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Die lang ersehnte Fortsetzung der beliebten "Courtship Wars"-Serie
Rayne Kenyon, der unwiderstehliche Earl von Haviland, entschließt sich zu heiraten – nicht der Liebe, sondern der Erhaltung seines Stammbaums wegen. Seine Wahl fällt auf die schlichte Madeline. Die kann ihr Glück kaum fassen und setzt alles daran, Rayne von ihrer Leidenschaft zu überzeugen. Unversehens sieht sich der Earl einer verführerischen Schönheit gegenüber…
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Seitenzahl: 477
Veröffentlichungsjahr: 2011
Rayne Kenyon, der Earl von Haviland und ein ehemaliger Spion, hatte in seinem Leben bislang Besseres zu tun als sich mit Liebesdingen zu beschäftigen. Doch als zukünftiger Erbe des Familienbesitzes muss er sich wohl oder übel eine Frau suchen. Seine Wahl fällt ausgerechnet auf die auf den ersten Blick eher schlichte Madeline, die Tochter eines Freundes, dem er sein Leben verdankt. Rayne erwartet sich von der Ehe nicht allzu viel – und ist mehr als überrascht, als sich Madeline nicht nur als äußerst geistreich sondern auch als ausgesprochen verführerisch erweist.
Madeline macht sich nichts vor: Sie weiß, warum Rayne sie geheiratet hat. Doch sie beschließt, das Glück in ihre eigenen Hände zu nehmen und aus einer Vernunftsehe das Beste zu machen. Mit dem Ausmaß der Leidenschaft, die sie plötzlich in ihrem Mann zu erwecken vermag, hat sie allerdings selbst nicht gerechnet.
»Nicole Jordan ist eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen! « Sherrilyn Kenyon
Nicole Jordan ist eine äußerst erfolgreiche Autorin historischer Liebesromane. Ihre Bücher erscheinen regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Nicole Jordan schreibt und wohnt mit ihrem Mann und ihren Pferden, der zweiten großen Liebe ihres Lebens, in Utah.
Meinen wunderbaren Freundinnen beiTheGoddessBlogs.comIhr habt diese letzten paar Jahre zu etwas ganzBesonderem gemacht.
Wie sehr wünschte ich, du wärst noch bei mir und könntest mir Rat erteilen, Maman. Du hast mich nie davor gewarnt, wie erregend der Kuss eines Mannes sein kann oder dass eine schlichte Umarmung einer Dame alle Sinne zu erschüttern vermag. Welch schockierende Erfahrung!
September 1817, unweit von London
»Zieht denn ein Unglück das nächste nach sich?«, murmelte Madeline Ellis, als sie aus dem Gästezimmerfenster des Gasthofs hinab in den schwach beleuchteten Stallhof sah. »Erst die Kutsche, und nun Lord Ackerby.«
Ihre sich stetig verschlimmernde Lage ließ ihr den Mut schwinden. War es nicht bereits ärgerlich genug, dass die Postkutsche, die sie nach London bringen sollte, mitten in einem Gewitter ein Rad verlor, so dass Madeline eine Stunde vom Ziel entfernt in einem Gasthof gestrandet war? Genügte es nicht, dass ihre ohnedies dürftigen Mittel die zusätzlichen Ausgaben für das Zimmer kaum verkrafteten? Musste der abscheuliche Baron Ackerby zu allem Verdruss auch noch ihre Fährte aufgenommen haben?
Madeline hatte sich eben ins Bett zurückgezogen, als sie von dem Lärm aufgeschreckt wurde, der mit der Ankunft des Barons im Hof des »Drake« einherging. Im Lampenschein unten konnte sie die elegant gewandete Gestalt seiner Lordschaft erkennen und hören, wie er schroff befahl, man solle seine Pferde wechseln, während er sich im Gasthof erkundigte.
Als sein Blick zu den Fenstern hinaufwanderte, duckte Madeline sich eilig hinter den Vorhang.
»Wie überaus ärgerlich«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Mehrere Jahre hatte Lord Ackerby sein Verlangen, sie zu seiner Mätresse zu machen, lediglich angedeutet, doch in jüngster Zeit wurden seine unerwünschten Avancen abstoßend unverhohlen, und jede Begegnung mit ihm meiden zu wollen, schien ein sinnloses Unterfangen.
Bei dem Gedanken, der Lüstling könnte sie hier entdecken, verzog Madeline angewidert das Gesicht. Sie wollte nicht glauben, dass Ackerby so verschlagen wäre, sie sich mittels roher Gewalt gefügig zu machen, dennoch war sie in ihrem Nachthemd und barfuß entschieden zu wehrlos. Leider hatte sie keinen Morgenrock bei sich, denn ihre Reisetruhe war noch hinten auf der Postkutsche. Und ihr Umhang war zu nass und schmutzig, nachdem sie wegen des Kutschenunglücks durch den strömenden Regen bis zum Gasthof gegangen war. Wahrscheinlich blieb ihr nicht einmal mehr Zeit, ihre schlammbesudelten Halbstiefel anzuziehen. Zweifellos würde der Baron sich bei den Wirtsleuten erkundigen, ob eine Dame ihres Aussehens – mittelbraunes Haar, mittelgroß, schlicht gekleidet – heute hier gewesen war. Sodann würde man ihn zu ihrem Zimmer nach oben schicken, wo der lachhaft schmale Türriegel kaum ein Hindernis darstellen dürfte. Gott bewahre!
Entschlossen machte Madeline die Schultern gerade. Nach dem Tod ihrer Arbeitgeberin und der überstürzten Abreise ihres Bruders war sie vollkommen auf sich gestellt. Also kannst du ebenso gut zur Tat schreiten, anstatt wie ein einfältiges Geschöpft hilflos dazustehen, schalt sie sich im Geiste. Sie war die Tochter eines Soldaten, die gelernt hatte, stark und eigenständig zu sein.
»Er hält mich für schutzlos, Maman, doch er wird feststellen, dass er irrt«, murmelte Madeline, während sie in der Dunkelheit nach ihrem Handbeutel suchte.
Zugegeben, sie besaß die zweifelhafte Angewohnheit, mit ihrer verstorbenen französischen Mutter zu sprechen, gleichsam deren stummen Rat zu suchen. Jacqueline Ellis war, sehr zum Kummer ihres Ehegatten und der zwei Kinder, schon lange zur letzten Ruhe gebettet. Ein schweres Wechselfieber hatte sie in jenem Winter dahingerafft, als Madeline dreizehn Jahre alt wurde. Für Madeline war es der traurigste Tag ihres Lebens gewesen. Doch die imaginären Gespräche mit ihrer geliebten Mutter gaben ihr das Gefühl, Maman wäre immer noch bei ihr.
Madelines Unglück mehrte sich, als ihr Vater vor fünf Jahren im Krieg getötet wurde. Und nun hatte der einzige nahe Verwandte, der ihr noch geblieben war, ihr jüngerer Bruder Gerard, sie in dieser Woche verlassen, um mit seiner Liebe aus Kindertagen nach Schottland durchzubrennen.
Madeline fühlte sich ein wenig besser, als sie die kleine Pistole in ihrem Beutel fand. Trotzdem behagte es ihr nicht, hilflos zu warten, bis der Unhold hier war.
»Und, Soldatentochter oder nicht, es ist keineswegs schändlich, sich zurückzuziehen, wenn die Lage es erfordert«, sagte Madeline zu sich. Papa hätte ihr beigepflichtet, dass es nicht feige wäre, unter solchen Umständen zu fliehen – vielmehr wäre es weise.
Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Pistole geladen war, öffnete sie ihre Zimmertür und lugte hinaus auf den Flur. Es war niemand dort, wie sie im matten Schein der Wandfackel sehen konnte.
Sie schlüpfte aus dem Zimmer, schloss leise die Tür und schlich den Korridor hinunter zum hinteren Teil des Gasthofes. Aus dem Schankraum unten hörte sie Gelächter und grölende Männerstimmen. Derweil bog sie um eine Ecke, hinter der sie auf ein Versteck hoffte.
Erleichterung überkam sie, als sie eine offene Tür entdeckte, die in einen kleinen Salon führte, kein weiteres Schlafgemach. Ein Feuer knisterte im Kamin, und eine Lampe erhellte die vordere Hälfte des Raumes.
Kaum vernahm sie unheimliche Schritte von der Treppe, huschte Madeline in den Salon und stellte sich hinter der Tür auf Verteidigungsposten.
Baron Ackerbys Avancen wurden während der letzten drei Wochen beständig dreister, seit Madeline ihre langjährige Stellung als Gesellschafterin bei einer reizbaren, aber dennoch liebenswerten älteren Adligen mit deren Ableben verlor. Nun war Madeline auf dem Weg nach London, wo sie sich bei einer Agentur um eine neue Stelle bewerben wollte, musste sie doch dringender denn je für ihren eigenen Unterhalt sorgen. Ihre feste Überzeugung, dass wahre Liebe etwas höchst Kostbares war, hatte sie dazu bewogen, ihrem Bruder zu helfen und ihm ihre sämtlichen Ersparnisse für die Fahrt nach Schottland zu geben.
