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Schulden schaden der Zukunft unserer Kinder. Öffentliche Haushalte müssen eine "schwarze Null" schreiben. Grundeinkommen sind nicht finanzierbar. Krisen kommen, aber sie gehen auch wieder. Solche Thesen lesen und hören wir jeden Tag. Aber stimmen sie auch? Drei renommierte Wirtschaftsexperten scheiden die Spreu vom Weizen und entlarven 21 Wirtschaftsmythen, die uns allen längst schaden. Sie erklären, warum wir für unser Erspartes kaum noch Zinsen bekommen, ob das Internet ein stabiler Wirtschaftsfaktor ist, der Emissionshandel wirklich effektiv den CO₂-Ausstoß senken kann – und welche Prinzipien hinter all dem walten. Und immer fragen sie: Geht es anders, geht es besser?
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Seitenzahl: 302
Rudolf Hickel • Johann-Günther König • Hermannus Pfeiffer
Gewinn ist nicht genug!
21 Mythen über die Wirtschaft, die uns teuer zu stehen kommen
Schaden Schulden wirklich der Zukunft unserer Kinder? Ist es also sinnvoll, wenn öffentliche Haushalte deshalb eine «schwarze Null» schreiben sollen? Ruinieren Null- und Minuszinsen den deutschen Sparer? Wie sicher ist künstliches Geld? Welche Gefahren für uns alle gehen von dem weltweit umherschwirrenden Helikoptergeld aus? Kann der Emissionshandel wirklich effektiv den CO2-Ausstoß senken? Wann nutzt der Welthandel eben nicht allen Menschen? Und können wir nach Covid-19 ökonomisch so weitermachen wie bisher?
Um solche Fragen, die dahinterstehenden Prinzipien, die Handlungen und die Politik der wichtigen Akteure geht es in diesem Buch. Drei renommierte Wirtschaftsexperten scheiden die Spreu vom Weizen und entlarven 21 Wirtschaftsmythen, die ständig durch die Medien geistern, uns allen aber längst schaden.
Rudolf Hickel, geboren 1942, war zuletzt Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Bremen und ist Gründer des Instituts Arbeit und Wirtschaft. Er ist Autor des jährlichen Memorandums zur «Alternativen Wirtschaftspolitik» sowie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC. Zuletzt bei Rowohlt erschienen: «Kassensturz» (2006).
Johann-Günther König, geboren 1952 in Bremen, Dr. phil; Studium der Sozialpädagogik, Promotion im Rahmen der Kinderkulturforschung. In den 1990er Jahren arbeitete er als Manager für ein Großunternehmen. Bei Rowohlt zuletzt erschienen: «Die spinnen, die Briten» (2016).
Hermannus Pfeiffer, geboren 1956, Dr. rer. pol., Inhaber des Pressebüros Finanzdienstleistungen, arbeitet als Wirtschaftspublizist in Hamburg und schreibt hauptsächlich für Tageszeitungen. Zuletzt bei Rowohlt erschienen: «Die Zähmung des Geldes» (2000).
Staatliche Schulden schaden der Zukunft unserer Kinder! Minuszinsen ruinieren den deutschen Sparer. Welthandel nutzt allen Menschen. Digitalisierung macht uns alle reicher. Globalisierung schafft Wohlstand. Ökonomische Krisen sind immer beherrschbar. Mehr Markt hilft uns, aus der Corona-Krise herauszukommen. – Schlagzeilen wie diese lesen und hören wir jeden Tag. Aber stimmen sie auch? Sie gehören zu den 21 Mythen, denen wir in diesem Buch auf den Grund gehen. Da das Wort Mythos seit seinem Aufscheinen in Homers Epen Ilias und Odyssee zahlreiche Bedeutungen erhalten hat, möchten wir anmerken, dass es für uns die heute übliche Bedeutung einer unwahren Geschichte hat. Die Basis sind Fake News.
Der Glaube an die wirtschaftlichen Selbstheilungskräfte des Marktes hat sich auch in der Corona-Krise als das entpuppt, was er seit jeher ist: eben nur ein Glaube. Nicht erst seit der großen Finanzmarktkrise 2007/08 war klar: Der «freie Markt» erzeugt Krisen und verschärft diese mit marktfixierten Deregulierungen. Die Umweltkrise bietet einen schon seit Jahrzehnten erkennbaren, brandgefährlichen Beweis für die Entfesselung von Destruktivkräften durch sich selbst überlassene, profitwirtschaftlich getriebene Märkte. Dennoch beschwört eine Mehrheit in den Wirtschaftswissenschaften und Verbänden sowie großen Teilen der Politik weiterhin die Entfesselung der Marktkräfte. Aber wem nützt das wirklich? Unserer Gesellschaft? Zukünftigen Generationen? Wir denken: Nein.
Die in diesem Buch durch einen Blick hinter die Kulissen beleuchteten wirtschafts-, sozial- und umweltpolitischen Themen haben eines gemeinsam: Sie dominieren das politische Handeln und unseren Alltag! Obgleich sie sich zum Mythos, ja zum ideologischen Dogmatismus entwickelt haben, wurzeln sie in einer omnipräsenten Wirtschaftslehre, die sich nicht erst seit der Finanzmarktkrise erkennbar überlebt hat.
Auch Wissenschaftler folgen Moden. Die Lehre vom intervenierenden Staat gegen das Marktversagen, die John Maynard Keynes (1883–1946) und seine Schüler aus der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre zogen, wurde im «Wirtschaftswunder» der Nachkriegszeit nach und nach von einer neoliberalen Neuausrichtung der Ökonomik abgelöst. Einer ihrer führenden Köpfe war der Monetarist Milton Friedman (1912–2006), der «alles» dem profitwirtschaftlich segensreichen Geld direkt unterordnen wollte. Seine Lehre, die die Politik weltweit beeinflusst hat, stand nach seinem gescheiterten Experiment in Chile eines Tages als nackter Mythos dar: Die in die Verfassung des Diktators Pinochet festgeschriebene Herrschaft des Marktes und die folgende Privatisierung von Schulen und Renten vertiefte die soziale Kluft, die in der «Schweiz Südamerikas» 2019 zu einem Ausbruch der Gewalt führte. In Deutschland dominieren dennoch weiterhin die neoliberalen Marktradikalen, die sich von der kritischen Politischen Ökonomie, die die kapitalistischen Triebkräfte erfasst, meilenweit entfernt haben. Diese neoliberalen «Mainstream Economics» bestimmen die Akademien, die Politik und die Gesellschaft. Ein möglichst ungehemmter Markt, der keine Krisen erzeugt, sollte alles und alles Mögliche richten.
