen, leeren Horizonts lag das Nichts. Dorcas haßte das Wyndham Fen vor allem wegen der Touristen, die ins Pub kamen und dumme Fragen stellten. Manchmal machte sie sich einen Spaß daraus, ihnen dumme Antworten zu geben und zu beobachten, wie sich auf ihren Gesichtern Verwirrung ausbreitete. Lächerlich, wie die Leute geradezu begierig Geld ausgaben, um ein Fen zu erleben, wie es vor Hunderten von Jahren ausgesehen hatte. Herr im Himmel, war der Anblick nicht jetzt schon gräßlich genug? Mußte man auch noch dem nachtrauern, was früher war? Ihre Mutter, die hockte ja auch ständig über alten Fotos von Skegness und solchen Käffern, wo sie immer Urlaub machten.
Die dunkle Silhouette des Besucherzentrums trieb auf dem unsteten Boden wie ein Schiff. Die Fens verliehen allem ringsum etwas seltsam Lebendiges – die Dinge wirkten größer, die Bäume wuchsen höher, auch der spitze Turm einer Kirche bohrte sich höher hinauf, und die Baumstümpfe schwollen an. Wenn es hell wurde, gewannen die Dinge ihre natürliche Gestalt zurück, aber selbst im Tageslicht konnte die überwältigende Fläche der Fens das, was in der Ferne auftauchte, noch ferner erscheinen lassen und gleichzeitig das Nahe noch näher. Als könne man sich zu keiner Zeit, weder tags noch nachts, auf das verlassen, was man mit eigenen Augen sah.
Ihre Schuhe versanken in dem schwammigen Boden. Unter dem Gras war Torf. Aus irgendeinem Grund hatte sie immer das Gefühl, daß der Boden nicht trug. Als treibe sie auf einem schwankenden Floß durch den Nebel.
Das Besucherzentrum war das einzige Gebäude hier, also auch die einzige Zufluchtsmöglichkeit. Trotzdem, was für ein komischer Treffpunkt, dachte sie. Sie hätten sich doch genausogut irgendwo anders treffen können, wo es warm und hell war. Hier kam nur Licht von ihrer Taschenlampe, deren schmaler Strahl den Boden traf. Aber sie machte sie bald aus. Als sie nach rechts schaute, wo der hölzerne Promenadensteg sich über die Kanäle wand, fiel ihr ein, wie sehr sie Wasser haßte. Schon immer gehaßt hatte, seit man sie als kleines Gör mal in der Wanne allein gelassen hatte und sie fast ertrunken wäre. Ihre winzigen Hände hatten an dem glatten Emaille keinen Halt gefunden – selbst jetzt noch wurde ihr bei dem bloßen Gedanken daran übel. Als sie mit ihrer Familie dann jeden Sommer nach Skegness fuhr, näherte sie sich dem Meer nie weiter als bis zur Hälfte des Strandes. Dort ließ sie sich mit ihrem geheimen Schatz an Filmillustrierten und Liebesromanen nieder. Die Schutzumschläge ersetzte sie durch andere, und als Jane Eyre, Adam Bede oder David Copperfield verkleidet, bildeten sie eine unterhaltsame Lektüre. Mum und Da dachten, sie läse die englischen Klassiker. »Na, tuste was für deine Bildung, Dorcas? Brav, aber werd nicht zu schlau! Sonst kriegst du keinen Job, der dich ernährt. Haha«, sagte ihr Vater immer. Gewöhnlich nicht gerade ein Spaßvogel, ihr Da, aber wenigstens nervte er nicht dauernd wie die Väter ihrer Freundinnen.
David Copperfield hatte sie in der zehnten Klasse sogar fast ganz gelesen. Ihre Mitschüler hatten sich vor allem auf die Worte gestürzt, die der maulfaule Fuhrmann Barkis dem Copperfieldschen Dienstmädchen Peggotty als Heiratsantrag zukommen läßt: »Barkis will.« Den Satz riefen sie nun Dorcas, die schon mit dreizehn kein unbescholtenes Blatt mehr gewesen war, in einer revidierten Fassung hinterher: »Dorcas will! Dorcas will!« Sie tat so, als sei ihr das völlig schnuppe, aber der Spott tat weh, und ihr Ruf wurde immer schlimmer. Daß sie tatsächlich »wollte«, lag daran, daß sie nicht hübsch war, nur ihre »Willigkeit« machte sie attraktiv. Es hatte sich in der Schule wie ein Lauffeuer verbreitet. Dorcas haßte Charles Dickens.
Seit mehr als zwanzig Jahren nun kämpfte sie insgeheim mit ihrem Aussehen. Auf nichts, aber auch gar nichts, konnte sie stolz sein. Außer vielleicht auf ihre Zähne, aber erzählte ein Mann einer Frau, daß er ihre Zähne liebte? Höchst unwahrscheinlich. Ihr Haar war rostrot und drahtig wie die Topfkratzer, die sie zum Abwaschen benutzte. Nur die reichlich sprießenden Sommersprossen verliehen ihrem Gesicht etwas Farbe. Und ihre Figur glich das Gesicht auch nicht aus. Wenn sie auf dem warmen Sand von Skegness lag, wurde ihr peinlich bewußt, daß ihr Lycrabadeanzug eng wie ein Hüfthalter saß und man die Furchen und Wülste um ihre Taille sah.