Madeline verabscheute es, in solch einer prekären Lage zu sein, buchstäblich verarmt und der Gnade eines mächtigen, vermögenden Herrn ausgeliefert, der glaubte, über alles und jeden in Chelmsford, Essex, zu herrschen. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass Baron Ackerby sie vor allem deshalb begehrte, weil sie sich seinen Annäherungsversuchen stets widersetzt hatte. Warum sonst sollte er einer unscheinbaren jungen Frau nachstellen, die zudem für ihren wachen Verstand berüchtigt war, wenn nicht um des Reizes willen, sie zu besiegen und gesellschaftlich zu vernichten?
Offenbar nährte ihr Widerstand seine Entschlossenheit, sie zu seiner Mätresse zu machen. Gleichwohl war Madeline sprachlos gewesen, als Ackerby die Frechheit besaß, ihr dieses schamlose Angebot keine zwei Stunden nach dem Begräbnis ihrer Arbeitgeberin zu unterbreiten.
Betrüblicherweise war Madelines Herkunft überdies von Nachteil. Die französischen Emigranten in Essex waren größtenteils arm und hatten wenig Möglichkeiten, sich gegen die Launen des Landadels und der vermögenden Grundbesitzer zu wehren. Und auch wenn Madeline bloß zur Hälfte französisch war – ihr Vater war ein Captain der British Army und ein brillanter Spion unter General Lord Wellington gewesen – , konnte sie wenig gegen einen wollüstigen Adligen ausrichten, der sich in den Kopf gesetzt hatte, sie in seinen Privatbesitz einzugliedern.
Bibbernd in ihrer spärlichen Kleidung, stand Madeline in dem Salon und horchte. Sie hätte sich besser eine Bettdecke umgewickelt, die sie vor der Kälte abschirmte. Selbst mit der Pistole in der Hand fühlte sie sich verwundbar. Und sie hasste dieses Gefühl von Ohnmacht. Ihr Herz schlug viel zu schnell, während sie sich fragte, welchen Vorwand der Baron den Wirtsleuten präsentieren würde, weshalb er sie verfolgte …
In diesem Moment stellten sich ihre Nackenhaare auf. Sie hatte eindeutig geirrt, als sie den Salon für verlassen hielt, denn nun spürte sie eine bedrohliche Präsenz hinter sich.
Gleich darauf setzte ihr Herzschlag aus, als sich eine starke Männerhand plötzlich um ihr Handgelenk schloss wie eine Fessel. Mit einem stummen Schrei fuhr Madeline herum, doch da entriss er ihr auch schon ihre Pistole. Der Druck, mit dem seine Arme sie festhielten, verbot Madeline jede Bewegung.
Entsetzt blickte sie zu einem Fremden mit rabenschwarzem Haar auf. Er war groß, kräftig gebaut, und strahlte etwas Gefährliches aus. Doch es war seine maskuline Schönheit, die Madeline den Atem raubte: kantige Züge, geschwungene schwarze Brauen und leuchtend blaue Augen, umrahmt von dichten, dunklen Wimpern.
Sein Blick schien sie regelrecht zu bannen.
Gütiger Himmel, Maman … was tat ich? Die Antwort kannte sie bereits.
Alles deutete darauf hin, dass sie vom Regen in die Traufe geraten war.
Rayne Kenyon, Earl of Haviland, hatte während seiner illustren Laufbahn beim britischen Geheimdienst schon vieles gesehen, doch nicht einmal bei ihm kam es täglich vor, einer Dame zu begegnen, die nichts außer einem Nachthemd und einer Pistole trug.
Und dabei hatte er sich erst unlängst beklagt, wie langweilig sein Leben dieser Tage wäre!
Er nahm es nie gut auf, wenn er unbewaffnet mit einer Waffe bedroht wurde. Außerdem war die letzte Dame, die eine Pistole auf ihn richtete, eine französische Spionin gewesen, die ihn umbringen wollte. Deshalb hatten, als dieses dürftig verhüllte Geschöpf in den Salon gestürmt kam, in dem er einen Verwandten erwartete, seine über Jahre trainierten Reflexe das Kommando übernommen.
Nun, da er sie entwaffnet hatte, regten sich schnell andere Impulse in ihm. Es war verflucht närrisch, sich von einer Fremden angezogen zu fühlen, die einen tödlichen Anschlag im Schilde führen könnte, auch wenn ihm niemand einfiele, der ihm gegenwärtig nach dem Leben trachtete. Seine Tage als Meisterspion waren längst vorüber.
Und die junge Dame wirkte hinreichend erschrocken, dass Rayne bezweifelte, ihr Ziel zu sein.
»Ich b-bitte um Verzeihung«, stammelte sie mit zittriger, atemloser Stimme. »Ich w-wusste nicht, dass jemand hier drinnen ist.«
Rayne lockerte seinen Griff ein wenig, hielt sie allerdings weiter mit einem Arm um die Taille, solange er ihre Pistole musterte.
Als er sah, wie sehnsüchtig sie die Waffe betrachtete, nahm Rayne sie kopfschüttelnd herunter. »Die behalte ich, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Aber ich hätte sie doch niemals gegen Sie gerichtet!«
»Warum hatten Sie die Waffe dann bei sich?«
Sie wurde merklich unruhig, als Schritte auf dem Korridor zu hören waren. »Bitte«, flüsterte sie flehend und blickte sich zur Tür um. »Verraten Sie mich nicht!«
Es war nicht zu übersehen, dass sie sich vor demjenigen fürchtete, der dort auf dem Flur war.
»Ich hoffe, Sie werden mir vergeben«, fügte sie eilig hinzu, »aber ich muss Sie bitten, mich zu küssen.« Mit diesen Worten schlang sie ihre Arme um seinen Hals, streckte sich nach oben und presste ihren Mund auf seinen.
Ein Dutzend Jahre hatte Rayne für die Krone gearbeitet, und in all der Zeit war er nur sehr selten von etwas überrascht worden. Doch ihre Lippen auf seinen zu fühlen, kam ebenso unerwartet wie die Flut purer Wonne, die ihn dabei überrollte.
Ihr Mund war weich und wohlgerundet, was auch für ihren Leib galt, und so handelte Rayne abermals instinktiv und erwiderte den Kuss mit einer ihn selbst verblüffenden Inbrunst.
Sie schmeckte erregend und erstaunlich süß. Ohne nachzudenken, steigerte Rayne das Vergnügen, indem er ihre Lippen mit seiner Zunge öffnete.
Zuerst versteifte sich die Fremde, als würde sie erschrecken, doch sie sträubte sich nicht – vielleicht weil sie zu verblüfft war.
Er hätte sie noch eine ganze Weile weiter küssen können, wäre der intime Moment nicht durch eine barsche männliche Stimme gestört worden.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten!«
Zu Raynes Bedauern fuhr die Frau in seinen Armen zusammen und löste den Kuss. Ihre Wangen waren gerötet, und sie zitterte, als sie sich zu dem Neuankömmling umwandte. Gemessen an den Umständen war ihre Haltung dennoch bewundernswert, als sie kühl antwortete: »Lord Ackerby, was führt Sie her?«
Offensichtlich kannte sie den hochgewachsenen Gentleman mit dem kastanienroten Haar, der sie mit bohrendem Blick anschaute.
»Nun, Sie natürlich, Madeline. Ich hörte, dass Sie Chelmsford verließen, um nach einer Stellung zu suchen, und wollte Sie persönlich nach London eskortieren. «
»Sehr freundlich von Ihnen, Mylord, aber ich benötige Ihre Hilfe nicht.«
»Gewiss tun Sie das. Sie verfügen derzeit über kein Einkommen und kein Transportmittel.«
Trotzig reckte sie ihr Kinn. »Ich komme sehr wohl ohne Hilfe aus. Und wie Sie sehen, bin ich momentan beschäftigt. Ich würde meinen, selbst Ihnen ist bekannt, dass es sich nicht ziemt, ein Schäferstündchen zu unterbrechen.«
Der Adlige schien im ersten Augenblick entsetzt, dann wurde er misstrauisch. »Wollen Sie mich glauben machen, Sie wären hier, um Ihren Geliebten zu treffen?«
»Glauben Sie, was immer Sie mögen, Mylord«, entgegnete sie süßlich.
Rayne begriff recht schnell, dass sie vorgab, eine Liaison mit ihm zu haben, um ihren Verfolger abzuschrecken. Und er beschloss, ihre Scharade für eine Weile mitzuspielen. Also legte er seinen Arm fester um ihre Taille und zog sie dicht an sich.
»Ackerby, nicht wahr? Sie sollten sich dem Wunsch der Dame fügen, die offenbar kein Verlangen nach Ihrer Gesellschaft hat.«
Die Miene des Adligen verfinsterte sich, als er zu Rayne sah. »Und wer zum Teufel sind Sie?«
»Ich bin Haviland.«
»Der Earl of Haviland?«, fragte der Mann, dem der Name selbstverständlich etwas sagte.
»Ebender.«
Raynes Titel schüchterte Ackerby sichtlich ein. Kein Wunder, war es doch eine Sache, einer schutzlosen jungen Dame nachzustellen, eine gänzlich andere aber, es mit einem wohlhabenden Earl aufzunehmen, der sowohl sich selbst zur Wehr setzen als auch die betreffende Dame zu schützen vermochte.
»Diese Angelegenheit geht Sie nichts an, Sir«, konterte Ackerby schließlich.
