Gezeitenkinder - Luise Diekhoff - E-Book

Gezeitenkinder E-Book

Luise Diekhoff

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Beschreibung

Eine junge Frau wächst über sich hinaus – für das Wohl der Kinder

Norderney 1962: Die junge Hanna fängt im Kindererholungsheim Strandhafer als Pflegerin an. Sie ist voller Hoffnung, einen Beitrag zum Guten in der Welt leisten und den kranken Kindern dort helfen zu können. Doch schnell stößt sie dabei auf Widerstand: Oberschwester Margot leitet das Heim mit harter Hand, Hanna fühlt sich bald von der strengen Frau drangsaliert. Wie kann solch eine herzlose Person die Aufsicht über kranke Kinder führen? Hanna beginnt zu recherchieren. Dabei stößt sie auf immer mehr erschreckende Ungereimtheiten in der dunklen Geschichte des Heims. Sie muss sich entscheiden: wie gewohnt den Kopf einziehen oder für ihre Überzeugungen kämpfen. Und dafür alles riskieren.

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Seitenzahl: 485

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Das Buch

Als die vierundzwanzigjährige Hanna 1962 nach Norderney kommt, um in einem Kindererholungsheim zu arbeiten, wird sie Zeugin unverhältnismäßig strenger Maßnahmen, die auf Misstrauen und Strafe statt auf Mitgefühl beruhen. Hanna erkennt rasch, dass dahinter kein Zufall, sondern ein System steckt, das seinen Ursprung tief im Nationalsozialismus hat. Das macht ihr auch Jan deutlich, ein junger Niederländer, der seine im Zweiten Weltkrieg verschleppte Tante sucht. Entschlossen stemmen sich die beiden gegen Angst und Stillschweigen – und finden dabei einen unerwarteten Verbündeten.

Die Autorin

Luise Diekhoff studierte Literatur, Film und Geschichte, bevor es sie als Journalistin und freie Autorin nach Berlin zog. Neben dem Schreiben sind ihre Leidenschaften das Reisen und die Recherche. Norderney und seine bewegte Vergangenheit liegen ihr dabei besonders am Herzen, denn zum Thema von Gezeitenkinder hat sie einen ganz persönlichen Bezug: Ihre Mutter war dort in den Sechzigerjahren Kinderpflegerin in einem Kinderverschickungsheim. Ihre Berichte und Eindrücke haben Luise Diekhoff bei der Recherche sehr geholfen.

LUISE

DIEKHOFF

Gezeiten

kinder

Roman

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Dieser Roman, wenn auch zu Teilen auf realen Begebenheiten und Figuren basierend, ist ein fiktionales Werk.

Das dem Roman vorangestellte Zitat stammt aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt am Main 1987.

Mit freundlicher Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH.

Originalausgabe 03/2022

Copyright © 2023 by Luise Diekhoff

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design

unter Verwendung von akg-images/

Thomas Kläber, Shutterstock.com (Tamara Kulikova, PAAOY)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27674-4V002

www.heyne.de

Für uns, denen der Pfosten der Tür verbrannt ist,

an dem die Jahre der Kindheit

Zentimeter für Zentimeter

eingetragen waren.

(Hilde Domin, Herbstzeitlosen)

Für meine Eltern

Desensibilisierung, De-sen-si-bi-li-sie-rung: das Vermindern von Reaktionen durch bekannte Reize; das Vermindern von Überempfindlichkeit. Auch als Therapieanwendung zum Beispiel bei Allergien (Immunisierung; Im-mu-ni-sie-rung)

(aus Hannas Notizbuch)

PROLOG

Anfang Mai 1945

Um einen Sandhasen zu fangen, benötigt man eine im Sand vergrabene Schlaufe vor dem Eingang des Hasenbaus, Geduld, Körperbeherrschung und langsam schwindendes Tageslicht. Das hatte der Junge von seinem Vater gelernt, und so lag er bewegungslos in den Dünen, den Blick konzentriert nach vorn gerichtet, das Ende des Seils ums Handgelenk geschlungen.

Die ersten Tiere kamen ins Freie, hoben schnuppernd die Nasen und schlugen sorgsam einen Bogen um ihn. Das machte nichts, denn nur die alten Tiere kannten den Trick, mit dem die Inselbevölkerung ihre Fleischtöpfe aufbesserte. Jungtiere waren nicht nur argloser, sie schmeckten auch besser.

Also wartete er. Das konnte er gut.

Da – ein Geräusch! Schwach und genau auf der Linie zwischen Himmel und Meer, an der Wahrnehmungsgrenze von menschlichem Gehör und dem wesentlich feineren eines wilden Tieres. Der Wind zerfaserte es in ein kaum merkliches auf- und abschwellendes Stakkato.

Der Junge aber nahm es wahr. Im ruckartigen Davonstürmen der Sandhasen wie in seinem eigenen beschleunigten Herzschlag und dem Zittern seiner Hände. Er lauschte mit dem ganzen Körper, spürte den Vibrationen nach. Ganz langsam legte er den Kopf in den Nacken und wandte den Blick nach oben in den Himmel, wo tiefe Wolken einander jagten – der perfekte Sichtschutz für Überraschungsangriffe und Sturzflüge.

Die Sirene schwieg. Der Luftlagemeldestelle schien keine Warnung vorzuliegen. Ob die Bomber abgedreht waren? Der Junge lauschte. Keine Flakschüsse. Kein hohes Schrillen, keine Rufe, keine hastigen Schritte. Niemand suchte die nächstliegenden Keller auf.

Sicher fühlte er sich dadurch nicht. Ruhe war ebenso trügerisch wie Lärm.

Vorsichtshalber drückte er das Gesicht in den Sand. Vater sagte, alles ändere sich, längst sei Norderney kein Ziel mehr, nur noch Wegmarke auf dem Kurs der Rotschwänzchen nach Berlin und Schrottplatz auf dem Weg zurück, wenn überflüssiges Gewicht abgeworfen wurde.

Tante Rena fand es logisch, dass sie in letzter Zeit verschont geblieben waren, immerhin fischte ihre Seenotrettung immer häufiger auch abgeschossene Piloten der Alliierten aus dem Meer.

Der Bürgermeister behauptete, der Feind habe kaum mehr Bomben, die er abwerfen konnte – nicht nachdem er versucht hatte, Helgoland zu versenken.

Der Junge aber wusste es besser. Das Motorbrummen nahm er so deutlich wahr, als säße es in ihm, und er hasste es. Hasste alles, an das es ihn erinnerte: das Osterfest vor vier Jahren, das traditionsreiche Eiertrudeln den Dünenabhang hinunter; leises Sandknirschen; das siegreiche Lachen seines besten Freundes Robert, weil er schon wieder gewonnen hatte. Auf nichts anderes hatten sie geachtet, sich sicher gefühlt. Erst als das Brummen zum Sirren geworden war, hatten sie nach oben geschaut.

Dann war der Himmel explodiert.

Nun beruhigte sich die Luft, beruhigten sich die Hasen und das Flattern in seinem Bauch. Woandershin flogen die Bomber, über andere Städte, Menschen, Freunde. Trotzdem brachte es der Junge nicht über sich, den Kopf zu heben.

Seine Hüfte schmerzte. Die linke über dem kaputten Bein. Gerechte Strafe, fand er. Glück gehabt, nannten es die anderen. Aber war es wirklich Glück, wenn einer lebte und der andere nicht?

Plötzlich stolperten Schritte durch die Dünen, nicht weit von ihm entfernt. Er bemühte sich, leise und flach zu atmen. Stellte sich vor, dass der Wind ein Laken aus Sand über ihn gebreitet hätte, das ihn gänzlich versteckte.

»Nun macht schon«, drängte jemand heiser. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«

Das folgende Murmeln bestand weniger aus Wörtern als aus Stöhnen. Nur eine Person schien zu widersprechen, wollte wissen, wohin, wo die anderen seien.

Dem harten Ratschen einer entsicherten Waffe folgte Stille.

Der Junge kniff die Augen zu und wartete zitternd, doch es kam kein Schuss. Dafür ein einziger Schlag, ein kurzer Schmerzensschrei. Jemand fiel. Hart genug, dass er glaubte, die Erschütterung des Aufpralls unter sich zu spüren. Sie waren höchstens einige Meter entfernt, und er ahnte: Diesmal durfte er sich nicht erwischen lassen, käme kaum mit einer Verwarnung und einer väterlichen Ohrfeige davon, weil er jemandem einen Kanten Brot zugesteckt hatte.

Wer waren die Leute, und was taten sie hier? Um diese Uhrzeit kehrten die letzten Arbeiter in ihre Lager zurück, die Soldaten in ihre Kasernen oder auf die Stützpunkte. Die Randdünen nahe der Siedlung, in denen sie sich nun befanden, lagen jedoch einzig auf dem Weg zu einigen Unterständen oder Geschützbunkern.

»Ihr zwei! Aufheben und tragen!«, bellte jemand. »Oder lasst sie liegen, nur steht sie dann ganz sicher nicht mehr auf.«

Ein Ächzen war zu hören, schwankende Schritte, die kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Das Letzte, was der Junge verstand, war »Geduld« und »Hilfe«.

Er schnaubte leise auf. Wörtern vertraute er ebenso wenig wie Geräuschen, Menschen oder dem Gefühl von Sicherheit. Je nachdem, wer sie benutzte, bedeuteten Wörter etwas anderes: das eine, das Gegenteil, alles dazwischen.