Zumindest konnte Da ihr nicht vorwerfen, daß sie faul war. Sie hatte immerhin zwei Jobs, den im Haus und den im Pub. Wenn er natürlich gewußt hätte, warum, na, da hätte er aber ganz schön geguckt. Sie hatte bereits ihr »Weggeh«-Outfit erstanden: ein goldbraunes Waschseidenkostüm. Da wirkten ihre Augen ein wenig honigfarben, nicht einfach nur braun, ja schlimmer als braun, schlickbraun, schlammbraun.
Als sie über den Weg stakste – sie hätte diese Schuhe nie anziehen dürfen –, wurde ihr die Bürde ihres unscheinbaren Äußeren ein wenig leichter, denn letztendlich hatte es ihr nicht geschadet, es war unwichtig. Sie hatte jemanden gefunden, der ihre innere Schönheit sah. Die besaß sie reichlich, davon war sie immer überzeugt gewesen.
Sie ging die paar Stufen des Besucherzentrums hinauf. Ihre Füße taten höllisch weh. Oben angekommen, zog sie die Pumps aus und schlug den Schmutz ab. Mit den in Händen baumelnden Schuhen stand sie da, schaute hinaus auf das Wyndham Fen und seufzte. Sehr geschichtsträchtig. Sie konnte allerdings keinerlei Begeisterung dafüraufbringen. Damals in der zehnten Klasse hatten sie sich einen stinklangweiligen Vortrag über die Trockenlegung der Fens anhören müssen und tausend öde Einzelheiten über die flachen Ebenen. Interessierte das denn wirklich jemanden außer den Leuten, die hier Kilometer um Kilometer Tulpen und Narzissen anbauten?
Da stierte sie nun hinaus auf das dunkle Wyndham Fen, wie es vor hundert Jahren ausgesehen hatte. Oder vor tausend? Wie konnte ein Mensch die vielen Daten und Ereignisse behalten? Die Fens waren alle trockengelegt worden – von wem, wußte sie nicht so genau, vielleicht von den Wikingern? Nein, das war zu lange her. Von diesem dämlichen Holländer, Vanderbilt? Nein, das war der amerikanische Milliardär. Vander … Van der – was? Egal, eines schönen Tages hatte er die Idee, daß man die Fens trockenlegen und in fruchtbares Ackerland verwandeln könnte. Gut und schön, wenn man Bauer war, freute einen das vielleicht, dabei war es doch der stupideste Job der Welt. Aber bitte, manche Leute mochten ihn. Als dann fast ganz Lincolnshire urbar gemacht worden war, hatte jemand anderes – der National Trust? – die Idee, es wäre ganz nett, wenn wenigstens eins der Fens wieder so aussähe wie früher. Warum, warihrschleierhaft. Also setzten sie die Gegend hier um das Besucherzentrum wieder unter Wasser. Überfluteten es oder so. Dorcas stand da, ließ die Schuhe noch immer in den Händen baumelnund dachte, mein Gott, all die Arbeit für nichts und wieder nichts. Idiotisch, das war ja noch größere Zeitverschwendung als die zehnte Klasse. Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.
Das war für Dorcas ein tiefsinniger Gedanke, sie freute sich, denn sie dachte eigentlich nicht gern. Sie wollte ihn sich merken und wiederholen, wenn sie beide miteinander redeten. Er würde angenehm überrascht sein, wenn er feststellte, daß er eine Frau heiratete, die gut kochen konnte, gut im Bett und eine tiefsinnige Denkerin war. Traumverloren summte sie in der kalten Februarluft vor sich hin und wünschte, sie hätte noch einen tiefsinnigen Gedanken. Vielleicht sollte sie David Copperfield noch mal lesen.
Sie schlang die Arme um sich. Nun ärgerte sie sich, weil sie nicht den Mantel, sondern den dicken Pullover angezogen hatte, der hübscher war als das alte schwarze Ding. Sie zitterte, diesmal nicht vor Kälte. Aber sie würde nicht an die tote Frau denken. Nein, sie würde nicht an sie denken, ihren Namen nicht nennen, nicht einmal insgeheim, nur für sich. Sie würde sie verdrängen. Wenn die Frau namenlos blieb, verlor sie ihre Macht, einem Angst einzujagen und alles zu zerstören. Die Polizei würde das in die Hand nehmen oder auch nicht, je nachdem. Sie hatten mit allen im Haus gesprochen, mit ihr auch, bis es ihr zum Hals raushing.
