Gezeitenstern-Saga - Die Götter von Amyrantha - Jennifer Fallon - E-Book

Gezeitenstern-Saga - Die Götter von Amyrantha E-Book

Jennifer Fallon

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Beschreibung

Komm mit auf eine epische Reise durch die fantastische Welt von Amyrantha!

Auf Amyrantha steigen die Gezeiten. Die Unsterblichen spüren, dass die Stunde ihrer Macht wieder näher rückt. Sie verlassen ihre Verstecke und versuchen, unerkannt einflussreiche Positionen zu besetzen, um die Menschheit zu unterwerfen. Arkady, die junge Fürstin von Lebec, erkennt die Gefahr. Auch Declan, der Erste Spion des Königs, weiß, was hinter den Kulissen vorgeht. Beide wollen der geheimen Bruderschaft des Tarot helfen, die den Unsterblichen seit Jahrhunderten Widerstand leistet. Doch die macht der Gezeitenfürsten wächst unerbittlich ...

Die Gezeitenstern-Saga bietet eine einzigartige Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Ferne-Länder-Romantik. Jetzt als eBook von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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EPUB

Seitenzahl: 843

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Über dieses BuchÜber die AutorinTitelKarteWidmungPrologErster Teil1234567891011121314151617Zweiter Teil1819202122232425262728293031323334353637383940Dritter Teil41424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071Epilog

Über dieses Buch

Der Erste Spion des Königs von Glaeba hat alle Hände voll zu tun: Die Gezeiten steigen wieder, und die gefährlichsten der Unsterblichen versuchen die Zentren der Macht zu besetzen. Wenn es ihnen gelingt, kann das den Untergang der Welt von Amyrantha bedeuten, zumindest aber eine große Gefahr für die Menschheit. Die geheime Bruderschaft des Tarot, zu der auch der Erste Spion gehört, stellt sich den teuflischen Plänen der Unsterblichen entgegen. Aber die Widerständler haben wenig in der Hand – nur das Tarot der Gezeiten, die heilige Überlieferung und ein paar mutige Verbündete.

Arkady, die junge Fürstin von Lebec, soll der Bruderschaft helfen, die Unsterblichen ausfindig zu machen und zu bekämpfen. Doch Arkady muss ihren Gemahl auf diplomatischer Mission nach Torlenien begleiten. Die Sitten in diesem Land, wo Frauen nur tief verschleiert ausgehen dürfen, legen der selbstbewussten Fürstin ungewohnte Fesseln an. Allerdings lernt Arkady die kaiserliche Gemahlin kennen und wird von der mächtigen Frau in ebenso befremdliche wie gefährliche Geheimnisse eingeweiht …

Über die Autorin

Jennifer Fallon wurde in Carlton, Australien geboren. 1990 begann sie mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen. Zehn Jahre später hielt sie mit ihrer ersten Veröffentlichung, der »Dämonenkind«-Saga, auf den Bestsellerlisten Einzug und feierte ihren internationalen Durchbruch. Mit der »Gezeitenstern«-Saga konnte sie diesen Erfolg fortsetzen. Jennifer Fallon ist neben Trudi Canavan und Sara Douglass die dritte Fantasy-Bestseller-Autorin aus Australien.

JENNIFER FALLON

Die Götter von Amyrantha

Die Gezeitenstern-Saga

Band 2

Aus dem Englischen von Katrin Kremmler und Rene Satzer

beBEYOND

Digitale Ausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »The Gods of Amyrantha« bei HarperCollinsPublishers Australia Pty Limited.

Die deutschsprachige Erstausgabe erschien 2008 bei LYX ausschließlich in gedruckter Form.

Copyright © 2007 by Jennifer Fallon

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Else Laudan

Karte: Russell Kirkpatrick

Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Kirstin Osenauunter Verwendung von Motiven von © Romanova Ekaterina/Shutterstock, © Vector Tradition SM/Shutterstock, © kiuikson/Shutterstock, © Pascal RATEAU/Shutterstock

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4571-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Susie, Edwina, Ashley, John und all die wunderbaren Leute vom »Oscars«, dem besten Restaurant in der Galaxis

Steigende Flut

Prolog

Dreitausend Jahre zuvor. Kurz vor dem vierten Weltenende …

Das Schwierigste beim Foltern, hatte Balen festgestellt, war die mentale Anstrengung, die Schmerzen des Opfers nicht mitzufühlen. Man musste einen Abstand schaffen. Löse dich von dem Teil von dir, der menschlich ist, und sieh zu, dass er dir fernbleibt. Am wichtigsten ist, sich stets daran zu erinnern, dass die Kreatur, die du folterst, kein Mensch ist.

Letzteres war nicht leicht. Lyna sah aus wie ein Mensch. Mit ihren langen schwarzen Haaren und den gefühlvollen dunklen Augen glich sie eher Balens verheirateter Tochter als einem Monster.

Balen schloss die Augen und versuchte ihre Schreie auszublenden. Ich tuedas, weil ich muss, versicherte er sich und stieß die abgetrennte Hand in die glühenden Kohlen der Esse. Es muss einen Weg geben, diese Wesen zu töten.

Die amputierte Hand bräunte sich und begann zu schmoren. Das tropfende Blut zischte und spritzte. Es roch dem gestrigen Braten entsetzlich ähnlich.

Es widerspricht jeder Logik, zu denken, dass etwas nicht sterben kann.

Logik hin oder her, sie hatten beim Töten ihrer unsterblichen Gefangenen bisher kein Glück gehabt.

Vielleicht hatten sie ihr Glück schon damit verbraucht, sie überhaupt aufzuspüren. Allerdings stieg die Flut, und mit ihr wuchs die Macht der Unsterblichen. Sie kümmerten sich immer nachlässiger darum, ihre Identität zu verbergen. Balen und seine Landsleute hätten keine Chance gehabt, einen echten Gezeitenfürsten gefangen zu nehmen. Lyna war glücklicherweise eine der niederen Unsterblichen. Sie besaß nicht die zerstörerische Macht von Cayal oder Pellys oder Tryan. Sie stand zwar mit dem Strom der Gezeiten in Verbindung wie alle Unsterblichen, aber sie konnte nicht viel damit anrichten.

Das war großes Glück. Wenn sie eine Gezeitenfürstin wäre, oder wenn die kosmische Flut schon ihren Höchststand erreicht hätte … nun, nach allem, was sie ihr in den vergangenen Wochen angetan hatten – wenn sie die Macht hätte, Vergeltung zu üben, wären sie längst alle tot.

Und mit ihnen vermutlich jeder im Umkreis von hundert Meilen.

Balen wappnete sich und sah sie an. Nackt und schmutzig krümmte sich Lyna zusammengerollt auf dem Boden ihres Verschlages und wimmerte vom Schmerz der Amputation. Ungeachtet der Verbrennungen, der Stichwunden und sogar der eben abgeschlagenen Hand – er hatte prüfen wollen, ob sie verbluten würde – war der Rest ihres Körpers gänzlich bar aller Spuren. Alles, was er ihr angetan hatte, war geheilt, und je fürchterlicher die Verletzung, desto schneller schien sie sich davon zu erholen.

Gezeiten, was mach ich bloß?

Vielleicht waren diese widernatürlichen Geschöpfe wirklich unsterblich. Vielleicht gab es kein Ende für sie. Niemals. Vielleicht würden sie in einer unvorstellbaren Zeit in der Zukunft, wenn das Universum erkaltete, immer noch da sein, einsam und lebendig, mit nichts als ihrer endlosen Existenz.

Das ist unmöglich, versicherte Balen sich selbst. Außerdem, bis wir das Ende der Zeit nicht erreicht haben, woher können wir wissen, dass sie so lange überleben?

»Hat sie sich schon wieder erholt?«

Balen blickte auf und sah seinen Sohn im Eingang zur Schmiede stehen. Der Junge war auf morbide Weise fasziniert von dem, was sein Vater tat. Vielleicht ein wenig zu fasziniert. Er befürchtete, der junge Mann sah in dem Käfig nicht das Monster, das sich die eben von seinem Vater abgehackte Hand nachwachsen ließ, sondern lediglich eine gefolterte junge Frau. Mit siebzehn Jahren war Minark zu jung, um die Gefahr, die Unsterblichkeit für die Sterblichen seiner Welt bedeutete, richtig einzuschätzen.

»Es scheint so.«

»Kann ich sie sehen?«

Balen runzelte die Stirn. »Warum?«

»Ich … ich kann einfach nicht glauben, dass sie nicht verletzt ist.«

Balen blickte über die Schulter auf die kläglich wimmernde junge Frau. Er wusste nicht, wie alt sie wirklich war – fünftausend Jahre … oder zehntausend? Sie sah nicht älter aus als fünfundzwanzig. Jedenfalls jung genug, dass ein leicht zu beeindruckender Jugendlicher sie anziehend finden musste. Gerade hatte die Blutung aufgehört, und neues Gewebe begann als Knochen und Fleisch Formen auszubilden. »Sie ist verwundbar, das ist sicher, Minark, und sie fühlt Schmerzen. Aber sie heilt immer wieder zusammen.«

»Darf ich …?«

»Nein«, sagte er. Minark nahm viel zu viel Anteil an den Leiden der gefolterten Unsterblichen. Das Letzte, was er brauchte, war, dass der Junge sich hier nachts hereinschlich, um sein Mitleid zu bekunden. Oder Schlimmeres. Lyna war eine Hure gewesen, bevor sie unsterblich wurde. Sie würde nicht zögern, ihre Reize gegen jemanden einzusetzen, der so arglos und gutgläubig war wie sein Sohn. »Was machst du überhaupt hier, Junge? Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dich hier nicht blicken lassen.«

Minark wagte sich ein paar Schritte tiefer in die Schmiede hinein und reckte sich, um an seinem Vater vorbeizusehen. »Vorak schickt mich.«

Balen trat einen Schritt zur Seite, um seinem Sohn den Blick auf die nackte Frau mit der nachwachsenden Hand zu verstellen. »Was will er, Minark?«

»Er kam gerade von den Märkten in L’bekken. Er sagt, da fragt jemand im Dorf herum. Nach ihr«, fügte er hinzu und wies auf die Unsterbliche.