Einige auf der Insel hielten die Truppen der alliierten Streitkräfte, die inzwischen angeblich Berlin eingenommen hatten, für Hilfe. Andere setzten darauf, bis zum letzten Mann weiterzukämpfen. Und dann gab es noch jene, die – das Danach fest im Blick – Feuer entzündeten, um zu vernichten, was ihnen gefährlich werden konnte: Aufzeichnungen, Briefe, Flaggen, Tagebücher, Uniformen.

Für ihn bedeutete Hilfe das Gleiche wie Zukunft. Oder Befreiung. Oder Vergessen. Eine Aneinanderreihung von Buchstaben.

Das schlingernde Stolpern und heftige Atmen entfernte sich, er zählte langsam in Dreierschritten – drei, sechs, neun, zwölf … Tante Rena hatte ihm den Trick beigebracht. Er hatte ihr anfangs nicht geglaubt, aber es half, seine Gedanken einzufangen, wenn sie mal wieder in alle Richtungen davonstürmen wollten und Platz machten für Schlagschatten, Dämmerung und Grauen.

Etwas krachte. Ein Knirschen wie Metall auf Metall, die folgende Stille nur untermalt vom leisen Rauschen der Wellen. Dann eilte eine einzelne Person an ihm vorbei zurück Richtung Ort. Der Wind und sein Herzschlag verwischten alle Geräusche bis auf die der Sandhasen. Wie immer um diese Uhrzeit waren sie auf der Suche nach Fressbarem.

Bis hundertzweiundsechzig hatte der Junge gezählt, dann wagte er, sich auf die Seite zu drehen. Er zog das Seil mit der Schlaufe zu sich, wickelte es auf und steckte es weg. Es würde Kartoffeln ohne Fleisch geben. Immerhin war er diesmal unverletzt.

Mühevoll kroch er auf den unbefestigten Weg zur Nordhelm-Siedlung zu. Noch traute er dem linken Bein nicht ganz. Es war kürzer geblieben als das andere.

Gerade wollte er sich aufrichten, da ertasteten seine Finger im aufgewühlten Sand etwas Rundes, Hartes. Es hing an einer Kette und glänzte golden in dem spärlichen Licht.

Ohne zu zögern steckte der Junge das kalte Metall ein. Später würde er es sich genauer ansehen, zu Hause, nach dem Abendessen. Wenn sein Vater sich unbeobachtet fühlte, eine seiner Lieblingsplatten auflegte und in den Sessel neben dem alten Grammofon sank, das Hochzeitsfoto auf dem Schoß.

KAPITEL 1

Norderney-Fähre, Ende April 1962

Unter Hannas Fingerspitzen vibrierte die Reling der MS Frisia III, als hätte ihre Vorfreude das Schiff angesteckt.

Das Ziel ihrer Reise war von hier aus nicht mehr als ein lang gestreckter Schatten am Horizont, und Hanna war sich nicht einmal sicher, ob das, was sich in der Ferne aus dem Meer erhob, tatsächlich Norderney war oder eine der Nachbarinseln. Baltrum lag nur einen Steinwurf – oder besser eine Fahrrinne – vom einen Ende Norderneys entfernt, Juist nur unwesentlich weiter auf der anderen Seite.

»Aufgereiht wie eine Perlenschnur«, hatte Hannas Mutter einen der vielen Nordseeführer zitiert, die sie aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Hanna hatte sich über die Fantasielosigkeit gewundert. Wenn überhaupt, sahen die meisten der ostfriesischen Inseln – Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog und Norderney – aus wie Seepferdchen. Damit ließen sich wunderbare Geschichten für die Kinder erfinden.

Nur noch drei Tage, dann trat Hanna ihre Stelle im Kindererholungsheim Strandhafer an, und mit ihr ihre Cousine Evi. Diese hatte heimlich ihre eigene und Hannas Bewerbung dorthin geschickt.

Ohne Evis Wagemut hätte sich nach der gemeinsam absolvierten Kinderpflegerinnen-Ausbildung nicht viel verändert. So war es von jeher gewesen: Evi kam auf Ideen, Evi stürmte voran, Hanna folgte. Wie oft waren sie deshalb in Schwierigkeiten geraten! Die freigelassenen Schlachtschweine, das umgekippte Jauchefass, in dem sie nach einem Schatz gesucht hatten. Als sie über den Apfelbaum auf das Stalldach geklettert waren und dabei den einzigen Ast abgebrochen hatten, der noch Früchte trug …

Auf der anderen Seite: Ohne die unerschrockene Evi hätte Hannas Familie sie nie gehen lassen. Hanna wäre geblieben, wo alle sie kannten, wo sie wusste, was von ihr erwartet wurde.

Nun lag ein wundervolles Nichts vor ihr wie ein sorgfältig verpacktes Geschenk, und dafür war Hanna ihrer Cousine dankbar. Sie atmete tief ein, aus und noch mal ein, konnte das Salz auf der Zunge schmecken. Der Wind zerrte an ihren Haaren und dem Schal, überhaupt, der Wind: Wie konnte er hier so anders sein? Voller neuer Gerüche und Vorahnungen und – wie konnte Wind so glücklich machen?

Normalerweise hielt Hanna sich zurück. Sie wusste sich zu benehmen. Wer wollte schon unangenehm auffallen? In diesem Moment allerdings, inmitten der kreischenden Möwen, die der Fähre von der Insel aus entgegenflogen, inmitten der regenbogenfarbenen Gischt konnte sie nicht anders: Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen vor dem grellen Sonnenlicht und lachte überschwänglich.

»Na, steigt dir die gute Luft zu Kopf, oder sind das bereits die ersten Erfolge der Thalassotherapie?«

Hanna öffnete widerstrebend die Augen und sah ihre Cousine kopfschüttelnd an. »Thalassotherapie? Warum kann man nicht einfach Meerwasserbehandlung sagen?«

Evi lehnte entspannt neben ihr und lachte. »Vielleicht, weil sich alles, was sich von einer alten Sprache ableiten lässt, besser klingt? So, als wäre es schon jahrhundertelang erprobt?«

»Aber das ist es doch auch. Norderney hat schließlich das älteste Seeheilbad.«

»Von mir aus.« Evi zwinkerte ihr zu. »Und jetzt vergessen wir mal das Vorsintflutliche und richten unsere Aufmerksamkeit auf …«, Evi drehte Hanna an den Schultern herum und machte eine ausladende Geste, »… die Gegenwart!«

Hier vorn am Bug standen einige Menschen plaudernd zusammen, wesentlich mehr drängten sich auf dem Sonnendeck über ihnen ans Geländer oder warteten in der Reihe vor der kleinen, drei Stufen erhöhten Aussichtsplattform beim Fahnenmast.

Vier Kinder, mit ihren Eltern unterwegs, lachten und schrien und deuteten ununterbrochen in unterschiedliche Richtungen. Einige Alleinreisende hielten sich krampfhaft Reiseführer vors Gesicht, deren Seiten vom Wind hin und her geknickt wurden, als wäre es von größter Wichtigkeit, die darin abgebildeten Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit den strahlenden Farben des Vormittags zu vergleichen. Eine junge Frau, das blau-weiß gemusterte Tuch malerisch um die Hochsteckfrisur geschlungen, reckte elegant eine Hand mit einem Stück Brötchen in die Luft und ließ sich lachend fotografieren, während die Möwen mit gefährlich gebogenen Schnäbeln wetteifernd auf den Leckerbissen herabstießen.

Evi zog Hanna durch die Tür in den Innensaal, durch den man das obere Freiluftdeck erreichte. Tische und Stühle waren am Boden festgeschraubt. Trotz des schönen Wetters waren im hinteren Bereich einige Sitze belegt. Hanna stutzte. Die Kinder, zwischen etwa drei und sieben Jahre alt, saßen ganz still, die meisten mit auf den Tischplatten gefalteten Händen, und starrten aus den Fenstern. Andere schienen zu schlafen.

Bevor Hanna ihre Cousine auf diese seltsame kleine Versammlung aufmerksam machen konnte, lief Evi auch schon strahlend die Stufen hinauf an die frische Luft. Hanna folgte ihr, und die Sonne vertrieb das triste Gefühl von eben.

»Augen links!«, befahl Evi.

Hanna drehte den Kopf. Ein frisch verliebtes Paar starrte einander entzückt in die Augen, ohne zu bemerken, dass andere Fahrgäste neidisch auf ihren Platz blickten, dessen Aussicht an sie verschwendet war. Einige Kinder kicherten hinter vorgehaltener Hand. Wettergegerbte Männer zogen heftig an ihren Pfeifen und stießen weißen Rauch aus, den ihnen der Fahrtwind sofort entriss, als habe er nur darauf gewartet.

Evi stupste Hanna in die Seite und sah vielsagend an einer fröhlich aussehenden Dame mit blumigem Kleid und noch blumigerem ausladenden Hut vorbei. »Ich habe«, flüsterte sie ihr zufrieden zu, »gleich mehrere unbegleitete Herren entdeckt.«

Hanna unterdrückte ein Auflachen. Aber natürlich! Das hätte sie sich denken können. Hätte Evi für Pilze ein ebenso gutes Auge wie für alleinstehende Männer, wäre ihnen in den letzten Jahren sicher so manches durch Bitterlinge verdorbene Ragout erspart geblieben!

Langsam schlenderten sie an der Reling entlang, und Hanna sah sich um.

Unbegleiteter Herr Nummer eins: Hut, Sommersprossen, breites Lachen, abgestoßene Stiefel.

Unbegleiteter Herr Nummer zwei: laut, raumeinnehmend, gut gekleidet, mit Flachmann, dem er regelmäßig zusprach.

Unbegleiteter Herr Nummer drei: gelockerte Krawatte, ruhig, entspannt und offenbar gar nicht so unbegleitet, da die Dame vorn rechts zu ihm zu gehören schien.