Tatsächlich funktionierte selbst in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, deren Eliten im besonderen Maße dem Markt vertrauten, die als Wohlfahrtsmaschine für alle gepriesene moderne Marktwirtschaft für einen großen Teil der Gesellschaft nie – und sie tut es nach wie vor nicht. Die Versuche der vorherrschenden Wirtschaftswissenschaft, die Wohlfahrtsmaschine so in mathematische Modelle zu pressen, dass sie bei fehlerhaftem Lauf durch das Drehen an gewissen einzelnen Schrauben wieder und besser in Fahrt käme, scheiterten jedenfalls.
Diese problematischen Entwicklungen wurden von einigen Vertretern der Mainstream-Wissenschaft durchaus registriert. Namen wie Joan Robinson, Paul Krugman oder Angus Deaton, im deutschsprachigen Raum Wirtschaftswissenschaftler wie Kurt Rothschild, Jörg Huffschmid, Peter Bofinger und Hans-Christoph Binswanger stehen für eine Ökonomik, die auch das Versagen der realen, hochmonopolisierten Marktwirtschaft in den Blick nimmt.
Hoffnungsvoll stimmt zudem die zunehmende Kritik an den neoklassischen Mainstream Economics durch Studierende der Wirtschaftswissenschaft. Dazu zählt in Deutschland das 2003 gegründete «Netzwerk Plurale Ökonomie», das aus der internationalen Bewegung «Post-autistische Ökonomie» hervorgegangen ist.
Der Kanon in «Mikro- und Makroökonomie» wird hierzulande nach wie vor deutlich rigider ausgelegt als im angelsächsischen Raum. Er prägt die Ausbildung an den Universitäten und – soweit Wirtschaft dort überhaupt ein Thema ist – an den Schulen. Ein naiver Markt-Dogmatismus herrscht seit dem Aufkommen des Neoliberalismus auch in allen – selbst den rot-grünen – Bundesregierungen. Er prägte und prägt viele Kommunalpolitiker, die Verbände und privaten, aber auch die öffentlich-rechtlichen Medien und ist inzwischen in fast sämtliche Verästelungen unserer Gesellschaft eingedrungen. Die Sache ist also wichtig, wir werden von ihr immer noch regiert.
Zumindest der sich selbst optimierende, seelenlose «Homo oeconomicus» kann indessen wohl endlich aus unserem Bewusstsein verbannt und als Mythos von gestern betrachtet werden. Denn Arbeitskraftanbieter und Verbraucher und auch Unternehmen und ihre Manager folgen mitnichten allein einer gewinnrationalen Logik. Eine relevante Gruppe der Verhaltensökonomik zeigt, dass nicht das behauptete Streben nach einem Maximum an Konsumgütern das menschliche Handeln prägt, sondern im besten Fall das Streben nach Glück. Individuen richten ihr wirtschaftliches Handeln in aller Regel immer auch nach sozialen und gesellschaftlichen Kriterien aus. Sie empfinden, wie die Glücksforschung bestätigt, zumal Empathie für Schwache und vermögen für einen guten Zweck auf Dinge zu verzichten.
Mythen, die uns teuer zu stehen kommen, korrespondieren mit einer in die Krise geratenen Wirtschaftswissenschaft, die sich mit zahlreichen unerwarteten Problemen konfrontiert sieht. Die zunehmende soziale Ungleichheit in hochentwickelten Ländern widerspricht ja der Verheißung der Marktwirtschaft: «vom Tellerwäscher zum Millionär». Gleiches gilt für die Herausforderungen durch Klimawandel, Kriminalität oder Migration. Die ökonomisch, sozial und ökologisch selbstzerstörerischen Kräfte einer entfesselten Profitwirtschaft sind durch marktfundamentalistisches Schalten und Walten offenbar nicht zu bändigen. Die Covid-19-Krise hat bei der Sicht auf die aufgestauten Fehlentwicklungen durch die hochmonopolisierten Märkte wie ein Brennglas gewirkt. Nach der überwundenen Pandemie wäre eine Rückkehr zu der wirtschaftlichen Aggressivität der Vor-Corona-Zeit fatal.
Mit diesem Buch wollen wir nicht die alten wirtschaftstheoretischen Schlachten neu beleben. Das lohnt sich nicht. Und es geht uns auch nicht darum, recht gehabt zu haben und haben zu wollen. Es geht ums Bessermachen. Wir wollen auf der Basis unserer langjährigen Erfahrung im Streit um die wirtschaftswissenschaftliche Wahrheit darstellen, was es mit den gewählten 21 Mythen auf sich hat und welche Prinzipien hinter ihnen walten. Denn sie produzieren eine ökonomische Praxis, die uns allen gesellschaftlich schadet.
Müssen wirtschafts- und sozialpolitische Zusammenhänge ein Buch mit sieben Siegeln sein? Gewiss nicht. Jedenfalls hoffen wir, die gegebenen Komplexitäten für unsere Aufklärungsarbeit nachvollziehbar eingefangen zu haben. Da gegenwärtig der allergrößte Mythos darin besteht, die Postulate des «Marktes» als alternativlos hinzustellen, legen wir zugleich einen Vorrat wahrheitsgemäßer alternativer Vorschläge an.
Bremen/Hamburg im Winter 2020/21
Rudolf Hickel,
Johann-Günther König,
Hermannus Pfeiffer
Der Mythos «Umweltpolitik vernichtet Arbeitsplätze» begleitet die Auseinandersetzung über den ökologischen Umbau von Anfang an. Als in Deutschland Anfang der 1970er Jahre erste Maßnahmen gegen die wachsende Umweltkrise durchgesetzt wurden, lautete der aggressiv vorgetragene Vorwurf sofort, damit Millionen Jobs zu vernichten und die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu belasten. Kurzfristiges Renditedenken wurde gegen eine Politik der Nachhaltigkeit auch zu Lasten künftiger Generationen gerichtet.
Es war vor allem die Energiewirtschaft mit ihren Interessenverbänden und Unterstützern in der Politik, der kein Mittel zu schade schien, um etwa gegen das Großprojekt zum Aufbau erneuerbarer Energie mit dem Ziel zu kämpfen, den Erhalt ihrer Atomkraftwerke und Kohlekraftanlagen zu sichern. Auch Verbündete in der Wissenschaft fanden sich. Beispielsweise wollte der Leiter des Bremer Energie-Instituts herausgefunden haben, dass die erneuerbaren Energien zwar anfangs Arbeitsplätze schaffen, diese aber auf lange Sicht wieder vernichtet werden. Die von den Daten und der Methodik her zweifelhafte Studie wurde von den Gegnern der Energiewende benutzt, um die erneuerbaren Energien zu diskreditieren. Mit der unerbittlichen Ausbreitung der real existierenden Umweltkrise hat dieser Mythos allerdings an Kraft verloren.