»Hat er gesagt, wer?«

Minark schüttelte den Kopf. »Nur dass jemand herumgefragt hat. Und dann in unsere Richtung verschwand.«

Balen fluchte still. Sie konnten ihr doch noch nicht auf der Spur sein, oder? Und wenn – war es ein anderer niederer Unsterblicher, was schlimm genug wäre, oder einer der Gezeitenfürsten persönlich? Ihn schauderte bei dem Gedanken. Wenn jemand wie Cayal oder Tryan oder Kentravyon Lyna so vorfand, in einen Käfig gesperrt und gefoltert, dann würde in Kürze jeder in diesem Dorf tot sein, und vermutlich auch jeder in der Umgebung von L’bekken.

»Dieser Mann war ein Fremder, ja?«

»Das hab ich doch gesagt, oder?« Minark lehnte sich ein wenig nach links, um einen Blick auf die Unsterbliche zu erhaschen. »Hast du versucht, sie in kleinere Stücke zu schneiden? Vorak meinte, wenn du ihr Fleisch an die Hunde verfütterst …«

»Sie heilt zu schnell«, sagte er und wünschte, Vorak würde seine wilden Theorien nicht mit Minark diskutieren. »Je schneller man schneidet, desto schneller heilt sie. Hatte Vorak den Eindruck, dass der Fremde ein Unsterblicher war?«

Minark zuckte die Achseln. »Hat er nicht gesagt. Sollte nur sagen, dass jemand nach Lyna gefragt hat.«

Balen blickte über die Schulter auf seine Gefangene und fragte sich, ob er sie einfach gehen lassen sollte. Man hatte ihr die Augen verbunden, als man sie in den Straßen von L’bekken überwältigt und in Ketten hierher gebracht hatte. Wenn sie sie weit genug vom Dorf wegbrachten und aussetzten, war es sehr unwahrscheinlich, dass sie diesen Ort wiederfand.

Aber wie oft bekam man eine Chance wie diese? Wie oft gelang es, einen Unsterblichen zu fangen? Wie oft hatten sie ihre Theorien, wie denen vielleicht beizukommen war, schon erproben können?

Die Möglichkeiten gegen die Risiken … das war Balens Problem.

»Ich habe dich gewarnt.« Die junge Frau richtete sich auf ihre Ellenbogen auf.

Er sah sie an. Lynas Gesicht war verdreckt und gestreift von Tränen. Mit der Botschaft im Ohr, dass jemand sie suchte, sammelten sich ihre Kräfte. An ihrem Arm hatte sich schon ein frischer Stumpf gebildet, obgleich es erst Minuten her war, dass er ihre Hand abgehackt hatte.

»Du wirst krepieren für das, was du mir angetan hast, du elendes sterbliches Schwein.«

»Es ist wahrscheinlich bloß einer deiner Freier«, sagte Balen und hoffte, dass er furchtlos klang. »Gute Huren haben Freier, die wiederkommen, hat man mir gesagt, und ich hörte auch, du warst eine sehr gute Hure.«

Sie lächelte, was auf Balen etwas verstörend wirkte. Vor drei Tagen hatte er so fürchterlich auf sie eingeprügelt, dass die meisten ihrer Zähne abgebrochen waren. Jetzt lächelte ihn ein ebenmäßiges weißes Gebiss an und verhöhnte ihn mit seiner unnatürlichen Vollkommenheit. »Meine Brüder werden diesen Ort auslöschen«, drohte sie und stemmte sich hoch, bis sie auf den Füßen stand. »Sie werden dieses mitleiderregende Dorf dem Erdboden gleichmachen. Sie töten dich, sie töten deinen Sohn, deine Frau, deine Enkel und jeden anderen in diesem Tal.«

»Sie müssen dich erst mal finden, du unsterbliche Hure«, erwiderte Minark lahm.

Lyna lächelte trotz der Schmerzen ihrer regenerierenden Hand. »Mich finden? Junge, das ist der leichteste Teil.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, wir können einander in den Gezeiten spüren, du Idiot. Wenn ein anderer Unsterblicher in der Nähe ist, fühlt er meine Gegenwart, und du kannst nichts tun, um zu verhindern, dass er mich findet – außer mich zu töten. Und das habt ihr ja schon versucht, nicht? Ich wette, es tut euch mächtig leid, dass keiner eurer brillanten kleinen Einfälle funktioniert hat.«

Balen sah keinen Anlass, an ihrer Behauptung zu zweifeln. Stattdessen wurde er sehr nervös. Ihr wachsender Trotz stand in solchem Widerspruch zu dem Mangel an Widerstand, den sie bisher gezeigt hatte, dass er sich ernsthaft nach dem Grund fragen musste.

Wurzelte ihre Zuversicht in der Nachricht, dass einer ihrer unsterblichen Brüder in der Nähe war? Wir können einander in den Gezeiten spüren, hatte sie gesagt. Das bedeutete, wenn ein anderer Unsterblicher ihre Nähe fühlen konnte, dann konnte sie auch … Gezeiten!

»Geh ins Haus, schnell!«, befahl er Minark. »Sag deiner Mutter und deiner Schwester, sie sollen schleunigst packen, nur was sie tragen können. Wir müssen fliehen. Los!«

»Fliehen?«, fragte Minark verwirrt. »Warum sollen wir fliehen? Vorak sagte, der Fremde hat nach ihr gefragt und ist dann weitergezogen. Keiner hat ihm was gesagt.«

»Das musste auch keiner, Minark«, sagte Balen und schob ihn zum Ausgang der Schmiede. »Hast du ihr nicht zugehört? Sie können sich gegenseitig in den Gezeiten spüren. Er weiß, dass sie hier ist. Das heißt, er ist wahrscheinlich auf dem Weg. Und wenn er uns hier mit ihr findet …«

»Aber es könnte auch einer der niederen Unsterblichen sein, Taryx oder Rance …«

»Bist du willens, für diese Vermutung das Leben deiner Mutter zu riskieren, Sohn?«

Der Junge zögerte noch einen Augenblick und starrte auf die unsterbliche Frau, dann fuhr er herum und floh. Balen griff sich einen Hammer von der Esse und schob ihn in den Gürtel für den Fall, dass er eine Waffe brauchte, dann wandte er sich Lyna zu. Sie stand an den Gitterstäben des Käfigs, den sie für ihre Verwahrung gebaut hatten. Aus ihrem Handstumpf sprossen nun bereits kurze Fingerstummel. Obwohl sie im Augenblick noch heftige Schmerzen litt, nahm er an, dass sie jeden Moment geheilt sein würde. Ihre Genesung beschleunigte sich zweifellos noch, seit sie wusste, dass einer ihrer Art in unmittelbarer Nähe war.

»Es war nichts Persönliches«, sagte er, als könne eine Erklärung oder Entschuldigung jetzt noch etwas ändern.

Sie starrte ihn wütend an und reckte ihren verstümmelten Arm. »Glaub mir Balen, du hast es äußerst persönlich gemacht.«

Er schüttelte den Kopf und fragte sich, was er zu erreichen hoffte, indem er sich noch länger hier herumdrückte und Erklärungen stammelte. Er hatte diese Kreatur über Wochen unablässig gefoltert. Es war fraglos zu spät, um Verzeihung zu bitten. »Du musst ihnen sagen … dass ich das verbrochen habe. Nicht meine Familie.«

»Ich bin sicher, das wird ihnen ein großer Trost sein, wenn sie sterben.«

Balen starrte sie an. Womöglich begriff er erst jetzt die Tragweite dessen, was er angerichtet hatte. »Gibt es keine Hoffnung auf Gnade?«

Lyna musterte ihn forschend und nickte dann. »Anders als du denkst, sind wir keine Bestien, Balen. Du willst Gnade für dich und deine Familie?« Die Unsterbliche lächelte kühl und zeigte ihre perfekten Zähne. »Dann werde ich dafür sorgen, dass du sie bekommst.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Es wird mir eine Freude sein. Wenn meine Freunde kommen, um mich zu befreien, werde ich anregen, dass sie dir all die Gnade zuteilwerden lassen, die du mir erwiesen hast.«

»Wenn deine Freunde kommen«, betonte er.

»Oh, da kannst du jetzt sicher sein«, bemerkte eine tiefe Stimme hinter ihm.

Erschrocken fuhr Balen herum und erblickte einen Fremden, der im Eingang der Schmiede stand. Er war ein großer Mann in einer ledernen Rüstung, darüber fiel ein dunkelroter Umhang, den auf der rechten Schulter eine juwelenbesetzte Fibel zusammenhielt.

»Kentravyon!«, rief Lyna, sobald sie ihn sah, obwohl Balen keiner Vorstellung mehr bedurfte.

Er zog sich in Richtung der Esse zurück. Natürlich hatte er keine Chance, einen Unsterblichen zu besiegen, schon gar keinen so mächtigen Gezeitenfürsten wie Kentravyon. Aber möglicherweise konnte er ihn lange genug beschäftigen, um den anderen Zeit zur Flucht zu verschaffen.

»Du hast meine Freundin verletzt«, sagte der Unsterbliche und kam auf ihn zu.