»Das tut sie sehr wohl«, widersprach Madeline gelassen. »Sie sind es, der keinerlei Anspruch auf mich erheben darf, Mylord.«
Ackerbys Ton wurde merklich versöhnlicher. »Ich bin Ihretwegen weit gereist, Madeline. Ich sorge mich um Ihr Wohlergehen.«
»Ach ja? Ich glaube kaum, dass Ihnen mein Wohl am Herzen liegt. Und wie ich Ihnen bereits mehrfach mitteilte, interessiert mich Ihr Angebot nicht. Vielleicht verstehen Sie nun den Grund. Ich habe schon einen Gönner.«
Sie hielt sich wahrlich tapfer, wie Rayne feststellte; trotzdem war es an der Zeit, dass er etwas sagte. »Ich schlage vor, dass Sie gehen, Ackerby, bevor ich mich gezwungen sehe, Ihnen nach draußen zu helfen.«
Der Adlige konnte eindeutig nicht fassen, dass er des Zimmers verwiesen wurde – und es machte ihn wütend. Er bedachte erst Rayne, dann die junge Dame mit einem vernichtenden Blick.
»Sie werden noch von mir hören«, warnte Ackerby sie, ehe er auf dem Absatz kehrtmachte und hinausging.
Sie hatte die Luft angehalten, bis sie nach einer ganzen Weile vor Erleichterung erschauderte.
»Danke, dass Sie mich nicht verraten haben«, murmelte sie und sah zu Rayne auf. »Ich wollte Ihnen wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
»Nicht der Rede wert«, entgegnete er gelassen. »Ich gestehe, dass es meiner Eitelkeit schmeichelte, Ihren Liebhaber zu spielen.«
Ihre Wangen färbten sich entzückend rosa. »Für gewöhnlich küsse ich keine Fremden – oder überhaupt jemanden.« Sogleich wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Waffe zu, die Rayne nach wie vor in der Hand hielt. »Darf ich bitte meine Pistole zurückhaben? «
»Das würde ich davon abhängig machen, zu welchem Zweck Sie sie zurück möchten. Sie werden verstehen, dass es mich ein wenig beunruhigte, als Sie plötzlich mit gezückter Waffe hereinkamen.«
Ihr Mundwinkel zuckte. »Von mir drohte Ihnen zu keinem Zeitpunkt Gefahr. Ich bewaffnete mich lediglich für den Fall, dass Baron Ackerby mir zu nahe treten sollte. Seine … Absichten bezüglich meiner Person sind wenig ehrenhaft.«
»Ja, so viel dachte ich mir«, sagte Rayne. »Hätten Sie ihn erschossen?«
»Ich denke nicht. Doch ich hielt es für angebracht, vorbereitet zu sein.«
»Ich vermute, dass er Ihnen eine fragwürdige Stellung anbot, die Sie ablehnten?«
Sie rümpfte die Nase. »Gewiss lehnte ich ab. Ich werde keines Mannes Mätresse, insbesondere nicht die von einem, dessen arrogantes Benehmen mich in den Wahnsinn treibt. Sein Dünkel verbietet ihm, mein Nein zu akzeptieren. Dennoch habe ich ihn augenscheinlich unterschätzt. Ich hätte nicht erwartet, dass er mir nach London folgen würde.« Sie blickte wieder zur Tür. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern noch ein wenig hier warten, ehe ich in mein Zimmer zurückkehre.«
»Nicht im Geringsten. Ich hätte hingegen angenommen, dass es Ihnen missfällt, mit einem Fremden allein zu sein.«
Hierauf betrachtete sie ihn nachdenklich. »Bei Ihnen gehe ich das Wagnis ein. Sie kommen mir wie ein wahrer Gentleman vor.«
Rayne erwiderte ihren Blick, während er seine eigenen Schlüsse bezüglich ihrer Person zog. Sie drückte sich wie eine Dame aus, und auch ihr Gebaren sprach dafür, dass sie aus gutem Hause war.
Rayne verstand, warum der Baron sie in sein Bett bekommen wollte. Zwar war sie keine eigentliche Schönheit, eher unscheinbar sogar, mit etwas zu harten Zügen und einem blässlichen Teint. Ihr Haar war von einem undefinierbaren Mausbraun, und sie trug es zu einem schlichten, praktischen Zopf geflochten. Ihr Körper indes war alles andere als schlicht oder unscheinbar. Rayne hatte die Kurven unter dem einfachen, wenig schmeichelhaften Nachthemd deutlich fühlen können.
Sie im Arm zu halten, fühlte sich jedenfalls ausgesprochen reizvoll an …
»Sie dürfen mich jetzt loslassen«, sagte sie leicht atemlos, womit sie Raynes lüsterne Gedanken unterbrach und ihn daran erinnerte, dass sein Arm immer noch um ihre Taille geschlungen war.
Zu seiner eigenen Verwunderung gab er sie nur höchst ungern frei. »Verraten Sie mir Ihren Namen? «, fragte er, und als sie zögerte, ergänzte er: »Ich möchte wissen, wen ich gerettet habe.«
Sie schmunzelte. »Genau genommen, haben Sie mich nicht gerettet. Das tat ich wohl eher selbst.«
»Aha. Nachdem die Gefahr überstanden ist, zeigen Sie sich undankbar?«
Ihre grauen Augen funkelten amüsiert, und Rayne stellte erstaunt fest, dass er fasziniert von dieser jungen Dame war. Seit Napoleons Niederlage vor zwei Jahren in Waterloo waren Raynes Tage von Abenteuer und Gefahr vorbei, was er sehr bedauerte. Es bedurfte keiner Spione mehr, die einen französischen Tyrannen daran hinderten, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Und obgleich Rayne seine Tätigkeit so lange wie möglich beibehielt, war er im letzten Jahr gezwungen gewesen, nach England zurückzukehren, als er den Titel von seinem verstorbenen Vater erbte. Zudem hatten die Siegermächte mit dem Wiener Kongress Napoleons eroberte Gebiete und ganz Europa neu unter sich aufgeteilt.
Sein gegenwärtiges Leben und vor allem die Notwendigkeit, eine Braut zu finden, langweilten Rayne maßlos. Die letzte, unendlich lange Woche hatte er bei einer Hausgesellschaft in Brighton verbracht, was er nur tat, um seiner Großmutter, der verwitweten Countess Haviland, gefällig zu sein. Er hatte Lady Haviland nach Brighton begleitet und hätte sie auch wieder nach London eskortiert, wäre nicht eine verzweifelte Nachricht von seinem entfernten Cousin, Freddie Lunsford gekommen – sehr zur Freude Raynes. Er hatte hier auf Freddie gewartet, als diese besondere junge Dame ihm eine unerwartete Abwechslung bescherte.
Er hatte allerdings keinen Grund, ihr die Waffe nicht wiederzugeben. Als er sie ihr reichte, trat sie einen Schritt zurück. »Ich danke Ihnen. Nun werde ich Sie nicht mehr belästigen, Lord Haviland.«
»Sie müssen noch nicht gehen«, erwiderte Rayne, der eine Hand auf ihren Arm legte, weil sie sich bereits abwandte. »Ackerby lauert Ihnen womöglich auf.«
»Er dürfte den Gasthof inzwischen verlassen haben … Hoffe ich.« Überzeugt klang sie nicht. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor ihrem Oberkörper.
»Ihnen ist kalt«, bemerkte er. »Kommen Sie näher ans Feuer.«
Wie es aussah, fand sie seinen Vorschlag vernünftig, denn nach kurzem Zögern nickte sie.
Rayne fasste ihren Ellbogen und führte sie zum Kamin. Auf dem Weg griff er nach seinem Übermantel, den er über die eine Sofalehne gehängt hatte, und drapierte ihn um ihre Schultern.
»Danke«, murmelte Madeline nochmals und schmiegte sich in den schweren Wollstoff. Dann streckte sie die Hände zum wärmenden Feuer aus.
Als der Mantel herunterzurutschen drohte, fing Rayne ihn ab und stellte sich vor Madeline, um die Knöpfe vorn über ihrem Busen zu schließen. Kaum aber sah sie zu ihm auf, verharrte er mitten in der uneigennützigen Geste.
Der Feuerschein verlieh ihrer Haut einen goldenen Schimmer, und erstmals bemerkte Rayne die hellen Strähnen in ihrem Haar. Doch ihr Mund war es, der seine Aufmerksamkeit vollkommen fesselte.
Rayne rührte sich nicht. Er kannte die Empfindungen, die sich in ihm regten: Besitzgier, Verlangen, Lust. Auf einmal war ein eindeutiges Knistern zwischen ihnen.
Das Madeline gleichfalls spürte, so wie sich ihr Körper anspannte. Ja, er fühlte die Spannung in ihr.
Madeline erschauderte wieder, doch diesmal nicht vor Kälte, vermutete Rayne. Als ihre Lippen sich ein wenig öffneten und sie nach Luft rang, konnte Rayne trotz seiner Versicherung, er wäre ein Gentleman, nicht widerstehen.
Er neigte den Kopf, um sich einen zweiten Kuss von ihr zu nehmen.
Bei der ersten Berührung ihrer Lippen hielt Madeline hörbar den Atem an, wohingegen Haviland angesichts ihres verlockenden Aromas und ihrer wundervollen Formen schneller atmete. Ihre Lippen zitterten unter seinen … weich, nachgiebig, seidig, auch wenn Madeline zu perplex schien, um sich an der Verführung zu beteiligen.