In der gesellschaftspolitischen Diskussion wurde immer deutlicher nach den Opportunitätskosten gefragt, die das Nichtstun angesichts der voranschreitenden Klimakrise erzeugt. Unternehmen mussten erfahren, wie die Öko-Krise durch wachsende Kosten und Produktionsbeschränkungen ihr Geschäftsmodell belastet, ja, zu temporären Produktionsstilllegungen führte. Zum Beispiel wegen des ersten Smogalarms Ende Januar 1985 im Ruhrgebiet.
Die Kosten durch den Missbrauch von Natur und Umwelt als «Gratisproduktivkraft» (Karl Marx) überlagerten wegen der unübersehbaren Schäden die Angst vor einem Arbeitsplatzumbau durch Maßnahmen der Umweltpolitik. Allerdings landeten die Jobängste keineswegs auf dem Müllhaufen der Geschichte, sondern wurden dennoch weiter von der Wirtschaft geschürt; der Mythos vom Jobkiller Umweltpolitik lebte, wenn auch kleinlauter, fort. Immer noch wirkt er als generelle Bremse beim konsequenten und spürbaren Einsatz der ökologischen Umbauinstrumente. Das zeigt sich auch im Falle des jüngsten «Klimapakets 2030» der Bundesregierung, in dem die Gesetze und Maßnahmen zusammengefasst sind, die den Klimaschutz in Deutschland voranbringen sollen.
Der Mythos kehrte bei der Kompromissbildung als Warnung vor der ökonomischen Machbarkeit zurück. Es zeigt sich bei den Beschlüssen zur CO2-Abgabe, die helfen soll, den Zuwachs der Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Der Bund-Länder-Kompromiss, der bei der CO2-Bepreisung ab Januar 2021 mit 25 € pro Tonne einsteigt und dann einen Preiskorridor von mindestens 55 € und höchstens 65 € öffnet – er reicht bei weitem nicht aus, um an das Ziel zu gelangen. Das belegen nationale und internationale Studien. Um das ambitioniertere Klimaziel von 1,5 Grad Celsius zu erreichen, müsste der CO2-Preis nach Angaben des Klimaökonomen Otmar Edenhofer, Direktor des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, «ungefähr 3- bis 4-mal so hoch» sein und bei etwa 130 € pro Tonne fixiert werden.
Der Mythos von der Jobvernichtung durch Umweltpolitik treibt heute also ein Dilemma voran: Der ökologische Eingriff durch einen CO2-Preis wird zwar akzeptiert, der Preis selbst aber wegen des kurzsichtigen Blickes auf die scheinbare wirtschaftliche Nicht-Machbarkeit viel zu niedrig angesetzt.
Zu der Behauptung, Umweltpolitik wirke als Jobkiller, gibt es seit Anfang der 1970er Jahre weltweit eine große Anzahl von Studien. Dabei lassen sich zwei Generationen von Studien unterscheiden. Der Autor dieses Beitrags hat zusammen mit Manfred Gurgsdies bereits 1986 eine international vergleichende Meta-Studie vorgelegt. Die wichtigsten Studien werden in Form von Steckbriefen zusammengefasst und gegenübergestellt.[*] Die Studien der ersten Generation zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Umweltpolitik kommen mehrheitlich vor allem in den USA zu der Schlussfolgerung: Es werden mehr Arbeitsplätze abgeschafft als neue geschaffen. Anfangs betonten auch die Studien zu Deutschland diese Sorge.
In der zweiten Generation der Studien verändert sich die Botschaft zu den Arbeitsplatzeffekten der Umweltpolitik jedoch. Ein Grund dafür liegt in der verbesserten Methodik und der differenzierten Datenlage. Auch ist unter dem Druck der nicht mehr zu leugnenden Umweltkrise die Untersuchungsintensität gestiegen. Die überwiegende Zahl der Studien belegt zwar einen starken Strukturwandel, aber am Ende ist die Zahl der neu geschaffenen Jobs größer als der Verlust an Beschäftigungsmöglichkeiten. Ähnliche Ergebnisse liegen für Frankreich, Finnland, Dänemark und die Niederlande vor.
Stellvertretend für die vielen Studien in Deutschland wird auf die Untersuchung von R.U. Sprenger und G. Knödgen (Ifo-Institut) hingewiesen. Nachgewiesen werden konnten jahresdurchschnittlich 220000 zusätzliche Arbeitsplätze. Dabei sind nicht einmal die neuen Arbeitsplätze durch die Produktion für den Export von Umweltschutzgütern und -dienstleistungen berücksichtigt worden. Allerdings wurde bei den Umweltschutzmaßnahmen zwar die zusätzliche Nachfrage bei Lieferunternehmen berücksichtigt, nicht jedoch die möglichen Verdrängungseffekte für Investitionen an anderer Stelle.
Immerhin konnten die direkten und gesamtwirtschaftlich indirekten Effekte unter Nutzung von Input-Output-Tabellen erschlossen werden. Eine damals vom Umweltbundesamt auf der Basis des Vergleichs von Studien verbreitete Faustregel lautete für Deutschland: Werden 1 Mrd. DM öffentliche Ausgaben in die Umwelt investiert, dann ist in der Gesamtwirtschaft mit einem Zuwachs von netto 15000 Arbeitsplätzen zu rechnen.
Die grundlegende Aktualität dieser Studien der zweiten Generation belegt die jüngste, im Herbst 2019 vorgelegte, Untersuchung zur arbeitsmarktpolitischen Machbarkeit des ökologischen Umbaus, welche die Prognos AG im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel: «Jobwende – Effekte der Energiewende auf Arbeit & Beschäftigung» erarbeitet hat. Zwar prognostiziert das Forschungsteam, dass Jobs wegfallen werden. Jedoch werde sich langfristig die ökologische Reformpolitik leicht positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken und der Wirtschaftsstandort wird gestärkt werden.
Dieses Ergebnis gilt allerdings unter der Voraussetzung, dass Industrie und Verbraucher zur Erfüllung des Erderwärmungsziels von maximal 1,5 Grad Celsius nach dem Pariser Abkommen von Ende 2015 bis 2050 etwa 95 Prozent weniger Treibhausgase im Vergleich zu 1990 in die Atmosphäre blasen. Zu den Maßnahmen, die dafür eingeplant werden, gehören unter anderem der Ausbau der Elektromobilität und der erneuerbaren Energien sowie die energetische Gebäudesanierung.
Diese aktuelle Studie lehrt, dass durch den Klimaschutz auch viele neue Jobs in Deutschland entstehen werden, nicht zuletzt in der regenerativen Energiewirtschaft und mit einer umweltfreundlichen Mobilität. Bis 2050 sollen in diesen Bereichen knapp fünf Prozent der Beschäftigten arbeiten. Zum Vergleich: In der Automobilbranche sind es derzeit etwa vier Prozent. Größter Profiteur aber ist nach dieser Studie die Baubranche. Also: Die Energiewende ist zwar ein herausforderndes Projekt, aber in der Bilanz der positiven und negativen Effekte ist sie ein Job-Creator.