Unbegleiteter Herr Nummer vier …

Jemand würgte und schluchzte. Hanna spürte, wie Evi neben ihr erstarrte. Ihre Cousine war nicht besonders gut mit Körperflüssigkeiten. Oder Krankheiten. Oder, wenn sie schon dabei waren, mit Kindern. So gerne Hanna Evi hatte – deren Gründe für die Ausbildung zur Kinderpflegerin waren ganz andere gewesen als ihre eigenen.

Hanna hätte am liebsten weitergelernt, nach dem Pflegerinnenexamen noch das zur Krankenschwester gemacht. Doch das hätte mehr Lesen bedeutet, mehr Fachbegriffe, scheinbar wahllos zusammengesetzte Wörter, bei denen Hanna stets unsicher war, wo das eine aufhörte und das nächste begann. Eine Schwäche, die sie sorgsam geheim hielt. Nicht einmal Evi wusste davon.

Evi hatte mit Büchern kein Problem, dafür aber mit dem Durchhaltevermögen. Genau das allerdings, hatte ihr Vater bestimmt, galt es, ihm zu beweisen, bevor er ihr erlauben würde, in das Familienunternehmen einzusteigen. Evis direkter Weg ins Lichtspielhaus-Imperium Germania führte über eine Ausbildung, egal welcher Art, und ein Jahr Arbeitserfahrung. Ein Jahr, das erst in drei Tagen beginnen würde. Bis dahin hatten die Cousinen Zeit, sich einzugewöhnen.

Daher wunderte sich Hanna nicht, als Evi umdrehte und versuchte, möglichst viel Abstand zwischen sich und die unglücklichen Würgegeräusche zu bringen. Da es die meisten der Anwesenden ähnlich hielten, konnte Hanna bald sehen, was los war: Auf dem Boden vor dem Geländer kauerte ein etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen. Es hatte den Hals weit zwischen die lackierten Metallstangen gesteckt und beide Hände so fest darum geklammert, dass die Knöchel bläulich schimmerten.

Wie in einer Zirkusmanege drückten sich die Zuschauer an den Rand und beobachteten das Schauspiel. Der nächste Brechreiz durchzitterte die Kleine, ihre Schulter rundeten sich, doch nur ein Schluchzen und ein trockener Husten folgten.

Da sich niemand für das Mädchen verantwortlich zu fühlen schien, lief Hanna hinüber und ging neben ihm in die Hocke. »Dreh den Kopf nach links und gucke in Fahrtrichtung«, schlug sie vor. »Auf die Insel oder den stillen Horizont. Das soll helfen, habe ich gehört.«

Die Kleine hickste. »Gehört?«, krächzte sie und drehte Hanna das pausbäckige Gesicht zu. »Aber sicher bist du nicht?«

»Nein, tut mir leid, das ist meine erste Schiffsreise.«

Das Mädchen spuckte aus und sah wie Hanna, die sich weiter vorbeugte, dabei zu, wie sein Speichel nur wenig später auf einer Fensterscheibe des unteren Decks landete und dort vom Fahrtwind verteilt wurde. »Ich war schon vier Mal hier«, sagte es und seufzte. »Und bis ich zu alt bin, dauert es noch.« Es hickste wieder, gefolgt von einem Rülpsen und einem Naserümpfen.

Eilig fischte Hanna ein Kräuterbonbon aus ihrer Umhängetasche und hielt es dem Mädchen hin. »Das heißt also, du kennst dich auf Norderney aus«, versuchte sie abzulenken. »Dann verrate mir mal, wo ich am besten laufen kann.«

»Am Strand?« Die Kleine steckte sich das Bonbon in den Mund. »Da, wo der Ort aufhört, kannst du rennen und rennen und rennen. Da ist nichts außer Sand und Dünen, Wasser, manchmal ein Strauch.«

Hanna horchte auf. Das hörte sich himmlisch an. Als könnte man auf der unbewohnten Hälfte der Insel ganz allein sein mit sich und seinen Gedanken. Für jemanden mit fünf Geschwistern eine Rarität.

»Na, und dann sind da natürlich noch die Bunkerreste. Angeblich kann man in einige sogar reinklettern!« Aufgeregt riss das Mädchen die Augen auf, das runde Gesicht schon etwas rosiger als noch vor ein paar Minuten. Dann ließ es plötzlich wieder die Schultern hängen. »Aber nur, wenn du mutig genug bist.«

Hanna verstand. Zu den Mutigen schien die Kleine nicht zu gehören. Oder die Mutigen hatten sie nie gefragt, ob sie mitkommen wollte. Auch Hanna hatte ihre Brüder früher erpressen müssen, damit sie mitspielen durfte.

»Es heißt, dort spukt es«, flüsterte das Mädchen. »Und gefährlich ist es auch! Wer dabei erwischt wird …«

»Leni!«, unterbrach da eine Stimme. »Was machst du denn? Sag bloß, du hast schon wieder genascht?«

Hektisch schluckte das Mädchen den Rest des Bonbons hinunter und richtete sich auf.

Die ältere Dame, laut dem Namensschild an ihrem Kragen Schwester Erika, kam rasch näher, seufzte und lächelte Hanna entschuldigend an. »Ich hoffe, Leni hat Sie nicht belästigt.«

Hanna schüttelte den Kopf, doch bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte die Betreuerin Leni am Oberarm gepackt und zog sie mit sich in Richtung Unterdeck. »Was hast du dir nur dabei gedacht«, hörte Hanna die Frau noch zischen. Leni selbst blieb stumm.

Nachdenklich blickte Hanna dem ungleichen Duo hinterher, da tutete die Fähre, und die Insel wurde größer. Dächer waren zu sehen, dahinter erhoben sich linker Hand metallene Hebezüge und Kräne vom Strand. Reparaturarbeiten, vermutete Hanna. Zwar hatte die Februar-Sturmflut hier nicht wie in Hamburg Leben gefordert, dafür jedoch einigen Schaden an Gebäuden, Straßen und Sicherungswerken angerichtet. Hanna hatte darüber gelesen: eingestürzte Schutzhallen für die Badegäste mussten neu errichtet, Böschungen wieder aufgeschüttet, Ruhebänke aufgestellt werden. Ja, am Nordstrand wurde sogar die Strandpromenade neu gestaltet. Statt bisher eines Wandelgangs entstanden dort zwei – ein unterer mit Abschrägung zum Wasser und ein oberer mit weitem Blick über das Meer und die auf der anderen Seite liegende Kaiserstraße. Bald würden dort wieder ungestört Kurgäste flanieren können, und zwar doppelt so viele wie zuvor. Überhaupt hatten die Insulaner nicht lange gezögert, gemeinsam zugepackt, Schäden behoben und aus so manchem Wiederaufbau eine Renovierung gemacht. Wie auch bei dem erst kürzlich verbreiterten Inselhafen, den die Fähre jetzt ansteuerte.

Weiter entfernt ragten Backsteingebäude auf, eines davon musste Heim Strandhafer sein. Rund sechzig erholungsbedürftige Kinder konnten hier auf einmal versorgt werden. Die meisten blieben sechs Wochen, manche aber – oft Kinder mit Asthma oder Hautbeschwerden – benötigten ausgedehntere Aufenthalte. Ein Vorteil von Hannas zukünftiger Arbeitsstätte war die Anwesenheit nicht nur eines, sondern sogar zweier Ärzte im Haus, die sich um die medizinische Versorgung und Behandlung kümmern konnten. Etliche der anderen auf der Insel angesiedelten Erholungsheime setzten einzig auf die wohltuende Wirkung von Meerwasser und Seeluft und waren gezwungen, für ernsthaftere Erkrankungen einen der privaten Ärzte rufen zu lassen oder ihre kleinen Patientinnen und Patienten in das Seehospiz zu bringen.

Der private Träger Strandhafers aber, eine Gesellschaft mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, hatte offenbar Geld. Kurz nach dem Krieg hatte er das Gebäude übernommen, rundum erneuern lassen und die damals auf Norderney arbeitende Dr. Waldeck als Leiterin eingesetzt.

Hanna freute sich darauf, die Ärztin kennenzulernen. Ganz besonders aber freute sie sich auf die Kinder. Schon seit Wochen hatte sie sich Spiele für unterschiedliche Bedürfnisse ausgedacht – einige regten zum tiefen Einatmen an, andere sorgten für gesunde Bewegung, und wieder andere lenkten die Konzentration auf anderes als juckenden Hautausschlag. Das nächste Jahr, da war Hanna sich sicher, würde ganz unterschiedliche Herausforderungen mit sich bringen. Endlich konnte sie zeigen, was alles in ihr steckte!

KAPITEL 2

Rita war wütend. Wütend auf Peter, den sie kein einziges Mal Papa genannt hatte, egal wie nachdrücklich Mama darauf bestand. Wütend auf die zwei ältlichen »Tanten«, die sie begleiten sollten, aber ständig auf den Gang traten, weil man sonst »ja keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte«. Auf die anderen Kinder im Zugabteil war sie wütend, die keinen Moment ruhig waren, sondern schrien und zeterten, heulten und wimmerten. Hunger hatten sie und Durst, vermissten ihre Eltern, die Oma oder Geschwister. Besonders schlimm waren die Kleinen, die nichts verstanden und immer wieder die gleichen Fragen stellten: Wo fahren wir hin? Wo ist meine Mama? Wie lange dauert es noch? Kann ich bitte wieder nach Hause?

Rita presste die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Die Sonne knallte ihr mitten ins Gesicht, und hinter ihren zugekniffenen Augenlidern explodierte ein Schwall an Farben – pulsierendes Rot, schreiendes Orange, sengendes Gelb und dazwischen frisch gestanzte Löcher, tanzende schwarze Flecken. So musste Zorn aussehen, wenn man ihn malen könnte.