Unter dem Vordach des Besucherzentrums zog Dorcas die Schultern ein, kuschelte sich in den weiten Pullover und schaute in das dunkle Gewirr von Bäumen, hohem Gras und Kanälen. Das alte Fen. Besten Dank, sie sparte sich ihr Geld lieber für die Aussteuer oder ein gutes Kochbuch.
Da hörte sie ein Geräusch hinter sich, ein Brett knarzte. Und dann schlangen sich die Arme um ihre Taille. Wie romantisch, war ihr erster Gedanke. Irgendwas stimmt hier nicht, ihr zweiter, und für einen dritten hatte sie keine Zeit mehr, denn sie spürte, wie ihr der Lebensatem ausgepreßt wurde. Nicht von zwei Händen, sondern von einem weichen, seidigen Tuch, das sich um ihre Kehle schloß. Ein paar Augenblicke lang versuchte sie mit aller Kraft, es wegzuziehen. Sie öffnete den Mund, um zu schreien. Aber es kam keine Stimme.
Dorcas will nicht. Nein, Dorcas …
Chief Inspector Arthur Bannen von der Kriminalpolizei in Lincolnshire war Anfang Siebzig, sah aber fünfzehn Jahre jünger aus. Sein Alter war so rätselhaft wie alles übrige an ihm. Wenn es ihm mißfiel, daß Scotland Yard hier in Lincolnshire aufkreuzte, zeigte er es jedenfalls nicht. Er sprach so leise und ruhig, daß man sich fragte, ob ihn überhaupt etwas aufregen oder erschüttern konnte. Seine Worte waren immer von einem feinen Lächeln begleitet, das manchmal etwas schmerzlich wirkte, als täte es ihm weh, wenn sein Gesprächspartner nicht ganz seiner Meinung war. Im Moment war er damit beschäftigt, ein Blatt Papier wie ein Akkordeon zu falten, wie eine Landkarte.
»Wir haben Sie nicht um Hilfe gebeten, Mr. Jury«, sagte er schließlich sehr freundlich und schnippelte dabei mit einer Schere an dem gefältelten Blatt herum. Seine Füße ruhten auf der Schreibtischkante, als sei er fürchterlich lethargisch. Ist aber vermutlich alles, nur nicht lethargisch, dachte Jury.
»Ich weiß, daß Sie meine Hilfe nicht brauchen. Ich bitte Sie um Ihre.«
Sie redeten über den Mord an einer Frau, die auf einem kleinen Landgut namens Fengate etwa sechzig Kilometer entfernt zu Gast gewesen war.
Bannen zerschnitt das Papier mit großer Sorgfalt, und als er sich Jury wieder zuwandte, fand er den offenbar weniger interessant und konzentrierte sich erneut auf die Schnippelei. »Aha. Aber wie kann ich Ihnen helfen?« Begeistert klang er nicht.
»Soweit ich weiß, spielt Lady Kennington in dem Ganzen nur eine – untergeordnete Rolle.«
»Wenn Sie damit meinen, sie sei nur eine Randfigur, oder anders ausgedrückt, sie gehöre nicht zum inneren Kreis, dann muß ich Ihnen leider sagen: Doch, sie gehört definitiv dazu.« Bannen lächelte ein wenig, als teile er das nun nicht ungern mit, und schnitt winzige Dreiecke aus dem Papier.
»Soll das heißen, daß sie zu den Verdächtigen gehört?«
Bannens Augen hatten einen sanften, kühlen Grauton, die Farbe des Brackwassers in den Entwässerungsgräben, an denen Jury auf dem Weg von London vorbeigekommen war. »Alle, die zu der Zeit dort waren, sind verdächtig.«
»Ich würde wohl eher das Wort ›Zeugen‹ benutzen.«
»Benutzen Sie, was Sie wollen«, beschied ihm Bannen liebenswürdig und schnippelte weiter Muster ins Papier. »Aber sie hatte die Gelegenheit – sie und die Dunn waren draußen, während die anderen sich im Haus aufhielten –, und sie hatte mit der Ermordeten eine Auseinandersetzung. Des weiteren war Ihre Freundin Lady Kennington allem Anschein nach die letzte, die das Opfer lebend gesehen hat, und hat, nachdem sie von der Dunn fortgegangen ist, mutterseelenallein einen Spaziergang gemacht.« Er hielt inne und dachte nach. »Behauptet sie jedenfalls.« Er schaute Jury ruhig an und schnippte ein paarmal mit der Schere. Es sah aus, als wenn ein Krokodil zuschnappte. »Wenn Sie also ich wären, Superintendent, würden Sie dann nicht sagen, daß Jennifer Kennington ›zum Kreis der Verdächtigen gehört‹?« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich glaube schon.« Schnipp, schnapp.
Er träumte, daß Jenny über das Fen ging; Menschen schlossen sich ihr an und bildeten eine Prozession. In der Kathedrale von Lincoln war Gottesdienst. Er hörte das leise Klingeln eines Weihrauchgefäßes.