Selbstverständlich verbirgt sich hinter dieser positiven Nachricht über die Arbeitsmarktfolgen auch ein dauerhafter Verlust bisheriger Arbeitsplätze. Dies ist oftmals mit sozialen Härten verbunden. Deshalb muss der ökologische Umbau, auch zur Sicherung seiner Akzeptanz, durch eine soziale Abfederung für die Betroffenen begleitet werden. Ohne eine aktive Strukturpolitik mit gezielter Qualifizierung wird die ökologische Transformation nicht gelingen. Je mehr mit diesem Strukturwandel der soziale Abstieg vieler bisher Beschäftigter bagatellisiert wird, desto leichter wird es für die Jobkiller-Mythologen, ja auch die Leugner der Umweltkrise, eine solche soziale Fehlentwicklung zu instrumentalisieren.
In der jüngeren Diskussion über die Optimierung von Ökologie und Ökonomie spielen die früheren, hochaggregierten gesamtwirtschaftlichen Analysen keine so große Rolle mehr. Hier hat ein Lernprozess stattgefunden. Denn die positiven Beschäftigungswirkungen der umweltpolitischen Maßnahmen zeigen, wie die meisten Studien nahelegen, dass der ökologisch induzierte Strukturwandel beherrschbar ist. Dafür steht die seit Jahren eindrucksvoll gewachsene Zahl der Beschäftigten im für die Gesamtwirtschaft erfassten Umweltbereich. Nach Angaben des Bundesumweltamtes vom Juni 2020 arbeiteten im Jahr 2017 mehr als 2,8 Millionen Menschen für den Umweltschutz in der Gesamtwirtschaft. Ihr Anteil liegt damit bei 6,4 % aller Beschäftigten. Insgesamt hat sich die Zahl der Umweltschutzbeschäftigten seit 2002 bis 2017 fast verdoppelt. Dieser wachsende und stabile Einsatz von Arbeitskräften für den Umweltschutz widerlegt eindrucksvoll den Mythos von der Umweltpolitik als Jobkiller.
Nochmals zum Grundsätzlichen: Im Zentrum der Debatte über die Zerstörung der Lebensräume von Mensch, Tier und Pflanze steht heute die Klimakatastrophe. Sie ist die Folge einer vorwiegend anthropogen vorangetriebenen Erderwärmung, die vor allem aus unserer derzeitigen Produktions- und Lebensweise folgt. Seit dem Beginn der Industrialisierung, also seit nunmehr über 130 Jahren, hat sich die Oberflächentemperatur um 1,4 Grad Celsius erhöht. Wird nicht massiv gegengesteuert, dann nimmt im Vergleich mit der Zeit vor der Industrialisierung die Erderwärmung nach Modellrechnungen in den kommenden Jahren um bis zu knapp 4 Grad Celsius zu – mit katastrophalen Folgen für das Ökosystem.
Wegen des Erderwärmungspotenzials durch die Nutzung fossiler Brennstoffe ist es heute das Ziel weltweiter Umweltpolitik, den Ausstoß von CO2 – die anderen Treibhausgase werden als CO2-Äquivalente berücksichtigt – massiv zu reduzieren. Dafür steht das Übereinkommen von Paris aus dem Jahr 2015, das 195 Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) in der Nachfolge des «Kyoto-Protokolls» unterzeichnet haben. Demnach soll die menschengemachte Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius gegenüber den vorindustriellen Werten gehalten werden.
Auch die Bundesregierung hat sich mit ihrem «Klimaschutzprogramm 2030» das Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen in Deutschland im Vergleich zu 1990 schrittweise zu mindern: bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent, bis 2030 um 55 Prozent und bis 2040 um 70 Prozent, um bis 2050 Treibhausgasneutralität zu erreichen. Produktionseinbrüche durch das Elend der Corona-Krise belegen den dadurch bewirkten, allerdings so nicht gewollten Rückgang der Umweltbelastung. Für das Jahr 2020 rechnet das Forscherteam der «Agora-Energiewende» in einem mittleren Szenario damit, dass begünstigt durch die Produktionsbeschränkungen als Folge der Corona-Krise mit einem Ausstoß von 718 Millionen Tonnen CO2 nach 805 Millionen Tonnen zu rechnen ist.
Das Argument von den Jobverlusten durch Umweltpolitik wirkt unter dem Regime der Klimakrise hilflos, ja lächerlich. Die dahinterstehende Ideologie von einem Wirtschaftssystem, das aus eigener Kraft auch ökologisch alles zum Besten richtet, blamiert sich angesichts der von ihm gleichzeitig erzeugten Ökoschäden. Nicht rechthaberische Abschirmung der Wettbewerbswirtschaft gegenüber den aus der Marktdynamik erzeugten Umweltschäden, sondern eine Einbettung des Wirtschaftens in einen ökologischen Rahmen ist das Gebot der Stunde. Anstatt mit dem Mythos von den Jobverlusten durch Umweltpolitik die Wirtschaft gegenüber den ökologischen Herausforderungen abzuschirmen, kommt es schon lange darauf an, Instrumente des ökologisch nachhaltigen Umbaus der Wirtschaft auch zugunsten künftiger Generationen einzusetzen.
Solche Instrumente können von gezielten Ge- und Verboten bis zu öffentlichen Investitions- und Förderprogrammen reichen. Und wegen der unterschiedlichen Anforderungen sollten sie differenziert nach den Schwerpunkten Industrie, Landwirtschaft, Energie, Verkehr (Mobilität) und Wohnen sowie nach Querschnittsprojekten wie der Erhöhung der Energieeffizienz ausgerichtet und eingesetzt werden. Dazu gehören auch gesellschaftliche Großprojekte zum ökologischen Umbau, auf die sich Wirtschaft, Politik und Wissenschaft konzentrieren.
Ein aktuelles Beispiel ist die durch die Bundesregierung ausgerufene «Nationale Wasserstoff-Strategie (NWS)». Wasserstoff, der durch klimafreundliche Energie erzeugt wird, dient der Dekarbonisierung, also am Ende dem Verzicht auf den Einsatz fossiler Energieträger. Pilotprojekte zur Produktion von Stahl, bei dem der CO2-Ausstoß durch den Einsatz von Wasserstoff praktisch vermieden wird, sind bereits über die Testphase hinaus. Ein Pilotprojekt zum klimafreundlichen Hüttenwerk liefert neben anderen Stahlwerken in Deutschland die «Salzgitter AG: Stahl und Technologie» mit SALCOS («Salzgitter Low CO2 Stealmaking»).
