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Komm mit auf eine epische Reise durch die fantastische Welt von Amyrantha!
Die magischen Gezeiten nähern sich ihrem Höhepunkt, und mit ihnen wachsen die Kräfte der Unsterblichen. In vielen Reichen strecken die Gezeitenfürsten die Hand nach dem Thron aus. Declan Hawkes, der tot geglaubte Meisterspion, ist auf der Suche nach seiner großen Liebe Arkady Desean, die in ein fernes Land verschleppt wurde. Declan hütet ein Geheimnis, das ihn in den Augen aller, die gegen die Gezeitenfürsten kämpfen, zum Verräter macht, und das ihn für immer von Arkady entzweien könnte ...
Die Gezeitenstern-Saga bietet eine einzigartige Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Ferne-Länder-Romantik. Jetzt als eBook von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.
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Seitenzahl: 839
Veröffentlichungsjahr: 2017
Von dem Gezeitenfürsten Brynden verraten und in die Sklaverei verkauft, muss Arkady Desean ihren Stolz hinunterschlucken, um zu überleben. Es gelingt ihr, sich auf dem Sklavenschiff bei einem jungen Doktor nützlich zum machen – als seine Mätresse und Gehilfin entkommt sie einem noch schrecklicheren Schicksal als Hure in den Bergwerken Senestras. Doch als sie einen mörderischen Plan ihres Herrn sabotiert, gerät sie selbst in Lebensgefahr. Unterdessen steigen die magischen Gezeiten weiter an und die gewissenlosen Gezeitenfürsten gewinnen ihre Macht über die Elemente zurück. Cayal, der unsterbliche Prinz, schöpft neue Hoffnung, seinem Leben bald ein Ende machen zu können. Auf seiner Reise durch Amyrantha trifft er auf den Meisterspion Declan Hawkes, der auf der Suche nach Arkady nach Senestra gelangt ist, und verbündet sich mit ihm. Eine fragwürdige Allianz, sind die beiden Männer doch Rivalen um Arkadys Zuneigung. Cayal erkennt sofort das schreckliche Geheimnis, das Declan hütet – ein Geheimnis, das die Bruderschaft des Tarot niemals erfahren darf und das alles in Frage stellt, wofür Declan je gekämpft hat.
Jennifer Fallon wurde in Carlton, Australien geboren. 1990 begann sie mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen. Zehn Jahre später hielt sie mit ihrer ersten Veröffentlichung, der »Dämonenkind«-Saga, auf den Bestsellerlisten Einzug und feierte ihren internationalen Durchbruch. Mit der »Gezeitenstern«-Saga konnte sie diesen Erfolg fortsetzen. Jennifer Fallon ist neben Trudi Canavan und Sara Douglass die dritte Fantasy-Bestseller-Autorin aus Australien.
JENNIFER FALLON
Der Palast der verlorenen Träume
Die Gezeitenstern-Saga
Band 3
Aus dem Englischen von Katrin Kremmler und Rene Satzer
beBEYOND
Digitale Ausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Palace of Impossible Dreams« bei HarperCollinsPublishers Australia Pty Limited.
Die deutschsprachige Erstausgabe erschien 2009 bei LYX ausschließlich in gedruckter Form.
Copyright © 2008 by Jennifer Fallon
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Else Laudan
Karte: Russell Kirkpatrick
Projektmanagement: Lukas Weidenbach
Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © Romanova Ekaterina/Shutterstock, © Vector Tradition SM/Shutterstock, © Kiselev Andrey Valerevich/Shutterstock, © Nella/Shutterstock, © totojang1977/Shutterstock
eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-7325-4572-8
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Fliss …Willkommen in der Familie
Tausend Jahre zuvor …
Tryan musterte die klägliche Reihe der Gefangenen am Rande der Klippe und fragte sich müßig, wie viel Wind er wohl machen musste, um sie hinunterzublasen, einen nach dem anderen, hinab auf die Felsen, die wie Pockennarben das Tal tief unter ihnen sprenkelten.
Natürlich würde das gar nicht nötig sein, wenn sie ihm einfach sagten, was er wissen wollte. Das Leben war für alle Sterblichen auf Amyrantha erheblich leichter, wenn sie taten, was Tryan wollte.
Er drehte sich um und gab Elyssa das Zeichen zum Weitermachen. Ihr leichtes Zögern, bevor sie gehorchte, entging ihm nicht. Ihr Interesse an diesem kleinen Abenteuer begann deutlich nachzulassen, und zwar schon seit geraumer Weile – seit ihrem letzten Zusammentreffen mit Cayal.
Nichtsdestoweniger war sie immer noch seine Schwester und bereit, ihre Rolle zu spielen – auch wenn sie nicht mit dem Herzen dabei war.
»Welchen töten wir zuerst?«, fragte er laut genug, dass die Gefangenen ihn hören konnten. Keiner wagte mehr als ein paar ängstliche Wimmertöne von sich zu geben, aber seine Drohung hatte mit Sicherheit den gewünschten Effekt. Schließlich waren die rund zwanzig Gefangenen aneinandergekettet, also brauchte er nur ein paar von ihnen über den Klippenrand zu stoßen, um sie allesamt zu vernichten.
»Wir?«, entgegnete Elyssa in einer Tonlage, die nur für seine Ohren bestimmt war. »Doch wohl eher du. Das hier ist deine Idee, nicht meine. Ich will damit nichts zu tun haben, Tryan.«
»Einer von ihnen hat den Kristall des Chaos.«
»Wenn einer dieser jämmerlichen kleinen Sterblichen den Kristall des Chaos besäße, wüsstest du das längst.« Elyssa ließ ihren desinteressierten Blick über die Reihe nackter Männer, Frauen und Kinder schweifen, die am Klippenrand in ihren Ketten zitterten. »Gezeiten, es ist ja wohl kaum anzunehmen, dass ihn einer von denen in der Hosentasche versteckt!«
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Tryan den Haufen persönlicher Habseligkeiten, die er der kleinen Flüchtlingsgruppe abgenommen hatte. Außer ihren Kleidern, ein paar Werkzeugen und Waffen und einem Deck zerfledderter, aber sichtlich geliebter Tarotkarten in einer angesengten Lederhülle war da nichts zu finden. Keine Landkarten, kein einziger Hinweis …
Folglich mussten sie das Versteck des Kristalls in ihrem Gedächtnis hüten. Sie waren allesamt Mitglieder der geheimen Bruderschaft des Tarot, mindestens einer von ihnen musste es kennen. Womöglich wussten sie es alle. Tryan war durchaus bereit, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind einzeln zu ermorden, bis einer auspackte.
»Einer von euch hat etwas, was ich haben will«, verkündete er der Gruppe und musterte dabei scharf ihre Gesichter, lauerte auf ein ertapptes Flackern im Blick oder ein verräterisches Flüstern; auf irgendein Anzeichen, dass einer dieser jämmerlichen Menschen wusste, wonach er suchte. Dummerweise sahen sie alle gleichermaßen verängstigt aus, sodass es schwierig war, ihren Mienen etwas anderes zu entnehmen. »Wenn ihr mir sagt, was ich wissen will, lasse ich euch am Leben. Wenn nicht …«
Er ließ den Satz unvollendet. Es war nicht nötig, das Offensichtliche weiter auszuführen, immerhin standen sie buchstäblich mit dem Rücken am Abgrund.
Doch seine Gefangenen schwiegen verstockt.
Allmählich verlor Tryan die Geduld mit ihnen. Und Geduld war noch nie seine Stärke gewesen.
»Einer von euch … vielleicht sogar jeder von euch elenden Krüppeln … weiß, wo sich der Kristall des Chaos befindet. Ihr sagt mir das jetzt sofort, oder …« Er starrte die Gefangenen nacheinander an, bis sein Blick an einem Jungen von etwa vierzehn Jahren hängen blieb, dünn, blass und zitternd, die Hände schamhaft vor seiner geschrumpften Männlichkeit verschränkt. Er war der Zweite von rechts, an eine mollige und gleichermaßen verängstigte blonde Mittdreißigerin gefesselt. So, wie sie versuchte, ihn mit ihrem Körper abzuschirmen, musste sie seine Mutter sein. »Oder sie stirbt als Erste«, beendete er den Satz und deutete auf die Frau, ohne den Jungen aus den Augen zu lassen.
Tryan wartete. Der Junge sagte nichts.
»Wie du willst.«
Tryan machte eine schnelle Bewegung mit dem Handgelenk und bedachte die Reihe der Gefangenen mit einem gewaltigen Windstoß. Die Frau schrie erschrocken auf und schwankte unter dem Ansturm, unter ihr kollerten lose Steine vom Klippenrand, sie schaffte es kaum, auf den Füßen zu bleiben. Auch einige der anderen Gefangenen schrien auf, als die Bö sie nach hinten schob, auf den Abgrund zu.
Nicht so der Bursche. Die Todesdrohung ließ ihn ungerührt, seine Miene blieb steinern, selbst als seine Mutter neben ihm um ein Haar das Gleichgewicht verlor.
Tryan trat einen Schritt näher, verärgert über die Entschlossenheit des Jungen.
»Ich werde dich töten«, sagte er.
Langsam hob der Junge den Kopf und sah Tryan in die Augen. Was der Unsterbliche in seinem Blick las, fuchste ihn gewaltig. Der Junge stand sichtlich Todesangst aus, doch das war nur an der Oberfläche. Darunter verbarg sich ein Trotz, den keine Drohung und kein Einschüchterungsmanöver brechen oder auch nur ankratzen würde.