Es war das Telefon neben seinem Ohr. Jury tastete danach, es fiel herunter. Als er versuchte, den Schlaf abzuschütteln, hatte er ein Gefühl, als verschlucke er einen riesigen Luftschwall. Seine Brust tat weh, er spürte ein Stechen. Ein Herzanfall? In einem Bed & Breakfast in Lincoln? Wenn er schon den Abgang machen mußte, dann lieber in seiner eigenen Bude in Islington, Mrs. Wassermann und Carole-anne mit tränenfeuchten Augen an seinem Bett. Endlich kriegte er den Hörer zu fassen. »Ja, bitte?«
»Bannen. Dachte schon, Sie nehmen gar nicht mehr ab. Schlafen Sie noch? Ich bin schon seit Stunden auf.«
Jury biß die Zähne zusammen. »Um so besser für Sie. Aber was ficht die Kripo in Lincolnshire um sechs Uhr morgens an?«
»Wenn Sie sich ein bißchen sputen, zeige ich Ihnen was Interessantes.«
»Und wo bitte?« Jury rieb sich die Augen. Es fühlte sich an, als wäre Glasstaub darin.
»Im Wyndham Fen.«
»Wo ist das?«
»Ich kann Sie in zwanzig Minuten abholen. Seien Sie bis dahin fertig.«
»Worauf Sie sich verlassen können.« Der Satz ging ins Leere, denn Bannen hatte schon aufgelegt.
Die Zeiger des Nachttischweckers weigerten sich beharrlich, zu einer zivileren Zeit vorzurücken. Es war zehn nach sechs an einem Februarmorgen und dunkel wie im Grab.
Damit hatte Jury nicht gerechnet. Sie fuhren sechzig Kilometer nach Südosten, nach Spalding. »Das Gelände gehört dem National Trust«, hatte Bannen ihm mitgeteilt und mehr eigentlich nicht.
Das Wyndham Fen war um halb acht morgens in graues Schweigen gehüllt, ab und zu schrie eine Eule, die hohen Schilfgräser in den schmalen Kanälen rasselten wie Säbel. Kristallene Spinnweben hingen an dem Geländer der hölzernen Promenade; die Schafe draußen auf den fernen Weiden waren mit Rauhreif bedeckt und sahen aus, als trügen sie Mäntel aus Glas. Morgens waren die Fens wahrscheinlich am malerischsten, Wyndham Fen gewiß. Wenn da nicht die Leiche gelegen hätte.
Sie schwamm mit dem Gesicht nach oben in einem Kanal und hatte einen blauen Hautwulst rings um den Hals, der die Art ihres Todes verriet – die Frau war erdrosselt worden. Wie sie so still dahertrieb, umgeben von Riedgras und Wasserfeder, mußte Jury an das Burne-Jones-Gemälde von Ophelia denken. Aber im Gegensatz zu der wunderschönen Ophelia war diese junge Frau wenig ansehnlich. Ihr Gesicht war geschwollen und dunkel blutunterlaufen; Augen und Zunge quollen hervor. Selbst bevor sie so entstellt wurde, konnte sie nicht hübsch gewesen sein. Ihr Gesicht war sicher schwammig gewesen und ihr plumper Körper wenig reizvoll. Vielleicht wäre sie ja später im Leben erblüht, doch nun gab es für sie kein späteres Leben mehr.
Bannen ging über den schmalen Steg, der den Kanal überspannte, und beriet sich mit einem seiner Männer. Ein Dutzend Polizeiautos und etliche -kleinbusse hatten neben dem schmalen Gebäude geparkt, das als Touristenzentrum diente, in dem man Broschüren und Informationsblättchen über die Fens unters Volk streute. Über das stachelige gefrorene Gras und die Schotterstraße hinaus schwärmten die Polizisten aus. Es war kalt; Jury zitterte. Für einen Februarmorgen in den Fens von Lincolnshire war er nicht gerüstet.
Er konnte den Blick nicht von dem im Wasser treibenden Mädchen wenden. Bannen kam mit dem Pathologen zurück, der sich an seiner Tasche zu schaffen machte. Wahrscheinlich stand er nicht in Diensten der Polizei, sondern war schlichter Landarzt.
Bannen schaukelte auf den Absätzen. »Dorcas Reese«, sagte er, blies die Wangen auf und stieß die Luft aus.
»Kannten Sie sie?«
»Flüchtig. Sie war Hausmädchen und Beiköchin in Fengate.«
Jury starrte ihn erschrocken an.
Bannen runzelte die Stirn, als der Pathologe die Bergung der Leiche aus dem Wasser dirigierte. »An Ort und Stelle können Sie sie nicht untersuchen, oder?« Auf den schiefen Blick des Arztes hin fügte er stöhnend hinzu: »Schon gut.« Diese Provinzler.