Auch radikale Eingriffe in die Produktionswirtschaft werden im Kampf gegen die Umweltkrise mittlerweile akzeptiert. Dazu gehört der komplette Ausstieg aus der Energieproduktion durch Atom- und Kohlekraftwerke. Für diese radikalen Verbote gibt es einen fast vergessenen Vorläufer: das weltweite Produktionsverbot des Ozonkillers Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) nach dem Montreal-Abkommen 1987 durch 196 Staaten und die EU. Und in der Londoner Konferenz 1990 wurde dann auch der Verbundwerkstoff CFK (carbonfaserverstärkter Kunststoff) verboten. Von einem Absturz der Wirtschaft und der Vernichtung von Arbeitsplätzen war am Ende auch hier keine Rede. Produkt- und Prozessinnovationen haben vielmehr den Einsatz von Kühltechniken ohne Belastung der Ozonschicht möglich gemacht.
Es ist die sich selbst überlassene einzelwirtschaftliche Rationalität, die im Wettbewerb kein Sensorium für die dadurch erzeugten ökologischen Lasten hat. Betriebswirtschaftlich kurzsichtige Rationalität durch die Externalisierung von Umweltkosten erzeugt eine gesamtökologische Irrationalität. Die Externalisierung der mit der Produktion entstehenden Kosten für Umweltschäden muss ein Ende haben. Zeitlich verzögert fallen diese externalisierten Kosten ohnehin in Form von Ver- und Geboten sowie Öko-Abgaben auf die Unternehmen zurück, wenn die angerichteten Umweltschäden die Produktionsmöglichkeiten belasten. Dann allerdings ist die ökologische Zerstörung bereits vorangetrieben worden.
Marktwirtschaften sind mit ihrer Systemlogik einzelwirtschaftlicher Gewinnmaximierung ökologisch blind. Gegen dieses systemische Marktversagen hilft nur, die «ökologische Wahrheit» (Ernst-Ulrich von Weizsäcker) im Preissystem zu verankern. Die Umweltkosten müssen dort bepreist werden, wo sie entstehen. Durch einen Aufschlag für ökologische Schäden auf die Preise lässt sich die Falle zwischen den einzelwirtschaftlichen Interessen und der gesamtwirtschaftlich-ökologischen Rationalität schließen.
Zur Verpreisung ökologischer Kosten gibt es zwei Instrumente: Abgaben und Zertifikate.
Abgaben wie die Carbon Tax erhöhen den zuvor einzelwirtschaftlich umweltblinden Preis. Dadurch wird eine ökologische rationale Verhaltensveränderung erwartet, die zur Reduktion des CO2-Verbrauchs der erzeugten Produkte führt. Allerdings muss die Frage nach der Höhe der Abgabe, mit der die ökologische Zielsetzung erreicht werden kann, ernsthaft diskutiert werden. Zu niedrige Abgaben füllen zwar die öffentlichen Kassen, verfehlen jedoch das Ziel. Und da Abgaben finanzschwache Einkommensschichten relativ stärker treffen, werden Konzepte zum sozialen Ausgleich etwa durch einen «Klimabonus» relevant. Erfunden von Arthur Cecile Pigou («The Economic of Welfare», 1920), übrigens einem überzeugten Theoretiker der Marktwirtschaft, hat sich heute in vielen Ländern das System der Öko-Abgabe auf der Basis neuerer empirisch fundierter Klimamodelle durchgesetzt (vor allem von William D. Nordhaus bestärkt), allerding mit stark unterschiedlichen Preisaufschlägen. Öko-Abgaben müssen durch weitere Instrumente – etwa Ge- und Verbote – eingeordnet werden.
Das zweite Instrument sind Zertifikate. Ihr Prinzip ist es, den politisch gewollten CO2-Ausstoß (CAP) gesetzlich zu fixieren und über Märkte zu steuern. Der Preis, zu dem Zertifikate gekauft und verkauft werden (Trade), bildet sich an der Börse (Trade). Unternehmen, die über die Grundausstattung hinaus für ihre Produktion Zertifikate benötigen, kaufen diese, und Unternehmen, die überschüssige Umweltverschmutzungsrechte besitzen, bieten diese der Börse an. Die zuständige Energiebörse in Deutschland, die «European Energy Exchange AG (EEX)», hat ihren Sitz in Leipzig.
Allein schon der Begriff Zertifikate als Umweltverschmutzungsrechte irritiert, ja provoziert vor allem in der Umweltbewegung. Dabei bezwecken Zertifikate ebenso wie die Öko-Abgabe dasselbe Ziel: Reduktion des CO2-Ausstoßes, bei Umweltvermutzungsrechten nicht indirekt über die Preise am Markt, sondern direkt an der Produktionsstätte.
Die EU kann mit ihrem seit 2005 eingesetzten «European Emission Trading System» (ETS) durchaus Erfolge aufweisen. Für die vierte Phase dieses Systems von 2021 bis 2030 ist eine jährlich zu reduzierende Zertifikatsmenge von 48 Mio. Tonnen CO2 festgeschrieben worden, ein Blick nach vorn, der auch zur Planungssicherheit der Unternehmen dienen soll.
Das Fazit lautet: Dem Marktversagen einer sich selbst überlassenen, einzelwirtschaftlich ausgerichteten Gewinnwirtschaft muss mit einer ökologischen Ordnungspolitik des Wirtschaftens begegnet werden. Dafür steht heute das System sozial-ökologische Marktwirtschaft. Der Mythos von der Umweltpolitik als Wohlstandszerstörer und Jobkiller hat keine reale Basis. Triebkraft ist eher eine ideologisch verbrämte, kurzsichtige Interessenpolitik. Heute geht es nicht mehr darum, zu fragen, wie die Wirtschaft wegen befürchteter Jobverluste gegen ökologische Interventionen abgeschirmt werden kann. Vielmehr muss das Wirtschaftssystem insgesamt auf den Erhalt und die Stärkung der Umwelt ausgerichtet werden – damit wir nicht am Ende die allgemeine Voraussetzung der Produktion und des menschlichen Lebens selbst zerstört haben.
Rudolf Hickel
Literaturtipps
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Memorandum 2019 (Kapitel 1 «Die Energiewende als europäisches Forschungsprojekt» und 2 «Gegen die Klimakatastrophe: CO2-Bepreisung als Instrument der Energiewende»), Köln 2019.
Rolf-Ulrich Sprenger unter Mitarbeit von Günter Britschak, Beschäftigungseffekte der Umweltpolitik, Berlin/München 1979.
Markus Hoch et al., Jobwende – Effekte für eine Energiewende auf Arbeit und Beschäftigung: Für ein besseres Morgen – Ein Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung 2018–2020, Bonn 2020.
Der harte Lockdown im März/April 2020 zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und die weiteren Wellen haben zwar einen ökonomischen Absturz ausgelöst. Von einer Krise der Marktwirtschaft könne jedoch nicht die Rede sein. Zum einen seien die ökonomischen Verluste Folge einer «Naturkatastrophe», also exogen, von außen verursacht. Und dies habe nichts mit der Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu tun. Zum anderen seien die Marktkräfte unbeschädigt geblieben und deshalb nach der Aufhebung des Lockdowns die Rückkehr auf den Pfad der wohlstandsstiftenden Vor-Krisen-Wirtschaft gewiss.