»Das war … wir wollten nur …«

»Ich weiß, was ihr wolltet«, sagte Kentravyon. Er klang gar nicht wütend. Er klang gelassen, beinahe gelangweilt. »Ihr habt versucht herauszufinden, wie man uns tötet, stimmt’s?«

Balen nickte und fühlte den warmen Stein der Esse im Rücken. Es war zu spät zum Davonlaufen. Er konnte nirgends mehr hin.

»Es muss schwer für euch sein, euch mit der Vorstellung von Unsterblichkeit abzufinden«, sagte der Gezeitenfürst und kam näher. »Ich halte dir das zugute.«

Sein Tonfall klang viel vernünftiger, als Balen erwartet hätte. Ein kleiner Funken Hoffnung blitzte in ihm auf. Vielleicht waren die Gerüchte, die er über Kentravyon gehört hatte, einfach nur das: Gerüchte, sonst nichts …

Der Gezeitenfürst trat direkt vor ihn. Er lächelte und hob die Hände. Balen wich zurück, aber der Unsterbliche versuchte gar nicht, ihn zu schlagen. Er nahm Balens Gesicht zwischen seine Hände, mit einer Zärtlichkeit, die Balen erschreckte, und lächelte gütig.

»Ihr armen, armen Sterblichen«, flüsterte er sanft, verführerisch. »Ihr wollt so sehnsüchtig, was wir haben, nicht wahr?«

Balen konnte nicht antworten. Kentravyons behandschuhte Finger streichelten sein Gesicht. Die Welt schien sich zurückzuziehen. Selbst Lynas Wimmern verschwand im Hintergrund …

Kentravyon beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund, dann richtete er sich wieder auf und lächelte Balen an. »Ich vergebe dir.«

Balens Körper erschlaffte vor Erleichterung. »Mein Fürst …«

»Und weil ich dir vergebe, werde ich dich davor bewahren, mit anzusehen, was ich deiner Familie antue. Und deinem Dorf. Und jedem, der denkt, er könnte seine Götter foltern.«

Es waren der Blick aus der Tiefe der Augen des Unsterblichen und seine Worte, die Balen starr vor Angst werden ließen. Da war Vergebung, sicher, aber es war Vergebung ohne Erbarmen. Balen versuchte sich loszumachen, aber der Gezeitenfürst hielt ihn fest und legte ihm beide Daumen auf die Augenlider.

Langsam erhöhte Kentravyon den Druck auf Balens Augen, bis es unerträglich wurde. Balen hörte Schreie und merkte, dass es seine eigene Stimme war. Der Schmerz raubte ihm den Verstand, wurde schlimmer und schlimmer. Das linke Auge platzte einen Moment vor dem rechten. Blut strömte aus seinen Augenhöhlen, und sein Schreien schmeckte salzig, als sich das Blut mit den Tränen mischte.

Kentravyon ließ ihn los. Balen sackte zu Boden und schluchzte bitterlich, nicht nur vor Schmerzen, sondern auch vor Verzweiflung über seinen bevorstehenden Tod.

Dies war nur der Auftakt gewesen, das war ihm klar. Er hatte nicht mehr lange zu leben.

In weiter Ferne hörte er ein Schloss rasseln und begriff, dass Kentravyon Lyna aus dem Käfig befreite. Gleich darauf krachte ein Fußtritt in seine Rippen. Er ächzte unter der Gewalt des Stoßes und rollte sich auf die Seite, um dem nächsten Treffer zu entgehen. Die Welt blieb schwarz hinter seinen zerstörten Augen. Aus den blutigen Höhlen quoll gallertartiger Matsch.

»Dreckschwein!«

»Hey, ganz ruhig, Lyna … das war nicht nett.« Kentravyons Stimme klang immer noch friedlich … geradezu beschwichtigend …

»Ich töte diesen sadistischen kleinen Sack.«

»Nein, meine Liebe, das tust du nicht.«

»Er hat mir die Hand abgehackt!«

»Und du wirst gerächt werden«, versprach der Gezeitenfürst. »Aber dein Peiniger muss wissen, wie du gerächt wirst, sonst kann er keine Vergebung erfahren.«

»Wie soll er denn etwas mitkriegen?«, gab sie ungeduldig zurück. »Du hast ihm die Augen rausgedrückt.«

»Aber er kann noch hören«, erklärte Kentravyon.

Balen wimmerte vor Angst, aber nicht mehr um sich. Gezeiten, bitte lasst meine Familie sicher von hier fort sein …

Die Gezeiten ignorierten das Gnadengesuch. Seine Familie war noch im Haus, wie er bald feststellte. Die Dörfler schliefen in ihren Heimen und ahnten nichts von der Gefahr, die er mit seiner Arroganz über sie gebracht hatte.

Er konnte sie natürlich nicht sehen.

Aber als er so an der Esse lag und sie langsam erkalten fühlte, fand er heraus, dass Kentravyon recht gehabt hatte.

Er konnte – und musste – ihre Schreie mit anhören, als sie alle starben.

ERSTER TEIL

Gezeitentausch, und wieder kommt die FlutDer frischen Toten Halde immer schon –Die Knochen derer, die uns widerstandenund auch die Herzen derer, die da flohen.

– White HorsesRudyard Kipling (1865–1936)

1

Nur jemand, der sehr genau hinsah, konnte die getarnte Chamäleon-Crasii vor dem filigranen Detailreichtum des Wandgemäldes erkennen. Die stilisierte Jagdszene im Promeniersaal der Damen entfaltete sich auf der Westwand und lief über die ganze Länge des riesigen dritten Stockwerks im Königsschloss von Caelum. Der ganze Saal bildete eine lange, schmale Promenade, wo in den langen caelischen Wintern, wenn der Palast manchmal für Monate eingeschneit war, die Hofdamen ihrer Wanderlust frönen konnten. Glücklicherweise war jetzt Sommer, sonst hätte Tiji eine ernste Unterkühlung riskiert, nackt wie sie war. Ihre wandlungsfähige Haut spiegelte die Muster und Farben des Wandbilds, und so konnte sie unbemerkt den Gesprächen lauschen, die an diesem bei Hof beliebten Treffpunkt stattfanden.

Tiji widerstand dem Drang, ihre juckende Nase zu kratzen. Als sich die Tür am Ende der Halle öffnete, verfiel sie in den Zustand übernatürlicher Reglosigkeit, der nur ihrer Art eigen war. Wie sie gehofft hatte, waren es die Gäste der Königin von Caelum. Die Großfürstin von Torfail und ihre Kinder traten ein und schlossen sorgfältig die Tür hinter sich, bevor sie gemächlich auf die Stelle zuflanierten, wo Tiji stand und so vollständig mit der Wand verschmolz, dass sie fast kein eigenständiges Wesen mehr war.

»Die Königin hat uns ihre Antwort mitgeteilt«, erklärte die Großfürstin im Näherkommen.

»Und?«, hakte die Tochter nach. Wie ihre Mutter trug sie einen prachtvollen Reifrock aus schwerer Brokatseide, dennoch fand Tiji sie äußerst unscheinbar. Sie hatte blasse Augen und schwarze Haare, kunstvoll frisiert nach der in Caelum derzeit angesagten Mode. Tiji, selbst völlig haarlos, fragte sich oft, wie die Menschen mit all dem Striegeln, Waschen, Flechten und Aufstecken dieses ständig im Wege hängenden Gewuchers zurechtkamen. Sie war überzeugt, dass schon der geringfügigste Haarwuchs sie in den Wahnsinn treiben würde.

»Und sie hat Ja gesagt«, verkündete die Großfürstin. Sie sah ihren Sohn an und lächelte. »Es sieht aus, als würdest du bald heiraten, mein Lieber.«

Der junge Mann war außerordentlich hübsch, mit dunklen Haaren, ebenmäßigem Körperbau und Augen in der Farbe der Morgendämmerung, die von langen dunklen Wimpern umrahmt waren. Er schien um die zwanzig zu sein, allerdings ruinierte jetzt eine finstere Schmollmiene seine Schönheit. »Gezeiten! Muss das sein?«

Seine Mutter zuckte die Achseln. »Es ist der schnellste Weg, den Thron zu sichern.«

»Sie ist ein erbärmliches Kind, Mutter.«

»Dieses erbärmliche Kind wird Königin, sobald es heiratet«, erinnerte ihn seine Schwester. »Das macht dich zum König, wenn du ihr Mann bist, weißt du.« Die letzte Anmerkung war eine klare Stichelei, um ihren Bruder zu reizen.

»Sie werden erwarten, dass ich mit ihr schlafe.« Der junge Mann schien sehr ergrimmt über diese Aussicht.

Ganz ins Gespräch vertieft näherte sich die Gruppe Tiji. Die Schwester setzte ein schmutziges Lächeln auf. »Was dich umtreibt, sind aber doch wohl keine moralischen Bedenken, Try?«

Tiji befand sich seit einem Monat auf geheimer Mission im Palast von Caelum, doch noch nie war sie so nahe an die Großfürstin und ihre Familie herangekommen. Gerüchte über ihre Ankunft hatten Tiji hergeführt: Declan Hawkes war zu Ohren gekommen, dass nach der möglicherweise folgenschweren Weigerung der Glaebaner, ihren Kronprinzen mit der Erbin des caelischen Thrones zu vermählen, ein neuer Bewerber für Prinzessin Nyah auf der Bildfläche erschienen sei. Declan wollte wissen, wer das war, also zog er Tiji aus Herino ab und schickte sie nach Norden, um auszukundschaften, was in Wahrheit hinter diesem neuen Antrag steckte.

Die Wahrheit lag jetzt zum Greifen nahe vor ihr, und darüber war Tiji heilfroh. Caelum war eine kalte und trostlose Gegend, und wenn sie ihre Chamäleontarnung einsetzte, konnte sie keine Kleidung tragen, die ihren Körper vor der Witterung schützte. Je schneller sie herausfand, was dieses Häuflein habgieriger Fremder im Schilde führte, desto schneller konnte sie nach Hause aufbrechen.