Jury war bestürzt. »Soll das heißen, daß dies der zweite Todesfall in Verbindung mit dem Haus ist?«
»Hm. Ja, wird wohl so sein.« Bannen beobachtete, wie das Wasser nun glatt über die Stelle floß, wo Dorcas Reese gelegen hatte. Wasserschlauch und Wasserfeder mit ihren zarten, fühlerähnlichen Stielen bewegten sich sacht. »Wir hätten sie am Fundort erst noch genauer ansehen sollen«, sagte er mißbilligend, als sei es heutzutage wirklich schwierig, gute Hilfskräfte zu finden, und dann vieldeutig: »Seltsam, was?« Sie hoben die Leiche auf die Trage, damit der Arzt sie untersuchen konnte. Bannen ging um sie herum, betrachtete sie genau und wechselte ein paar Worte mit dem Mann.
Wieder bei Jury angekommen, sagte er: »Er meint, es war ein Stoffstreifen, vielleicht ein Schal. Sie ist erdrosselt worden. Außer daß man sie in den Kanal geworfen hat – vielleicht ist sie auch nach ihrem Tod hineingefallen –, hat man offenbar keinen Versuch gemacht, sie zu verstecken.«
Jury schaute hinter sich zu dem Besucherzentrum. »Ist das jetzt offen? Mitte Februar? Wenn es wärmer ist, sind ja sicher viele Touristen hier.«
»Ja, es hat geöffnet, das heißt, hätte, wenn wir es nicht dichtmachen würden.« Bannen schaute in die Ferne. »Das Fen ist ungefähr in der Mitte zwischen Fengate und«, er drehte sich um, »dem Pub, in dem sie abends manchmal gearbeitet hat. Dort drüben, gleich an der A17. Heißt The Case Has Altered. Seltsamer Name … Das Blatt hat sich gewendet.« Nachdenklich fuhr er sich mit dem Daumen über die Stirn.
»Sie wirken nicht sonderlich überrascht.«
Bannen drehte sich um und schaute Jury aus seinen kühlen grauen Augen an. Er lächelte ein wenig. »O doch. Ich bin überrascht. Doch, doch. Ich bin überrascht, daß sie erwürgt worden ist. Verna Dunn ist erschossen worden.«
»Vom selben Täter, meinen Sie!«
Bannen musterte Jury eingehend. »Wir sind in Lincolnshire, nicht in London. Daß sich hier binnen zweier Wochen zwei Morde ereignen, denen beide Male Frauen aus einem Haus zum Opfer fallen –« Er schüttelte den Kopf. »Schwer vorstellbar, daß sich zwei Mörder in den Fens herumtreiben.« Er fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen, als sei der zu eng. »Normalerweise ist die Methode gleich. Wenn man unter dem Zwang steht zu töten, dann doch sicher auf solche Art und Weise, daß man sich von einer bestimmten Angst befreit … Finden Sie das lustig?«
»Sie klingen wie ein Psychiater, Chief Inspector. Ich halte eigentlich nicht soviel davon, Mordfälle durch Psychologisiererei zu lösen. Letztendlich ist alles nur mühsame Plackerei –« Jury ertappte sich dabei, daß er wie Chief Superintendent Racer klang. (»Dem anderen einen Schritt voraus sein, Jury, das ist die Arbeit des Kriminologen. Es ist Knochenarbeit, Jury, nicht Ihr Rätselraten ins Blaue hinein …«) Dabei hatte er gar keinen Grund, sich gegenüber diesem Detective Chief Inspector so herablassend aufzuführen. Er kannte ihn ja kaum, und der Mann hatte offensichtlich Fälle genau auf dem Wege, den er andeutete, schon gelöst – sonst würde er ja nicht so reden.
Aber Bannen war nicht beleidigt. Vielleicht fand er, daß es über Wichtigeres nachzudenken galt. Den Blick auf das Wyndham Fen gerichtet, sagte er: »Früher war mal alles so wie hier.« Er schaute zu Boden auf das nasse Schilfgras und die silbernen Spinnwebschleier, die sich darüber spannten, und fuhr mit dem Fuß zwischen die hohen Halme. Eine Feldmaus huschte davon. »Ich fahre jetzt zum Wash, um mich noch einmal dort umzuschauen. Sie würden doch sicher gern mitkommen.«
Die Einladung überraschte Jury. »Ja. Aber ja doch.« Er überlegte, ob Bannen nicht in Wirklichkeit doch Hilfe von Scotland Yard wollte. Am Wash war der erste Mord geschehen.
»Am Rand dieses Teils des Fens verläuft ein Fußgängerweg. Den hat sie wahrscheinlich genommen. Er führt direkt an Fengate vorbei.« Er schaute nach oben. Mauersegler und Schwalben stoben aus einem Baum. Sie zeichneten ein schwarzes Muster in den heller werdenden Himmel. Doch ehe man sie recht bemerkt hatte, waren sie auch schon verschwunden. »Ein Schwarm Schwalben macht mich immer traurig, richtig hoffnungslos.« Dann redete Bannen wieder über den Fußgängerweg. »Am anderen Ende kommt er am Case Has Altered vorbei. Die Owens waren überrascht, daß sie nebenbei noch Nachtdienst geschoben hat.« Er lächelte über seine Formulierung und kratzte sich am Hals, als billige er dieser Wendung ebensoviel tiefes Nachdenken zu wie allem anderen, das ihm an diesem Tag schon untergekommen war.