»Du kannst uns nicht alle umbringen«, erwiderte der Junge.
»Du hast ja keine Ahnung«, murmelte Elyssa hinter Tryan.
Der Unsterbliche überging die Bemerkung seiner Schwester und trat noch einen Schritt näher an den Jungen heran. Jetzt war er sicher, dass der kleine Starrkopf den Schlüssel zu dem gesuchten Geheimnis besaß.
»Du weißt es, nicht wahr?«
Der Junge zitterte und bebte in der frischen Bergluft, aber seine Entschlossenheit wankte nicht.
»Du entkommst mir nicht, Junge«, warnte Tryan und rückte so dicht heran, dass er den warmen Atem des Halbwüchsigen im Gesicht spürte. »Egal, wohin du fliehst, wo du dich auch verkriechst. Ich finde dich überall.«
»Es gibt einen Ort, an den du mir nicht folgen kannst«, sagte der Junge, und das Zittern seiner Stimme ließ seinen Mut noch beeindruckender wirken.
Tryan grinste kalt. »So, glaubst du?«
Der Junge nickte.
»Und wo soll er sein, dieser bemerkenswerte Ort?«
Da lächelte das Kind ihn an. Seine Angst schien von ihm abzufallen, als hätte er unter inneren Qualen eine Entscheidung getroffen, mit der er nun ganz im Reinen war. Er straffte die Schultern, blickte die Reihe seiner Mitgefangenen entlang, dann auf die andere Seite zu seiner verängstigten Mutter, und sah dann wieder Tryan an.
»Du kannst uns nicht in den Tod folgen«, sagte der Junge.
Ehe Tryan ihn festhalten konnte, trat der Junge einen Schritt rückwärts, verschwand von der Klippe und nahm die ganze Reihe der Gefangenen mit. Sein Gewicht allein hätte nicht ausreichen dürfen, um die anderen mitzuziehen, schließlich war er noch ein Kind. Aber irgendwie stürzten sie trotzdem. Vielleicht sprangen sie auch. Sich einfach von der Klippe fallen zu lassen lief ja auf dasselbe hinaus. Keiner von ihnen sträubte sich. Keiner kämpfte darum, auf den Füßen zu bleiben, oder versuchte sich an den Klippenrand zu klammern. Der Wind, den Tryan heraufbeschworen hatte, um sie gefügig zu machen, wehte jeden Schrei davon.
Tryan war zu verblüfft, um rechtzeitig zu handeln. Er kam nicht auf den Gedanken, ihren Fall zu bremsen, ihn etwa mit einem Luftpolster abzufangen, und ihm blieb auch keine Zeit mehr dazu. Nach wenigen Augenblicken landeten ihre Leiber mit dumpfen Aufschlägen etwa hundert Meter unter ihm, und der Unsterbliche oben auf der Klippe konnte ihnen nur noch hinterherstarren.
»Na, das lief ja wie am Schnürchen«, bemerkte Elyssa und trat neben ihn. Sie betrachtete das Häufchen zerschmetterter Leichen in der Tiefe, dann sah sie Tryan an. »Hast ihnen solche Angst eingejagt, dass sie sich lieber schnell umgebracht haben, ehe sie dir was verraten konnten, was? Die Verhörmethode ist mir völlig neu.«
Tryan wandte sich vom Klippenrand ab. »Halt die Klappe, Elyssa.«
»Ach, hattest du das denn nicht so geplant?«, höhnte sie.
Wütend starrte er sie an. »Klappe, hab ich gesagt.«
Sie zuckte die Schultern und wandte sich dem verwüsteten Flüchtlingslager zu. »Und ich hab dir gleich gesagt, wenn du den Kristall des Chaos finden willst, solltest du lieber mal ganz höflich bei Maralyce nachfragen.«
»Wenn Maralyce wüsste, wo er ist, hätte sie ihn längst selber.«
»Ich schätze, sie weiß bedeutend mehr darüber als du.«
Tryan starrte sie an. »Was meinst du damit?«
»Na, glaubst du denn, sie wühlt sich kreuz und quer durch die Shevronberge, nur um sich fit zu halten?«
»Umso wichtiger ist es, dass wir den Kristall zuerst finden – bevor sie ihn aufspürt und Lukys gibt.«
»Warum?«
»Weil derjenige, der den Kristall des Chaos hat«, Tryan kickte eine kleine Schachtel mit Perlmuttintarsien über den Klippenrand, seinem törichten Eigentümer hinterher, »die Gezeiten beherrscht. Darum.«
Er starrte auf den Haufen Krempel, den er den Flüchtlingen aus der geheimen Bruderschaft abgenommen hatte, und runzelte die Stirn. Sehr ärgerlich, wie fruchtlos diese ganze Übung gewesen war. Eine volle Stunde hatten sie damit vertan, sie auszuziehen und ihre Habseligkeiten gründlich zu durchsuchen, und dabei war rein gar nichts herausgekommen. Wütend trat er in den Haufen, und ein Teil des Krempels segelte seinen Eigentümern nach in den Abgrund.
»Oh, das war jetzt aber wirklich ein Zeichen von Reife.«
In einem jähen Zornausbruch, der vor allem seiner Schwester galt – aber ihr konnte er nichts tun, schließlich war sie unsterblich – brüllte Tryan auf und griff in den Strom der Gezeiten. Sein Wutanfall ließ den Rand der Klippe bersten. Felsbrocken lösten sich, taumelten den jämmerlichen Habseligkeiten hinterher und wurden zu einer Lawine, die die Gräber der erbärmlichen Sterblichen versiegelte, bis keine Spur von ihnen blieb.
Elyssa fuhr zurück und kreischte, fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. Dann fauchte sie ihren Bruder an. »Hast du dich endlich ausgetobt?«
»Schau mich nicht an, als wäre ich ein Idiot, Lyssa«, sagte Tryan. »Wer die Gezeiten beherrscht … regiert die ganze Welt.«
Die Gezeiten folgen unaufhaltsam ihrem Lauf.
James Howe (1594–1666)
Vom Stampfen des Schiffes war Arkady speiübel. Zwar war sie oft auf den Großen Seen von Glaeba gesegelt, aber das war gar nichts im Vergleich zum Rollen und Schlingern eines hochseetüchtigen Sklavenschiffs auf dem offenen Meer. Es verbesserte die Lage nicht, dass sie mit fünf anderen Frauen in einer engen, niedrigen Kajüte zusammengepfercht war, die eigentlich selbst bei äußerster Bescheidenheit höchstens zwei Personen fasste.
»Nimm deinen Ellbogen aus meinen Rippen, du Schlampe, oder ich schlag dich windelweich«, drohte jemand schläfrig. Die Bemerkung galt nicht ihr. Obwohl sie in der dunklen, unbeleuchteten Kajüte kaum etwas sehen konnte, wusste sie doch, dass sie steif ausgestreckt auf dem Boden lag, mit Saxtyn links von sich und Alkasa, der Jüngsten der Gruppe, auf ihrer rechten Seite. Beide Frauen schliefen tief und fest.
Arkady konnte nicht schlafen. Sie hatte seit der Abfahrt aus Elvere kaum ein Auge zugetan. Wenn ihr die schmerzende Brandwunde auf ihrer Brust nicht den Schlaf raubte, zermarterte sie sich den Kopf über ihr bevorstehendes Schicksal als Sklavin und die Frage, wie ihre Zukunft aussehen mochte.
Es war schön und gut, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der Sklaverei an der Tagesordnung war. Sich als einstige Herrin unvermittelt in der Rolle der Sklavin wiederzufinden, stand auf einem ganz anderen Blatt. Ein Teil von Arkady wollte sich am liebsten zu einem Knäuel zusammenrollen und sterben, und das lag nicht an den überfüllten, stinkenden Quartieren unter Deck, deren einzige sanitäre Einrichtung in einem selten geleerten Kübel bestand. Es lag nicht an dem grützenartigen Schleim, der einmal am Tag an die Gefangenen ausgeteilt wurde, oder an dem abgestandenen, brackigen Wasser, das gegen den Durst der Sklavinnen nur wenig ausrichtete, weil die meisten davon Durchfall bekamen. Es lag nicht einmal daran, dass sie gebrandmarkt worden war wie eine Zuchtstute.
Nein, für Arkady Desean war das Schlimmste die absolut unerträgliche Erkenntnis, dass sie nun Eigentum eines anderen war – dass sie ab jetzt lediglich einen Warenwert darstellte, und selbst den nur für ihren fernen, gesichtslosen Besitzer.
Die anderen Sklavinnen hatten sie darüber aufgeklärt, dass ihr Eigentümer ein gewisser Filimar Medura war, ein begüterter senestrischer Sklavenhändler. Er besaß nicht nur sie, sondern auch alle anderen Sklavinnen an Bord nebst dem gesamten Schiff. Ihren Kajütengenossinnen zufolge unterhielt er eine ganze Flotte von Sklavenschiffen. Genau genommen stammte der Reichtum der sehr vermögenden Familie schon seit Menschengedenken aus dem Handel mit lebender Ware, sowohl Menschen als auch Crasii.
Wieder schlingerte das Schiff heftig. Arkady wand sich auf den harten Planken, ohne Erleichterung zu finden, denn das Gewicht von Alkasas schlafendem Körper machte es ihr unmöglich, sich umzudrehen, und die stickige Hitze nahm ihr den Atem. Ein Geräusch lenkte sie ab. Es kam von oben. In der Kajüte war eine kleine Luke, die offen stand, um einen Hauch frischer Luft einzulassen. Viel nützte es nicht, weder gegen den Gestank noch gegen das Gefühl, langsam zu ersticken.