»Was mich umtreibt, ist, dass die Flut steigt und ich nicht einsehe, wozu wir diese lächerliche Scharade aufrechterhalten sollen«, erwiderte der junge Mann.

Im selben Augenblick begann Tijis Haut zu prickeln. Eine Brechreiz verursachende Übelkeit flutete durch ihren Körper und störte ihre Konzentration, was ihre Tarnung gefährdete. Das Trio rückte noch näher und mit ihm die Gefahr. Diese ekelerregende Wahrnehmung war entsetzlich – und ihr durchaus vertraut, auch wenn sie noch ein Kind gewesen war, als sie es zuletzt gespürt hatte. Damals in Senestra, ehe sie Declan Hawkes kennenlernte.

Dieses Gefühl war der Grund, warum sie für Declan Hawkes arbeitete.

Suzerain.

Dass dieses Trio nicht war, was es vorgab, überraschte Tiji wenig. Als Declan hörte, die Großfürstin von Torfail habe im Namen ihres Sohnes um die Hand von Prinzessin Nyah angehalten, schöpfte er sofort Verdacht. Er war ziemlich sicher, dass es einen Ort namens Torfail nicht gab – weder in Caelum noch sonstwo auf Amyrantha –, geschweige denn ein Großfürstentum. Aber Declans Argwohn bezog sich auf ein paar ehrgeizige Schurken oder im Höchstfall Spione eines Nachbarstaates, die mit einem eigenen Kandidaten die caelische Erbfolge manipulieren wollten.

Er rechnete genauso wenig wie Tiji mit drei Unsterblichen, die es auf die Krone von Glaebas nächsten Nachbarn abgesehen hatten.

Sie unterdrückte die Angst und die Übelkeit, die alle Arks in Gegenwart eines Unsterblichen fühlen, und zwang sich zur Konzentration.

»Es geht einfach leichter so«, sagte die ältere Frau. »Und viel schneller. Du heiratest das Kind, sie kommt auf den Thron, du wirst König, dann rufe ich die anderen her, und wir haben für die nächsten dreihundert Jahre ausgesorgt. Warum sollen wir uns abmühen, dasselbe mit Gewalt zu erreichen? Deine einzige Arbeit besteht darin, nett zu lächeln und die kleine Göre nicht vor der Hochzeit zu erschrecken.«

»Das ist entwürdigend«, klagte ihr Sohn. »Ich beherrsche die Gezeiten, verdammt noch mal! Ich sollte überhaupt nicht arbeiten müssen.«

»Ein Flüstern der wiederkehrenden Flut genügt, und schon ist jede Arbeit entwürdigend?«, lachte die unscheinbare junge Frau. »Gezeiten, Tryan, vor einem Jahrhundert hast du dich noch in Parve versteckt und als Schuster ausgegeben.«

Tryan? Gezeiten, es ist die Kaiserin über die fünf Reiche!

Tiji zwang ihren rasenden Puls zur Ruhe. Wenn sie sich vom Entsetzen übermannen ließ, würde sie ihre Tarnung einbüßen. Ein solcher Fehler hätte unverzüglich ihre Vernichtung zur Folge. Sie musste Teil der Wand bleiben, ganz gleich, wie lange dies auch dauern mochte. Es war entscheidend, dass sie mit heiler Haut hier rauskam, um die Neuigkeit nach Glaeba zu bringen.

»Ich habe keine Zeit für euer Gezänk«, bellte Syrolee, ehe Tryan antworten konnte. »Ihr werdet beide tun, was zu tun ist, und damit basta. Hat einer von euch Nachricht von euren Brüdern?«

Elyssa nickte, aber sie grinste Tryan hämisch an. »Ein Kurier kam heute Morgen, als du mit der Königin verhandelt hast. Krydence hat Gerüchte vernommen, denen zufolge Cayal in Glaeba sein soll.«

Tryan verdrehte angewidert die Augen. »Gezeiten, das hat uns noch gefehlt.«

»Es sind nur Gerüchte, Tryan.«

Der junge Mann sah seine Schwester abschätzig an. »Die du nur allzu gern bestätigt wüsstest, kann ich mir denken.«

»Was soll das heißen?«, fragte Elyssa scharf.

»Als ob du das nicht weißt.«

»Tryan, lass deine Schwester in Ruhe. Gibt es nichts Neues von Rance oder Engarhod?«

»Als ich zuletzt von Rance hörte, war er weit im Süden, fast schon in Jelidien«, gab Tryan zu bedenken. »Er kann überall sein. Und was Engarhod angeht, würde er eher mit dir Kontakt aufnehmen als mit uns.«

Syrolee nickte. »Wenn er hört, dass die Hochzeit stattfindet, kommt er bestimmt.«

»Aber ich werde König«, stellte Tryan klar.

Syrolees Augen wurden schmal. »Was soll das heißen?«

»Mutterherz, das soll heißen, dass ich König von Caelum werde. Nicht du. Und ganz sicher nicht Engarhod. Wenn ich schon dieses Kind in mein Bett nehmen muss, um diesen armseligen Thron zu beanspruchen, dann gebe ich ihn nicht her. Ich werd mir das verdammte Ding verdienen, und du wirst nicht Engarhod holen und mich absetzen, nur weil du gern Kaiserin spielst.«

Syrolee starrte ihren Sohn finster an, dann lächelte sie gezwungen. »Lass uns den Thron erst mal haben, mein Lieber, ehe wir uns streiten, wer darauf sitzen soll. Ihr beide wisst, was ihr zu tun habt. Ich erwarte, dass ihr es tut.« Damit drehte sich die Kaiserin über die fünf Reiche auf dem Absatz um, durchschritt den langen Promeniersaal der Damen bis zum Ende und schlug krachend die Tür hinter sich zu.

Tiji hielt den Atem an und wartete, dass die anderen ihr folgten, doch die Geschwister waren mit ihrer Kabbelei noch nicht fertig.

»Sieh es mal von der guten Seite, Try«, schlug Elyssa vor. »Nyah ist erst zehn Jahre alt. Sie ist zu jung, um zu bemerken, was für ein lausiger Liebhaber du bist.«

»Immerhin habe ich Liebschaften.«

Elyssas Augen wurden schmal. »Wage es nicht …«

»Womit willst du denn drohen?«, erkundigte sich Tryan. Da Elyssa offenbar keine Antwort parat hatte, lächelte er. »Vielleicht ist Cayal wirklich in Glaeba, Lyss. Vielleicht kommt er ja doch noch zu dir. Ich meine … Gezeiten, wie lange ist es her, dass du ihn zuletzt gesehen hast? Er muss doch inzwischen alles gebumst haben, was auf Amyrantha lebt und Beine hat. Ich bin sicher, dass du auch bald drankommst.«

Das scharfe Klatschen, mit dem Elyssas Hand das Gesicht ihres Bruders traf, schreckte Tiji fast aus ihrer Tarnung.

»Mistkerl.«

Ihr Bruder lächelte, und Tiji lief es kalt den Rücken runter. Solch nackte Bosheit, solch erbarmungslose Gehässigkeit überstieg ihr Fassungsvermögen. Das Tarot nannte ihn ›Tryan der Teufel‹, und Tiji begann zu verstehen, warum. Sie spürte, wie ihre Tarnung sich auflöste, und zwang sie wieder unter Kontrolle. Voll aufeinander eingeschossen, schienen weder Tryan noch Elyssa etwas bemerkt zu haben.

»Kann sein, dass ich ein Mistkerl bin, aber bald bin ich König. Und diesmal hab ich nicht vor, das mit irgendwem zu teilen.«

»Dazu wird Syrolee auch noch etwas zu sagen haben.«

»Soll sie doch reden, was immer sie will. Soll sie doch irgendwo anders Kaiserin über die fünf Reiche spielen, wenn sie es denn darauf anlegt. Ich bin ein Gezeitenfürst. Ich habe es satt, den Lakaien zu geben.«

»Vielleicht ist das alles, wozu du taugst, Tryan.«

»Das wird sich bald genug erweisen, Elyssa.«

Seine Schwester schien darauf keine Entgegnung zu haben. Sie reckte trotzig das Haupt, raffte ihre Röcke und stelzte zur Tür. Tiji schloss erleichtert die Augen und erwartete, dass Tryan ihr folgen würde, aber die gestiefelten Schritte, die sie hörte, entfernten sich nicht.

Sie schienen vielmehr näher zu kommen …

Eine starke Hand schloss sich um Tijis Kehle, bevor sie begriff, was vorging. Sie riss die Augen auf. Der Schreck machte ihre Tarnung zunichte und da stand sie, nackt und verwundbar, mit nichts als den schimmernden Schuppen ihrer Haut am Leib. Sie konnte nicht atmen. Tryans Gesicht war keine Handbreit entfernt, sein Blick bohrte sich in ihren.

»Was machst du hier, Crasiischlampe?«

»Ich atme nur, um Euch zu dienen, mein Fürst«, keuchte Tiji. Sie mochte eine Ark sein, aber sie kannte das Protokoll. Wenn sie überzeugend angstschlotterndes Entsetzen demonstrierte – und dazu musste sie im Augenblick nicht mal schauspielern –, hatte er keinen Anlass zu bezweifeln, dass sie etwas anderes war als eine beliebige demutsvolle Crasii. Vielleicht ein Spitzel, den die Königin von Caelum auf die Großfürstin angesetzt hatte.

»Warum spionierst du uns nach?«

Tiji antwortete nicht. Sie hatte ihren Atem damit verbraucht, ihn ihrer Unterwürfigkeit zu versichern.