Rita ballte die Fäuste, bis sie die kleinen feinen Nadelstiche spürte, die ihre Fingernägel hinterließen, wenn sie sich in ihre Haut gruben. Es half. Etwas. Ähnlich wie ein Wackelzahn. Man musste nur vorsichtig sein, nicht übertreiben, dann ließ es sich eine ganze Weile auf dem fein gesponnenen Schmerz balancieren, und währenddessen verlor alles andere an Schärfe.

Rita presste ein bisschen stärker und dachte an das Märchen von der Schneekönigin. Wie gerne würde sie den Platz tauschen mit Kay, all das Durcheinander in ihr würde sie eintauschen gegen einen wohltuend kühlen, spiegelnden Splitter im Herzen. Oder im Bauch. Denn von dort ging bei Rita alles aus: die flatternde Angst, die stumpfe Traurigkeit, das gefräßige Unwohl, das Hässliche, Neidische, Wütende. Das, weshalb Mama sie nicht mehr wollte.

Weshalb sonst hatte sie Rita weggeschickt? Bald gab es ein neues Kind, ein richtiges. Felicitas sollte es heißen, wenn es ein Mädchen würde. Oder Felix. Das bedeutete Glück. Dieses Kind war Glück, weil es nicht nur zu Mama gehörte wie Rita, sondern auch zu Peter.

Die Bedeutung ihres eigenen Namens kannte Rita nicht. Mama hatte nur gesagt, dass sie nach ihrer Tante, der Schwester ihres Vaters, benannt worden war. Sie war im Krieg gestorben. Die eine hatte Rita nie kennengelernt, an den anderen konnte sie sich kaum erinnern. Mama sagte, ihr Vater sei nicht einmal lange genug geblieben, um Rita das Fahrradfahren beizubringen.

Rita trug einen abgelegten Namen, und nun, da Mamas und Peters Glücksbaby bald kam, war auch sie selbst nicht länger nötig.

Nur wenig entfernt von ihr knackte und schmatzte etwas. Der dicke Johannes aß schon wieder. Er schien unzählige Brote, Kekse und Bonbons dabeizuhaben, verstaut in jeder einzelnen seiner Hosen-, Jacken- und Koffertaschen. Und er hatte immer Hunger.

Rita klickte mit der Zunge gegen den Gaumen, knirschte mit den Zähnen, schnalzte. Alles, nur um das Kaugeräusch von gegenüber zu übertönen. Umsonst. Egal was sie versuchte, sie hörte Johannes’ Zähne mahlen, seine Lippen schmatzen, das Schlucken und das feucht-eklige Saugen, wenn etwas in den Zahnzwischenräumen stecken geblieben war. Als wäre das nicht genug, vermischte sich der Geruch von Leberwurst mit dem von Kümmel und Marmelade, dazwischen lag der süßliche Duft der erhitzt schluchzenden Kleinkinder, das Maiglöckchen- oder Veilchenparfüm einer der Tanten, und irgendeiner der Zwerge hatte die Hosen voll.

Exakt in diesem Moment biss Johannes krachend in einen Apfel – und etwas in Rita riss mit einem hohen Ton entzwei. Sie holte aus und schlug zu. Johannes’ Apfel flog in hohem Bogen davon. Er knallte an die Scheibe zum Gang und zerbarst genau vor dem erschrocken aufgerissenen Krähenfußmund einer der alten Tanten.

Alles wurde still. Bis auf das Kreischen in Rita. Erst als der Zug plötzlich bremste und sie nach vorn geschleudert wurde, als alle erschrocken durcheinanderriefen, als Johannes schützend die Arme vors Gesicht riss, da begriff Rita, dass das Sirenengeräusch nicht in ihrem Kopf war. Es kam aus ihrem Mund.

KAPITEL 3

Stampfend und langsam war die Fähre an die Anlegestelle im Hafen herangefahren, während Hanna Evis und ihr Gepäck aus dem Unterdeck holen gegangen war. Nur widerstrebend hatte sich ihre Cousine von einem hochgewachsenen Mann verabschiedet, mit dem sie sich angeregt unterhalten hatte, und war Hanna schließlich zur Hand gegangen.

Auch jetzt noch, als sie den brav in Zweierreihen marschierenden Kindern auf die Insel folgten, reckte Evi den Hals, um ihren neuen Bekannten im Auge zu behalten. Dass dieser, ohne zu zögern, mit langen Schritten an sämtlichen hier wartenden Menschen und den wenigen Fuhrwerken vorbeischritt, also offenbar von niemandem erwartet wurde, schien ihr zu gefallen. Hanna lächelte in sich hinein. Während für Evi Unterhaltungen mit Männern zu ihrer neu gewonnenen Freiheit dazugehörten, freute Hanna sich auf ihr gemeinsames Zimmer im Logierhaus Fischer: groß genug für zwei Betten, einen Kleiderschrank und einen Schreibtisch war es, und die Dusche auf dem Gang musste mit nur vier weiteren Parteien geteilt werden! Keine Brüder, die sich in die Toilette einschlossen, um verbotene Zeitungen oder Comics zu lesen. Keine langwierigen Rituale, mit denen Tante Ernie den Raum blockierte vor ihrem wöchentlichen Kaffeekränzchen.

Ungeduldig wartete Hanna, bis das letzte Gebäude der Hafenstraße hinter ihr lag und sie endlich einen Blick auf den Strand erhaschen konnte. Erst ein Mal hatte sie Meeresstrand von Nahem gesehen, während eines Zelturlaubs mit zwei ihrer Brüder und deren bestem Freund in Italien. Hier an der Nordsee aber blendete der Sand nicht flirrend die Augen, er schimmerte unaufdringlich in Perlweiß, Lichtgrau und Silbergold. Kurz davor erstreckte sich laut des Inselplans das Argonnerwäldchen mit dem Heimatmuseum. Viel märchenhafter konnte es kaum mehr werden.

Hanna legte einen Zahn zu. »Wollen wir ein Stück am Strand entlang?«

Evi schüttelte entschuldigend den Kopf. »Später gerne. Erst muss ich dieses Monstrum loswerden.« Ihr eigens für die Reise angeschaffter Lederkoffer schlug bei jedem Schritt gegen ihre Beine. Gleichzeitig rutschte die neue Handtasche beständig von ihrer Schulter. Statt vorwärts zu laufen, stolperte Evi im Zickzack. Und sie waren noch nicht einmal bei den ersten Häusern des Orts angelangt!

Einen letzten sehnsuchtsvollen Blick warf Hanna auf die tanzenden Schaumkronen der Wellen, dann nahm sie ihrer Cousine die wild herumschlenkernde Handtasche ab.

Evi atmete auf. »Danke, schon viel besser!« Ruckartig wuchtete sie ihren Koffer über die unebene Straße und ließ Hanna vorauslaufen. Diese hatte sich den Weg vom Hafen an Heim Strandhafer vorbei zu ihrem Quartier in der Broschüre des Gastgeberverzeichnisses markiert. Zwar standen darauf nicht sämtliche Straßennamen, doch wenn sie sich links des Wasserturms hielten, müsste beides zu finden sein.

Einfach war das allerdings nicht. Jedes Mal, wenn Evi eine Pause einlegte, versuchte Hanna sich zu orientieren. Dann klapperten Pferdekutschen an ihnen vorbei über die Pflastersteine, Menschen liefen kopfschüttelnd um sie herum.

Sie bogen ab, erst links, dann rechts, und fanden sich vor dem Kurhaus wieder. Beeindruckt umrundeten sie den schön gestalteten Platz, liefen am Wellenschwimmbad vorbei und entdeckten ein leuchtendes, rot-weiß gestreiftes Runddach, das von der Strandpromenade hinter der Grünfläche hervorblitzte. Rot-weiße Strandliegen standen neben geschickt verteilten Parkbänken. Auf einer saß ein Mädchen mit Zopf, weißer Haube und rotem Schultertuch. Es ließ die Beine im Takt zu den Klängen des Akkordeons baumeln, das der alte Herr neben ihr spielte. Rot schien hier eine beliebte Farbe zu sein. Ein seltsam anmutendes Gefährt, vorn Auto, hinten Ähnlichkeit mit einem offenen Zugwaggon, erstrahlte in fröhlichem Rot-Gelb, während es mit seinen sicher zwanzig Fahrgästen überraschend geräuschlos an ihnen vorbeizog. Es gab eine Tomatenbar mit – wie zu erwarten – signalroter Frucht auf dem Schild, ein Salon de Haute Coiffure warb mit geschwungenen roten Buchstaben, wie auch die Lotto-Toto-Annahmestelle am Ende der Straße, in der sich gleich drei Kaffeehäuser Konkurrenz machten. Jedes mit einer kleinen Eigenheit: Da gab es Kaffee und Konditorei Fröhlich, dann das Central-Cafè und schließlich Conditorei und Cafe Drühl. Sich zu schreiben, wie man wollte, damit man sich voneinander absetzte, gefiel Hanna. Das war doch mal ein absolut nachvollziehbarer Grund, auf allgemeingültige Rechtschreibung zu pfeifen!

Doch auch diverse Bars und Restaurants reihten sich aneinander, von bodenständig wirkenden Läden wie der Friesenschänke und Klabauterklause bis hin zu den etwas zwielichtig klingenden Etablissements Entrenous und Le Bal.

Angesichts des hinter ihnen liegenden Argonnerwäldchens und des sich daran anschließenden Parks namens Napoleonschanze schienen nicht nur die Farbe Rot, sondern auch französische Bezüge eine feste Größe auf der Insel zu sein. Dabei hatte Hanna eher erwartet, dänische oder niederländische Einflüsse vorzufinden.