Vom Entwässerungsgraben gingen sie über die Promenade zurück zu dem kleinen Parkplatz.
»Mein Sergeant hatte eine unliebsame Begegnung mit einem Hund und liegt nun mit einer grauslichen Allergie darnieder. Er ist heftig allergisch gegen die Viecher«, sagte Bannen.
Jury lächelte. »Da würde sich Ihr Sergeant mit meinem prächtig verstehen.«
»Ach? Ist er auch allergisch gegen Hundehaare?«
»Gegen alles.«
»Sie sehen die Schwierigkeit«, sagte Bannen mit der für ihn offenbar charakteristischen Geste. Er rieb sich mit dem Daumennagel über die Stirn, als habe er die letzten beiden Wochen mit der Betrachtung dieser Schwierigkeit verbracht.
Den Eindruck hatte Jury jedenfalls ganz und gar. Sie standen am Watt und schauten über den Teil der Küste von Lincolnshire und Norfolk, der Wash heißt. Die Fußwege gingen nur bis zum Deich. Jury und Bannen waren weitergelaufen, auf den Deich und wieder hinunter. Im Gegensatz zu weiter draußen bestehe hier nicht die Gefahr von Treibsand, hatte Bannen gemeint. Das Watt sei wie ein zweiter Küstenstreifen aus Schlamm und Schlick und erstrecke sich bis zu der Sandfläche, die eine Schutzbarriere zwischen Land und Meer bilde.
Dennoch gab es eine Anzahl von »Gefahrenzonen«, ein Vermächtnis des Krieges.
»Minen«, sagte Bannen. »Der Wash ist voll davon.« Er zog den Kragen seiner Windjacke enger. »Wir dachten ja, hier fände die Invasion statt.« Er nickte in Richtung Meer. »Hier gab’s Geschützstellungen, Riesendinger, wie Bohrinseln, Batterien schwerster Geschütze. Sind immer noch einige da.«
Jury schaute ihn prüfend an. »›Wir‹? Sie waren doch nicht im Krieg. Da waren Sie doch noch ein Kind.«
Bannen lächelte. »Natürlich. Aber ich war gerade alt genug, um am Ende noch reinzugeraten. Wir waren alle noch Jungs.« Sie schwiegen. Dann sagte Bannen: »Schwierig. Unser Pathologe datiert Verna Dunns Tod auf zwischen zehn Uhr abends des ersten und ein Uhr nachts des zweiten. Das war ein Sonntag. Sie wurde aber erst nachmittags gefunden. Da hat die Leiche wahrscheinlich die ganze Zeit hier in dem Schmodder gelegen. In Kälte und Wind. Brutal.« Es klang, als habe Verna Dunn es noch lebend durchleiden müssen. »Und wenn der Sand sich anders bewegt hätte, wäre sie nicht einmal gefunden worden. Der Sand bewegt sich nämlich, und wir finden immer noch Schiffswracks und -rümpfe. Drüben am Strand von Goodwin sind sie auf den Propeller von einer Swordfish gestoßen. War all die Jahre im Sand verborgen.«
»Meinen Sie, daß ihr Mörder das beabsichtigt hat? Daß er die Leiche hier begraben wollte?«
»Zu der Ansicht neige ich, ja. Aber es ist doch sehr riskant. Für die Springflut ist es eigentlich noch ein bißchen früh – die ist nämlich zweimal so hoch –, und die Deiche hinter uns«, Bannen zeigte mit dem Daumen hin, »die stehen unter anderem wegen der Springflut hier. Sie kommt zweimal im Monat, bei Neumond und Vollmond, und in der Nacht war der Mond dreiviertel voll.«
Jury hob hilflos die Hände. »Da komme ich nicht mehr mit.«
»Man muß nur auf den Gezeitenplan schauen. Das habe ich jedenfalls getan. Der Mörder hat vielleicht mit Flut gerechnet, und bei Springflut sogar mit einer doppelt hohen. Mit der Flut und dem Treibsand. Aber er muß sich verrechnet haben. Die Flut war noch nicht ganz drin, als die Leiche gefunden wurde.« Er rieb sich mit dem Daumennagel über die Stirn. »Mord ist gar nicht so einfach, meinen Sie nicht auch? Man sollte sich nicht auf den Mond verlassen.«
Obwohl Jury so deprimiert war, hätte er beinahe gelacht. »Irgendwie kann ich mir das bei Jenny Kennington schlecht vorstellen. Und Sie scheinen zu vergessen, wenn man sich auf den Mond verläßt, muß man tüchtig rechnen. Spontan läuft da nichts.«
Bannen lächelte ein wenig. »Richtig, das ist mir durchaus bewußt.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Die Küstenwache. Wenn die sie nicht gefunden hätte, wer weiß, wann sie dann entdeckt worden wäre. Ich meine, wir sind hier nicht in Skegness. Dieses Gebiet ist, wie gesagt, im Krieg heftig vermint worden, und viele Minen sind nicht mehr genau zu orten. Auch nicht die Granaten. Die Gefahrenzonen sind deutlich ausgeschildert. Am Wash bummelt man nicht zum Zeitvertreib herum. Die Stelle hier hat sich jemand mit voller Absicht ausgesucht.« Bannen schwieg einen Moment. »Ich habe den möglichen Zeitpunkt des Todes noch ein bißchen mehr eingegrenzt. Ich glaube, alles deutet darauf hin, daß sie zwischen halb elf am Samstag abend und halb eins Sonntag nacht erschossen worden ist. Der Gärtner hat gesagt, er habe kurz vor eins gesehen, daß ihr Auto am Ende der Einfahrt geparkt war. Und wer auch immer am Steuer saß, er brauchte mindestens fünfzehn Minuten, um von hier aus zurückzufahren. In Fengate hat niemand gehört, wie das Auto wieder gekommen ist.« Bannen seufzte.