Sie hatte versucht, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass es auf dem Schiff vielleicht jemanden gab, der es noch schlechter getroffen hatte als sie. Nachts, wenn die einzigen Geräusche in ihrem beengten Gefängnis das laute Schnarchen ihrer Mitgefangenen, das Knarren der Holzplanken und das Schwappen der Wellen gegen den Schiffsrumpf waren, hörte Arkady manchmal Stimmen auf Deck. Sie sprachen eine Sprache, die sie nicht verstand; oft lachten sie, verspotteten offenbar einen Mannschaftskameraden.
Wenn man an der Luke lauschte, konnte man gelegentlich etwas Nützliches aufschnappen. Das galt zumindest für eine ihrer Kajütengenossinnen, denn Arkady sprach kaum Senestrisch und verstand nicht viel von dem, was gesprochen wurde.
Aber am heutigen Abend hatten sie etwas erfahren, und das war auch der Hauptgrund, warum sie immer noch kein Auge zubekam: Saxtyn hatte belauscht, was die Seeleute schwatzten. Sie alle konnten die Mannschaft reden hören, aber nur die Schuldsklavin verstand ihre Sprache gut genug, um für die anderen zu übersetzen. Auf dem Schiff ging das Gerücht um, der Kapitän habe den Seeleuten in Aussicht gestellt, dass sie sich in ihren freien Stunden mit den Sklavinnen amüsieren könnten, sobald das Schiff die torlenischen Hoheitsgewässer verließ.
Arkadys Wert als Sklavin, das wusste sie, war durch ihr Geschlecht festgelegt. Männer waren in Senestra als Sklaven wertvoller, weil produktiver als Arbeitskräfte. Frauen brauchte man für so alltägliche Rollen wie Näherin, Weberin, Amme und dergleichen, aber so ein Schicksal war nur wenigen Glücklichen vergönnt. Im Allgemeinen dienten menschliche Sklavinnen dazu, die männlichen Arbeiter – ob frei geboren oder Sklaven – bei Laune zu halten, die in den zahlreichen Bergwerken, Landgütern und schwimmenden Anwesen des senestrischen Adels schufteten. Und natürlich auch, um die nächste Sklavengeneration zu gebären. Das waren ihre beiden Funktionen, laut Alkasa das Einzige, wozu Frauen in Senestra gut waren, und an diesen Gedanken sollte Arkady sich gefälligst gewöhnen, wenn sie vorhatte, zu überleben.
In Senestra herrschte eine Doppelmoral, die Arkady mit den Zähnen knirschen ließ. Senestrischen Männern würde es nicht im Traum einfallen, ihre freien Frauen so brutal zu behandeln, ganz im Gegenteil. Die Senestrer, insbesondere die von Adel, behandelten ihre Frauen mit einem Respekt, der an Vergötterung grenzte. Was wiederum ihren Appetit auf menschliche Sklavinnen verstärkte.
Ehefrauen der Erben wegen, Sklavinnen für den Spaß war eine senestrische Redensart, deren Bedeutung Arkady nun allmählich aufging.
Nicht genug, dass man sie mit einem heißen Eisen gebrandmarkt hatte und ihre Wunde schmerzte; nicht genug, dass ihr ein Leben als Sklavin und Hure bevorstand; nun musste sie auch noch das Problem lösen, wie sie es vermeiden konnte, als Mannschaftshure verheizt zu werden. Und deswegen lag sie hellwach da und zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einem Fluchtplan.
Sie hatte nicht die Absicht, eine Hure zu werden. Oder Schlimmeres, denn Huren wurden ja wenigstens bezahlt. Für unabsehbar lange Zeit tagtäglich reihum von der Besatzung eines senestrischen Sklavenschiffs vergewaltigt zu werden, bis man sie zum gleichen Zweck an die Bergwerke weiterverscherbelte, das war eine Zukunft, die für Arkady nicht in Frage kam.
Lieber würde sie sterben. Und inzwischen hatte sie halbwegs entschieden, dass Selbstmord der einzige Ausweg war, der ihr blieb.
Fluchtaussichten: keine. Sie passte nicht durch die Luke. Und selbst wenn sie es mit dem offenen Meer aufnehmen wollte, war sie immer noch mit fünf anderen Frauen zusammengekettet. Die Fußfesseln, die sie in Elvere getragen hatten, hatte man durch wesentlich simplere, aber genauso wirksame Ketten ersetzt, die die Frauen eng beieinander hielten, ob es ihnen passte oder nicht.
Rettung: Unwahrscheinlich. Cayal, die einzige lebende Seele auf Amyrantha, die vielleicht die Mittel und den Willen besaß, sie zu retten, hatte keine Ahnung, wo sie steckte. Und wenn Tiji hätte verhindern können, dass man sie in Elvere als Sklavin verschiffte, hätte sie es getan. Stellan, ihr Gemahl, musste inzwischen tot sein, wahrscheinlich gehängt von dem Unsterblichen Jaxyn, der damit seine eigenen ruchlosen Zwecke verfolgte. Und Declan Hawkes, Erster Spion des Königs und ihr Kindheitsfreund – vielleicht der einzige andere Mensch, der alles riskieren würde, um sie zu retten –, wusste nicht einmal von ihrer Unbill.
Und selbst wenn. Was konnte er von Glaeba aus schon tun? Sie befand sich eine halbe Weltreise von ihm entfernt auf dem offenen Meer und segelte in Richtung Senestra.
Sie versuchte, sich nicht in den Gedanken hineinzusteigern, dass dieses Fiasko auf Cayals Konto ging, aber es war wohl seine Schuld, dass sie hier war: eine rechtlose Sklavin, unerreichbar weit entfernt von allem, was ihr lieb und teuer war. In seinem blinden Todeseifer hatte er nur seine eigenen Bedürfnisse im Sinn gehabt, als er Arkady seinem Feind, dem Gezeitenfürst Brynden, so bereitwillig als Geisel überließ. Was hat er sich bloß eingebildet? Er hätte vorhersehen müssen, dass der Fürst der Vergeltung die greifbarere Rachemöglichkeit nutzte und lieber Cayals Geliebte büßen ließ – denn dafür musste Brynden sie ja halten, so wie er Cayal kannte –, als geduldig auf die vage Chance zu warten, seinen Gegner ins Jenseits zu befördern. Zumal das eine höchst dubiose Aussicht schien, da sie beide unsterblich waren.
Was habe ich mir nur dabei gedacht, schalt Arkady sich stumm, bei einem so hirnrissigen Plan mitzumachen?
Aber es brachte sie nicht weiter, sich damit zu geißeln, wie sie in diese Lage gekommen war. Sie war besser beraten, nach einem Ausweg zu suchen.
Arkady war weder unschuldig noch blind. Sie wusste, was ihr blühte, und das waren nicht die Schreckensbilder einer Fürstin, die sich zum ersten Mal mit der grausamen Realität konfrontiert sieht. Arkady kannte die Lage aus erster Hand.
Selbstmordgedanken waren unter den Sklavinnen, besonders den neuen, nicht ungewöhnlich. Darum trugen die Senestrer Sorge, dass ihrem wertvollen Eigentum jede Möglichkeit fehlte, Hand an sich zu legen. Arkady gestattete sich ein kleines, säuerliches Lächeln bei dem Gedanken, dass sie und Cayal nun schließlich doch etwas gemeinsam hatten. Wir wollen beide sterben, und aus Gründen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, kriegen wir es beide nicht hin.
Immerhin konnte sie überhaupt sterben, dachte sie, das war wohl schon ein Grund, dankbar zu sein. Cayal war selbst mit den tödlichsten Waffen nicht in der Lage, seinen Qualen ein Ende zu setzen. Ihr größtes Problem, das wusste Arkady, bestand jetzt darin, eine Selbstmordmethode zu finden, die schnell und sicher war. Man ließ sie nie allein. Selbst wenn sie es schaffen sollte, ihren Kittel in Streifen zu reißen, sich daraus eine Schlinge zu drehen und dann in der niedrigen, beengten Kajüte etwas fand, woran sie sich erhängen konnte – unwahrscheinlich, man konnte ja kaum aufrecht stehen –, würden die anderen sie daran hindern, noch bevor sie den ersten Knoten gemacht hatte.
Nein, was Arkady brauchte, war eine Methode, die schnell ging und nicht rückgängig zu machen war. Sie würde höchstens eine einzige Chance bekommen, und sie hatte nicht vor, die zu überleben. Gegen die Strafen, die einem Sklaven nach einem Selbstmordversuch blühten, war es geradezu harmlos, der Besatzung der Trius vorgeworfen zu werden.
Arkady brauchte eine Waffe, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass ein Seemann einer Sklavin freiwillig ein gefährliches Werkzeug überließ – und nur die Seemänner hatten, was sie brauchte: am besten ein Messer oder einen Marlspieker …
Oder ein Skalpell, dachte sie, und in ihrem übermüdeten Verstand begann sich der verschwommene Umriss eines Plans zu bilden. Arkady zog sich ihren Kittel herunter und untersuchte die verschorfte Brandwunde. Ihr Sklavenzeichen, das Symbol der verschlungenen Kettenglieder, war in der Dunkelheit schwer auszumachen, aber allein schon der stumpfe, pulsierende Schmerz sagte ihr, dass die Wunde sauber abheilte.