Deshalb änderte Rayne den Winkel seines Kopfes, um ihren Mund besser einnehmen zu können, denn nun wollte er sie unbedingt verlocken, sich ihm zu ergeben.
Entsprechend empfand er einen kleinen Triumph, als ihre Zunge ihm diesmal beinahe bereitwillig entgegenkam. Mit einer Hand umfing er ihr Kinn seitlich, auf dass er den Kuss noch weiter vertiefen konnte.
Ein leiser Seufzer stieg in ihrer Kehle auf, sowie sich ihre Zungen zum Tanz begegneten. Es war wie ein süßes Versprechen, welches das Verlangen und die Hitze in Rayne zusätzlich entfachte. Natürlich wurde die Verlockung um nichts geringer durch das Wissen, dass sie unter dem dünnen Nachthemd nackt war. Je länger der Kuss andauerte, umso erregter wurde Rayne. Er fühlte sich mehr als bereit, ihr das Nachthemd auszuziehen und die reifen Wölbungen ihres wunderbar weiblichen Körpers zu erkunden.
Eine mahnende Stimme in seinem Kopf verhinderte, dass er dem Drang nachgab, sie dichter an sich zu ziehen. Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass seine Hand zu Madelines Hals wanderte und die zarte Haut über dem hohen Kragen des Nachthemds streichelte. Er sehnte sich danach, ihre vollen Brüste zu umfangen und ihre Wonne zu steigern, aber so weit durfte er nicht gehen.
Er malte sich aus, wie er ihre üppigen Brüste entblößte, wie er sie liebkoste und die Spitzen mit den Lippen umfing. Gleichzeitig würde er die vollen Rundungen ihres Pos mit beiden Händen einfangen, das Nachthemd nach oben ziehen und die Finger zwischen ihre gespreizten Schenkel tauchen.
Eine primitive Gier packte ihn, als er sich vorstellte, wie er Madeline hochhob und in ihre einladende Hitze eindrang, ihre Beine um seine Hüften geschlungen.
Stattdessen begnügte er sich damit, sie in den Armen zu halten, während er ihren Mund eroberte, und all seine Sinne einzig auf sie zu konzentrieren. Wie er, hatte auch sie sich in der Sinnlichkeit des Moments verloren.
Dann aber begriff er, wie wenig fehlte, dass er endgültig die Beherrschung verlor, und Rayne zwang sich, aufzuhören. Er löste die leidenschaftliche Umarmung und hob den Kopf. Madelines Augen waren geschlossen, und als Rayne einen Schritt zurücktrat, schwankte sie leicht.
Er hielt ihre Schultern, um sie zu stützen. Erst jetzt öffneten sich ihre Lider flatternd.
Verwundert blickte sie zu ihm auf, wobei sie die Finger auf ihre Lippen legte. »W-warum haben Sie mich noch einmal geküsst?«, flüsterte sie sehr leise.
Rayne war verzückt von dem Bild, das sie ihm bot: ihre Wangen gerötet, ihre lieblichen Augen weit aufgerissen und die halb geöffneten Lippen.
Die Spannung in seinen Lenden wurde beinahe schmerzlich. Er entsann sich nicht, wann ihn das letzte Mal ein simpler Kuss dergestalt aus der Fassung gebracht hatte.
Ihre Frage konnte er nicht beantworten. Warum hatte er sie geküsst? Es passte überhaupt nicht zu ihm, die unglückliche Lage einer wehrlosen Dame auszunutzen, doch leider war ihm sein Ehrgefühl kurzfristig abhandengekommen.
»Wie wäre es damit, dass ich mich von der Rolle als Ihr Liebhaber hinreißen ließ?«, fragte er. Seine Stimme klang belegter, als ihm lieb war.
Sie blinzelte und hatte sichtlich Mühe, seinen Worten zu folgen. Dann beäugte sie ihn skeptisch. »Aber Sie sind nicht mein Liebhaber.«
Offenbar erwachte sie aus ihrer Benommenheit, stellte Rayne unbehaglich fest, als sie die Schultern gerade machte und ihre Hand fester um die Pistole schloss, wenn auch ohne sie auf ihn zu richten.
Unweigerlich musste Rayne schmunzeln. Es geschähe ihm ganz recht, sollte sie beschließen abzudrücken, denn mit seinem ungezügelten Verhalten hatte er sich als mindestens so rücksichtslos erwiesen wie ihr Baron.
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, sagte er bemüht aufmunternd. »Ich rühre Sie nicht wieder an. Sollte ich es doch tun, steht es Ihnen frei, mich zu erschießen. «
Er meinte es ernst. Und er hielt es für klüger, den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern, weshalb er sich zum Sofa zurückzog, wo er sich hinsetzte und die Beine überkreuzte, um die Wölbung seiner Pantalons zu verbergen.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Rayne Kenyon, Earl of Haviland.«
Sie erschrak. »Kenyon?«, wiederholte sie.
»Kennen wir uns?«
»Nein … aber ich glaube, Sie kannten meinen Vater, Captain Ellis.«
Nun war es an Rayne zu erschrecken. »Sie sind seine Tochter Madeline?«
»Ja.«
Rayne starrte sie entgeistert an. Hiermit rückte alles in eine gänzlich neue Perspektive, denn Captain David Ellis war der Freund und Mitspion, der einst Raynes Leben gerettet hatte.
Was bedeutete, dass er Madeline niemals hätte küssen dürfen.
Diese Hilfe kommt höchst überraschend, Maman, und ich bin gewiss dankbar. Doch ich stelle fest, dass Lord Haviland recht anstrengend sein kann.
Immer noch halb benommen, betrachtete Madeline ihn verwundert. Sie hatte ihre liebe Not, zu begreifen, wer er war, nachdem er ihr sowohl den Verstand als auch die Sinne geraubt hatte. Ihre Lippen pochten, während ihr Herz überall in ihrem Leib zu schlagen schien.
Wie beschämend, dass Havilands sinnliche Attacke sie derart bezaubern konnte! Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Wonne erlebt, von einem begabten Liebhaber geküsst zu werden. Dieser verwegen schöne Adlige hatte sie bis in die Zehenspitzen zum Erbeben gebracht.
Doch das allein war es nicht, was einen Aufruhr in ihrem Innern auslöste. Vielmehr war es der Umstand, dass sie sich bis eben nie vorstellen konnte, solche … Leidenschaft mit einem Mann zu teilen. Es schockierte sie, dass sie in einem so großen Maße erregt werden konnte.
Und wenn schon. Das ist keine Entschuldigung dafür, hier zu stehen wie ein verstocktes Mondkalb, schalt sie sich.
In dem Bemühen, ihren Verstand wiederzufinden, räusperte Madeline sich. »Ich wusste nicht, dass Sie in den Rang eines Earls erhoben wurden«, sagte sie schließlich.
»Den Titel erbte ich im letzten Jahr.« Havilands Züge wurden merklich weicher, als er sie ansah. »Das Ableben Ihres Vaters tut mir sehr leid. Er war ein guter Mann und ein guter Freund.«
Die Erwähnung ihres Vaters schaffte es, endlich ihre Gedanken von dem erstaunlichen, atemberaubenden Kuss abzulenken. Madeline brachte ein mattes Lächeln zustande, obwohl sie plötzlich einen Kloß im Hals hatte. Sie hatte ihren Vater vergöttert, und sein vorzeitiger Tod stürzte sie in tiefe Trauer.
»Sie waren ihm ebenfalls ein guter Freund, Lord Haviland. Ich danke Ihnen, dass Sie seine persönlichen Sachen zusammen mit seinem letzten Brief nach Hause schickten. Mir sind die letzten Andenken an ihn teuer.«
»Es war das Mindeste, was ich tun konnte. Ihr Vater rettete mir einst das Leben, wussten Sie davon?«
»Nein, das hat er nie erwähnt.«
Haviland lächelte. »Natürlich nicht. David Ellis war kein Mann, der zur Prahlerei neigte. Allerdings sprach er viel und in den höchsten Tönen von Ihnen und Ihrem Bruder.«
»Er sprach auch von Ihnen. Er hat Sie sehr geachtet.«
Madeline hatte auch andere in der kleinen Gemeinde der französischen Emigranten über Rayne Kenyon sprechen gehört. Der Mann war fürwahr eine Legende, hatte er doch im Dienst für sein Land unzählige Leben gerettet. Wie sie wusste, hatte er im diplomatischen Corps des Außenministeriums gearbeitet, nicht beim Militär. Madelines Vater war Wellington unterstellt und hauptsächlich mit feindlichen Truppenbewegungen und Nachschuborganisation befasst gewesen, während Haviland ein Agentennetzwerk leitete, das politische Intrigen aufdeckte – eine Schattenwelt von Geheimnissen, Verrat, Betrug und Gier. In dem Kampf gegen die französische Macht war sein Geschäft ein besonders gefährliches gewesen.
Dennoch tat er ihr Kompliment mit einem Achselzucken ab und sagte reumütig: »Ich bedaure mein Verhalten Ihnen gegenüber. Niemals hätte ich Sie geküsst, wäre ich gewahr gewesen, dass Sie Captain Ellis‘ Tochter sind.«
Sie war froh, dass Haviland es nicht gewusst hatte, denn sie wollte das Erlebnis seines berauschenden Kusses eigentlich nicht missen. Und sie bezweifelte, jemals wieder etwas so Magisches zu erfahren. Unwillkürlich sah Madeline auf seinen Mund. Was für ein verwegener, sinnlicher Mund, der sie atemlos und allzu geneigt gemacht hatte, sich verbotener Leidenschaft hinzugeben.