Als sie nun in Richtung Inselmitte abbogen und die Cafés nach und nach Wohnhäusern Platz machten, seufzte Evi hinter ihr enttäuscht. Hanna aber erfreute sich an der ungewohnten Architektur. Fast schien es, als wären die überdachten Glasvorbauten an den Gebäuden Pflicht. Oder ein aus der Not geborener Vorteil. Selbst bei starkem Wind, kalten Temperaturen oder Regen ließ es sich dort bestimmt entspannt frühstücken, Zeitung lesen, spielen oder ruhen.

Ein weiterer Blick auf den Stadtplan bewies: Bald musste das Heim Strandhafer zu sehen sein. Falls sie nicht falsch abgebogen waren. Wieso konnten die Straßen auch nicht gerade verlaufen?

Evi stellte ihren Koffer ab, rieb sich das Handgelenk und sagte beiläufig: »Ich habe übrigens einen Arzt kennengelernt.«

Hanna blieb stehen. »Was?«

»Auf dem Dampfer!« Evi schüttelte sich die Locken auf. »Während du gute Samariterin gespielt hast. Er ist Allergologe, Hautarzt und Fachmann für Immuntherapie.«

Allergologe. Immuntherapie. Hanna versuchte sich vorzustellen, wie man die Wörter trennte. Wäre sie allein, würde sie jetzt nach ihrem Notizbuch greifen, damit sie nicht vergaß, die richtige Buchstabenfolge später zu überprüfen und aufzuschreiben. »War das der Dunkelhaarige, dem du hinterhergeguckt hast?«

»Na, sooo dunkel war er nun auch nicht«, wehrte Evi ab. »Schließlich ist er Deutscher.«

Hanna unterdrückte ein Seufzen. Natürlich hatte Evi diese Information schon im ersten Gespräch herausgefunden. Sosehr sich ihre Cousine damit brüstete, eine moderne junge Frau zu sein – vor einigen elterlichen Überzeugungen schien Evis Emanzipation haltzumachen. Womöglich konnte da so ein Inseljahr helfen?

Hanna deutete nach vorn. »Das müsste die Luciusstraße sein.«

»Müsste? Sag bloß, du hast dich verlaufen.«

Hanna zuckte mit den Schultern. »Wir sind hier auf einer Insel, wir werden kaum verhungern, falls wir mal falsch abbiegen. Schau da!«

Vier Türmchen aus rotem Backstein begrenzten das Heim Strandhafer an jeder Ecke. Den zweiflügeligen Eingang zum Hauptgebäude erreichte man über einen Vorplatz, der von einer hohen, frisch renovierten Mauer mit einem Tor umrundet wurde. Das geschwungene Gitter, vor dem sie nun stehen blieben, war geschlossen.

Evi betrachtete das Gebäude zufrieden. »Sieht ganz ordentlich aus. Und ist zum Glück nicht weit von unserer Unterkunft. Endlich ausschlafen!«

Hanna musste lachen. »So bis sechs Uhr, meinst du, damit wir rechtzeitig zur Frühschicht erscheinen?«

Evi streckte sich gähnend. »Ich hoffe, sie geben uns viele Mittagsdienste.«

»Kaum. Neue müssen nehmen, was übrig bleibt – wir sollten uns auf Früh- und Nachtdienste einstellen.«

»Gegen Nächte hab ich nichts.« Evi zwinkerte gut gelaunt. »Ganz in Ruhe mit einem jungen schnieken Arzt.«

Hanna schüttelte amüsiert den Kopf und wollte Evi gerade dabei helfen, ihr Koffermonstrum einige Meter weiter zu schleppen, da ertönte von der anderen Seite der Mauer ein unheimliches Kratzen und Scharren. Hannas Nackenhaare stellten sich auf. Nur Sekunden später tauchte hinter dem Gittertor eine seltsame Gestalt auf. Mit nach vorn gekrümmten Schultern stützte sie sich auf einen Besenstiel. Das Gesicht mit dem dichten Bart auf den Boden Boden gerichtet, schien der alte Mann sie argwöhnisch aus den Augenwinkeln zu beobachten.

»Oh, hallo!« Umsonst bemühte sich Hanna, seinen Blick aufzufangen. »Entschuldigen Sie, wir wollten uns Heim Strandhafer nur mal von außen ansehen.«

Er bewegte sich nicht. Es sei denn, das zaghafte Nicken seines Kopfes war Absicht.

»Wir treten am Montag hier unseren Dienst an«, schob Evi nach und strahlte ihn an, »als Kinderpflegerinnen.«

Das schien zu wirken. Kurz sah er hoch und sofort wieder weg. Hanna stutzte. Hatte sie sich eben verguckt? Sein Gesicht passte überhaupt nicht zu seiner Haltung und dem Grau seiner Haare. Es wirkte, als sei er höchstens Mitte dreißig.

Evi zuckte mit den Schultern und griff nach ihrem Koffer. »Der redet wohl nicht mit uns.« Sie gab sich keine Mühe zu flüstern.

Mit dem Besen in der Hand wandte sich der Mann von ihnen ab.

»Einen Moment noch!«, bat Hanna. »Zum Logierhaus von Hilde Fischer, biegen wir da besser hier ab oder die nächste Querstraße?«

Der Mann stockte. Dann drehte er sich zögernd ein Stückchen zurück, hob einen Arm und wies in die entgegengesetzte Richtung. Hanna musste sich anstrengen, sein Murmeln zu verstehen: »Am einfachsten geht ihr zur Winterstraße. Dann die vierte Straße links.« Nur wenige schlurfende Schritte später war er wieder hinter der Steinmauer verschwunden.

Hanna sah ihm verwundert hinterher.

Evi kicherte. »Strandhafer hat sein eigenes Faktotum.« Gespielt zog sie eine Schulter in die Höhe und humpelte übertrieben einige Schritte weiter. »Esmeralda!«, raunte sie dabei heiser und traf den Tonfall von Anthony Quinn als Quasimodo erstaunlich gut. Aber sie hatte den Film im Lichtspielhaus ihrer Eltern auch mehr als ein Mal gesehen.

»Psst!« Eilig zog Hanna Evi weiter. »Mach dich nicht lustig! Wir wissen nicht, was mit ihm los ist. Erinnerst du dich an Norbert, den Freund meines Vaters, der konnte nach dem Krieg auch nicht mehr …«

»Der Krieg!« Evi stöhnte. »Hanna, der Krieg ist seit fast zwanzig Jahren vorbei. Außerdem hat mich Quasimodo sicher nicht gehört. Der ist viel zu beschäftigt damit, sich die Ohren mit den Schultern zuzuhalten. Wahrscheinlich sind ihm die Kinder zu laut. Lass uns unsere Pension finden und die Insel unsicher machen. Noch haben wir drei freie Tage.« Kurz zögerte sie und fügte hinzu: »Ich kann ja ab Montag besonders nett zu ihm sein. Was meinst du, rückt das dann das All wieder ins Gleichgewicht?«

Hanna musste lachen. Das All? Evi kam wirklich auf die seltsamsten Ideen. Aber mit einem hatte sie recht: Die nächsten Tage sollten sie dazu nutzen, Norderney zu erkunden. Und ihrem Orientierungssinn auf die Sprünge zu helfen.

KAPITEL 4

Rita saß auf dem viel zu großen, viel zu hohen und viel zu harten Stuhl vor dem Schreibtisch der Heimleiterin und baumelte mit den Beinen. Nicht etwa, weil sie besonders fröhlich war oder sich sehr wohlfühlte. Nein, sie tat es schlicht und einfach, weil das eigentlich nicht erwünscht war. Mit den Beinen baumelten nur kleine Kinder. Keine über zehn. Und schon gleich gar keine, die gut erzogen waren. Gut erzogene Kinder nämlich machten kleine, gut erzogene Schritte, schlenkerten weder mit den Beinen noch zu sehr mit den Armen beim Laufen und hielten den Kopf gerade. Sie schrien nicht, beschmutzten sich nicht, sie widersprachen nicht, redeten nur, wenn sie dazu aufgefordert wurden, taten, was von ihnen verlangt wurde, aßen auf, hatten kein Heimweh, logen nicht und vor allem: Sie bissen keine anderen Kinder.

Das alles war Rita erst von Oberschwester Margot, dann von der Heimleiterin Dr. Waldeck und anschließend noch einmal von einer Frau, die sich als Schwester Frieda vorgestellt hatte, erklärt worden. Rita wusste nun auch, dass sie hier im Heim niemanden wie sie gebrauchen konnten: eine Beißerin.

Dabei hatte Rita Johannes gar nicht beißen wollen. Nun gut, sie hatte ihm den Apfel aus der Hand geschlagen. Aber dann hatte der Zug gebremst, und sie war gefallen. Überall so viele Töne, manche davon aus ihrer Kehle, und plötzlich hatte Johannes ihren Fall gebremst. Weich war er gewesen, und dann war da sein Arm in ihrem Mund – ein Unfall!

So recht schien ihr das niemand zu glauben. Außerdem gab es noch ein anderes Problem: Rita stand nicht auf der Namensliste des Heims. Rita war das recht, denn außer dem erst später dazugekommenen jungen Arzt mochte sie hier niemanden. Eigentlich hatte er sie sich gleich noch ansehen wollen, aber die grimmige Schwester Frieda hatte sie am Oberarm gepackt und hierherverfrachtet.