Zu dumm. Wenn sie entzündet wäre, konnte sie wohl darum bitten, dass der Schiffsarzt sie sich ansah, und hatte einige Hoffnung, behandelt zu werden. Das höchste Gut der Senestrer waren lebendige Sklaven, keine toten. Wenn eine Sklavin eine entzündete Wunde hatte, würde man sie verarzten – und die Behandlung würde darin bestehen, die Wunde zu öffnen, um den Eiter abfließen zu lassen.
Und dazu würde der Schiffsarzt ein Skalpell benutzen.
Eine Weile grübelte Arkady über die Idee nach. Wenn der Arzt kam, um eine entzündete Wunde aufzuschneiden, und wenn sie schnell genug war, konnte sie ihm das Skalpell aus der Hand reißen und sich die Halsschlagader aufschneiden, bevor irgendjemand Zeit hatte, zu reagieren. Es war schnell, sauber, relativ schmerzlos und unwiderruflich. Sobald ihre Karotisarterie anfing, Blut durch die Kajüte zu pumpen, würde kein Arzt, so fähig er auch war, die Blutung stillen können. Und wirklich kundige Vertreter dieser Zunft waren auf einem senestrischen Sklavenschiff wohl ohnehin kaum anzutreffen …
Natürlich hatte ihr Plan einen fatalen Haken.
Die Salbe, mit der man in Elvere ihre Brandwunde behandelt hatte, tat ihren Zweck. Die Wunde war sauber und verheilte gut.
Aber vielleicht, dachte sie, und erwärmte sich immer mehr für die Vorstellung eines schnellen und schmerzlosen Todes, wenn die Wunde nur entzündet aussieht …
Arkady wünschte sich, klarer denken zu können, weniger von Hunger, Schmerz und Angst getrieben zu sein. In so hastig geschmiedeten Plänen mussten unvermeidlich Lücken und Fallstricke sein, und sie konnte es sich nicht leisten, das zu vermasseln.
Wenn die Wunde entzündet aussieht … wiederholte sie stumm. Wie sollte sie eine solche Täuschung hinbekommen? Eine Infektion war streng genommen kein Problem. Der Kübel in der Ecke – sie konnte ihn von hier aus riechen – enthielt jede Menge Material, um eine offene Wunde zu infizieren. Aber es würde Tage dauern, bis sich eine echte Entzündung gebildet hatte. Und was sie brauchte, war eine Infektion, die so ernst war, dass der Schiffsarzt sie sich noch vor Sonnenaufgang ansah.
Denn schon am nächsten Morgen würden sie die torlenischen Gewässer verlassen.
Bis dahin musste Arkadys Wunde rot und geschwollen sein.
Während sie an diesem Problem grübelte, wurde Arkady wieder von einem Geräusch auf dem Oberdeck abgelenkt – einem lauten Rumms, gefolgt von spöttischen Stimmen und grausamem Gejohle. Was sie sagten, wusste sie nicht, aber sie hatte sie schon früher gehört, und wenn sie auch die Worte nicht verstand, so sprach der Tonfall doch Bände.
Sie quälen wohl einen armen Schiffsjungen. Schlagen die Zeit tot, bis sie anfangen dürfen, die Sklavinnen zu vergewaltigen, sobald wir auf dem offenen Meer sind …
Sie wünschte, sie würden damit aufhören. Ihr raues Gelächter war eine unsanfte Erinnerung daran, welches Schicksal sie erwartete.
Bis morgen zum Frühstück muss mir der Eiter aus der Wunde sickern …
Bis zum Frühstück – wenn man den Sklaven die einzige Mahlzeit des Tages brachte. Diese widerliche Grütze, die aussah wie … Eiter.
Arkady lächelte in die Dunkelheit.
Vielleicht hatte sie doch die Mittel, ihr Leben zu beenden.
Alles, was sie brauchte, war ein Napf Grütze und ein unaufmerksamer Schiffsarzt.
Arkady schloss die Augen und merkte überrascht, dass sie tatsächlich schläfrig war. Sie bewegte sich ein wenig, um sich auf die Seite zu drehen, stieß mit dem Ellenbogen Alkasas Schulter aus dem Weg und blendete das quälende Gejohle vom Oberdeck aus. Gerade als die Sonne über den Horizont kroch, schlief sie ein, zufrieden von ihrer Gewissheit: Später am Morgen würde sie tot sein, und dieser Alptraum wäre zumindest für sie vorüber.
Tiji war schon auf einigen Schiffen gefahren, aber noch nie auf einem derartig kleinen, derartig vollen und derartig schnellen Boot. Die kleine Schaluppe schnitt durch die Wellen, als hätte sie Flügel, und trug sie immer weiter fort von ihrem alten Leben, einer Zukunft entgegen, von der sie seit jeher geträumt hatte. Aber sie hätte nie zu glauben gewagt, dass sie tatsächlich Wirklichkeit werden könnte.
Die Besatzung des kleinen Bootes bestand ausschließlich aus Chamäliden. Dieses Fahrzeug zogen keine Amphiden durch die Wellen, die Erlösung folgte den Launen von Wind und Strömung und schien vor Freude über ihre Freiheit auf den Wellenkämmen zu tanzen. Nun, wo sie einigermaßen seefest war, wusste Tiji das kleine Schiff erst richtig zu schätzen, anders als noch vor einigen Tagen bei ihrer Abreise aus Elvere in Torlenien.
Das war eine schlimme Zeit gewesen. Seekrankheit und Schuldgefühle hatten ihr schwer zu schaffen gemacht. Zum Glück war wenigstens die Übelkeit inzwischen vergangen.
Nur die Schuldgefühle waren noch da.
»Du siehst sehr verloren aus.«
Tiji sah sich von ihrem Sitzplatz im Bug um. Es war Azquil, der da auf sie zukam, der Chamäleonmann, der an ihrer Entführung aus den Straßen von Elvere beteiligt war (als sie eben Arkady Desean davor retten wollte, als Sklavin verschifft zu werden – die Gezeiten allein wussten, wohin.)
Wie Tiji inzwischen wusste, waren ihre Entführer eine durchorganisierte Gruppe von Chamäliden. Bei ihren eigenen Leuten waren sie als die Bergungstruppe bekannt, womit ihre Aufgabe ziemlich genau umschrieben war. Sie spürten ›die Verlorenen‹ auf und bargen sie – Kinder, entführt aus den versteckten Siedlungen tief in den feuchten Sümpfen von Senestra, gefangen und verschleppt von Jägern, die die Chamäliden ihrer besonderen Fähigkeiten wegen jagten. Die erfolgreichsten Räuber stahlen die kleinsten Kinder, hatte man Tiji erklärt, und verkauften sie an Wanderzirkusse und Jahrmärkte, wo man sie als Monstrositäten begaffte.
Und wegen ihrer Tarnkünste manchmal auch an Spione wie Declan Hawkes.
Die Chamäliden der Bergungstruppe waren sehr betroffen gewesen, als sie ihnen von ihrem Leben in Glaeba erzählt hatte, entsetzt, wie gemein man sie ausgenutzt hatte, zuerst im Wanderzirkus, wo Declan sie gefunden hatte, und dann von Declan Hawkes selbst. Ihn sahen sie als bösartigen Tyrann, der nur darauf aus war, ihre Lebensgeister mit seiner allgegenwärtigen Kontrolle zu zerstören. Zuerst verstand sie gar nicht, warum. Sie hatte immer gedacht, dass sie ein ganz gutes Leben führte. Schon, sie war eine Sklavin, aber sie hatte einen Herrn, für den sie mit Freuden gestorben wäre, und einen interessanten Job. Sie war versorgt, hatte Essen und ein Dach überm Kopf, und es hatte ihr an nichts gefehlt.
Für Azquil und seine Freunde jedoch zählte das alles nicht.
Trotz Tijis Protesten waren die Mitglieder der Bergungstruppe überzeugt, dass man sie gegen ihren Willen gefangen gehalten hatte. Sie konnte ihnen nicht erklären – besonders Azquil nicht –, dass ihre Loyalität zu Declan auf Zuneigung beruhte und nicht auf Angst.
Als sie einmal erwähnte, dass sie Declan liebte – wenn auch nur im allerplatonischsten Sinn –, hatte der junge Chamäleonmann sie tief betroffen angesehen und ihr zugeraunt: »Bei uns gelten solche Beziehungen als, na ja, reichlich unnatürlich. Es wäre vielleicht klug, die anderen nicht wissen zu lassen, dass du … dich zu einem Mann einer anderen Spezies … hingezogen fühlst.«
»Ich fühle mich nicht zu ihm hingezogen.«
»Aber du hast doch gesagt, du liebst ihn.«
»Meeresfrüchte liebe ich auch, aber steige ich deshalb gleich mit einem Hummer in die Koje?«
Azquil hatte gelacht und sie umarmt. »Du bist so entzückend, Tiji. Die meisten Verlorenen, die wir bergen, sind so tragisch verkrüppelte Seelen. Du bist die Erste, die ich treffe, die Sinn für Humor hat.«
Tiji hatte auch gelächelt und gespürt, wie ihre Hautschattierungen flimmerten – die Chamäleonvariante von Erröten. Das allerdings hatte nicht sein Kompliment ausgelöst, sondern die Tatsache, dass er sie umarmt hatte.
Es war Tiji durchaus nicht unangenehm, von Azquil umarmt zu werden.
Aber es wäre unklug, ihn das merken zu lassen. Vom Paarungsverhalten ihrer eigenen Spezies hatte sie keine Ahnung. Womöglich hatte Azquil irgendwo in den Sümpfen eine Frau und ein Dutzend Sprösslinge sitzen und wollte einfach nur nett sein zu einer der vielen ›tragisch verkrüppelten Seelen‹, die er gerettet hatte.