Aber stimmt diese Lesart?
Hinter dieser Haltung steht eine heftig diskutierte Frage: ob nämlich der Staat auch nach dem Ende der Corona-Krise dauerhaft die gestaltende Führungsrolle innerhalb der krisenanfälligen, einzelwirtschaftlich ausgerichteten Gewinnwirtschaft übernehmen soll oder nicht. Darauf gibt es eine rückwärts- und eine vorwärtsgewandte Antwort.
In der ersten Variante gilt die Corona-Krise als ein zeitlich begrenzter Zwischenfall, der nicht durch die real existierenden Marktkräfte verursacht worden ist. Dafür steht die Behauptung, in den Vor-Corona-Zeiten habe das politisch-ökonomische System als Maschine zur Erzeugung von «Wohlstand für alle» noch perfekt funktioniert. Die den unterschiedlichen Maßnahmen eines Lockdowns folgende ökonomische Krise wird in das klassische Muster vom konjunkturellen Auf und Ab eingeordnet. Deshalb seien auch nur während des wirtschaftlichen Absturzes infolge der Corona-Krise staatliche Interventionen gerechtfertigt – allerdings zeitlich befristet. Der Staat müsse sich dieser Lesart zufolge so früh wie möglich wieder aus der Finanzierung von Rettungsmaßnahmen und der gegen die Krise gerichteten gesamtwirtschaftlichen Steuerung zurückziehen. Je länger die Interventionsphase der Politik durch die Corona-Krise anhält, umso lauter werden nicht nur aus der Politik die Stimmen, die zum «Weiter so wie vorher» aufrufen. Und damit zu einem Zurück in die durchaus krisenanfälligen Entwicklungsmuster der Vor-Corona-Zeit.
Hier findet also Mythenbildung statt oder, besser gesagt, die Wiederauflage eines altbekannten Mythos in kaum veränderter Gestalt: jener von den segensreichen Wirkungen entfesselter Marktkräfte. Dieser Ansatz beruht auf zwei Fehleinschätzungen:
Harte Maßnahmen eines Lockdowns mit dem Ziel, die Infektionskurve zu begrenzen, um damit die Folgen der Pandemie medizinisch beherrschbar zu machen, führen zu massiven Verlusten der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Der Verlust an gesamtwirtschaftlicher Wertschöpfung ist jedoch nicht mit einem üblichen konjunkturellen Abschwung vergleichbar. Im Muster der Konjunktur geht mangels Nachfrage lediglich die Auslastung der gegebenen Produktionskapazitäten zurück. Bei dem nachfolgenden Aufschwung wird die gesamtwirtschaftliche Produktion über den steigenden Auslastungsgrad der im Kern unverändert vorhandenen Produktionskapazitäten dann wieder hochgefahren. Beim ökonomischen Niedergang durch die Corona-Krise dagegen werden viele Unternehmen zerstört und damit Produktionskapazitäten dezimiert, und zugleich geht die Nachfrage zurück. Das Bild vom Auf- und Abschwung nach dem V-Muster der Konjunktur trifft für die durch die Pandemie getriebene Ökonomie nicht zu. Einem Abschwung folgt allein schon wegen der Vernichtung von Produktionskapazitäten sowie den sichtbar gewordenen strukturellen Verwerfungen nicht ein spiegelbildlicher Aufschwung.
Mythosbildend wirkt auch die Behauptung, die ökonomische Krise infolge der Begrenzung der Infektionskurve sei exogen, habe also nichts mit dem weltweit expandierenden Kapitalismus zu tun. Auch die Bundeskanzlerin etikettiert die Entfesselung der Covid-19-Pandemie bezeichnenderweise als – einmalige – «Naturkatastrophe». Studien zeigen, Pandemien werden durch Mikroorganismen in tierischen Reservoiren hervorgerufen. Die Übertragung findet durch menschliche Aktivitäten statt. Die eigentlichen Ursachen sind in den weltweiten Umweltveränderungen zu suchen, die auch zum Verlust der biologischen Vielfalt und zur Klimakrise beitragen. Die voranschreitende Zerstörung von Urwäldern, die großflächige Industrialisierung der Landwirtschaft, aber auch der expandierende Wildtierhandel haben Einfluss. Mit dieser kapitalistischen Inlandname der früher abgeschotteten «wilden Natur» und vor allem durch den illegalen Wildtierhandel nimmt die Übertragung von pathogenen Viren auf die Menschen zu. Eindringlich dargelegt werden die vorherrschenden Interdependenzen zwischen der wirtschaftlichen Eroberung der Natur gegenüber den Menschen im WWF-Report, der im März 2020 veröffentlicht wurde: The Loss of Nature and the Rise of Pandemics. Nur mit einer globalen Politik zur Stärkung von Natur und Umwelt sowie einem Verbot des Wildtierhandels lassen sich neue Pandemien vermeiden.
Die Corona-Krise hat, vergleichbar einem Brennglas, seit Jahren aufgestaute Strukturprobleme und Fehlentwicklungen sichtbar gemacht. Beispiele: Durch die Dominanz der Gewinnwirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten eine systematische Unterversorgung mit öffentlichen Gütern nicht nur im Bereich der Infrastrukturinvestitionen erzeugt worden. Dazu zählt auch die Durchlöcherung des öffentlichen Gesundheitssystems infolge der Privatisierung von Krankenhäusern und des Aufkaufs von Arztpraxen durch gewinnorientierte Kapitalanleger. Weiter hat sich im Widerspruch zu einem funktionsfähigen Wettbewerb eine Markt-Macht-Wirtschaft mit großem Einfluss auf die Politik verfestigt. Schließlich werden trotz vieler Maßnahmen die unbewältigten Umweltprobleme verschärft sichtbar. Die bisher vorrangige Nutzung der Natur als «Gratisproduktivkraft» (Karl Marx) und der Umwelt als Müllkippe werden für die Revitalisierung der Wirtschaft nach dem Ende der Corona-Krise endgültig zur Entwicklungsbremse und fallen damit auf die Wirtschaft zurück.
Diese Fehlentwicklungen, die sich durch die Corona-Krise zuspitzen, widerlegen den Mythos von der «Wohlstandsökonomie für alle». Dieser Mythos leugnet auch die schweren Lasten, die die heutige Generation durch verschlechterte Lebens- und Produktionsbedingen an kommende Generationen vererbt. Einem ideologisch forcierten «Zurück» nach dem Ende der Corona-Krise muss deshalb das Leitbild eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems entgegengestellt werden. Es geht darum, die jetzt durch die Corona-Krise verschärft erkennbaren Fehlentwicklungen der durch einzelwirtschaftliches Denken und hohe Renditen getrimmten Gesamtwirtschaft durch einen dauerhaft wirksamen sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft aufzulösen.