Sie schluckte. »Nun … danke, dass Sie mir zu Hilfe kamen, Lord Haviland, aber jetzt sollte ich gehen.«
»Nicht so eilig, Miss Ellis«, erwiderte er und stand vom Sofa auf. »Zuerst möchte ich wissen, wie Sie in diese verdrießliche Lage geraten sind.«
Seine Größe war ein bisschen einschüchternd, stellte Madeline fest, die sich beherrschen musste, nicht zurückzuweichen. Sämtliche Instinkte in ihr schrieen förmlich, dass er gefährlich war. Doch sie rührte sich nicht, zumal es sie ärgerte, dass sie sich auf einmal verwundbar fühlte. »Sie müssen sich nicht weiter mit meinen Angelegenheiten belasten.«
»Aber ich wünsche es. Nach dem, was Ihr Vater für mich getan hat, fühle ich mich Ihnen gewissermaßen verpflichtet.«
Prompt regte sich Madelines Trotz. »Sie sind mir ganz gewiss nicht verpflichtet.«
»Dann erweisen Sie mir einfach die Gunst. Ich platze beinahe vor Neugierde. Setzen wir uns, und Sie erzählen mir in Ruhe Ihre Geschichte.«
Bei dem Gedanken war Madeline nicht wohl, vor allem nicht, wenn sie ihre nur sehr unvollständige Kleidung bedachte. »Für eine Unterhaltung mit einem Gentleman bin ich wohl kaum angemessen gekleidet. « Sie zurrte seinen Mantel fester um sich.
Haviland grinste. »Angesichts unseres innigen Kusses eben würde ich meinen, dass wir auf derlei Förmlichkeiten verzichten können, denken Sie nicht?«
Sie mochte das schelmische Funkeln in seinen blauen Augen, nicht aber die Entschlossenheit, die sie ebenfalls darin sah, als würde er keinen Widerspruch dulden. Doch da sie den Verdacht hegte, dass er sie nicht gehen ließe, ehe sie sich erklärt hatte, setzte Madeline sich an das andere Ende des Sofas.
Sein Mitleid wollte sie nicht, also sparte sie sich die Details und erzählte ihm nur das Nötigste von den jüngsten Ereignissen.
»Bis vor drei Wochen verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Gesellschafterin einer betagten Adligen, die leider verstarb, bevor sie mir eine Empfehlung schreiben konnte. Und ohne schriftliche Referenz ist es angeraten, dass ich mich persönlich um eine neue Stellung bewerbe. Ich wollte zu einer Agentur gehen, sobald ich in London ankomme, aber die Postkutsche hatte eine Radpanne, und so strandete ich hier.«
»Was Lord Ackerby ermöglichte, Sie einzuholen«, folgerte Haviland.
»Ja.« Madeline rümpfte die Nase. »Zu meinem großen Bedauern.«
Wieder betrachtete er sie mit diesem faszinierten Ausdruck. »Sie scheinen absichtlich herunterzuspielen, was eine gefährliche Situation hätte werden können.«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Die Lage wäre nur gefährlich geworden, hätte ich seine Lordschaft nicht abwehren können. Aber ich war bewaffnet, und dank meinem Vater bin ich ein sehr guter Schütze.« Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie die Pistole immer noch in der Hand hielt, und sie legte sie vorsichtig auf das Sofa. »Ich gestehe, dass ich in letzter Zeit eine wahre Pechsträhne hatte, die aber hoffentlich nicht andauert.«
»Was ist mit Ihrem Bruder?«, fragte Haviland. »Ist er nicht mittlerweile alt genug, um Sie zu beschützen?«
Sein deutlich strengerer Tonfall erschreckte sie. »Dem Alter nach wohl schon. Gerard ist einundzwanzig, vier Jahre jünger als ich. Doch er hat momentan wichtigere Angelegenheiten.«
»Was könnte wichtiger sein, als seine Schwester in solcher Notlage zu beschützen?«
Madeline war nicht sicher, wie viel sie über das Durchbrennen ihres Bruders mit Lynette Dubonet vor zwei Tagen sagen sollte. Es war nicht ihr Geheimnis, folglich durfte sie es auch nicht weitergeben, zumal die Eltern des Mädchens, Vicomte und Vicomtesse de Vasse, bislang nichts von der Heirat ahnten. Die emigrierten Aristokraten waren strikt dagegen, dass ihr einziges Kind einen titellosen Engländer ehelichte, dessen einzig namhafter Besitz in einer bescheidenen Farm bestand. Aber Gerard und Lynette liebten einander sehr, und Madeline bedeutete das Glück ihres Bruders mehr als alles andere auf der Welt. Daher hatte sie geholfen, ihre Reise nach Gretna Green in Schottland zu bezahlen, damit sie ohne Zustimmung der Eltern heiraten konnten.
»Gerard ist zurzeit auf Reisen«, antwortete Madeline. »Außerdem konnte er nicht wissen, dass Lord Ackerby mir von Chelmsford nach London folgen würde. Wir beide hatten es nicht erwartet. Und um eine neue Anstellung zu finden, benötige ich die Hilfe meines Bruders nicht.«
»Was für eine Stellung wollen Sie suchen?«
Sie antwortete prompt: »Ich würde gern wieder als Gesellschafterin arbeiten … obgleich ich im letzten Jahr wohl eher als Krankenschwester für Lady Talwin fungierte. Sie hatte oft Schmerzen, weshalb meine Aufgabe vornehmlich die war, sie zur Einnahme ihrer Medizin zu überreden und ab und zu die Fenster ihres stickigen Krankenzimmers aufreißen zu dürfen, um frische Luft hineinzulassen. Ich weigerte mich, sie in Verzweiflung stürzen zu lassen. Wir stritten uns weit häufiger, als es für eine Lady und ihre Dienerin üblich ist, aber unsere Wortgefechte schienen ihr Gemüt zu beleben, auch wenn sie gegen ihre schwindende Gesundheit nichts auszurichten vermochten. «
Bei der Erinnerung an ihre liebe, kratzbürstige Adlige trat ein trauriges Lächeln auf Madelines Gesicht. Sie vermisste Lady Talwin und bezweifelte, dass sie je wieder eine Herrin fände, mit deren Naturell und Geist Madelines so perfekt harmonierten.
Havilands dunkle Brauen zogen sich zusammen. »Gibt es andere Stellungen, die Sie in Erwägung ziehen würden?«
Fragend blickte sie zu ihm auf. »Vielleicht als Gouvernante. Ich habe einige Übung in der Kinderbetreuung. Immerhin kümmerte ich mich um meinen kleinen Bruder, seit Maman starb. Damals war ich dreizehn und mein Vater die meiste Zeit des Jahres fort.« Ihre Mundwinkel zuckten. »Aber für manche Arbeitgeber käme ich wohl nicht in Betracht, denn man sagt mir nach, recht offen auszusprechen, was ich denke. Lady Talwin schätzte meine scharfe Zunge, weil es ›ihren Verstand wachhielt‹, wie sie gern sagte. Ich bin mir indes durchaus gewahr, dass nicht alle, insbesondere nicht alle Adligen, Untergebene mögen, die kein Blatt vor den Mund nehmen.«
»Und Sie haben gegenwärtig keine Heiratsaussichten? «
Sie sah Haviland verwundert an, ein wenig schockiert ob der unverblümten Frage. »Wie bitte?«
»Sie könnten heiraten und Ihre materiellen Probleme auf diese Weise lösen.«
»Was voraussetzen würde, dass ich entsprechende Verehrer hätte. Nur machen Gentlemen mittellosen Jungfern gewöhnlich keine Anträge.«
Seine Brauen zogen sich noch weiter zusammen. »Sie sind mittellos? Ich hätte gedacht, dass Ihr Vater für Sie gesorgt hat.«
Madeline wurde nervös. »Diese Unterhaltung wird recht persönlich, denken Sie nicht, Mylord?«
Haviland lächelte schuldbewusst. »Verzeihen Sie, Miss Ellis. In den letzten zwölf Jahren habe ich erheblich weniger Zeit in der feinen Gesellschaft verbracht als die meisten meiner Altersgenossen. Folglich steht es um meine Manieren nicht zum Besten. Aber seien Sie versichert, dass Sie sich künftig nicht mehr um Ackerby sorgen müssen. Ich werde Sie sicher nach London bringen, sobald ich meine Angelegenheiten hier im ›Drake‹ erledigt habe.«
Bei der entwaffnenden Entschuldigung hatte Madelines Widerstand bereits nachgegeben, um sogleich mit doppelter Kraft zurückzukehren, als er verkündete, dass er sie nach London eskortieren würde. »Sie wollen mich nach London fahren?«
»Ja. Meine Kutsche steht im Stallhof.«
»Ich kann nicht mit Ihnen nach London reisen, Lord Haviland. Auch wenn Sie gut mit meinem Vater befreundet waren, sind Sie für mich doch ein Fremder.«
»Falsch«, konterte Haviland ruhig. »Zwar mögen wir uns noch nie begegnet sein, aber wir sind gewiss keine Fremden. Also«, fügte er in einem sehr charmanten und gar nicht befehlenden Ton an, »Sie forderten mich erst kürzlich als Ihren Beschützer ein. Erlauben Sie mir, diese Rolle noch eine Weile beizubehalten. «
Madeline wurde rot, als sie sich ihres kühnen Vorgehens erinnerte. »Sie wissen, dass ich es nicht wollte. Ich wünschte lediglich, Baron Ackerbys Übermut zu bändigen.«
»Was Ihnen auf bewundernswerte Weise gelang. Indes bin ich nicht wie dieser Lump. Sie können mir vertrauen, Miss Ellis. Meinem Angebot haftet nichts Anrüchiges an. Und dass ich Ihnen helfe, steht ohnedies außer Frage. Ihr Vater rettete mir das Leben. Meine Schuld ihm gegenüber kann ich nie wieder ausgleichen.«
Wieder einmal war Madeline sprachlos, als sie begriff, dass Lord Haviland es ernst damit war, die Verantwortung für ihr Wohlergehen zu übernehmen.