»Ich habe bloß ein Weilchen nachgedacht«, sagte sie, als Azquil sich neben sie setzte und über die Reling aufs Wasser blickte.
»Das tust du anscheinend oft.«
»Sind wir keine nachdenkliche Spezies?« Es kam Tiji seltsam vor, das zu fragen, aber sie wusste nun mal nichts über ihr eigenes Volk; nichts von ihren Eigenschaften, ihren Vorlieben und Abneigungen, ihren Ängsten …
»Nachdenklich vielleicht schon«, sagte Azquil. »Aber nicht unbedingt so grüblerisch wie du. Liegt dir etwas auf der Seele?«
Sie nickte, sah keinen Sinn darin, ihm etwas vorzumachen. »Ich habe meine Freunde im Stich gelassen.«
»Du redest von den Menschen, die dich versklavt haben, Tiji. Deine Freunde sind sie nie gewesen.«
»Man hat mich nicht schlecht behandelt, Azquil.«
»Die heilige Trinität sagt, wenn man einen Vogel in den Käfig sperrt, kann man ihn mit bestem Futter und endloser Zuneigung überschütten, doch das ändert nichts daran, dass er nicht in die Freiheit fliegen kann.«
»Ich war nicht eingesperrt.« Tiji kannte diese Trinität nicht und war auch nicht sonderlich interessiert an ihren Binsenweisheiten. »Ich hatte Diplomatenpapiere, versteh das doch!«
Azquil lächelte sie tolerant an. »Tiji, bitte, ich sage ja nicht, dass deine ehemaligen Sklavenhalter Ungeheuer waren. Nach allem, was du erzählst, waren sie besser als der Durchschnitt. Es ist nur … na ja, an die Freiheit muss man sich wohl manchmal erst gewöhnen. Die Trinität sagt, man muss den Mut aufbringen, voranzuschreiten – das ist das Einzige, was uns davon abhält, zurückzuschauen.«
»Wenn ich zurückschaue, sehe ich immer Lady Desean vor mir, wie sie in diesem Sklavenkarren Richtung Hafen rollt, auf dem Weg, wohin wissen nur die Gezeiten. Es war meine Aufgabe, für ihre Sicherheit zu sorgen, und ich habe zugelassen, dass man sie in die Sklaverei verkauft.«
»Aber das war doch nicht dein Werk. Diese Menschenfrau, um die du dich so sorgst, obliegt doch gar nicht deiner Verantwortung.« Er beugte sich vor und nahm ihre Hand. »Verstehst du das nicht, Tiji? Merkst du denn nicht, wie sehr du darauf konditioniert bist, ihren eigennützigen Lügen zu glauben? Diese Frau war deine Gebieterin, aber wenn ihr etwas zustößt, bildest du dir wahrhaftig ein, dass es irgendwie deine Schuld ist.«
»Ich hätte etwas tun sollen!«, beharrte sie und entzog ihm ihre Hand. Diese Schuldgefühle würden so bald nicht verschwinden, und sie musste einfach jemandem erklären, warum sie sich so verantwortlich fühlte – auch wenn ihm das Los der Fürstin von Lebec herzlich gleichgültig war.
»Was hättest du denn tun können?«
»Ich … weiß nicht.« Eben da lag der Hund begraben. Wahrscheinlich gab es rein gar nichts, was sie hätte tun können. Wie sollte sie verhindern, dass Brynden die einzige Person auf Amyrantha, an der dem Unsterblichen Prinzen etwas zu liegen schien, in die Sklaverei verkaufte, um sich an ihm zu rächen?
»Erzähl mir, was passiert ist.«
»Warum?«
»Weil dich das alles so beschäftigt, dass du kaum etwas isst. Vielleicht, wenn ich es nur besser verstehe …«
Tiji schmunzelte und spürte, wie ihre Haut vielfarbig flimmerte. »Dass ich nicht viel esse, hat weniger mit meiner Verzweiflung zu tun als mit deinen Kochkünsten, Azquil.«
»Und wenn schon«, sagte er und lächelte, »es nagt an dir. Du wirst nie wirklich frei sein, solange du das nicht hinter dir lässt.«
Da hatte er vermutlich recht. Also holte Tiji tief Luft und erzählte Azquil eine zensierte Version der Geschehnisse, seit sie Glaeba verlassen hatte. Sie berichtete ihm vom Tod des glaebischen Königspaares und wie Arkady in Ungnade gefallen war, weil man ihren Gemahl verdächtigte, für des Königs Tod verantwortlich zu sein. Sie erzählte ihm von Arkadys Freundin Chintara, der kaiserlichen Gemahlin, die für Arkady ein Versteck im Gezeitenkloster in der torlenischen Wüste arrangiert hatte. Allerdings erwähnte sie lieber nicht, dass es sich bei Chintara um die Unsterbliche Kinta handelte. Oder dass Kintas Geliebter Brynden, der Fürst der Vergeltung, in diesem Kloster untergetaucht war und auf seine Chance wartete, Torlenien an sich zu reißen, sobald die Gezeiten hoch genug standen.
Sie erzählte ihm, wie sie zufällig Cayal, den Unsterblichen Prinzen getroffen hatte, wenn sie ihn auch nicht so nannte, sondern Kyle Lakesh. Diesen Namen hatte er als verurteilter Gefangener in Glaeba benutzt. Sie erzählte Azquil, wie Kyle sie vor einem Sandsturm gerettet und dann in das Kloster eskortiert hatte, wo er sowieso hinwollte, um einen alten Feind um einen Gefallen zu bitten.
Und dann erzählte sie ihm von der Abmachung zwischen Kyle und dem Mönch im Gezeitenkloster (wobei sie wiederum nicht erwähnte, dass Letzterer in Wirklichkeit der Unsterbliche Brynden war), die darin bestand, dass Arkady als Geisel bei ihm blieb, während Kyle auszog, um einen weiteren … Freund zu suchen …
Und dann erklärte sie, wie sie in Elvere mit Arkady hatte zusammentreffen sollen, und wie sie entdeckt hatte, dass der Mönch Kyle verraten und Arkady in die Sklaverei verkauft hatte.
Als sie ihre Erzählung beendet hatte, musterte Azquil sie besorgt. »Und du denkst ernsthaft, dass das alles irgendwie deine Schuld ist?«
»Ich hätte Arkady folgen sollen. Ich weiß, ich hätte Bryn- … den Mönch wahrscheinlich nicht daran hindern können, sie in die Sklaverei zu verkaufen, aber ich hätte sie wieder freikaufen können. Ich habe Diplomatenpapiere, und sie ist Angehörige einer der vornehmsten Familien von Glaeba.«
»Aber dann wird man sie doch suchen, oder nicht?«
»Jeder andere, der zurzeit nach Arkady sucht, will sie höchstwahrscheinlich verhaften oder tot sehen«, prophezeite Tiji grimmig.
»Dann ist deine Fürstin dort, wo sie gerade ist, vermutlich sicherer aufgehoben.«
»Was meinst du damit, sichereraufgehoben? Sie ist eine Sklavin, Azquil! Wer weiß, was sie ihr alles antun.«
Azquil schüttelte ungerührt den Kopf. »Du behauptest, dass du als Sklavin gut gelebt hast. Tatsächlich könnte man fast meinen, dass du dich gegen deine Freiheit sträubst, so unerbittlich bist du in diesem Punkt. Warum nimmst du also an, dass das Sklavendasein dieser Menschenfrau beschwerlicher wird, als es dein eigenes war? Vielleicht wird sie wie du einen guten Herrn finden und genau den Schutz bekommen, den sie in der torlenischen Wüste vergeblich gesucht hat.«
Darauf fiel Tiji keine Antwort ein, und dann brauchte sie keine mehr, denn in diesem Augenblick kam neben dem Bug der Erlösung ein Schwarm Delphine an die Oberfläche und begann mit der kleinen Schaluppe ein Wettrennen über die Wellen. Beim entzückten Aufschrei des Crasii am Steuer, der sie auf die Delphine aufmerksam machte, eilten alle an Bord zur Reling, um ihnen zuzusehen, wie sie aus dem Wasser sprangen, und lachten entzückt über dieses gute Vorzeichen.
Trotz ihrer Gewissensbisse war auch Tiji von diesen lächelnden Geschöpfen bezaubert, die so fröhlich quer über den Bug sprangen. Bald lachte sie so herzhaft, dass sie sich – zumindest für den Augenblick – fast einreden konnte, Arkadys Schicksal würde schon nicht so schlimm werden wie befürchtet.
Declan Hawkes erwachte beim Klang von Regentropfen auf den Dachschindeln. Eine Weile lag er in der Dunkelheit und lauschte dem Regen, das Geräusch war tröstlich und vertraut. Es war kurz vor der Morgendämmerung – seit dem Feuer, das ihn unsterblich gemacht hatte, konnte er solche Dinge spüren.
Neben ihm auf dem anderen Strohsack, den sie in den Schuppen neben Maralyce’ Häuschen gezwängt hatten, um diesen Zustrom unerwarteter Besucher unterzubringen, ließen Stellan Deseans gleichmäßige Atemzüge darauf schließen, dass der ehemalige Fürst von Lebec noch tief und fest schlief. Auch die anderen drüben im Häuschen schienen noch zu schlafen. Wahrscheinlich schnarchte Shalimar leise auf dem Strohsack vor dem Feuer, während Nyah, die kleine Prinzessin, die Declan aus Caelum gerettet hatte, sich neben Maralyce zusammengerollt hatte, immer noch nicht daran gewöhnt, ein Bett mit jemand anderem zu teilen.