Die durch die Corona-Pandemie erzeugte Schrumpfökonomie und die damit erzwungenen Verhaltensveränderungen sollten auf ihre Nachhaltigkeitsfähigkeit überprüft und in diesem Sinne bestärkt werden. Beispiele sind der zusammengebrochene Flugverkehr sowie der weltweit angeschlagene Massentourismus. Die Corona-Krise könnte durchaus die Erkenntnis bestärken, dass weniger oft mehr ist. Auf der Basis neuer Einsichten mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftens darf es zur Vor-Corona-Zeit keine rücksichtslose Rückkehr geben: Künftig wird weniger umweltbelastend geflogen, der Kreuzfahrttourismus wird reduziert, das Konsumverhalten gerade auch im Bereich der Freizeitaktivitäten wird neu sortiert. Auch die Digitalisierung zusammen mit Mediensoftware wird auf allen Ebenen diesen Strukturwandel beschleunigen.
Bereits beim Neustart aus dem Corona-Absturz der Wirtschaft sollten solche Einsichten in die Rettung der Wirtschaft aus ihrer unverschuldeten Notlage mit den Mitteln einer sozial-ökologischen Transformation eingehen. Beim wirtschaftsstrukturellen Umbau wäre nach den jüngsten Erfahrungen mit weltweit zusammengebrochenen Lieferketten auch die Stärkung der lokalen Wirtschaft gegenüber der von den Globalisierungsrisiken abhängigen Export- und Importwirtschaft wichtig.
Die Wucht der sozial-ökomischen Krise infolge der Corona-Pandemie hat ideologisch und handlungsorientiert erst einmal Wunder bewirkt. Der massive Handlungsdruck auf den Staat scheint den auf Marktvertrauen basierenden Neoliberalismus erst einmal verdrängt zu haben. Der schon in Vor-Corona-Zeiten die Realität vernebelnde Mythos «Mehr Markt gegen die Krise» taugt nicht zur aktuellen Antikrisenpolitik: Die Gesamtwirtschaft stürzte im ersten Jahr der Corona-Krise um über 5 % ab. Nach dem ersten Lockdown im März 2020 sind die Verluste der Exportwirtschaft durch weltweit unterbrochene Lieferketten groß gewesen. Und die lokale Wirtschaft, beispielsweise die Gastronomie, die Freizeit- und Unterhaltungswirtschaft zusammen mit der Kultur ist im zweiten Teil-Lockdown seit November 2020, der bis ins neue Jahr verlängert werden musste, noch einmal getroffen worden.
Mit welcher Entwicklung in den kommenden Jahren zu rechnen sein wird, ist mit den üblichen Mitteln der Prognose kaum beantwortbar. Denn entscheidend sind die Ursachen der Corona-Pandemie sowie deren Überwindung. Bleibt die Pandemie mit anhaltenden Schutzmaßnahmen wie Atemmasken, Hygiene und Abstandsregel durch das Gesundheitssystem beherrschbar, dann ist bei der Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion mit folgendem Verlauf zu rechnen: Dem tiefen Absturz des Bruttosozialprodukts mit über 5 % folgt nach Prognosen aus der Wirtschaftswissenschaft vom November 2020 ein Wiederanstieg in Richtung 4,0 % im Jahr 2021. Mit einer konjunkturellen Automatik nach dem vielzitierten V-Muster – dem Abschwung folgt der Aufschwung – hat das nicht viel zu tun. Es ist doch klar, dass die mit der Abschwächung der Pandemie gelockerten Restriktionen schnell wieder zu einem Anstieg der Produktion führen. Gegenüber dieser makroökononomischen Betrachtung muss wirtschaftsstrukturell jedoch nach den unterschiedlichen Entwicklungen in den Branchen differenziert werden. Besonders hart getroffen sind die Produktionsbereiche Tourismus, Gastronomie und Veranstaltungswirtschaft. Damit trifft es vor allem die lokale Wirtschaft. Dagegen stehen die Gewinner im Bereich digitaler Kommunikation. Der große Profiteur der Pandemie ist der Onlinehandel gegenüber dem Einzelhandel.
Allerdings ist vor einer Überschätzung der dem Absturz folgenden Wiederbelebung zu warnen. Der sich seit Jahren durchsetzende Trend des Wirtschaftswachstums in der Nähe der Stagnation (reales Wirtschaftswachstum 2019 von 0,9 %) wird auch die Post-Corona-Ära prägen. Dieser Trend zur Wachstumsverlangsamung könnte durch gesamtwirtschaftlich bremsende Anpassungen infolge der Corona-Krise über dann dauerhafte Kapazitätsreduktionen auch infolge veränderten Nachfrageverhaltens etwa durch eine ökologische Ausrichtung verstärkt werden (zum Beispiel durch Rückgang der Binnenflüge).
Große Gefahren drohen der Unternehmenswirtschaft wie schon angesprochen allerdings durch die wachsende Zahl an Insolvenzen. Ursache sind fehlende Liquidität und damit auch die Unmöglichkeit, Kredite zu bedienen. Dies trifft vor allem auf kleine und lokale Unternehmen zu, die gegen derartige Belastungen nicht mit einem ausreichenden Kapitalpuffer gewappnet sind. Noch wird die Insolvenzwelle durch zeitlich befristete Ausnahmen beim Insolvenzrecht gestoppt. Bis Januar 2021 wurde erst einmal die haftungsrelevante dreiwöchige Insolvenzantragspflicht ausgesetzt. Dabei ist die Sorge, nicht mehr marktfähige sog. Zombie-Unternehmen könnten die Regelung missbrauchen, groß. Das sind Unternehmen, die künstlich durch politische Interventionen am Leben gehalten werden. Wie auch bei den anderen staatlichen Hilfen besteht immer die Gefahr durch Trittbrettfahrer. Diese lässt sich jedoch miniminieren. Wenn allerdings die Ausnahmeregel aufgehoben wird und die Insolvenzwelle ins Rollen kommen sollte, könnten Dominoeffekte ausgelöst werden. Im Mittelpunkt stehen die Banken, die wegen nicht mehr bedienbarer Kredite bei unzureichender Risikovorsorge in ihren Bilanzen Wertberichtigungen vornehmen und damit Verluste hinnehmen müssen.
Um die Krise zu bewältigen, sind staatliche Interventionen zugunsten der notleidenden Unternehmen unverzichtbar. Dazu gehören finanzielle Stützungsmaßnahmen, etwa durch Zinszuschüsse, Bürgschaften, geförderte Kredite sowie weitere Zuweisungen.