»Und es hat auch niemand angerufen, als sie nicht mit Jenny Kennington ins Haus zurückgekehrt ist?« Jury runzelte die Stirn.
»Ach, sie hätten sicher angerufen, wenn sie nicht gedacht hätten, die Dunn hätte sich plötzlich entschlossen wegzufahren, vielleicht sogar zurück nach London. Weil sie nicht mit der Kennington zurückkam, haben alle geglaubt, sie sei abgefahren. Offenbar war das typisch für sie. Angeblich war sie sehr sprunghaft, sehr impulsiv. Dabei lag sie in Wirklichkeit hier.« Bannen bückte sich und hob eine Handvoll Schlick auf. »Sie können sich ja ausmalen, wie schwer es ist, in dem Zeugs hier was zu finden. Meine Männer sind auf allen vieren rumgekrochen, sie müssen gut vierhundert Meter untersucht haben. Das gesamte Gebiet kann man unmöglich abchecken, schauen Sie es sich doch nur an. Hier könnte eine Kugel einen Kilometer weit fliegen.«
Jury folgte seinem Blick über den im schwachen Sonnenlicht glitzernden Schlick. »Wohl wahr. Und der Wind macht es auch nicht gerade leichter, was?«
»Infernalische, gespenstisch heulende Winde.« Bannen klopfte sich die zähe Masse von den Händen und schob sie in die Manteltaschen. »Eine Patronenhülse haben wir halb vergraben gefunden, eine Kugel im Opfer.« Er schaute hinter sich. »Von einem Kleinkalibergewehr.«
»Sonst nichts?«
»Die Hülse, die Waffe, das Auto …? Das ist doch eine ganze Menge, würde ich sagen.«
»Das heißt, Sie haben die zu der Kugel passende Waffe gefunden?« Jury wurde mit jedem Moment nervöser. Sie hatten wirklich eine Menge.
»Sie gehört Max Owen. Dem Besitzer von Fengate. Und dort war Jenny Kennington, wie gesagt, zu Gast.«
Jury schaute weg, aufs Meer hinaus, und schwieg.
»Im Umkreis von Fengate gibt’s Knarren im Dutzend billiger. Wir haben vier eingesammelt. Owens, Parkers, Emerys – Peter Emery fungiert als Verwalter für einen Major Parker. Emery ist blind, aber das heißt ja noch lange nicht, daß nicht jemand anderes sein Gewehr benutzt haben kann. Ja, die haben wir alle einkassiert. Ach, und sogar Jack Price hatte eins. Er ist Künstler, Bildhauer oder so was. Wozu braucht der einen Ballermann? Und wie sie es alle geschafft haben, Waffenscheine zu kriegen, ist mir ein Rätsel. Sie wissen ja, wie schwer das ist. Und außer Emery sind alle gute Schützen, besonders Parker.«
»Sie haben die Frauen nicht erwähnt. Ich kann mir nicht recht vorstellen, wie Jenny Kennington auch nur einen Schuß abfeuert. Ich glaube nicht, daß sie je in ihrem Leben eine Knarre in Händen gehalten hat.«
»Da irren Sie sich leider. Hin und wieder ist sie mit ihrem Gatten zur Jagd gegangen, und Price war dabei.« Bannen beobachtete Jurys wechselndes Mienenspiel. »Sie wußten nicht, daß sie diesen Price kannte?«
Als Antwort brachte Jury nur ein äußerst knappes Kopfschütteln zustande.
Bannen schürzte die Lippen und stieß den Atem in einem tonlosen Pfeifen aus. Dann sagte er leise: »Sie glaubten wohl, sie besser zu kennen, als es tatsächlich der Fall ist.«
»Offensichtlich.« Die Jenny, die er in seiner Vorstellung vor sich sah, platzte in schrecklicher Bedrängnis mit allem heraus. Aber warum hatte sie nicht alles erzählt? Weil er doch auch nur ein Bulle war?