Aber nach kurzer Zeit störten andere Eindrücke Declans friedliches Dösen. Er besaß jetzt Wahrnehmungen, die er nie zuvor gekannt hatte. Er wusste auf einmal Dinge – zum Beispiel wusste er jetzt jederzeit, wie spät es war. Und wenn er sich konzentrierte, konnte er sich in jeden einzelnen Regentropfen hineinversetzen, spürte die Spannung, die ihm seine Form gab, und seinen Schmerz, wenn er auf dem Boden zerplatzte. Es war, als hätte er mit der Unsterblichkeit einen zusätzlichen Sinn bekommen, der ihn befähigte, die Dinge in einer verborgenen Dimension zu berühren, die Sterblichen verschlossen war. Diese Fähigkeit faszinierte und ängstigte ihn gleichermaßen, denn er wusste, was es war.
Er berührte die Gezeiten.
Maralyce hatte versucht, es ihm zu erklären. Sie hatte seine Gabe gespürt, noch bevor er selbst davon wusste – wenn sie es auch nicht offen aussprach. Sie wusste eine Menge, diese Unsterbliche, von der sich herausgestellt hatte, dass sie seine Urgroßmutter war, und teilte ihr Wissen mit niemandem. Sie wusste viel über Declan, über seine Mutter, sie wusste Dinge über seinen Großvater, die nicht einmal Shalimar selbst wusste, und solche Informationsbröckchen teilte sie so sparsam aus, als fütterte sie einen Welpen mit Leckerbissen, um ihn geduldig zu einem loyalen und wohlerzogenen Gefährten auszubilden.
Declan war auch ziemlich sicher, dass sie wusste, wer sein Vater war, ein Rätsel, das ihn bisher nie sonderlich beschäftigt hatte. Schließlich war sein Großvater Shalimar als Findelkind in einem Lebecer Bordell aufgewachsen, seine lange verstorbene Großmutter war eine Hure gewesen, und auch seine Mutter war dort auf die Welt gekommen. Sie war im Freudenhaus herangewachsen und hatte dort unweigerlich auch gearbeitet, bis sie an der Schwindsucht starb, Declan war damals noch im Kleinkindalter. Die Zahl der Männer, die als sein Erzeuger in Frage kamen, ging in die Tausende, und Declan hatte nie den Wunsch gehabt, eine solch unerfreuliche Namensliste zu durchkämmen – wenn es denn eine gegeben hätte – und den Übeltäter zu finden.
Bis jetzt.
Bis die imaginäre Liste von Tausenden von gesichtslosen Fremden auf eine Handvoll Unsterbliche zusammenschrumpfte, die er tatsächlich benennen konnte.
Denn darin, so war ihm klar geworden, lag die einzig mögliche Erklärung für seine Unsterblichkeit. Das Feuer im Kerkerturm hatte er überlebt, nicht etwa weil er halb unsterblich war – so wie sein Großvater, der im Sterben lag und der dieselbe Fähigkeit hatte, die Gezeiten zu berühren, wie sie nun in Declan erwacht war. Nein, er hatte überlebt, weil zusätzlich zu dem unsterblichen Blut, das er über seine Mutter von Shalimar geerbt hatte, auch ein Teil von seinem unbekannten Vater kam. Dieser winzige Bruchteil mehr – dieser Unterschied zwischen halb und fünf Achtel unsterblich – bedeutete, dass er sein Leben womöglich in Unwissenheit verbracht hätte … wäre er nicht der Elementarkraft ausgesetzt worden, die sein Potenzial weckte.
Feuer. Die Essenz des Gezeitensterns selbst.
Was weit schlimmer war: Er konnte die Gezeiten lenken, sie in einem Maß berühren, das offenbar selbst Maralyce beunruhigte. Wenn man annahm, dass er auch diese Fähigkeit von seinem Vater geerbt hatte, dann musste sein Vater einer der Gezeitenfürsten sein. Das wiederum reduzierte die Anzahl der möglichen Kandidaten auf ganze sieben Männer: Tryan, Lukys, Kentravyon, Pellys, Brynden, Jaxyn und Cayal, der unsterbliche Prinz.
In den letzten paar Wochen hatte Maralyce entsprechende Andeutungen gemacht. Das meiste hatte er sich aber selbst zusammengereimt, denn sie schien nicht sonderlich geneigt, ihm zu helfen. Bei den Unsterblichen existierten Familiensinn oder Kameradschaft nicht. Man ging unter oder schwamm im Gezeitenstrom, so gut man konnte, und suchte sich seinen eigenen Weg, genau wie es die anderen auch getan hatten.
Es kam anscheinend häufig vor, dass Schüler sich gegen ihre Meister auflehnten. Soweit Declan das beurteilen konnte, würde kein Unsterblicher einem anderen, potenziell mächtigeren Unsterblichen mehr beibringen als das absolute Minimum.
Wodurch der frischgebackene Unsterbliche mit einer brennenden Frage allein blieb …
Was sollte er mit dem Rest seines Lebens anfangen? Seines endlosen, endlosen Lebens …
Abrupt setzte Declan sich auf. Noch war er nicht bereit, über die grenzenlose Zukunft nachzudenken, die vor ihm lag. Er würde einfach jeden Tag auf sich zukommen lassen.
Und die Zukunft würde sich schon irgendwie regeln.
Ein Schatten fiel ihm ins Auge, der sich über den Hof bewegte. Declan warf die Decke von seinem Strohsack über Desean, der so viel mehr Schutz vor der Kälte brauchte als er selbst, und stand auf. Er wusste, wem dieser Schatten gehörte. Jetzt, wo er unsterblich war, konnte er jedes andere Lebewesen in der Nähe spüren, das in den Gezeiten schwamm.
»Kannst du nicht schlafen?«, rief er Maralyce nach, und sein Atem gefror im kalten Regen. Sie war unterwegs zum Stolleneingang und trug einen Sack Werkzeuge und eine Spitzhacke, als hätte sie vor, länger fort zu sein.
»Ich hab die Nase voll von all dem Besuch.« Sie drehte sich zu ihm um und blinzelte im frühen Morgenlicht, als er über den Hof ging und vor ihr stehen blieb, ungestört vom Nieselregen. Der konnte ihm nichts mehr anhaben, genauso wenig wie die Kälte. Sein Körper regelte seine Körpertemperatur nun selbst, hielt sie auf die gleiche Art konstant, wie auch die Kratzer in seinem Gesicht verschwanden. Darin bestand das Wesen der Unsterblichkeit – unendliche Regeneration.
»Was ist mit Shalimar?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Du hast gesagt, er braucht deine Hilfe. Und es geht seit Tagen bergab mit ihm.«
Sie zuckte die Schultern. »Kann man nichts machen.«
»Er ist dein Sohn, Maralyce. Du wirst ihn doch nicht qualvoll krepieren lassen, nur weil du sauer bist über ein paar Gäste im Haus?«
Maralyce sah weg. Bei jeder anderen hätte Declan gedacht, dass sie ihm aus schlechtem Gewissen nicht in die Augen sehen konnte. Aber sie war eine Unsterbliche, und wie es aussah, stellten sich Schuldgefühle bei seiner Spezies nach einer Weile einfach nicht mehr ein. An ihre edlere Natur zu appellieren, würde nicht funktionieren.
»Was muss ich also tun?«, fragte er mit einem Seufzer.
»Ihm immer genug Met hinstellen«, sagte Maralyce. »Das sollte seine Schmerzen lindern, bis er stirbt.«
Er hatte den Verdacht, dass seine Urgroßmutter ihn mit dieser kaltschnäuzigen Anweisung nur reizen wollte. »Und wann ist es so weit? In ein oder zwei Tagen? Einer Woche? Einem Monat?«
Sie kniff die Augen zusammen und blinzelte ihn in der Düsternis an. »Du kannst jetzt die Gezeiten spüren, Declan. Sag du’s mir.«
Das war das erste Mal, dass sie es offen zugegeben hatte. Warum hatte sie bis jetzt damit gewartet – jetzt, wo sie vorhatte, sie zu verlassen?
»Willst du mir damit sagen, dass er stirbt, wenn die Gezeiten auf dem Höchststand sind?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er stirbt, wenn er bereit dafür ist, wenn sein Körper es satthat, von den Unterströmungen hin- und hergezerrt zu werden. Ich kann nichts mehr für ihn tun.«
Sie klang so überzeugt, so endgültig. Declan wusste, es hatte keinen Sinn, weiter zu diskutieren. »Dann gehst du also.«
Sie nickte und deutete mit dem Kinn in die Richtung ihres Häuschens. »Hab ein Auge drauf, dass sie mir nicht die Haare vom Kopf fressen, ja? Es ist schon zu spät im Jahr für den Marsch ins Tal, um Vorräte aufzustocken.«
»Wann bist du zurück?«
»Wenn mir danach ist.« Sie schulterte ihr Bündel etwas höher und runzelte die Stirn. »Kommst du zurecht?«
Declan zuckte die Achseln. »Habe ich eine Wahl?«
»Gibt nichts Schlimmeres als einen Unsterblichen mit Selbstmitleid, Declan. Reiß dich zusammen.«
»Das ist deine Patentlösung für alles, was? Reiß dich zusammen.«
»Es ist ein guter Rat.«
Wieder seufzte er. Würde es ihm je gelingen, Maralyce eine direkte Antwort zu entlocken? »Möchtest du, dass ich irgendetwas Bestimmtes erledige, solange du fort bist?«
Sie sah sich auf der kleinen Lichtung um, und ihr Blick fiel auf den hoch aufragenden Stapel von gehacktem Brennholz außen an der Hauswand. »Du kannst mir noch etwas Brennholz hacken.«
Declan warf einen Blick auf den Holzstoß. »Ich meinte abgesehen von der Mitwirkung an deinem persönlichen Feldzug zur endgültigen Entwaldung der Shevron-Berge.«
Maralyce war nicht belustigt. »Du tust gut daran, deine Zunge im Zaum zu halten, Jungchen. Ich kann sehr lange auf jemanden sauer sein, musst du wissen.«
Das bezweifelte Declan keinen Augenblick. »Was soll ich den anderen sagen, warum du so plötzlich gegangen bist?«
»Was du willst.« Sie wandte sich wieder dem Stolleneingang zu. »Ist nicht meine Aufgabe, ihre empfindsamen Seelen zu schonen. Das ist dein Job.« Zum Abschied hob sie eine Hand, dann zögerte sie und drehte sich nochmals um, ihr Gesicht in Sorgenfalten.