Wie lange sie wohl schon hier saß? Inzwischen hatte sie von ihrem Stuhl aus das gesamte Zimmer betrachtet: zwei Fenster, zwei Heizkörper, ein langer Stahlschrank mit fünf Türen und Schlössern, zwei Stühle, ein riesiger Schreibtisch, sieben Stifte, ein Spitzer, kein Foto. Aber ein Bild an der Wand ihr gegenüber. Ein Mann in weißem Kittel war darauf, das Kinn so weit erhoben, dass Rita versucht hatte, ihm in die Nasenlöcher zu sehen. Aber sein kurzer, borstiger Oberlippenbart hatte das verhindert. Und natürlich die Tatsache, dass der haarige Mensch nur gemalt war.

Ritas rechte Schuhspitze stieß gegen den Tisch. Etwas klapperte in einer der vielen Schubladen.

Was würde mit ihr geschehen? Zurückschicken ging nicht. Außerdem hatte Rita zwar nicht auf der Liste gestanden, aber erst mit ihr waren sie vollzählig, hatte eine der Frauen gesagt und den anderen etwas vorgerechnet, das Rita nicht verstanden hatte.

Das war, nachdem die anderen Kinder alle in Gruppen zum Ankommen eingeteilt worden waren. Ankommen hieß: Abduschen des Reisestaubs, Überprüfung auf Läuse und Flöhe und ärztliche Eingangsuntersuchungen. Erst danach gab es frische Kleidung, warmen Tee und Abendessen.

Ja, Rita hatte genau hingehört vorhin in der großen Eingangshalle, als der Tagesablauf erklärt worden war, die Hausordnung und die Regeln. Und sie hatte sich alles gemerkt. So wie immer.

Beim Gedanken an Abendessen allerdings schüttelte sie sich. Sie wusste, dass sie zu dünn war. Aber es gab nun mal so viele Dinge, die sie nicht herunterbrachte. Suppen und Soßen, die sie mit traurigen Fettaugen anschauten oder eine zarte Haut bildeten, durch die sie mit dem Besteck nicht stoßen wollte. Dass die Erwachsenen also dachten, sie könnte einen Jungen beißen – mit Absicht –, war verrückt!

Noch einmal trat Rita mit dem Schuh gegen die Schreibtischplatte, stärker diesmal. Es klapperte lauter, als fielen Metallgegenstände übereinander. Ob die Heimleiterin hier die Notschlüssel aufbewahrte wie der Schulwart zu Hause? Falls die Spindschlüssel der Mädchen nach dem Sport alle fehlten. Falls der Kleinste der Klasse mal wieder in den Keller gesperrt worden war oder sich in die Toilettenparzelle geflüchtet hatte und sich weigerte herauszukommen. Ersatzschlüssel waren wichtig!

Von weiter weg rumpelte etwas, auf dem Gang wurden Schritte laut, dann öffnete sich die Tür.

Dr. Waldeck blieb im Rahmen stehen, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie eintreten wollte oder nicht. Vielleicht aber hatte sie von dort auch nur den besseren Blick. Über ihre rechte Schulter spähte die Oberschwester in den Raum.

»Problem gelöst.« Die Heimleiterin sah Rita an. »Es handelt sich offenbar um eine Verwechslung. Aus irgendeinem Grund hat dein Arzt dich bei uns als Margarethe Pribeznik angemeldet anstatt als Rita Nussberger.«

Rita blinzelte und schwieg. Ihren viel zu langen Taufnamen mochte sie sowieso nicht. Und was ihren Nachnamen betraf: Niemanden hier ging es etwas an, dass sie am liebsten weder den ihres Vaters noch Peters tragen würde. Nur konnte man sich den nun mal nicht aussuchen. Schon gar nicht als Zehnjährige. Als Zehnjährige wurde man nämlich nicht einmal gefragt, ob man adoptiert werden wollte oder nicht.

»Das haben wir also angepasst«, sprach Dr. Waldeck da weiter, »und müssen jetzt nur noch ein Bett für dich finden. Vorausgesetzt, du versprichst, niemanden mehr zu beißen?«

»Das war keine Absicht«, flüsterte Rita zum wiederholten Male. Warum glaubte ihr nur niemand?

»Was war das?« Oberschwester Margot ließ Rita nicht aus den Augen, und Rita ahnte, dass von ihren nächsten Worten sehr viel abhängen würde.

Zitternd holte sie Luft. »Ich verspreche«, sagte sie langsam und deutlich, »niemanden zu beißen.«

»Gut.« Oberschwester Margot nickte knapp. »Sonst müssen wir uns etwas einfallen lassen. Einen Maulkorb zum Beispiel. Dann wird es allerdings mit dem Essen etwas schwierig, und laut deinem Arzt müssen wir dafür sorgen, dass du in den nächsten Wochen Gewicht zulegst.«

Rita zuckte zusammen. Maulkorb? Sie hatte sich verhört, oder? Unsicher blickte sie von der Oberschwester zu Dr. Waldeck und dann zu Schwester Frieda, die nun vortrat und ihr bedeutete aufzustehen. Doch ihre Gesichter waren ausdruckslos.

»Raus mit dir.« Die Heimleiterin machte eine ungeduldige Geste. »Schwester Frieda begleitet dich in den Waschraum, zur Eingangsuntersuchung und hilft dir mit dem Auspacken.«

Rita unterdrückte ihre erste Reaktion – ein Kopfschütteln. Stattdessen fuhr sie sich fröstelnd über die Arme.

Dass sie das alles prima allein konnte, würde sie am liebsten sagen. Koffer ausräumen und duschen und überhaupt. Aber irgendetwas in Friedas Augen hielt sie davon ab zu widersprechen. Vielleicht die Tatsache, dass die Schwester kein einziges Mal geblinzelt hatte, während sie Rita abwartend fixierte.

KAPITEL 5

Der Wind auf der oberen Promenade blies so unregelmäßig, als wollte er mit ihnen spielen. Unsicher sah Hanna an sich herab.

Vor dem halbhohen Spiegel in ihrem Pensionszimmer hatte sie sich in Evis Kleidung hin- und hergedreht und ihrer Cousine recht gegeben: Fast mondän sah sie darin aus. Wie eine der neuen Frauen aus Evis Lieblingsillustrierten, den Strickpulli in die hochtaillierte Hose gesteckt, die sie größer aussehen ließ, als sie in Wahrheit war.

Nun aber, auf dem Weg in den Ort, wurde Hanna mit jedem Blick der ihnen Entgegenkommenden unsicherer. Die Meeresbrise ließ den Stoff der Hosenbeine flattern, und bei jedem dazugehörigen Geräusch ertappte sie sich, wie sie erschrocken die Hände vor sich hielt. Dabei trug sie gar keinen Rock, der unschicklich aufflattern könnte.

Evi lachte. »Du tust es schon wieder!« Mit großen Schritten marschierte sie voran. Spaziergänger, die sie und Hanna mal mehr, mal weniger beifällig begutachteten, grüßte sie mit ausgewählter Freundlichkeit und erntete selbst bei jenen ein Lächeln, die zunächst kritisch das Gesicht verzogen hatten.

Hanna lief hinter ihrer Cousine her. In Evis Windschatten ging vieles einfacher. So war es schon immer gewesen. Evi genoss Aufmerksamkeit und bewegte sich ganz natürlich darin. Hanna blieb lieber etwas zurück und beobachtete. Das half ihr, den Überblick zu behalten.

»Da vorn ist es!« Evi deutete auf ein Gebäude, dessen kreisrunde Form Hanna an das Wilhelmsbader Karussell erinnerte: Die kleine Anhöhe, auf der es thronte, fiel auf einer Seite zu der beliebten Kaiserstraße mit dem Strandhotel Germania hin ab, auf der anderen Seite zum Meer. Über den deckenhohen Fenstern schien das Dach fast zu schweben, und als hätten sie eine Choreografie eingeübt, schoben sich auf der dazugehörigen Terrasse und im Inneren Silhouetten hin und her – manche mit, manche ohne Kelche voller Eis oder Eiskaffee.

Erst als Evi ihre Hand ergriff und sie näher zu den geöffneten Türen zog, begriff Hanna, dass hier keine Zauberei im Spiel war, sondern Musik. Aus einer Ecke tönte die unverwechselbare Stimme von Freddy Quinn und goss ein tief sitzendes Heimwehgefühl in eine Melodie. Die Jukebox gab den Takt vor, in dem Bestellungen aufgegeben, cremige Eiskugeln geformt, Sahne geschlagen, Milchshakes geschüttelt und Grießbrei mit zähflüssigem rotem Sirup verziert wurden. Hanna war begeistert. Da störte es auch nicht, dass sämtliche Tische der Milchbar besetzt waren. Viel entscheidender war: Wie viele Eissorten konnte sie probieren, bevor es als vollwertiges Abendessen galt oder ihr schlecht wurde?

Die Auswahl war etwas ganz anderes als das Capri-Orangeneis, Vanilleeis mit Schokoglasur oder Vanille-Erdbeer-Schoko zwischen zwei Waffeln, wie man es bei Latschka in Offenbach kaufen konnte. Hier hatte das Eis sämtliche Farben des Regenbogens, selbst ungewöhnliche wie violettdunkles Blau, frühlingszartes Grün oder Knallorange. Eine Sorte war mit Schokoladesplittern versetzt, andere mit Pistazien-, Walnuss- oder Mandelstücken. Hanna fiel es schwer, sich zu entscheiden.

Evi lehnte einen Ellenbogen auf die polierte Bar, winkelte das Handgelenk ab und stützte elegant das Kinn auf ihre Finger, während sie den Ober anlächelte. »Einen trockenen Martini, bitte«, bestellte sie mit ihrem besten Holly-Golightly-Augenaufschlag. Seit sie Anfang des Jahres Frühstück bei Tiffany im Kino ihrer Eltern gesehen hatte, gab es ein neues Vorbild in ihrem Leben. Nun stibitzte sie sich auch noch einen Trinkhalm aus dem Behälter hinter der Theke und hielt ihn derart kultiviert zwischen Zeige- und Mittelfinger, als erwartete sie, dass ihr jemand Feuer gab.