Als sie ungewöhnlich still blieb, fuhr er fort, laut überlegend. »Ich würde Sie ja einladen, bei mir zu wohnen, bis Sie eine Stellung gefunden haben. Ich habe mehrere Häuser … ein Stadthaus in London, den Familiensitz in Kent, ein Landhaus nahe Chiswick und noch andere. Doch das verbietet natürlich der Anstand. Eine ledige Dame darf nicht bei einem Junggesellen wohnen. Aber es gibt ein ruhiges Hotel in London, das sich für eine feine Dame eignet.«
»Ich fürchte, ein Hotel kann ich mir nicht leisten. Ich beabsichtige, mir ein Zimmer in einer günstigen Pension zu nehmen.«
»Es ist mir eine Freude, für Ihren Aufenthalt aufzukommen. «
Madeline schüttelte energisch den Kopf. »Ich will Ihre Großzügigkeit nicht ausnutzen, Lord Haviland.«
»Von Großzügigkeit kann gar keine Rede sein. Betrachten Sie es als eine verspätete Pflichterfüllung gegenüber einem Freund.«
»Lord Haviland«, sagte sie zunehmend gereizt. »Ich habe stets für mich selbst gesorgt, und ich gedenke, es auch in Zukunft so zu halten.«
»Dies sind außergewöhnliche Umstände.«
Madeline machte sich sehr gerade und sagte betont langsam, als wäre er schwerhörig: »Ich versichere Ihnen, ich komme allein zurecht.«
»Das glaube ich Ihnen sofort, nur ließe mir mein Gewissen keine Ruhe, würde ich Sie in Ihrer Lage nicht unterstützen.«
»Ihr Gewissen ist nicht meine vordergründigste Sorge.«
Haviland grinste und sah sie mit seitlich geneigtem Kopf an. »Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie unabhängiger sind als gut für Sie sein kann, Miss Ellis?«
Sie war unabhängig, weil sie es sein musste, doch das zu erwähnen, gab er ihr keine Gelegenheit.
»Ich bewundere Ihre Entschlossenheit, für sich selbst zu sorgen, aber es wäre unvernünftig, Hilfe abzulehnen, die Ihnen so bereitwillig offeriert wird.«
Leider war Madeline abermals um Worte verlegen. Ja, womöglich war sie unvernünftig, dass sie Havilands Hilfsangebot ablehnte. Und wenn sie ehrlich sein sollte, müsste sie zugeben, dass seine Freundlichkeit sie rührte. Sie war es gewohnt, für andere zu sorgen, nicht, dass jemand für sie sorgte, und schon gar nicht ein Beinahefremder.
Aber so verlockend es war, sie konnte trtzdem nicht annehmen. Und das nicht bloß, weil es der Anstand verbot, sondern weil sie nicht in seiner Schuld stehen wollte. »Danke, aber ich kann ihr freundliches Angebot nicht annehmen.«
»Nun, ich lasse Sie nicht allein nach London reisen. « Unvermittelt wechselte Haviland das Thema. »Was ist mit Unterrichten?«
Madeline blinzelte. »Was soll damit sein?«
»Meine nächsten Nachbarn in Chiswick sind drei Schwestern aus gehobenen Kreisen, die unlängst geheiratet haben. Sie suchen nach geeigneten Lehrkräften für ihre Akademie junger Damen. Es könnte die ideale Lösung für Sie sein. Eigentlich könnte ich Sie gleich heute Abend zu der ältesten Schwester bringen, Arabella, Lady Danvers. Ich traf sie und Danvers gerade auf einer Hausgesellschaft in Brighton, von der sie früher abreisten, noch vor mir, um nach Chiswick zurückzufahren. Zuvor waren sie einige Wochen auf Hochzeitsreise, daher hatten sie einiges im Haus zu regeln.«
»Ich kann Ihnen unmöglich gestatten, mich dorthin zu bringen.«
Er staunte. »Sie meinen, Sie wollen nicht unterrichten? «
»Nein, das sage ich ganz und gar nicht. Es könnte mir sogar sehr gut gefallen, aber ich kann nicht einfach uneingeladen vor jemandes Haustür erscheinen. «
»Natürlich können Sie. Ich bürge für Sie, also müssen Sie nicht fürchten, abgewiesen zu werden. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie Lady Danvers einen Gefallen tun, wenn Sie heranwachsende Mädchen lehren, Damen zu werden.« Er hielt eine Hand in die Höhe, um ihren Widerspruch abzuwehren. »Dies ist keine Aufforderung zum Wortgefecht, Miss Ellis.«
Madelines Rückgrat war inzwischen richtig steif. »Sind Sie immer so bevormundend?«
»Sind Sie immer so dickköpfig?«
»Ja!«
Sein Lächeln erstreckte sich von seinen Lippen bis zu seinen schönen Augen. »Wenigstens sind Sie so fair, mich zu warnen. Sie sind wahrlich recht offen.«
Bei diesen Worten musste sie lachen – auch wenn sie nicht begriff, warum sie es amüsant fand, dass ein Adliger sich über ihre sämtlichen Einwände hinwegsetzte.
»Denken Sie zumindest über meinen Vorschlag nach, Miss Ellis. Ich möchte wirklich gern etwas von meiner Schuld gegenüber Ihrem Vater begleichen, und dies würde mir erlauben, immerhin einen geringen Teil zurückzugeben. Außerdem hatten Sie Recht, als Sie zuvor sagten, dass ich ein Gentleman bin, und es würde dem damit verbundenen Bild nicht gerecht, sollte ich Sie der Gnade eines Lumpen überlassen, solange ich es mit Leichtigkeit vermeiden kann.«
Während Madeline noch nach einer Erwiderung rang, fuhr er bereits fort und fügte provozierend an: »Sie würden doch gewiss nicht allein deshalb ablehnen, weil Ihr Stolz sonst verletzt würde? Es ist keineswegs ein Almosen, wenn ich Ihnen helfe, eine auskömmliche Stellung zu finden.«
Ihr Stolz war einer von Madelines größten Charakterfehlern, wie sie gestehen musste. Maman hatte es oft bemängelt, und Madeline gab zu, dass es ihr außerordentlich schwerfiel, Großzügigkeit zu akzeptieren. Sie überlegte, was Maman in ihrer Situation getan hätte.
»Also sind wir uns einig?«, fragte Haviland, der sie sehr genau beobachtete.
Madeline hob eine Hand an ihre Schläfe. In ihrem Kopf drehte sich alles, so schnell, wie der Mann ihr Leben dirigierte. Aber wenn er lediglich ein Vorstellungsgespräch für sie bei Lady Danvers arrangierte, damit sie sich als Lehrerin bewerben konnte … nun, das wäre so schlecht nicht …
Sie erschrak, als eine fremde Männerstimme ihre Gedanken unterbrach.
»Entschuldige, alter Knabe, ich wusste ja nicht, dass du beschäftigt bist!«
Vor lauter Schreck über die Ankunft des Fremden sprang Madeline auf, wobei ihr Havilands Übermantel von einer Schulter rutschte und das Nachthemd darunter entblößte.
Der eher schlaksige blonde Gentleman, der eben in den Salon gekommen war, blieb abrupt stehen und musterte sie. »Tja, du hast es immer schon geschafft, dir eine willige Frau für einen scheußlichen Abend wie diesen zu ergattern, Rayne«, sagte er mit einem unüberhörbaren Anflug von Neid.