»Was denn, schon anders überlegt?«
»Es wird eine Zeit kommen«, sagte sie übergangslos, »wo du mehr wissen willst. Ich bin es nicht, die dir beibringen kann, was du wissen willst, Declan. Auch wenn du das denkst.«
»Wer dann?«
»Lukys wahrscheinlich, wobei ich seine Art Hilfe anderen nur ungern empfehle. Bevor du ihn aufsuchst, sei dir verdammt sicher, dass du wirklich haben willst, was er dir bieten kann. Du kannst unsterblich sein, Junge, auch ohne ein Gezeitenfürst zu sein. Du musst das nicht, du kannst leben wie die anderen, die mit der Unsterblichkeit ihren Frieden gemacht haben, wie Arryl und Medwen … dein Leben so unauffällig wie möglich leben …« Sie sah ihm kurz forschend ins Gesicht und schüttelte dann den Kopf. »Aber das wirst du nicht. Du bist jung und neugierig, und wie gut deine Absichten auch immer sein mögen, die Verlockung der Macht, über die du jetzt verfügst, wird letzten Endes zu stark für dich sein. Denk einfach dran: Die Ewigkeit ist verdammt lang. Zu lang, um ständig auf der Hut vor Feinden zu sein, die dich jagen.«
Bevor er antworten konnte, drehte sie sich weg, und im nächsten Augenblick verschluckte der dunkle Schlund des Stolleneingangs ihre Gestalt.
Declan stand noch eine Weile auf dem Hof, der Regen tropfte auf ihn herab, und er fragte sich, was Maralyce wirklich veranlasst hatte, sich davonzumachen. Und grübelte über ihre düstere Warnung nach. Er wusste, dass sie über den unerwarteten Andrang von Logiergästen nicht glücklich war – sie hatte aus ihrer Verärgerung ihnen allen gegenüber kein Hehl gemacht –, aber das erklärte nicht, warum sie jetzt fortging. Es wäre eigentlich eher ihre Art, dazubleiben und mit Argusaugen über die lästigen Eindringlinge zu wachen, um sicherzugehen, dass sie nichts stahlen.
Trotzdem überraschte es ihn nicht sonderlich, dass sie gegangen war. In letzter Zeit war Maralyce ungewöhnlich rastlos gewesen, als wippte sie innerlich mit dem Fuß vor Ungeduld, dass sie endlich alle wieder gingen und sie allein ließen, sodass sie ihre Arbeit fortsetzen konnte. Was trieb sie eigentlich da unten in ihrem Stollen, was konnte so verdammt wichtig sein? Declan war ziemlich sicher, dass es dabei nicht um simple Habgier ging. Noch nie hatte er eine lebende Seele getroffen, die sich weniger aus den Verlockungen materiellen Reichtums machte.
Und was hatte sie damit gemeint, dass er kein Gezeitenfürst sein musste? Hieß das, er konnte einer sein? Verfügte er über dieselbe Macht wie der unsterbliche Prinz?
Aber ihm blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Als eben die ersten Strahlen der Morgensonne die Gipfel der Berge berührten, gellte ein Schrei durch die Luft. Er klang schrill, verstört und jung und kam aus dem Inneren des Bergarbeiterhäuschens. Declan rannte über den Hof und stieß an der Tür des Häuschens beinahe mit Stellan Desean zusammen, den Nyahs Schreie offenbar geweckt hatten. Gemeinsam stürzten sie ins Innere, das nur eine einzige Kerze auf dem Tisch erhellte. Nyah, noch in ihrem geliehenen Nachthemd, hockte halb über Shalimar, der vor dem Feuer lag.
»Was ist passiert?«, fragte Desean, einen Schritt vor Declan, und sah sich um, was bei Nyah solche Panik ausgelöst hatte.
Nyah sah auf, ihr Gesicht tränennass. Als sie Shalimar losließ, fiel seine Schulter zur Seite, sodass seine Augen zu sehen waren: offen, starr und leblos.
»Er ist tot«, sagte Declan leise und ausdruckslos.
Stellan Desean beugte sich hinunter und zog Nyah sanft vom Leichnam des alten Mannes weg. »Komm, Kleine, ist schon gut …«
Declan starrte auf Shalimars Leichnam hinunter, auf seine papierdünne Haut und sein Gesicht, das jetzt so friedlich wirkte. Empfand er nichts, weil er damit gerechnet hatte, oder weil er nun unsterblich und normaler menschlicher Gefühle nicht mehr fähig war?
Stellan hielt Nyah, die an seiner Brust schluchzte, und tätschelte ihr väterlich den Rücken. Er sah zu Declan auf. »Wir müssen Maralyce finden und es ihr sagen.«
»Sie weiß es«, erwiderte Declan mit absoluter Gewissheit.
Der ehemalige Fürst sah ihn einen Augenblick neugierig an und wandte sich dann Nyah zu. »Warum geht Ihr nicht ein wenig an die frische Luft, Hoheit?«, schlug er vor. »Spritzt Euch etwas Wasser ins Gesicht, Ihr werdet Euch gleich besser fühlen.«
»Aber … Shalimar … er ist …«
»Ich weiß. Macht Euch keine Sorgen. Declan und ich kümmern uns um ihn.«
Mit lautem Schniefen tat Nyah, wenn auch etwas zögerlich, wie geheißen und stelzte an Declan vorbei nach draußen.
»Ihr könnt sehr gut mit Kindern umgehen«, bemerkte Declan, als er die Tür hinter ihr schloss.
Der Fürst lächelte dünn. »Arkady hat immer gesagt, was für einen guten Vater ich abgeben würde.« Stellan ging in die Hocke, um den Leichnam zu untersuchen. »Eiskalt. Er muss schon seit Stunden tot sein. Es tut mir so leid, Declan.«
»Jetzt hat er keine Schmerzen mehr.«
Desean sah zu ihm auf. »Denkt Ihr, die Gezeiten haben ihn getötet?«
Declan nickte. Die Gezeiten … oder Maralyce, die ihm ein Kissen aufs Gesicht drückt, um ihn von seinen Qualen zu erlösen. Er war nicht sicher, wie er auf diesen Gedanken kam, aber es schien ihm plausibel. Für einen Unsterblichen war der Tod ein solches Geschenk, eine Gabe der Liebe, keine Strafe. Es würde ihn nicht überraschen, wenn sie Shalimars Ende beschleunigt hatte, weil sie seine Leiden nicht länger lindern konnte …
Gezeiten, fange ich jetzt schon an, mich in Unsterbliche einzufühlen?
»Declan?«
Er blinzelte und merkte, dass Stellan Desean mit ihm sprach.
»Oh, Entschuldigung … habt Ihr etwas gesagt?«
»Ich sagte, wollt Ihr ihn nach draußen bringen? Zur Schmiede vielleicht? Bis dieser Regen aufhört und wir ihn begraben können?«
Declan nickte und hob Shalimars Füße an, und gemeinsam mit dem ehemaligen Fürsten von Lebec machte er sich daran, seinen letzten sterblichen Verwandten nach draußen zu tragen.
Arkady erwachte mit einem Aufstöhnen, als Alkasa sie in den Rücken stieß, um ihr zu sagen, dass das Frühstück kam. Sie vergegenwärtigte sich sofort ihren Plan, und um als Sieche durchzugehen, bewegte sie sich langsam und mühselig. Sie hoffte, es war so überzeugend, dass es den anderen auffiel. Ausnahmsweise war die stickige Hitze in der Kajüte zu etwas gut, sie machte ihre klamme Haut fleckig und ungesund. Eigentlich wäre es konsequenter, auch das Essen zu verweigern, aber sie brauchte die Grütze, damit ihre Wunde vereitert aussah, also konnte sie es sich nicht leisten, sie zurückzuweisen.
Sobald sie ihre Portion in Empfang genommen hatte, zog sie sich zum hinteren Teil der Kajüte in die Nähe des Kübels zurück, sackte auf den Boden und sah sich um. So widerlich die Grütze auch war, sie war ihre einzige Nahrung, und alle Frauen waren eifrig mit Essen beschäftigt. Der Matrose, der das Zeug gebracht hatte, hatte jede einzelne von ihnen abwägend angestarrt, als er die Pampe in ihren Napf klatschte, und an Alkasa blieb sein Blick ein Weilchen hängen, bevor er weitermachte.