Es schien, als sei Tryan ohnehin nicht an einer Erklärung interessiert. Er ließ los, stieß sie weg und kehrte ihr den Rücken. »Es ist mir egal, warum. Du wirst nichts von dem wiederholen, was du gehört hast.«

»Ich atme nur, um Euch zu dienen«, ächzte sie mit kippender Stimme und brach zusammen.

Tryan war schon auf dem Weg zur Tür, ihre Antwort hatte er gar nicht mehr wahrgenommen.

Aber warum sollte er auch? Die Crasii waren Sklaven. Bedingungsloser Gehorsam war ihnen angezüchtet, sodass sie ohne Fragen den Befehlen ihrer Herren Folge leisteten. Tryan hatte keinen Grund, an ihrer Demut zu zweifeln. Wie alle Gezeitenfürsten glaubte auch er, dass die Zucht der Reptilien-Crasii vor ein paar Jahrtausenden restlos von rebellischen Tendenzen gesäubert worden war. Er hatte keinen Grund, zu fürchten, was er und seine Mitverschwörerinnen besprochen hatten, könnte je diesen Raum verlassen – denn Crasii waren nicht fähig, seinem Befehl zuwiderzuhandeln.

Es sei denn, ein Crasii war in Wirklichkeit ein Ark.

Es sei denn, der Zwang zum Gehorsam war nicht so zwingend, wie Tryan annahm. Wenn die Gezeitenfürsten eine Schwäche hatten, dann war es ihre Unfähigkeit, hörige Crasii von Arks zu unterscheiden, solange ein Ark keinen direkten Befehl missachtete.

Und Tiji war eine Ark. Rekrutiert und ausgebildet von den Feinden der Gezeitenfürsten und ihnen gegenüber unbedingt loyal. Selbst wenn sie dafür sterben musste, würde sie Declan Hawkes und die Bruderschaft des Tarot wissen lassen, dass Tryan der Teufel die Regentschaft von Caelum zu übernehmen gedachte, und dass Engarhod, Krydence und Rance wahrscheinlich bald zu ihm stoßen würden.

Die Kaiserin über die fünf Reiche war wieder einmal am Werk.

2

Declan Hawkes bog und streckte seine Finger in der Hoffnung, den stechenden Schmerz zu lindern. Im Stillen verfluchte er sich für die Dummheit, einen Mann mit geschlossener Faust aufs Kinn zu schlagen. Seine Leute hatten sich schon einige Stunden mit diesem Gefangenen befasst. Hier unten in den schummerigen Zellen im Keller des Verlieses von Herino war es unwahrscheinlich, dass die Schreie der Gefangenen im Verhör die braven Bürger der Hauptstadt störten. Declan nahm jedoch an, dass er seine Zeit verschwendete. Das Risiko einzugehen, sich die zarten Knochen seiner Hand zu brechen, war eigentlich sträflicher Leichtsinn. Als könnte ein einzelner frustrierter Faustschlag vom Ersten Spion des Königs im Verhör dieses Mannes die Wende herbeiführen.

Der Gefangene war zerschlagen und voller Blutergüsse, aber ungebrochenen Geistes. Die Wucht von Declans Schlag ließ seinen Kopf nach hinten fliegen. Langsam richtete er sich wieder auf und starrte seine Peiniger an, wobei ihm der Schmerz das Wasser in die Augen trieb. »Ich verrate mein Land nicht.«

Declan tauschte einen raschen Blick mit Rye Barnes, der erfolglos versucht hatte, ein Geständnis aus diesem mutmaßlichen caelischen Spion herauszuprügeln – bis jetzt. Sie hatten ihn in der Kanalisation unter dem Palast aufgegriffen. Er behauptete, einer der Arbeiter zu sein, die die Abflüsse vom Spülschutt säuberten. Das war eine schwachsinnige Ausrede, denn kein Mensch arbeitete in den Kloaken von Herino, diese Beschäftigung war exklusiv amphiden Crasiisklaven vorbehalten. Wenn sich in den Jauchegruben des Palastes ein Mensch herumdrückte, gab es nur eine plausible Erklärung dafür: Er musste Übles im Schilde führen.

Die widerspenstige Äußerung des Gefangenen war ein Durchbruch. Bisher hatte er durch nichts auch nur angedeutet, dass seine Loyalität jemandem außerhalb Glaebas gehörte.

Vielleicht hatten die etlichen Stunden unaufhörlicher Züchtigung ihn doch zermürbt. Womöglich war die trotzige Entgegnung dieses Mannes sein letzter Versuch – mehr an sich selbst als an seine Peiniger gerichtet –, sich aus dem Sumpf zu ziehen, indem er sich an seinen Auftrag klammerte. Declan besaß und pflegte immerhin einen höllischen Ruf als skrupelloser, keine Gnade kennender Meisterspion. Das ging auf einen Rat seines Vorgängers zurück, den er mit großem Geschick befolgte. Zuweilen vergaß er selbst, wie erfolgreich er auf diesem Gebiet war, und musste sich ein Schmunzeln verkneifen.

»Bleib ruhig dabei, mein Freund«, sagte er. »Ich sorge dafür, dass Ricard Li erfährt, was für ein treuer Mitarbeiter du warst.« An Rye Barnes gewandt fügte er in desinteressiertem Ton hinzu: »Tötet ihn.«

Declan schlenderte zur Zellentür, und Rye zog eine furchterregende Klinge aus dem Gürtel. Sie war etwa so lang wie sein Unterarm, gekrümmt und auf einer Seite gezahnt. Als Mordwerkzeug ein denkbar unpraktisches Gerät, doch es verfehlte nie seine anregende Wirkung auf die Fantasie.

»Nein, wartet!«, schrie der Mann.

Declan lächelte, dann setzte er sein böses Gesicht auf und drehte sich zu dem Gefangenen um. »Warten? Worauf? Du hast deine Haltung erklärt. Du wirst dein Land niemals verraten. Meine Hochachtung. Aber ich habe noch anderes zu tun. Da du uns nichts zu sagen hast, erübrigt es sich für mich, noch mehr Zeit mit dir zu verschwenden. Warum soll ich versuchen, dir ein Geständnis abzupressen, da du uns letztlich doch nichts erzählst, wie du deutlich gemacht hast.« Er nickte Rye Barnes zu. »Versucht bitte, nicht so eine Sauerei zu machen, Rye. Ihr wisst ja, wie schwer das Blut von diesen Wänden abzuwaschen ist.«

Erneut wandte sich Declan zum Gehen. Diesmal kam er bis zur Türschwelle, dann war der Gefangene überzeugt, dass sie nicht blufften.

»Ich habe etwas gesucht!«

»Gesucht? Was?«, fragte Rye und drückte die böse gezackte Klinge an den Hals des Gefangenen.

»Ich weiß es nicht!«

Declan winkte Ryes Klinge beiseite und musterte den stark angeschlagenen Mann, der an den Ketten hing. »Wenn du nicht wusstest, wonach du suchst, wie konntest du es zu finden hoffen?«

Als der Mann kurz Declans Blick erwiderte, verschwand der letzte Schimmer von Widerstand aus seinen Augen. »Sie sagten, ich würde es erkennen, wenn ich es finde.«

»Und was genau soll es sein?«

Der Gefangene zuckte hilflos mit den Schultern. »Irgendein Artefakt. Etwas sehr Altes. Es soll vom letzten Weltenende übrig geblieben sein. Angeblich enthält es den Schlüssel zur Allmächtigkeit.«

Diesmal schmunzelte Declan ganz offen. »Ich verstehe. Du suchst den Schlüssel zur Allmacht in der Kanalisation des Palastes von Herino.« Er wandte sich an Rye Barnes. »Denn genau da würden wir den Schlüssel zur Allmacht natürlich aufbewahren, nicht wahr? In der Jauchegrube?«

Rye grinste schief. »Na klar, zusammen mit den Kronjuwelen.«

»Es ist die Wahrheit«, sagte der Caelaner. »Ich schwöre es.«

Seltsamerweise stellte Declan fest, dass er ihm glaubte. Die Geschichte ergab keinen Sinn, aber was er sagte, klang aufrichtig. Zudem wirkte der Kerl völlig gebrochen. Seine Miene zeigte den restlosen Mangel an Widerstand, der Declan unweigerlich verriet, wann der Kampfgeist einen Mann verlassen hatte.

Er hätte sich gern Zeit genommen, das weiter zu untersuchen, aber er war jetzt schon spät dran. Und das anberaumte Treffen, bei dem er erwartet wurde, war – im großen Plan der Dinge – weit wichtiger für den Fortbestand der Welt als die Frage, was ein irregeleiteter Caelaner in den Abwasserkanälen von Herino zu suchen hatte.

»Lasst ihn ausruhen«, befahl Declan, um den Mann für seine Kooperation zu belohnen. Foltern glich in vieler Hinsicht der Abrichtung eines Hundes. Man belohnte das Verhalten, das man ermutigen wollte, und bestrafte, was man entmutigen wollte. Er hatte ihnen etwas Brauchbares gesagt, und das führte zu Essen, Wasser und einer Aussetzung der ihm zugefügten Schmerzen. Von nun an würde der Gefangene schnell lernen, was nötig war, damit Rye Barnes ihm gewogen blieb. »Wir nehmen ihn uns morgen wieder vor.«

»Ja, Herr.«

Er drehte sich noch einmal zu dem Gefangenen um. »Morgen erzählst du uns mehr.« Das war keine Frage.

Der Gefangene starrte ihn düster an und sah dann zu Boden. Wie sehr er sich auch verachten mochte, Declan erkannte die Kapitulation in seinem stumpfen Blick und wusste, dass er richtig lag.