Grundsätzlich ist festzuhalten: Da die Marktkräfte nicht in der Lage sind, die Corona-Krise aus eigener Kraft erfolgreich zu bewältigen, kann nur der außerhalb des Wettbewerbs stehende Staat die Führungsrolle übernehmen.
Er hilft den unverschuldet in die Krise geratenen Unternehmen, unterstützt die sozial Belasteten. Gesamtwirtschaftlich kommt die Aufgabe hinzu, die Stabilität mit Konjunktur- und Strukturprogrammen zu sichern. Die deutsche Politik hat sich nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie unter Verzicht auf zuvor gepflegte Tabus als handlungsfähig erwiesen. Im Mittelpunkt ihres Engagements stehen unter anderem folgende Aufgabenfelder: umfangreiche Ausgaben zur Stärkung des Gesundheits- und Bildungssystems; Überbrückungszahlungen an hilfsbedürftige Unternehmen; Garantien in Form von Krediten, Bürgschaften und Beteiligungen (etwa bei der Lufthansa AG), Sonderprogramme für Solo-Selbständige, Begrenzung der Lohnverluste durch Kurzarbeitergeld, Hilfen an Familien (etwa einmalig 300 € Kindergeld) sowie Finanzmittel zur Stärkung des sozial-kulturellen Zusammenhalts. Hinzu kommen steuerpolitische Maßnahmen wie Stundungen von Steuerzahlungen und die befristete Reduktion des Umsatzsteuersatzes von 19 auf 16 %.
Auf eine Anfrage im Deutschen Bundestag hat das Bundesfinanzministerium im Sommer 2020 errechnet: Zur Bewältigung der Covid-19-Krise werden durch die öffentlichen Kassen für die Jahre 2020 und 2021 insgesamt Finanzmittel im Umfang von knapp 1,5 Billionen € mit allerdings noch steigender Tendenz zur Verfügung gestellt. In dieser Summe stecken zum einen die haushaltswirksamen Maßnahmen, die sich beim Bund auf 400,4 Mrd. € 2020 und 74 Mrd. € 2021 summieren. Hinzu kommen die Länder mit 116,3 Mrd. € für die beiden Jahre. Auch die Sozialversicherungen belasten die öffentliche Hand mit 29,3 Mrd. €. Aus diesen Mitteln werden auch Überbrückungshilfen für den zweiten Lockdown vom November zur Verfügung gestellt (etwa für den Umsatzausfall der Gastronomie bis zu 75 % im Vergleich zum November 2019). Hinzu kommen Nachjustierungen durch bisher nicht genügend berücksichtigte Branchen (Kunst, Theater, Entertainmentsektor). Wichtigste Änderung bei den Solo-Selbständigen ist die Zielgröße direkte Einkommenssicherung, statt die Hilfen an den meistens nicht vorhandenen Betriebskosten auszurichten.
Zu den haushaltswirksamen Maßnahmen sind für die beiden Jahre 2020 und 2021 Garantien in Form von Bürgschaften, Schnellkrediten und Beteiligungen im Umfang von 826,3 Mrd. € zugesagt. Soweit allerdings die Garantien ihr Ziel erreichen, die unterstützten Unternehmen aus der notleidenden Phase herauszuführen, wird es auch nicht zu finanziellen Belastungen des Staates kommen.
Mit dem derzeit bis Dezember 2020 (dem Redaktionsschluss dieses Beitrags) bewilligten Potenzial an finanzieller Belastung der öffentlichen Haushalte für die beiden Jahre 2020 und 2021 mit über 1,5 Bio. € stellt sich die Frage: Mit welchen Instrumenten sollen die Steuerausfälle durch den Absturz der Wirtschaft zusammen mit den konjunkturpolitisch gezielten Stabilisierungsmaßnahmen sowie die direkten, haushaltswirksamen Ausgaben beispielsweise für das Gesundheitssystem und die Rettungsmaßnahmen zugunsten der Unternehmenswirtschaft finanziert werden? Nach den Zeiten der Deckelung der Staatsschulden durch die «Schuldenbremse» bzw. die «schwarze Null» hat sich in der Corona-Krise ein breiter, finanzwissenschaftlich gut begründbarer Konsens durchgesetzt: Um den Staat fiskalisch handlungsfähig zu halten, werden ausschließlich öffentliche Kredite zur Bewältigung der fiskalischen Herausforderungen eingesetzt. Diese Finanzierungspolitik ist gesamtwirtschaftlich vernünftig und passt zu den massiven Liquiditätsüberschüssen auf den Finanzmärkten.
Sie ist im Übrigen alternativlos. Denn würden in dieser Phase einer sich vom Absturz langsam erholenden Wirtschaft bei geschrumpfter konsumtiver und investiver Nachfrage zur Schließung der Haushaltslücke Staatsausgaben gekürzt und/oder Steuern erhöht, dann würde sich die gesamtwirtschaftliche Krise vertiefen.
Diesem Grundmuster der neoliberalen Austeritätspolitik folgt Deutschland zu Recht nicht. Auf eine krisenverschärfende Finanzpolitik durch Ausgabenkürzungen wird derzeit verzichtet. Allein der Bund hat mit zwei Nachtragshaushalten (Mai und Juni 2020) die Kreditaufnahme im Haushaltsjahr 2020 um 217,772 Mrd. € ausgeweitet. Für das Jahr 2021 werden knapp 180 Mrd. € Bundesschulden hinzukommen. Das sind für die beiden Jahre insgesamt knapp 398 Mrd. €. Dazu kommen die Bundesländer, die nach dem Normalmodus der Schuldenbremse ab 2020 keine öffentlichen Kredite hätten aufnehmen dürfen, mit über 96 Mrd. € (Stand Juni 2020).
Die Deutsche Bundesbank schätzt in ihrem «Monatsbericht August 2020», dass der Schuldenstand des Staates mit insgesamt 2,5 Bio. € auf 75 % des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2020 angestiegen sein wird. Der Finanzierungssaldo (Nettokreditaufnahme im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) wird im Jahr 2020 auf 7 % geschätzt. Damit ist klar: Die beiden Schuldengrenzen nach den EU-Budgetregeln mit maximal 60 % beim Schuldenstand und 3 % beim Finanzierungssaldo werden auch in Deutschland zu Recht gerissen.
Vor allem aber hat die im Grundgesetz fixierte Schuldenbremse die Finanzierung der Corona-Fiskalkosten nicht ausbremsen können. Genauer betrachtet: Die Schuldenbremse lässt beim Bund eine konjunkturbedingte und strukturelle Verschuldung (0,35 % des Bruttoinlandsprodukts) zu. Diesen Spielraum hatte der Bund mit seiner «schwarzen Null» – also Mehreinnahmen gegenüber den Staatsausgaben – nicht einmal ausgeschöpft. Noch 2019 hat er auf die verfassungsrechtlich zulässige Nettokreditaufnahme von knapp 12 Mrd. € verzichtet.