Die junge Frau lächelte ihn an, nahm ihr Essen entgegen und drängte sich zwischen zwei der anderen Frauen hindurch. Dann beugte sie den Kopf tief über den Napf und stopfte sich das Zeug mit den Fingern in den Mund. Sklaven brauchten kein Besteck, ganz davon abgesehen, dass es sich womöglich als Waffe verwenden ließ.
So unauffällig wie möglich schöpfte Arkady den Brei mit den Fingern und schmierte ihn mit vor Schmerz zusammengebissenen Zähnen über die Brandwunde auf ihrer Brust. Als sie den sauberen Wundschorf so weit bedeckt hatte, dass er glaubhaft nach einer eitrigen Wunde aussah, zog sie ihren Kittel zu und aß hastig den Rest der schalen Grütze. Dann, solange die anderen noch abgelenkt waren, hielt sie den Atem an, unterdrückte ein Würgen und tauchte einen Finger in den stinkenden Kübel, der neben ihr auf dem Boden stand. Sie versuchte krampfhaft, möglichst nicht zu ihrem Denken durchdringen zu lassen, was sie da tat, als sie mit dem schmierigen Finger rings um die Ränder des Schorfs strich. Intuitiv vermied sie es, die Wunde selbst zu berühren – eigentlich idiotisch, wie ihr plötzlich klar wurde. Schließlich war der Sinn der Übung, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie hatte doch gar nicht vor, noch so lange zu leben, bis ihre Wunde wirklich entzündet war.
Nun hieß es warten, bis der Matrose zurückkam, um die Näpfe einzusammeln. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand und versuchte krank auszusehen – keine allzu schwierige Aufgabe, wenn man auf dem schwankenden Boden einer überfüllten, stickigen Kajüte neben einem halbvollen Exkrementekübel hockte. Ab und zu stöhnte sie, bis Sharee, die älteste der Sklavinnen, schließlich fragte, was mit ihr los war.
»Mir ist ganz elend«, ächzte Arkady.
»Uns allen ist übel, du blöde Schlampe«, erwiderte die Frau mitleidlos. »Leide gefälligst leise.«
»Nicht seekrank«, stöhnte sie. »Ich glaube, mein Brandmal ist entzündet.«
Die Frau, die wie Arkady mit dem Rücken an der Stirnwand der Kajüte auf dem Boden saß, öffnete die Augen und musterte ihre glaebische Gefährtin neugierig. »Zeig mal.«
Arkady zog ihren Kittel zur Seite und hoffte, dass ihre Schorfkruste aus Grütze in der düsteren Kajüte einer oberflächlichen Inspektion standhielt.
»Gezeiten«, bemerkte Alkasa, die neben ihr saß. »Das stinkt ja wie Scheiße.«
Im wahrsten Sinne des Wortes, pflichtete Arkady ihr wortlos bei und schnitt eine Grimasse, von der sie hoffte, dass sie nach heftigen Schmerzen aussah.
»Das solltest du lieber melden«, riet Saxtyn. »Die werden stinksauer, wenn ihnen wegen so einer Kleinigkeit eine Sklavin abkratzt. Und wenn du hier an Blutvergiftung stirbst, geben sie uns die Schuld.«
Arkady nickte, schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. Im Stillen dankte sie den nervtötend versnobten, hochwohlgeborenen Freunden ihres Gemahls für ihre vielen ungebetenen Ratschläge zur vernünftigen Sklavenhaltung: Man muss sich nicht groß um sie kümmern, pflegte Lady Jimison ihr ständig zu erklären, und man muss sie schon gar nicht mögen, aber wenn man sie sinnlos krepieren lässt, wirft man bares Geld zum Fenster hinaus.
Sie fragte sich, wie lange sie wohl würde warten müssen, bis der Matrose wiederkam, und wie bald danach der Schiffsarzt kommen würde.
Und wie lange es dann noch dauern würde, bis sie tot war.
»Aufstehen!«
Arkady verstand genug Senestrisch, um den Befehl zu erfassen. Mühsam kam sie auf die Füße und sah verblüfft, dass der Matrose an dem Schlüsselbund nestelte, der von seinem Gürtel herabhing. Offenbar wollte er sie von den Ketten losmachen, die sie mit den anderen Sklavinnen verbanden. Sie hatte angenommen, dass der Arzt zu ihr kommen würde, nicht umgekehrt.
Wenig später stand Arkady schwankend auf dem Gang, und der Matrose schloss die Kajüte hinter ihr ab. Dann stieß er sie vorwärts und bedeutete ihr, vor ihm eine schmale Stiege zu erklimmen, die aufs nächste Deck hinauf führte. Dort schob er sie an einigen geschlossenen Türen vorbei, bis er endlich vor einer stehen blieb, auf der verschlungene Efeublätter eingeschnitzt waren, offenbar das senestrische Symbol für einen Arzt. Der Matrose klopfte kurz, dann öffnete er die Tür und schubste sie hinein, ohne eine Aufforderung abzuwarten.
Er sagte etwas zu dem Arzt – vermutlich so etwas wie ruft mich, wenn Ihr mit ihr fertig seid – und knallte die Tür hinter sich zu.
Arkady kämpfte auf dem schlingernden Boden um ihr Gleichgewicht und sah sich um.
Diese Kajüte war größer als das Loch, in dem sie und die anderen Sklavinnen untergebracht waren, und wesentlich sauberer. Da war eine Koje unter dem Bullauge, daneben ein Schreibtisch und ein kleines Tischchen, auf dem eine Reihe von Instrumenten ausgelegt war, deren Anblick Arkady aus der Arztpraxis ihres Vaters schmerzlich vertraut war. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Untersuchungstisch, der wohl auch als Operationsfläche diente.
Und mitten im Raum stand ein weichlich wirkender junger Mann, nicht älter als Arkady, mit langem dunklem Haar, einer makellos sauberen Weste und weißem Seidenhemd sowie dem übelsten Veilchen samt dick geschwollenem Unterkiefer, das Arkady je zu Gesicht bekommen hatte. Das wollte etwas heißen, immerhin hatte sie zugesehen, wie ihr Vater zahllose Raufbolde aus den Slums von Lebec zusammenflickte.
Vielleicht, dachte sie, stammten die nächtlichen Wehlaute gar nicht von einem unglückseligen Schiffsjungen, sondern von der Misshandlung dieses übel zugerichteten Schiffsarztes.
Arkady hatte alles Mögliche erwartet, nur nicht, dass der Arzt noch lädierter aussah als sie selbst. Das war kaum zu glauben, und für einen Augenblick vergaß sie sich.
»Das muss ja höllisch wehtun«, murmelte sie auf Glaebisch und verzog das Gesicht bei der Vorstellung, wie grausam der junge Mann verprügelt worden sein musste.
Er sah überrascht auf. »Du bist ja Glaebanerin.«
»Ihr sprecht ja Glaebisch«, erwiderte sie ebenso überrascht, ehe sie sich etwas taktisch Klügeres ausdenken konnte. Sie hatte doch fest vorgehabt, elend auszusehen, wie kurz vor dem Zusammenbrechen – aber da hatte sie mit einem Säufer ohne Zukunft gerechnet, dem seine Patienten herzlich egal waren. Und auch wenn dieser Schiffsarzt aussah, als hätte ein jelidischer Schneebär ihn durchgekaut, merkte Arkady sofort, dass sie es mit einem aufgeweckten jungen Mann zu tun hatte. Ihre Grützekruste würde unweigerlich auffliegen.
Zeit für Plan B, dachte sie.
Nur schade, dass ich keinen habe.
»Ich habe einige Zeit in Glaeba studiert«, sagte der Arzt.
»Ach … das erklärt es natürlich …«
»Ich hätte nicht erwartet, auf einem Sklavenschiff meines Vaters eine glaebische Adlige anzutreffen«, sagte er und musterte sie mit Interesse. »Was ist passiert? Schuldsklavin?«
»So kann man es nennen«, erwiderte sie. Es war nicht mal gelogen. Immerhin hatte man sie in die Sklaverei verkauft, um die Schuld eines Unsterblichen an einem anderen zu begleichen. »Wie kommt Ihr zu der Annahme, ich sei eine glaebische Adlige?«
»Du sprichst zu gewählt, um die Frau eines armen Mannes zu sein. Hast du einen Namen?«
»Kady.«
»Ist das dein echter Name?«
»So gut wie.«
»Und was kann ich für dich tun, Kady So-gut-wie? Du wirkst den Umständen entsprechend ziemlich gesund. Und doch hätte man dich ohne Verdacht auf Lebensgefahr nicht zu mir gebracht.«
»Ich … also, mein Brandmal, die Wunde …«, sagte sie. »Ich glaube, sie hat sich entzündet.«
Er machte ihr ein Zeichen, auf dem Untersuchungstisch Platz zu nehmen. »Wo ist die Brandwunde?«
Arkady hockte sich auf den Tisch und zögerte dann. Jetzt würde sie sich mit ihrer List anstelle eines schmerzlosen Todes nur noch weit größere Schwierigkeiten einhandeln. Aber was blieb ihr übrig? Vorsichtig zog sie den losen Kittel zur Seite und enthüllte ihre Brust.
Betont sachlich beugte sich der junge Mann vor, um die Wunde zu untersuchen. Er betrachtete sie übermäßig lange, schließlich berührte er mit zögerlichen Fingern ganz kurz ihre Brust. Dann stand er rasch auf und wusch sich in der Waschschüssel auf dem Tisch neben den Instrumenten die Hände. Das Wasser schwappte mit dem Schlingern des Schiffes.
»Deine Wunde sieht mir eher imprägniert als infiziert aus«, bemerkte er auf Glaebisch, damit sie ihn verstand.
»Bitte?«