Neben ihnen verschluckte sich jemand an unterdrücktem Lachen und hustete dann in die manierlich vor den Mund gehobene Hand.

Lässig lehnte sich der Barmann ihnen über die Theke entgegen. »Ich würde ja gerne, Fräulein Hepburn«, raunte er Evi zu und bewies damit, dass er genau wusste, auf wen sie anspielte, »aber wir schenken keinen Alkohol aus.«

»Oh«, auch Evi beugte sich vor, »nicht einmal … unter der Theke, wenn jemand einen Irischen Kaffee bestellt?«

Entschuldigend schüttelte ihr Gegenüber den Kopf. »Nicht einmal dann, es tut mir leid.«

»Mach den beiden einfach einen Pharisäer ohne Rum«, mischte sich da der junge Mann, der neben Evi an der Bar wartete, ein. »Oder mögt ihr lieber heiße Schokolade? Dann bleibt die Tote Tante eben nüchtern, bis ihr euch zu mir und meinen Freunden gesellt habt.« Hannas und Evis perplexer Gesichtsausdruck sprach wohl für sich, denn seine Erklärung folgte schnell: »Tote Tante, also Schokolade mit Rum, ist hier so etwas wie ein Traditionsgetränk. Ich bin übrigens Bruno«

»Sehr erfreut, Bruno, ich bin Evi, und Tote Tante klingt … verführerisch.« Nur Evi schaffte es, einen Satz, in dem eine verstorbene Verwandte auftauchte, verheißungsvoll klingen zu lassen.

Hanna schüttelte den Kopf, als der Barmann nun nach einer Flasche Sahne und dem Zucker griff. »Für mich nicht. Ich hätte gerne einen Milchshake mit«, sie deutete auf den entsprechenden Behälter hinter der Eistheke, »Sanddornbeeren.«

Beide Männer stutzten.

Evi legte einen Arm um sie und drückte sie an sich. »Jedem Tierchen sein Pläsierchen und einen Milchshake für mein Cousinchen Hanna.«

Bei einem, das wurde Hanna schnell klar, würde es nicht bleiben. Schon beim ersten vorsichtigen Zug am Strohhalm wusste sie: Sie hatte ihre erste Inselliebe gefunden. Erst kam die Süße, dann explodierte die fruchtige Säure. Als hätte jemand eine Kugel Vanilleeis in frisch gepressten Zitrusfrüchten gebadet und einen Spritzer »Das hast du noch nie geschmeckt« beigemischt. Davon könnte sie sich die nächsten Monate ernähren. Davon und von Sanddorneis, von Joghurt mit Sanddorn und Butterbrot mit gezuckertem Sanddorn. Ob es auch Sanddornmarmelade gab? Auf dem Weg zu dem Logierhaus hatte sie Schilder gesehen, auf denen für »einheimische Sanddornprodukte« geworben wurde. Dort musste sie demnächst einmal vorbeischauen. Die Beeren schienen hier im Übermaß zu wachsen, doch Hanna hatte sie trotz ihrer vierundzwanzig Jahre noch nie gekostet.

Beglückt nahm sie weitere Schlucke, während sie Evi und ihrem neuen Bekannten mit deren zwei sahnebehaubten Kakaos zu einigen dicht beieinanderstehenden Tischen auf die Terrasse folgte. Eilig wurde zusammengerückt, und Hanna nickte einem jungen Mann zu, der ihr den Stuhl neben sich anbot. Er zwinkerte ihr zu, während er Bruno auffordernd seine Kaffeetasse entgegenhielt. Der zog eine Thermoskanne aus der Tasche seines achtlos über die Stuhllehne geworfenen Mantels und gab eine Runde bernsteinfarbene Flüssigkeit aus. »Das ist das gute Zeug«, sagte er und bedachte Evi besonders großzügig. »Nicht irgendein Kartoffelschnaps wie zu Opas Zeiten.«

Zufrieden machte es sich Hannas Sitznachbar mit seinem aufgebesserten Kaffee in dem Metallstuhl gemütlich. Die Sonne tauchte hinter einer Wolke auf und brachte seine Frisur zum Glänzen, die Hanna an ihren Großvater erinnerte. Für Pomade hatte der zwar kein Geld ausgegeben, aber mit manchmal leider schon einige Tage altem Fett ebenso glänzende Ergebnisse erzielt. Zum Glück roch der junge Mann neben Hanna besser, wenn auch eine Spur zu süß nach Rosenwasser.

»Leute, das hier sind Evi und ihre Cousine … ähm …«

»Hanna«, half Hanna Bruno weiter und nickte in die Runde.

»Evi und Hanna also.« Bruno machte eine ausladende Geste. »Vun Harten willkomen op uns Eiland. Dit hier sünd mien Bröörs en Deerns. Steffi, Carolin, Pepe, Marie und Eddie. Denn man Proost!«

Und schon hielten alle ihre Tassen und Gläser in die Mitte. Das vielstimmige »Prost« wurde von genießerischem Gemurmel abgelöst und von Pepe, der Bruno den Vogel zeigte, bevor er sich zu Evi beugte. »Bröörs en Deerns nennt er uns sonst nie«, vertraute er ihr an. »Der alte Angeber spricht nämlich nicht mal richtig Platt!«

»Aber einer von euch, oder wie?«, wehrte sich Bruno lachend, und alle redeten durcheinander.

Es dauerte nicht lange, da waren Evis Anekdoten über ihre Ausflüge nach Frankfurt interessanter als das Thema Sprache und Dialekt. Hanna lehnte sich zurück und genoss die Sonnenwärme auf ihrem Rücken, das Stimmengemurmel und die Meeresbrise.

»… erst da verstanden wir, dass wir eine Halbweltdame vor uns hatten«, schloss Evi ihre Geschichte und sah sich auffordernd um. »Und jetzt raus mit der Sprache, was könnt ihr uns über das Kindererholungsheim Strandhafer erzählen? Da fangen Hanna und ich nämlich nächste Woche als Pflegerinnen an.«

»Strandhafer, ja?«, begann Bruno. »Nun, das war schon immer ein Kinderheim, seit dem 19. Jahrhundert.«

»Ich dachte ein Hospiz?«, widersprach Pepe ihm und grinste. »Das kann dem Seehospiz Kaiserin Friedrich gar nicht gefallen haben. Das war lange Zeit das einzige am Ort.«

»Jedenfalls«, kürzte Steffi, die das Thema nicht besonders interessant zu finden schien, die Heimhistorie ab, »wurde es irgendwann während des Kriegs umfunktioniert, und dann beherbergte es statt Kindern verwundete Soldaten.«

Hanna richtete sich interessiert auf. »Es war ein Lazarett?«

»Ja«, antwortete Marie, zwei Stühle links von Hanna. »Wie die meisten öffentlichen Gebäude hier.«

Hanna nickte. Das war bei ihnen daheim nicht anders gewesen, während des Kriegs und danach. Eine Weile waren Hanna und ihre Familie in einer Turnhalle nur wenige Kilometer von ihrem Geburtshaus untergekommen. Beengt war es dort gewesen, aber sie und ihre Geschwister hatte das wenig gestört. Kinder legten eben mehr Wert auf andere Dinge. Heim Strandhafer aber sah weitläufig genug aus, um den sechzig kleinen Kurpatientinnen und -patienten Platz zu bieten.

»Schön, dass es wieder zu seinem eigentlichen Nutzen zurückgefunden hat«, fand sie.

Eddie neben ihr lachte. »Zurückgefunden klingt fast, als hätte das Gebäude das selbst geschafft. Ich weiß noch, wie es Ende der Vierziger ausgesehen hat.« Er verzog das Gesicht. »Aber dann haben ein paar Menschen da sehr viel Geld reingesteckt. Der Kurtourismus muss sich echt lohnen.«

»Na, ich weiß nicht«, mischte sich nun das erste Mal Carolin ein. »Dr. Waldeck hat sich nach Kriegsende um die Flüchtlingskinder gekümmert. Das tut niemand, dem nur die Bezahlung wichtig ist.«

»Wer ist Dr. Waldeck?«, hakte Evi aufmerksam nach.

Sie verlor jedoch sofort das Interesse, als Carolin erklärte: »Die Heimleiterin«, und damit klarstellte, dass es sich nicht um einen netten, freundlichen und vor allem männlichen Arzt handelte.

Hanna verbiss sich ein Lachen und wandte sich Marie zu, die zustimmend nickte. »Und Heimangestellte«, sagte diese, »verdienen nie übermäßig viel. Wenn ich da an Ursel denke …«

Eddie hob die Hände. »Ach, Schwesterchen, mach Evi und Hanna doch nicht unnötig Angst! Nur weil deine Freundin es dort nicht länger als drei Monate ausgehalten hat. Kommt halt nicht jeder mit Regeln, Ordnung und Disziplin klar.«

»Verschone uns mit deinen Soldatensprüchen!« Marie rollte genervt mit den Augen. »Seit Eddie seinen Dienst an der Waffe geleistet hat, ist er nämlich endlich ein echter Mann! Vor allem in den eigenen Erzählungen.«

»Ach, das mit der Disziplin«, mischte sich Evi schnell ein und lockerte die Stimmung wieder auf, »wuppen wir schon. Wir tun einfach, was von uns erwartet wird, und halten brav den Mund. Kein Problem für uns, oder, Hanna?«

Unwillkürlich musste Hanna lächeln. Ihre Cousine und den Mund halten? Nun, das wäre wirklich etwas Neues. »Ich freue mich jedenfalls sehr, hier zu sein«, sagte sie diplomatisch.