»Entschuldigt, ich habe mich verspätet.«

»Das ist nicht weiter schlimm, Declan. Wir fragten uns gerade, wie sich eine weitere Unsterbliche die ganze Zeit vor unserer Nase befinden konnte, ohne dass wir etwas davon gemerkt haben.« Damit nahm Tilly Ponting ihren Platz am Tisch wieder ein und ließ den Blick über die kleine Gruppe von Männern schweifen, die sich im Salon ihres Herinoer Stadthauses versammelt hatte. Draußen tobte ein wildes Sommergewitter. Es rüttelte an den Fenstern, und obwohl das Licht nur an den Säumen der schweren Vorhänge eindringen konnte, erhellten die gelegentlichen Blitze den ganzen Raum.

Der Salon war elegant möbliert, aber klein und unerträglich stickig. Im Vergleich fühlten sich die blutbespritzten Verlieszellen unter dem Kerker, aus denen er gerade kam, geradezu luftig an. Hier war alles vollgestopft mit Generationen von Trophäen, Andenken und sonstigem Krimskrams der Familie Ponting, und die kleine Lampe in der Mitte des Tisches warf bizarre Schatten über die Gesichter der Verschwörer.

Wegen des Unwetters und der geheimen Natur dieses Treffens kam es nicht in Frage, die Fenster oder auch nur die schweren Vorhänge zu öffnen. Dem Gewitter war ein sehr heißer Tag vorausgegangen, und die tief hängende Wolkendecke hatte die Hitze am Entweichen gehindert, sodass es ungeachtet des Regens gegen Mitternacht heißer zu sein schien als zur Mittagszeit.

Declan lockerte seinen Kragen, bevor er antwortete. Er bezweifelte nicht, dass Tillys Frage ihm galt, obwohl die Bewahrerin der heiligen Überlieferung alle Anwesenden anzusprechen schien.

»Kylia war bis zur Hochzeit in Lebec«, erläuterte er. »Der einzige Ark, den wir dort im Palast hatten, war eine Felide, die nicht mit der Familie in Berührung kam. Wir hätten vielleicht eine Chance gehabt, wenn wir schon von Boots gewusst hätten. Aber als das Mädchen, das sich als Nichte des Fürsten von Lebec ausgab, zum Haushalt stieß, hatte Boots sich leider bereits mit Jaxyn angelegt und war auf der Flucht.«

»Das hätte auch nichts genützt«, stellte Aleki fest. »Wir wussten ja noch gar nicht, dass Boots eine Ark ist.«

Lord Aleki Ponting, ein großer, dunkelhaariger Mann, ein paar Jahre älter als Declan, war der Graf von Summerton und Tillys einziger Sohn. Vorgeblich weilte er anlässlich der königlichen Hochzeit und des Beginns der Hofsaison in der Stadt. In Wahrheit aber war er hier, um am Treffen der glaebischen Mitglieder der Bruderschaft teilzunehmen.

So wie Declans Aufgabe darin bestand, der Bruderschaft als Erster Spion des Königs zu dienen, fungierte Aleki als Schirmherr und Ausbilder der Arks, die im Verborgenen Tal lebten – einem Ort, der nicht etwa westlich der großen Seen in Caelum lag, wie die gängigen Crasii-Legenden berichteten, sondern kaum fünfzig Meilen von der glaebischen Hauptstadt entfernt. In einem entlegenen Teil der Grafschaft Summerton, etwa auf halber Strecke zwischen Herino und Lebec, verbargen die dicht bewaldeten Abhänge der Shevronberge den Unterschlupf der Rebellen.

»Ihr wart doch im Palast von Lebec«, betonte Lord Deryon an Declan gewandt. »Mehrere Male. Ihr seid Kylia vorgestellt worden, oder? Ist Euch denn nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Ich bin kein Ark, Mylord. Ich erkenne einen Unsterblichen nicht, selbst wenn er neben mir steht und mich in den Hintern zwickt. Würdet Ihr etwas merken?« Die Vorstellung, man mache ihn verantwortlich, erboste Declan beträchtlich.

Tilly schien das ähnlich zu sehen. Beschwichtigend legte sie eine Hand auf Lord Deryons Arm. »Wir erreichen nichts, wenn wir versuchen, jemanden zum Sündenbock zu stempeln, Karyl. Wir arbeiten den Unsterblichen bloß in die Hände, indem wir einander die Schuld in die Schuhe schieben und uns überwerfen. Wir sollten lieber herausfinden, womit genau wir es hier zu tun haben. Können wir sicher sagen, dass dieses Mädchen eine Unsterbliche ist?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das scheint zu abwegig, um wahr zu sein.«

»Ich habe bis jetzt zwei Arks, die es bestätigen«, versicherte Declan. »Sie stimmen überein, dass die neue Kronprinzessin von Glaeba eine Suzerain ist.«

»Wissen wir, welche?«, fragte Aleki.

»Es ist unwahrscheinlich, dass sie eine Gezeitenfürstin ist«, bemerkte Shalimar. Declans Großvater saß im Lehnstuhl neben dem unbefeuerten Kamin, so entspannt und behaglich, als wäre dies sein Salon, nicht der von Lady Ponting. Es kam selten vor, dass er seine Behausung in den Elendsvierteln von Lebec verließ. Offenbar kostete er die Gelegenheit aus, für ein paar Tage Tillys Gastfreundschaft und die Annehmlichkeiten großen Reichtums zu genießen.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Declan.

»Jaxyn ist nicht der Typ, der Macht teilt. Aber er war schon da, lange bevor Kylia die Bühne betrat. Und wir haben keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit der Kaiserin über die fünf Reiche oder jemanden aus ihrem Klan, also können wir wohl ausschließen, dass es Elyssa ist.«

»Kylia ist viel zu hübsch«, sagte Declan. »Es ist eindeutig nicht Elyssa.«

Lord Deryon nickte zustimmend. »Sie ist wohl eher eine der niederen Unsterblichen auf der Suche nach einem komfortablen Unterschlupf, um die Rückkehr der Flut abzuwarten.«

»Aber welche niedere Unsterbliche?« Tilly sah die vier Männer an, als erwartete sie von einem eine Antwort.

»Ich würde auf Medwen oder Diala tippen«, schlug Aleki nach kurzem Nachdenken vor.

Declan warf ihm einen Blick zu und nickte langsam, als ihm klar wurde, worauf Aleki hinauswollte. »Natürlich, Kylia Debrell wäre jetzt erst … wie alt … siebzehn Jahre? Diese Unsterbliche kann das glaubhaft verkörpern, ohne den geringsten Verdacht zu erregen.« Er nickte erneut, jetzt mit voller Gewissheit. »Alle anderen wären zu alt, um damit durchzukommen.«

»Wenn wir Elyssa mit Sicherheit ausschließen können, sind Medwen und Diala die Jüngsten, die unsterblich wurden«, ergänzte Aleki. »Also stimmt es wahrscheinlich, es muss wohl eine von beiden sein.«

Tilly wandte sich an Shalimar. »Ihr sagtet doch, Medwen wäre in Senestra?«

»Das war sie auch«, bekräftigte der alte Mann. »Wir haben ein unbestätigtes Gerücht, dass Arryl sich ebenfalls da irgendwo versteckt hält. Das ist der Stand der Dinge laut den letzten Nachrichten, die ich von Markun habe.« Markun Far Jisa war eins der beiden fehlenden Mitglieder des Fünferrats. Die Identität des fünften Mitglieds war so geheim, dass nicht einmal Declan seinen Namen kannte, so hoch er auch bei der Bruderschaft des Tarot im Rang stand. »Er hätte es längst gemeldet, wenn sie weitergezogen wäre.«

»Dann haben wir es wohl mit der Lakaienmacherin zu tun«, sagte Tilly. »Gezeiten, was für ein niederschmetternder Gedanke. Merkwürdig allerdings, dass sie sich in Gesellschaft von Jaxyn befindet. Sie ist eigentlich keine traditionelle Verbündete des Fürsten der Askese.«

»Vielleicht ist sie gar nicht als seine Verbündete hier«, grübelte Lord Deryon. »Könnte es nicht sein, dass der Zufall beide zur selben Zeit nach Glaeba geführt hat?«

»Es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, was sie hierher gebracht hat«, erklärte Shalimar. »Und Spekulieren bringt uns nicht weiter. Die eigentliche Frage ist: Sind sie jetzt Verbündete?«

Alle Blicke richteten sich auf Lord Deryon, der als Sekretär des Königs in der besten Position war, die täglichen Schritte der Braut des Kronprinzen zu verfolgen.

»Ich würde sagen, dass es sehr wahrscheinlich ist«, räumte er ein. »Ihre Beziehung zu Jaxyn Aranville wirkt sehr vertraut.«

»Da bin ich neugierig«, sagte Shalimar. »Wie denkt Mathu über die Freundschaft seiner Frau mit einem berüchtigten Frauenheld wie Jaxyn?«

»Er ist wahrscheinlich noch im ersten Rausch der Liebe«, warf Tilly ein. »Welche Unsterbliche es auch immer ist, sie hatte jedenfalls reichlich Zeit, ihre Verführungskünste zu verfeinern. Und Mathu ist einfach sehr jung. Ich nehme an, er ist viel zu geblendet von seiner Vernarrtheit in Kylia – oder wie sie auch immer heißt –, um an irgendetwas Anstoß zu nehmen.«

»Vielleicht sollten wir als Erstes die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf diesen Umstand lenken«, schlug Shalimar vor und streckte seine Füße von sich. »Wessen Idee war es eigentlich, Jaxyn Aranville hierher nach Herino zu holen?«

»Deine«, erinnerte Declan seinen Großvater, bevor er auch noch für dieses Fiasko verantwortlich gemacht wurde. »Es machte dir Sorgen, dass die Crasiitruppen von Lebec seiner Ausbildung und seinem Kommando unterstanden.«

»Ach ja, richtig … ich erinnere mich. Rückblickend eine ziemlich kurzsichtige Idee.«

Tilly lächelte leicht. »So ist das mit den meisten fatalen Entscheidungen. Irgendwelche Vorschläge, wie wir jetzt verfahren sollen?«

»Wissen wir genau, dass wir eine Unsterbliche nicht loswerden, indem wir sie in kleine Stücke hacken und an die Hunde verfüttern?«, knurrte Declan. Ein neuerliches Donnern erschütterte die Fenster, aber Blitz und Donner schienen ihren Abstand allmählich zu vergrößern. Vielleicht zog das Unwetter ab.