Madelines Wangen glühten, als sie ihre Kleider richtete, während Haviland aufstand und dem Blonden ziemlich scharf entgegnete: »Zähme deine unanständige Fantasie, du Unhold! Miss Ellis ist eine Dame, die du nur in einer misslichen Lage antriffst.«
Sein Tonfall wurde merklich weicher, als er sich zu Madeline wandte. »Ich bitte um Verzeihung, Miss Ellis. Dieser Narr, dessen Mundwerk betrüblicherweise stets schneller zu sein scheint als sein Verstand, ist ein entfernter Cousin von mir – Mr Freddie Lunsford.«
Mr Lunsford beäugte sie einen Moment lang skeptisch, bevor er eine galante Verbeugung vollführte und mit einem charmanten Grinsen sagte: »Vergeben Sie mir, Miss Ellis. Bisweilen trete ich gleich beidfüßig in sämtliche verfügbaren Fettnäpfchen. Aber Sie verstehen gewiss, dass ich die Situation fehldeutete.«
Es schien ihm ernst, also erwiderte sie mit einem matten Lächeln: »Ja, selbstverständlich, Mr Lunsford, das verstehe ich. Und ich bin es, die um Vergebung bitten muss, Ihr Treffen mit Lord Haviland gestört zu haben.«
Als sie jedoch ihre Pistole vom Sofa aufnahm, riss Lunsford die blauen Augen weit auf, und nun war es an Haviland, ein Grinsen zu unterdrücken. »Du wirst noch begreifen, Freddie, dass es unklug ist, Miss Ellis zu provozieren.«
Lunsford schluckte hörbar, und seine Stimme wurde eine halbe Oktave höher. »Sie wollen doch hoffentlich niemanden erschießen, nicht wahr, Ma’am?«
Madeline warf Haviland einen strengen Blick zu, ehe sie antwortete: »Ich hoffe, dass dazu keine Notwendigkeit mehr besteht, Mr Lunsford.«
Das amüsierte Funkeln in Havilands Augen war noch nicht verschwunden, als er sich wieder seinem Cousin zuwandte. »Zwar wollten wir deine Lage besprechen, Freddie, aber meine Pläne haben sich geändert. Ich muss Miss Ellis noch heute Abend nach Chiswick bringen, und es wäre gut, wenn wir nicht zu spät dort eintreffen.«
»Die Zeit wird allerdings teuflisch knapp«, sagte Lunsford, noch bevor Madeline protestieren konnte.
Haviland hielt eine Hand in die Höhe. »Entschuldige, alter Knabe, aber Miss Ellis‘ Wohl hat Vorrang vor deinem, da ihr Fall der dringlichere ist. Ich kann in wenigen Stunden wieder hier sein – oder du folgst uns in deiner Kutsche und bleibst über Nacht in Riverwood, wo du mir in aller Ruhe deine Geschichte erzählen kannst. Wie dem auch sei, kann ich vor morgen ohnehin nicht handeln, mithin verlieren wir eigentlich keine Zeit. Zudem bin ich sicher, dass du deinen Kummer nicht in Gegenwart einer Dame erläutern möchtest.«
Freddie öffnete den Mund, überlegte es sich dann aber offenbar anders und seufzte nur. »Na schön, ich folge euch. Aber wenn ich nicht binnen einer Woche liefere, bin ich Toast.«
»Ja, so viel habe ich bereits verstanden. Es wird nicht dazu kommen, dass dich jemand röstet, versprochen. «
Haviland wandte sich wieder zu Madeline. »Sie sollten jetzt in Ihr Zimmer gehen und sich ankleiden, Miss Ellis. In der Zwischenzeit werde ich alles mit den Wirtsleuten unten regeln.«
Sie zog eine Braue hoch. »Ich glaube, dass ich hinlänglich erklärte, wie ich über Almosen denke.«
»Und ich glaube, wir einigten uns schon darauf, nicht zu streiten. Haben Sie irgendwelches Gepäck, das in meine Kutsche verladen werden muss?«
»Nur eine Hutschachtel. Meine Reisetruhe ist noch auf der Postkutsche, soweit ich weiß.«
»Ich lasse die Truhe holen und nach Chiswick schicken. «
»Lord Haviland …«, begann sie, wurde jedoch gleich von seiner tiefen Stimme unterbrochen.
»Möchten Sie, dass ich Sie zu Ihrem Zimmer begleite, Miss Ellis?«
Er duldete eindeutig keine Einwände, was ihr wiederum das Gefühl gab, als würde er sie einfach mit sich reißen. Das war höchst ärgerlich … Dennoch schien es in ihrer Lage die beste Entscheidung, sich mit Lord Haviland zusammenzutun. Bei ihm fühlte sie sich sicherer als allein in einem Gasthof, obgleich das nicht sonderlich viel besagte.
Ehe sie eine Entscheidung fällte, sah Madeline zu Havilands Cousin. Der sympathische Mr Lunsford wirkte recht harmlos. Sein charmantes Auftreten erinnerte sie sogar an ihren Bruder Gerard, und daher war Madeline beinahe ein bisschen froh, dass er ihnen nach Chiswick folgen würde. Hingegen nahm ihr dieses Wissen nicht das Unbehagen, das sie bei der Aussicht überkam, allein mit Haviland in dessen Kutsche zu sein. Die Nähe würde sie zweifellos zu viel an seine Küsse denken lassen. Andererseits war er ein Freund ihres Vaters gewesen, also sollte sie ihm doch gewiss vertrauen können.
Madeline stieß einen ähnlich resignierten Seufzer aus wie zuvor Havilands Cousin. »Nein, Mylord, ich brauche keine Begleitung.«
Havilands träges, bezauberndes Lächeln raubte ihr den Atem. »Schön. Wir erwarten Sie hier und fahren gleich ab, wenn Sie angekleidet sind.«
Madeline achtete darauf, lautlos auszuatmen, nickte Haviland zu, machte einen kleinen Knicks vor seinem Verwandten und eilte zur Tür.
Das Letzte, was sie hörte, als sie den Salon verließ, war Mr Lunsford, der sich halb amüsiert beklagte: »Ich schätze, du kannst nicht umhin, stets den Ritter zu mimen, Rayne, aber musst du ausgerechnet ein Mädchen in Not retten, wenn ich dich viel dringlicher brauche?«
Havilands Antwort hatte den gleichen amüsierten Unterton. »Nein, ich kann nicht anders, und du solltest dankbar für diesen meinen Charakterfehler sein, profitierst du doch von ihm.«
»Oh, bin ich, bin ich …«
Auch Madeline war Lord Haviland dankbar, entschied sie, als sie rasch den Korridor entlang zu ihrem Zimmer lief. Trotzdem war ihr nicht wohl dabei, ihr Schicksal in die Hände eines Adligen von Havilands Statur zu geben: einem gefährlichen Lord, der überwältigend und fast unwiderstehlich auf sie wirkte.
Nachdem er sich nochmals bei Freddie für die Planänderung entschuldigt hatte, zog Rayne an dem Klingelband. Sogleich kam der Wirt herbeigeschlurft. Rayne bezahlte ihn und wies ihn an, Miss Ellis‘ Truhe nach Riverwood nahe Chiswick zu schicken sowie seine eigene Kutsche anspannen zu lassen. Dann entlohnte er den Wirt großzügig, um auf die Weise zu verhindern, dass der Mann Gerüchte in die Welt setzte.
Was er von seinem Taugenichts von Cousin erfuhr, überraschte Haviland nicht: Freddie hatte sich leider Gottes auf eine stürmische Affäre mit einer französischen Witwe namens Solange Sauville eingelassen und wurde nun mit Liebesbriefen erpresst, die er ihr in seiner Gedankenlosigkeit geschrieben hatte.
»Sie will zweitausend Pfund, Teufel auch«, jammerte Freddie. »Wenn ich sie nicht bezahle, droht sie, zu meinem Vater zu gehen. Du musst mich retten, Rayne! Sonst wird mir nicht nur meine vierteljährliche Zuwendung gestrichen, sondern sie verbannen mich auch noch in die Wildnis von Yorkshire!«
Was keine leere Drohung war, wie Rayne annahm, denn er kannte Freddies äußerst pedantischen Vater. Sollte Lord Wainwright von den Eskapaden seines Sohnes mit der Französin erfahren, würde er ihn ohne einen Penny aus dem Haus werfen.
Deshalb hatte Freddie an Rayne geschrieben und ihn angefleht, ihm zu helfen, und Rayne wiederum war froh gewesen, sich von der Hausgesellschaft entfernen zu dürfen und so seiner Großmutter zu entkommen.
Seit ihren frühen gemeinsamen Schultagen in Eton beschützte Rayne seinen Cousin vor den Rüpeln und den gemeinen Grausamkeiten, die Jungen einander zufügten. Dasselbe galt später in Oxford und auch noch, als sie längst erwachsen waren – teils weil Rayne immer schon einen ausgeprägten Beschützerinstinkt besessen hatte, aber teils auch weil er die Verbindung zur Familie seiner verstorbenen Mutter halten wollte. Im Grunde war Freddie ein charmanter, gutmütiger Kerl, absolut loyal und oft unterhaltsam, wenn auch nicht sonderlich helle. Zudem bildete sein strahlender Optimismus einen wunderbaren Kontrast zu der Dunkelheit und dem Tod, von denen Rayne in seinem Beruf viel zu viel gesehen hatte.
Allerdings hatte er kaum Zeit, Freddie zu versichern, dass er ihn vor dem Erpressungsversuch der Witwe bewahren würde, bevor Madeline Ellis wieder in der Tür erschien. Sie hatte wenig Zeit zum Ankleiden gebraucht – sicher weil sie ihn nicht unnötig warten lassen wollte.
Beim Anblick ihrer Kleidung jedoch runzelte er die Stirn. Sie trug einen schlichten braunen Umhang und einen schwarzen Hut, die ihren blassen Teint nicht unbedingt belebten, und in ihren mit Handschuhen verhüllten Händen hatte sie eine kleine Hutschachtel sowie den Übermantel, den er ihr geborgt hatte.