»… Reifenspuren.«
Jury kriegte gerade noch mit, daß Bannen von dem Porsche sprach.
»Ich habe die Dinge ein wenig eingegrenzt. Verna Dunns Porsche hatte ein unverwechselbares Profil. Der Wagen mit vermutlich der Dunn und einem Beifahrer – alle dachten natürlich, daß es Jennifer Kennington war, aber sie streitet es ab –, egal, der Wagen ist gegen zwanzig nach zehn weggefahren. Da haben die Owens und Parker ein Auto gehört. Price war schon in seiner Bude – er nennt es Studio – und hat nichts gehört.«
Jury verkroch sich tiefer in seinen Mantel. Ach, wenn sie doch hier weggehen würden. Das Wasser war bleigrau und sah auch genauso schwer aus. Jury hatte ein Gefühl in der Brust, das ihn an Beschreibungen von Herzanfällen erinnerte beziehungsweise daran, wie sie sich ankündigten. Der unbändige Wind, der Sand, der Schlick und der Schlamm gemahnten ihn nur an seine Machtlosigkeit. Aber er versuchte weiterhin verbissen, Bannen – oder sich selbst – davon zu überzeugen, daß Jenny Kennington die falsche Verdächtige war. »Sie vermuten, daß Verna Dunn mit jemandem zusammen wegfuhr. Aber Sie wissen es nicht.«
»Wenn keiner mit drin war, wie ist der Porsche dann zurück nach Fengate gekommen?«
Die Frage war rhetorisch. Natürlich hatte Bannen recht. Um die feindselige Atmosphäre zu entspannen, sagte Jury: »Und jetzt ist diese Reese tot. Wie wollen sie Jennifer Kennington damit in Verbindung bringen?«
»Am Montag, nachdem Verna Dunn ermordet worden war, ist sie nach Stratford-upon-Avon zurückgefahren – das war der dritte. Von hier nach Stratford dauert es nur zwei Stunden.«
Jury entging nicht, was er damit andeuten wollte. Doch er hatte keine Antwort darauf.
»Genug gesehen?«
Bis ans Ende meiner Tage, dachte Jury und schaute über den Wash zur Nordsee hinaus. Am Horizont stand reglos ein schwarzes Schiff.
»Sie sehen die Schwierigkeit«, sagte Bannen wieder und fuhr sich mit dem Daumen über die Stirn.
Die drei Kilometer zwischen dem Wash und Fengate waren so leer wie eine Karte des Jenseits. Keine Wälder, keine Hecken, Hügel oder Gestrüpp. Nur ganz in der Ferne sah Jury ein Haus, vor dem sich hohe, schlanke Bäume erhoben, die wie gerade Pfähle aussahen. Aber selbst sie wirkten wie eine Fata Morgana, die in derselben Distanz verbleibt, einerlei, wie rasch man sich auf sie zubewegt. Jury fühlte sich, als sei er ein Läufer, der immer auf derselben Stelle tritt. Sie fuhren, schienen aber nichts näher zu kommen, wie wenn sie ein Trugbild erhaschen wollten.
Er konnte sich nicht vorstellen, in einer solchen Gegend zu leben. Die statische, traumähnliche Szenerie wurde noch verstärkt durch das Licht, das alles beinahe durchscheinend wirken ließ– als befinde sich die Lichtquelle hinter Milchglas. »Ist es hier überall so? So platt und flach? Das scheint ja nie aufzuhören.« Endlich waren sie an dem Farmhaus mit den bleistiftdünnen Bäumen vorbeigefahren. Doch kein Trugbild.
»Lincolnshire?« Bannen sah ihn an. »O nein, nein. Weiter nördlich haben wir ja die Wolds. Viele Leute mögen Südlincolnshire nicht, sie finden es kahl. Zu eintönig.«
Wirklich kahl. Verstecken konnte man sich nirgends.
»Fengate ist in seinem eigenen kleinen Wäldchen verborgen. War mal ein veritabler Forst.« Bannen holte tief Luft. »Aber unsere Wälder haben wir verloren. Das Land wurde als Ackerland gebraucht. Die Fens wurden trockengelegt, damit sie kultiviert werden konnten. Gut, man mußte das Land urbar machen, damit die Menschen sich ernähren konnten, aber allmählich fragt man sich doch, ob die Fens nicht direktemang zu Tode kultiviert werden. Die Farmer sind die neue Aristokratie. Das Land gehört ihnen, und das gibt ihnen Macht. Sie sehen ja den Boden, tief schwarz und unglaublich fruchtbar. In Cambridgeshire spricht man von den Black Fens.« Wieder holte er tief Luft. »Mit Pferden pflügen sie die Felder nicht mehr um; heutzutage geht alles mit dem Mähdrescher.«
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