Zu seiner gelinden Verwunderung nahm Tilly die Frage ernst. »Soweit ich weiß, hat man das bereits hinlänglich versucht. Die Unsterbliche heilte zu schnell. Der Überlieferung zufolge schafften die Henker es nie, den Körper schnell genug zu zerteilen, um ihn an irgendwen zu verfüttern.«

»War nur ein Gedanke«, sagte er. »Welche Unsterbliche war das?«

»Die Überlieferung sagt, es war Lyna. Es geschah wohl vor dem dritten Weltenende. Man bedenke Kentravyons Wutausbruch, als er von dem Angriff auf seine Gefährtin erfuhr. Die Todesrate war entsetzlich.«

»Mir wird gerade etwas bewusst, Tilly.« Die Witwe erschien ihm plötzlich in einem neuen Licht. »Ihr müsst ja den Kopf voll haben mit den grässlichsten Morden der Weltgeschichte. Es ist ein Wunder, dass Ihr davon nicht verrückt werdet.«

»Nur Mordversuche«, berichtigte sie. »Und im Übrigen: Seit der Fünferrat vor fünftausend Jahren die erste Bruderschaft des Tarot einberief, um jeden möglichen Weg zur Vernichtung der Unsterblichen auszuloten, ist es nur die Hoffnung, dass eines Tages einer dieser Wege gangbar wird, die den Bewahrer der Überlieferung bei gesundem Verstand hält.«

»Und diese spezielle Bewahrerin der Überlieferung hat auch keine Skrupel, die schaurigen Details weiterzugeben«, bemerkte Aleki mit einem sauren Lächeln. »Als ich ein Kind war, drohte sie mir gern mit den schrecklichsten Schicksalen.«

»Was macht dich so sicher, dass ich nur gedroht habe?«, knurrte Tilly. »Ich versichere dir, mein Junge, wenn du und Davista nicht bald einen Termin festsetzen, damit ich vor meinem Tod noch ein Enkelkind zu sehen bekomme, dann suche ich in der Überlieferung nach dem schmerzhaftesten Weg, meinen Standpunkt durchzusetzen.«

»Ah, Familie«, seufzte Shalimar. »Was täten wir ohne sie?«

»Ich frage mich oft, ob es nicht interessant wäre, das mal herauszufinden«, erwiderte Aleki mit vollkommen unbewegter Miene.

Declan schmunzelte, aber sie kamen vom eigentlichen Thema ab. »Was soll ich nun Eurer Meinung nach bezüglich Diala unternehmen – wenn wir davon ausgehen, dass es Diala ist?«

»Zuerst ihre Identität sicher feststellen«, schlug Lord Deryon vor. »Inzwischen kann ich versuchen, die wahre Natur ihrer Beziehung zu Jaxyn zu ergründen. Das müssen wir auch wissen, bevor wir entscheiden können, wie wir vorgehen. Glaubt Ihr, ich sollte den König warnen?«

»Und was bitte wollt Ihr ihm sagen?«, fragte Shalimar. »Dass seine rechtmäßige Schwiegertochter eine böse Unsterbliche ist, die ihm den Thron rauben will? Bei dem Gespräch würde ich gerne Mäuschen spielen.«

Karyl Deryon seufzte. »Es wäre so viel leichter, wenn mehr Menschen die Wahrheit über die Unsterblichen wüssten und nicht alle davon ausgingen, dass sie bloß eine Legende sind.«

»Euer Wunsch wird vielleicht früher erfüllt, als Ihr Euch vorstellen könnt«, prophezeite Tilly mit grimmiger Miene, dann wandte sie sich an Shalimar. »Wie lange haben wir noch, bis die Flut ihren Höchststand erreicht?«

Der alte Mann zuckte die Achseln. »Die Launen der Gezeiten zu bestimmen ist bestenfalls eine ungenaue Wissenschaft, Tilly. Ich kann es dir nicht sagen. Ich schätze, im schlimmsten Fall nur ein paar Monate. Wenn wir Glück haben, noch ein paar Jahre.«

»Dann wollen wir keine Zeit mit müßigem Geschwätz vertun.« Entschieden wandte sie sich an Declan. »Du befolgst Karyls Rat, Declan. Finde heraus, ob wir wirklich die Lakaienmacherin in unserer Mitte haben. Ich setze mich inzwischen mit Markun Far Jisa in Verbindung und überprüfe, ob Medwen noch in Senestra ist.«

»Ich kann die Arks im Tal zurate ziehen«, erbot sich Aleki. »Jemand von ihnen ist Diala vielleicht einmal begegnet und kann sie identifizieren.«

»Das erinnert mich an etwas«, warf Declan ein. »Großvater hat noch ein Rekrutenpärchen für Euch, die könnt Ihr auf der Rückreise gleich mitnehmen.«

»Arks?« Aleki blickte mit erwachendem Interesse zu Shalimar. »Feliden?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Caniden. Die Frau ist noch ziemlich jung. Der Mann hat einen Zellenblock mit dem unsterblichen Prinzen geteilt.«

Alekis Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Da kann er uns bestimmt alle mit seinen Lagerfeuergeschichten verzaubern.«

»Er ist sehr gut ausgebildet«, sagte Declan. »Ihr werdet feststellen, dass er zu weit mehr taugt als Geschichtenerzählen, dafür verbürge ich mich.«

»Gut, dann gebe ich Bescheid, wenn ich mich für den Aufbruch nach Summerton rüste. Ich kann sie auf dem Weg durch Lebec mitnehmen.«

»Und da wir gerade beim Thema Aufbruch sind«, verkündete Lord Deryon und erhob sich, »ich muss mich jetzt verabschieden. Es wird Klatsch geben, wenn ich noch länger unter Eurem Dach verweile, Lady Ponting.«

Tilly schmunzelte. »Wie nett, in unserem Alter solchen Klatsch auszulösen, Karyl.«

»Ich kann Euch zum Palast mitnehmen, wenn Ihr es wünscht«, bot Declan an. »Der Regen klingt immer noch recht heftig.«

»Ich danke Euch, Declan, aber ich habe meine eigene Kutsche vor der Tür. Deshalb fürchte ich ja die losen Zungen von Herino. Sollten wir uns nochmals treffen, bevor du nach Lebec zurückkehrst, Shalimar?«

»Ich breche morgen auf.«

»Dann wünsche ich dir alles Gute, bis wir uns wiedersehen, alter Freund. Möge unser nächstes Treffen frohere Kunde bringen.«

Shalimar schüttelte den Kopf. »Die Flut steigt, Karyl, und wir haben bereits zwei Unsterbliche am Hals, die es sich im Palast von Glaeba gemütlich machen. Ich fürchte, die Tage froher Kunde liegen längst weit hinter uns. Nicht bloß für uns, sondern für die ganze Menschheit.«

3

»Früher oder später versuchen wir alle unser Glück mit der Weltherrschaft.«

Der Wirt warf Cayal einen Blick zu und nickte mit routinierter Tiefsinnigkeit. Es war still in der schmuddeligen torlenischen Schankstube. Wahrscheinlich war der Mann geneigt, jedem Gast nach dem Mund zu reden, vermutete Cayal, sogar einem stockbesoffenen. Der Wirt holte einen weiteren bernsteinfarbenen Glasbecher von einem Tropfrost über dem gefliesten Tresen und begann ihn zu polieren. »Meint Ihr?«

Cayal nahm noch einen großen Schluck von dem schweren torlenischen Dunkelbier, aber es trug nichts dazu bei, seine überreizten Sinne abzustumpfen. Die wiederkehrende Flut stieg und fiel nun ständig, die Gezeiten umspülten ihn mal quälend nah, dann wieder so fern, dass Cayal Angst bekam, er könnte für immer die Verbindung verlieren. Es peinigte und verlockte ihn, forderte ihn heraus, sich ganz hineinfallen zu lassen.

Es war die wiederkehrende Flut, die ihn hierher nach Ramahn gebracht hatte, noch vor dem neuen glaebischen Botschafter.

Es war die wiederkehrende Flut, die ihn dazu trieb, sich bewusstlos zu trinken.

Jedenfalls redete er sich das ein. Es klang besser in seinem Kopf als die andere Entschuldigung – dass er einer Frau hierher gefolgt war, an die er nicht zu denken wagte, weil er dabei einen Grund zum Weiterleben entdecken könnte.

Ungeachtet seines Schwures, nie wieder so eine Seereise zu unternehmen, hatte sich der Platz als Ruderer auf einer Galeere als schnellster Weg nach Torlenien erwiesen. Die wiederkehrende Macht der Gezeiten hatte bereits genügt, damit das Schiff die ganze Fahrt über guten Wind hatte, und wenn die Brise nachließ, bewirkte seine wachsende Selbstheilungskraft, dass er weder den Schmerz seiner blasenbedeckten Hände noch den seiner brennenden Muskeln spürte. Er ermüdete auch nicht mehr so leicht wie sterbliche Männer, daher entging er weitgehend der Aufmerksamkeit des Rudermeisters. Die Reise hatte Cayal kaum mehr als zehn Tage gekostet – geradezu eine Rekordzeit, wie der Kapitän verkündete –, und schon war er hier in Ramahn, der Hauptstadt von Torlenien, betrank sich, staunte über seine eigene Blödheit und fühlte, wie der Wahnsinn in ihm wuchs. Er wünschte, die steigende Flut würde sich nicht so verführerisch anfühlen, und beklagte laut die Korruptheit seiner Art.