»Das kannst du auch.« Eddie rutschte näher und strahlte Hanna an. »Immerhin bist du auf der attraktivsten Insel der Welt!«

Sein Tonfall gepaart mit dem selbstbewussten Blick verunsicherte sie – was sollte sie darauf entgegnen?

Zum Glück griff Evi ein. »Ist das so?«, wollte sie amüsiert wissen. »Und wo findet Hanna all diese … Attraktionen?«

»Also, eine sitzt direkt neben ihr.« Während seine Freunde kicherten, beugte sich Eddie zu Hanna und strich sich über die glänzende Frisur. Hoffentlich musste er heute niemandem mehr die Hand schütteln.

»Wenn du willst, zeige ich dir alles: das Fischer-Heimatmuseum, das Postamt, das Kap, die Cafés und Tanzlokale. Und den Leuchtturm. Dahinter hört die Zivilisation auf, und es gibt nur noch Natur.«

»Das ist doch Quatsch, Eddie!«, widersprach Marie. »Wie soll da nur Natur sein, wenn alle paar Meter Überreste der Flaktürme, des Lagers und der Bunker zu sehen sind?«

Hanna horchte auf. Hatte nicht auch die Kleine auf der Fähre etwas Ähnliches angedeutet? »Bunker und Flaktürme?«

»Kaum mehr was übrig.« Eddie winkte ab. »Die meisten wurden längst gesprengt oder sind unter Sand begraben.«

Marie schüttelte den Kopf. »Also, romantisch ist was anderes, vor allem, wenn einem bewusst wird, was dort alles passiert ist.«

Eddie seufzte. »Du musst wirklich aufhören, diesen lästigen Piratensender zu hören, Schwesterchen! Das damals hat mit dem heute doch nichts mehr zu tun. Aber«, fragend drehte er sich zu Hanna, »ich zeige dir gerne alles, wenn du dich dafür interessierst.«

Noch während Hanna zögerte, begann Evi zu nicken. »Das tut sie«, sagte sie. »Zumindest mehr als ich. Ist eine Familiensache.« Hanna erstarrte. Was machte ihre Cousine denn da?

»Aber«, sprach Evi schon gut gelaunt weiter, »da eine moderne junge Frau sich zuerst immer einen Überblick verschaffen sollte: Hanna und ich würden uns freuen, wenn du uns die Insel zeigst.«

»Wie könnte ich zu zwei so schönen Begleiterinnen Nein sagen?« Im Sitzen deutete Eddie zwei kleine Verbeugungen an und konzentrierte sich auf Hanna. »Also, dann«, er ließ sie nicht aus den Augen, »haben wir eine Verabredung.«

KAPITEL 6

Der unbehandelte Stein war rau, kühl und feucht unter Wilkos Hand, als er sich daran aufrichtete. Unzufrieden betrachtete er den Blumenstrauß zu seinen Füßen. Trotz aller Mühe sah er erschreckend armselig aus. Die welken Blumen hatte Wilko aussortiert und frisches Wasser nachgefüllt. Doch auch die erst einige Tage alten Ranunkeln ließen die Köpfe hängen. Die Verkäuferin hatte ihn gewarnt, ihm Bartnelken angetragen, umrundet von Immergrün.

Davon standen hier so einige in den Plastikvasen. Nelken aber mochte Wilko nicht. Nelken mitzubringen fühlte sich an, als erfülle er eilig eine Pflicht, um nächste Woche nicht mehr daran denken zu müssen.

Vergissmeinnicht wären eine Idee, Margeriten, vielleicht Narzissen für die Farbe?

An seinem nächsten freien Tag würde er wiederkommen. Mitsamt Blumen, Harke und kleiner Schaufel.

Auf dem Weg zur Straße hielt er die Augen auf den Horizont gerichtet. Wollte das Unvergessen nicht lesen, das fast auf jedem dritten Stein stand. Als würde es wahrer, wenn man es einmeißelte.

Die verblühten Blumen warf er in einen bereitgestellten Container, winkte Herrn Rudolf, der wie immer am frühen Abend seine Frau und Tochter besuchte, und trat auf die Straße.

Weit vor dem Deich bog er nach rechts. Weg von den flanierenden Menschen, die taten, als würde sie der Anblick der restlichen Sturmflutschäden persönlich beleidigen. Weg von dem zu lauten Lachen der Inselgäste, die sich freitags überall auf den Terrassen zu Grüppchen zusammenfanden. Beständig ließen sie ihre Blicke schweifen – nur nichts verpassen! Immer auf der Suche nach Ablenkung, nach etwas anderem als dem Jetzt.

Die Nordhelmsiedlung wirkte dagegen beinahe ausgestorben. Wenn ihm hier jemand begegnete, dann kannte man sich. Nickte kurz, hob eine Hand und beließ es dabei. Wilkos Nachbarn hatten schon vor Jahren aufgegeben, mehr als ein paar Sätze mit ihm wechseln zu wollen.

Ver-giss-mein-nicht, Nar-zis-sen, Mar-ge-ri-ten – in seinem Kopf wandelten sich die Wörter in einen Rhythmus, dem seine Schritte folgten, und Wilko nickte zufrieden. Seinem Vater würden diese Blumen gefallen, und auch Robert hatte leuchtende Farben gemocht. Er würde ein paar davon in Anpflanztöpfchen setzen und zum Weiterwurzeln bei ihnen eingraben.

Eine Straßenecke weiter unterbrach ein Knarzen und Kreischen Wilkos Takt. Ein Kleinkind, nicht älter als vier oder fünf, schwang auf einer Schaukel vor und zurück. Jedes Mal, wenn es nach vorn flog, dem Himmel entgegen, schrie es begeistert auf: »Höher, Mama, höher!«

Die Frau hinter ihm lachte. »Noch drei Mal, dann geht es ins Bett, versprochen?«

»Höher!«

Das Quietschen der Schaukel war durchdringend, lauter als das fröhliche Lachen des Kindes. Wilko dachte an die Stufenleiter im Heim. Die hatte sich vorhin ganz ähnlich angehört. Hätte er nur daran gedacht, erst das Scharnier zu ölen, dann hätte er nicht etliche Minuten unter der Zimmerdecke des Badetherapiesaals festgesessen.

Nur noch kurz die Glühbirne austauschen hatte er wollen und die Leiter dazu hinter der Tür aufgestellt. Rittlings daraufhockend, war es ein Leichtes gewesen, die Glasabdeckung der Lampe aufzuschrauben. Unbewusst musste er das Gemurmel aus dem Büro der Oberschwester gegenüber schon länger wahrgenommen haben, dann aber waren die Stimmen plötzlich laut geworden.

Dabei wurde Oberschwester Margot nur selten laut. Musste sie auch nicht. Ein strenger Blick genügte.

Margots Anweisungen hinterfragte man nicht. Nur einen gab es, der sich nicht daran hielt: Dr. Gebhardt, der neue Arzt. Wilko wusste nicht genau, ob dem jungen Mann die Weitsicht fehlte oder ob er es auf einen Kampf anlegte – ein ebenso tollkühnes wie gefährliches Unterfangen, das nur mit der Vernichtung eines der beiden Gegner enden konnte.

Der heutige Abend jedenfalls schien auf eine Kriegserklärung hinauszulaufen. Dr. Gebhardt hatte sich vor dem Gespräch mit Margot nämlich der Rückendeckung von Heimleiterin Dr. Waldeck versichert. Worum es genau gegangen war, hatte Wilko nicht herausgefunden, aber der Streitpunkt war eindeutig Margots Dienstplanung gewesen. Schon seit Wochen waren sie unterbesetzt, woran der gut aussehende Arzt, glaubte man dem tränenreichen Abgang der letzten Kinderpflegerin, nicht ganz unschuldig war. Um sowohl den regulären Tagesablauf wie auch Dr. Gebhardts Licht-, Wasser- und sonstige Therapien zu gewährleisten, fehlte mindestens eine Schwester oder eine Pflegerin, besser noch zwei, und dazu ein paar zupackende Praktikantinnen.

Im Ringen um das verbleibende Personal gingen Oberschwester und Arzt keinen Millimeter aufeinander zu, und wer dabei zwischen die Fronten geriet, musste sich darauf gefasst machen, dazwischen zerrieben zu werden.

Wilko hatte sich gehütet, seine Deckung aufzugeben, bis er sicher sein konnte, dass die Streithähne das Stockwerk verlassen hatten. Dr. Gebhardt mit federnden Schritten in Richtung Ausgang und Feierabend, Oberschwester Margot, ohne Zeit zu verlieren, in den vierten Stock, um sich bei der Heimleiterin Dr. Waldeck über ihn zu beschweren.

Wie das Kräftemessen ausging – der Montag würde es zeigen.

Inzwischen war Wilko an seiner Kreuzung angekommen. »Mar-ge-ri-ten«, nahm er seine rhythmische Wortabfolge wieder auf, »Nar-zis-sen.« Und plötzlich hatte er eine Tenorstimme im Ohr, eine italienische Textzeile: »Non ti scordar di me.« Vergiss mich nicht.

Wilkos Vater hatte Operetten- und Musikfilme geliebt, unzählige Plattenaufnahmen gesammelt. Und obwohl er nie eine andere Sprache als Deutsch beherrscht hatte, hatte er diese eine Zeile stets voller Inbrunst mitgesungen, sich weitere zusammengereimt und vernuschelt. Wie man es tat, wenn man einen Text nur nach Gehör mitsang.