Unerklärlicherweise regten sich Schuldgefühle in Rayne, weil sie so verarmt war, obwohl er wahrlich nicht dafür verantwortlich war. Und es war nicht bloß der Beschützer in ihm, der sich unbedingt ihrer annehmen wollte, sondern überdies gebot sein Ehrgefühl, dass er die Tochter eines Offiziers, der einst sein Leben gerettet hatte, nicht im Stich lassen durfte. Zumindest musste er sie vor den Ackerbys dieser Welt schützen.
»Ich bin bereit, Lord Haviland«, murmelte sie ein wenig atemlos.
»Dann sollten wir aufbrechen«, antwortete er und stand gleichzeitig mit Freddie auf.
Nachdem er sich den Übermantel angezogen hatte, den sie ihm wiedergab, eskortierte Rayne Miss Ellis hinunter zur wartenden Kutsche. Sie erschauderte, sowie sie hinaus in die kühle, neblige Nacht trat, und als Rayne eine Hand auf ihren Rücken legte, erkannte er auch den Grund.
»Ihr Umhang ist gänzlich durchnässt«, bemerkte er tadelnd.
»Ja, ich musste am Nachmittag durch ein Gewitter laufen.«
Sofort rief Rayne seinem Kutscher zu, er möge ihre Hutschachtel verstauen und Miss Ellis eine der Schoßdecken geben. Anschließend half er ihr in den Wagen, sprach noch kurz mit Freddie, um sicherzustellen, dass er ihnen folgte, und setzte sich Miss Ellis gegenüber in die Kutsche.
Sie hatte ihren Umhang und den Hut abgenommen, wie Rayne im Licht der Laterne drinnen sah, und sich die große Wolldecke eng um die Schultern gewickelt.
»Danke«, sagte sie leise, als der Wagen losfuhr. »Das war sehr freundlich von Ihnen.«
»Sie müssen sich nicht fortwährend bei mir bedanken, Miss Ellis«, erwiderte Rayne strenger als beabsichtigt. Ihm missfiel ihre Dankbarkeit ebenso sehr, wie es ihr missfiel, seine Hilfe zu akzeptieren.
Sie versteifte sich kaum merklich, bevor sie etwas spitz sagte: »Na schön, dann werde ich es nicht mehr tun.«
Rayne ermahnte sich im Geiste, dass Madeline Ellis dem Inbegriff der Unschuld in Not nicht unbedingt entsprach. Sie war alles andere als ein schüchternes, unterwürfiges Fräulein. Vielmehr war sie resolut und mutig und schlug anscheinend ganz nach ihrem Vater.
Umso unpassender, beinahe komisch mutete ihr unscheinbares Äußeres an.
»Warum die schwarze Gewandung?«, fragte er mit Blick auf ihr wenig vorteilhaftes Bombasin-Kleid.
»Ich trage Trauer zu Ehren meiner verstorbenen Arbeitgeberin«, antwortete sie.
Für eine Gouvernante oder eine Gesellschafterin war ihre Kleidung vielleicht angemessen. Leider hatte sie sich dazu das Haar streng nach hinten aufgesteckt, ohne Locken an den Schläfen, die ihre Züge weicher machen könnten. Immerhin verhinderten ihre großen grauen Augen, dass sie vollkommen nichtssagend wirkte, und die vollen, roten Lippen waren die Sünde selbst.
Rayne rutschte ein wenig auf seinem Sitz, als er sich erinnerte, wie diese sinnlichen Lippen geschmeckt und wie leidenschaftlich sie seinen Kuss erwidert hatten. Er hätte niemals erwartet, dass in einem solch farblosen Geschöpf ein derart sinnliches Naturell schlummerte.
Was nicht hieß, dass er seine lüsterne Reaktion auf sie nicht bedauerte. Doch damit ihm nicht immerfort die falschen Bilder durch den Kopf gingen, sollte er die Reise wohl nutzen, um ein bisschen mehr über Miss Ellis zu erfahren.
»Ihre Mutter war Französin, wenn ich nicht irre?«
Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ja. Mamans Eltern flohen vor der Revolution und ließen sich in der Nähe von Chelmsford in Essex nieder, wo es sehr viele Emigranten gibt. Dort begegnete sie meinem Vater, als er Urlaub von der Army hatte, und vierzehn Tage später heirateten sie. Es war Liebe auf den ersten Blick, aber natürlich war die Eile auch geboten, weil er wieder zu seinem Posten zurückkehren musste.«
»Ich dachte, Ihr Vater hätte eine Farm besessen?«
»Hat er, ein Erbe von seinem Onkel. Sie wurde an meinen Bruder weitervererbt. Aber sie ist weder groß noch sehr ertragreich. Ich lebte auf der Farm, bis ich achtzehn war. Als Vater starb, musste für Gerard gesorgt, seine Schulbildung bezahlt werden, also beschloss ich, mir eine Stellung zu suchen. Und Lady Talwins Anwesen war nur drei Meilen entfernt.«
»Können Sie jetzt nicht wieder dorthin und auf der Farm leben?«
»Ich könnte, doch Gerard hat …« Sie verstummte abrupt, als müsste sie noch einmal überdenken, was sie sagen wollte.
»Er hat was?«, fragte Rayne.
Miss Ellis zuckte mit den Schultern. »Er hat seine eigene Zukunft, an die er denken muss, und ich möchte ihm nicht zur Last fallen, solange ich sehr wohl imstande bin, mir meinen eigenen Unterhalt zu verdienen.«
»Aha«, sagte Rayne betont unbekümmert, »Ihre hochgeschätzte Unabhängigkeit.« Als sie ihn mit einem vernichtenden Blick bedacht, ergänzte er: »Es ist gewiss nicht einfach für eine Dame, allein ihren Weg in der Welt zu machen, deshalb nahm ich an, dass eine Heirat die vorzuziehende Wahl für Sie wäre.«
Nun kehrte das amüsierte Funkeln in ihre Augen zurück. »Wie ungewöhnlich, dass sich ein Junggeselle wie Sie, Lord Haviland, so sehr für meine Heiratsaussichten interessiert.«
Tatsächlich hatte er in jüngster Zeit oft über die Ehe nachgedacht, da er seiner Großmutter versprach, sesshaft zu werden und einen Erben zu zeugen. »Die meisten Damen Ihres Alters wollen heiraten«, antwortete Rayne, der nicht wollte, dass das Gespräch sich auf seine Person verlagerte.
»In meiner Stellung als Gesellschafterin hatte ich wenig Gelegenheit, ledige Herren kennenzulernen. Zumindest nicht solche, die ich mir zum Gatten wünschen würde. Und sich gut zu verheiraten ist nicht leicht, wenn man weder Rang noch Vermögen besitzt. Noch schwieriger wird es, wenn es einem an Schönheit mangelt.«
Sie hatte offenbar eine pragmatische Einstellung, was ihr Aussehen und ihr Vermögen betraf. Miss Ellis strich bewundernd über die Samtpolster. »Ich gestehe, dass ich solchen Luxus nicht gewöhnt bin. Lady Talwins Kutsche war fast eine Antiquität, da sie in den letzten Jahren kaum noch das Haus verließ.«
Er lächelte. »Dieser Luxus ist einer der Vorzüge, wenn man aus einer wohlhabenden Familie stammt. Meine Großmutter ist eine reiche Erbin.«
»Falls Sie die Frage gestatten, wie gerät ein Sohn aus vermögendem Adelshaus in den Dienst des Außenministeriums? «
»Ich schätze, man könnte mich als das schwarze Schaf der Familie bezeichnen.«
Er erwähnte nichts von dem Zwischenfall in seiner Kindheit, der sein Leben vollkommen veränderte. Damals hatte er einen jungen Dieb vor der Verhaftung und wahrscheinlich dem Tod am Galgen bewahrt. In der Folge hatte Rayne eine einzigartige Ausbildung in den niederen Klassen und den finsteren Vierteln Londons erworben; er lernte den Schmutz und das Elend sowie die kriminellen Elemente dort kennen. Und so entwickelte er frühzeitig Fähigkeiten, die ihm später in seinem erwählten Beruf zugutekamen.
»War Ihre Familie mit Ihrer Berufswahl einverstanden? «, fragte sie, als er schwieg.
Raynes Mundwinkel zuckten. »Ganz und gar nicht. Spionage ist nicht gerade eine angesehene Betätigung. «
»Ich weiß. Papa wurde auch nicht als Gentleman angesehen, obgleich er ein Offizier war.«
»Meine Familie gab gern vor, ich würde reisen und meine Jugend ausleben. Besonders meine Großmutter benutzte lieber diese Erklärung für meine häufigen Auslandsaufenthalte.«
»Warum wählten Sie trotzdem eine solche Laufbahn? «
»Die Wahrheit ist«, erwiderte er ehrlich, »dass ich die Welt ein wenig verbessern wollte.«
Sie nickte. »Genau dasselbe wollte Papa auch.« Madeline sah ihn prüfend an. »Und jetzt? Ich würde meinen, dass Sie Ihre Tätigkeit nach so vielen Jahren hingebungsvoller Arbeit vermissen.«
Es überraschte Rayne, dass sie anscheinend verstand, warum er sich so nutzlos fühlte. Nicht dass er das Ende des Krieges bedauerte. Im Gegenteil, er war unsagbar froh, dass Tod, Zerstörung und Verrat ein Ende gefunden hatten. Doch ihm fehlte die Befriedigung, etwas zu tun.