»Es ist wirklich wahr, weißt du … sogar die ewigen Wohltäter, die schwören, sie würden nie der Versuchung der absoluten Macht erliegen. Sogar die wollen es irgendwann wissen. Das Verlangen … die Neugier … am Ende gewinnt es die Oberhand … immer, immer.« Er lallte schon ziemlich und wusste, dass er sich wie ein Idiot anhörte, aber es war ihm egal. Es bedurfte gewaltiger Mengen von Alkohol, um einen Unsterblichen betrunken zu machen, und er war ordentlich stolz auf sich, diese Großtat vollbracht zu haben. Tatsächlich hatte die Betrachtung dieser imponierenden Leistung eine Reminiszenz aller übrigen Heldentaten ausgelöst, die er in seinem unvorstellbar langen Leben schon vollbracht hatte, und das gipfelte nun in seinen spontanen Anmerkungen zur Weltherrschaft.

»Da habt Ihr sicher recht«, stimmte der Wirt zu. Seine Worte waren forsch betont, um seine völlige Gleichgültigkeit zu bemänteln.

»Das Komische ist, je mehr sie von sich glauben, sie wollen es gar nicht, umso schlimmer sind sie, wenn sie es dann haben.«

»Mhmm …«, gab der Wirt zurück, stellte das nun blitzende Glas in ein Bord oberhalb des Tresens und nahm das nächste, um es zu polieren. »Man hört, dass es so kommen kann.«

Cayal leerte sein Glas und schob es dem Wirt hin. »Kentravyon war ein richtiges Aas, als er drankam.«

Der Wirt ergriff das Glas und füllte es aus dem Fass, das am Ende des Tresens thronte. »Das war er, da hab ich keine Zweifel.«

»Obwohl … ich war wahrscheinlich nicht viel besser, um die Wahrheit zu sagen.«

Er reichte Cayal das Glas. »Sicher.«

Cayal nahm den Trunk entgegen und grinste schief. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin, nicht wahr?«

Der Wirt zuckte mit seinen breiten Schultern. »Ich bin nicht sicher, wer Ihr in Eurem Land seid, mein Herr, aber hier in Torlenien seid Ihr einfach ein zahlender Gast. Das heißt, wenn Ihr eure Zeche begleicht.« Er sah Cayal mit gerunzelter Stirn an. »Ihr werdet doch bald Eure Zeche begleichen, oder, mein Herr?«

»Hast du Angst, ich bin zu pleite dafür?«

»Ihr habt eine mächtige Rechnung gemacht, mein Herr.«

»In Kürze wirst du damit prahlen, dass ich mich in deiner schmuddligen kleinen Kaschemme besoffen habe«, prophezeite Cayal. »Höchstens ein Jahr oder zwei, und du wirst durch mich reich werden.«

»Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich lieber jetzt an Euch reich werden, mein Herr.«

»Glaubst du an die Unsterblichen?«

Der Blick des Wirts wurde argwöhnisch. »Ich weiß nicht, welchen Einfluss das auf die Frage hat, ob Ihr Eure Rechnung begleichen könnt oder nicht, mein Freund. Und Eure Ausflüchte steigern irgendwie nicht meine Zuversicht, dass Ihr fähig und willens seid, mit dem Geld rüberzukommen.«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Der Mann zuckte die Achseln. »Ich weiß, es gibt Leute, die beten immer noch zu den Gezeitenfürsten. Ich persönlich sehe darin keinen Sinn. Ich meine, was haben die je getan, außer dem Rest von uns auf den Kopf zu scheißen.«

»Dein Laden heißt Cayals Rasthaus«, merkte Cayal an. Deshalb hatte er nämlich diese Pinte gewählt, um sich volllaufen zu lassen, und keins der anderen ehrenwerten Etablissements von Ramahn.

»Nur weil die lästigen Arschlöcher vom Palast mir nicht erlauben wollten, ihn BastardCayal zu nennen«, murrte der Wirt.

Diese Erklärung erheiterte Cayal über alle Maßen. Interessant, dass sein Name hier noch nicht vergessen war, und auch, dass er nach wie vor allgemein Abscheu auslöste. »Vielleicht wärst du besser dran, wenn du dein Etablissement nach einem würdigeren Gezeitenfürsten benannt hättest.«

»Und welchem?«, fragte der Mann. »Keiner von denen ist es wert, auf ihn zu spucken.«

»Warum hast du dein Lokal dann überhaupt nach einem Unsterblichen benannt?«

»Damals schien es mir eine gute Idee.«

Cayal lachte auf. »Gezeiten, diese Entschuldigung habe ich auch schon oft benutzt. Eigentlich –«

»Eigentlich was?«, hakte der Wirt nach, als Cayal mitten im Satz abbrach. Jetzt, wo sich das Gespräch um die Zahlungsfähigkeit seines Gastes drehte, war sein Interesse echt.

Die Gezeiten kitzelten etwas am Rand von Cayals Bewusstsein. Er setzte sein Glas so hart ab, dass das Bier über den Tresen spritzte, torkelte zum Fenster und starrte in die flimmernde Hitze hinaus. Der Marktplatz lag staubig und menschenleer da – Markttag war erst morgen –, denn die Mittagsglut sorgte dafür, dass sich die meisten Einwohner von Ramahn bis zur vierten Nachmittagsstunde in die Kühle ihrer Häuser verkrochen.

»Mein Herr?«, rief ihm der Wirt hinterher, wohl aus Sorge, dass sein einziger Gast – und mit ihm sein Geld – zur Tür hinaus entwischte.

Cayal beachtete ihn nicht. Er versuchte sich zu konzentrieren und verfluchte den Impuls, der ihn getrieben hatte, seine Sorgen zu ertränken, während die Flut anstieg. Sein Geist war benebelt, seine Sinne stumpf, aber selbst so fühlte er deutlich die Nähe eines anderen Unsterblichen. Er spürte seine Gegenwart bis in die Knochen.

Das Kräuseln im Strom der Gezeiten wurde stärker. Mit jedem verstreichenden Augenblick kam es näher heran.

Cayal hielt den Atem an.

Wartete.

Aber die Straße blieb leer. Da draußen war niemand.

Verdrossen kehrte Cayal an den Tresen zurück und warf ein paar Münzen auf die Platte, um den Wirt glücklich zu machen. Seine Redseligkeit war wie weggeblasen. Die Wallung der Gezeiten hatte ihn daran erinnert, dass er nicht allein war. Ganz in der Nähe gab es andere seiner Art. Hier in Torlenien mochte es Kinta gewesen sein, deren Präsenz er gefühlt hatte, oder Brynden. Beide entfernten sich nie sehr weit von dem Land, das sie zu ihrer Wahlheimat erklärt hatten. Oder es war einer von den anderen, der sich auf den Weg gemacht hatte, jetzt, da die Flut zurückkam …

Cayal starrte auf den Boden seines Bechers und versuchte den angemessenen Enthusiasmus für die Aussicht auf einen neuen Gezeitenhochstand aufzubringen.

»Ach, komm schon. So schlimm kann es doch nicht sein, oder?«, bemerkte eine spöttische Stimme direkt hinter ihm. »Du siehst aus, als wäre die Welt im Begriff, über dir zusammenzubrechen.«

Cayals schlaffe Schultern strafften sich und er fuhr herum, entsetzt angesichts der Erkenntnis, dass jemand sich unbemerkt an ihn anschleichen konnte.

»Gezeiten«, rief der Ankömmling und musterte Cayal bekümmert von oben bis unten. »Du hast doch wohl nicht die letzten tausend Jahre hier gehockt und in dein Bier geheult, oder?«

»Wie hast du es geschafft …«

»Dich zu überrumpeln? Du hast nicht aufgepasst. Spendierst du jetzt einem alten Freund was zu trinken oder nicht?«

»Ähm … na klar.« Cayal gab dem Wirt ein Zeichen, noch zwei Bier zu bringen, und betrachtete seinen Gefährten eingehend. Wie zu erwarten, hatte dessen Erscheinung sich nicht verändert. Seine Haut war noch vom selben Dunkelbraun, weder faltiger noch wettergegerbter als vor hundert oder auch vor tausend Jahren. Sein weißblondes Haar war ordentlich geschnitten, aber die Farbe kam Cayal immer noch unnatürlich vor bei jemandem, der so dunkelhäutig war. Seine Augen strahlten genauso blau, sein Lächeln wirkte so weltverdrossen wie eh und je. Allerdings fehlte jede Spur von seiner zahmen Ratte Coron. Vielleicht hatte er sie draußen gelassen, aus Rücksicht auf die Reaktion des Wirts auf so einen unerwünschten Gast. »Was treibt dich denn nach Torlenien, Lukys?«

»Ich suche nach dir.«

»Warum?«

»Brauche ich einen Grund?«

»Du tust nie etwas ohne einen.«

Lukys lächelte. »Wie wahr.« Er wartete, bis der Wirt mit einem abschätzenden Blick das Bier serviert hatte und nahm einen großen Schluck, ehe er fortfuhr. »Ich glaube, ich habe da etwas für dich.«

»Ich will nichts«, sagte Cayal kläglich und leerte seinen alten Becher, damit er sich über den neuen hermachen konnte. »Wo hast du gesteckt?«