Gezeitenstern-Saga - Der unsterbliche Prinz - Jennifer Fallon - E-Book

Gezeitenstern-Saga - Der unsterbliche Prinz E-Book

Jennifer Fallon

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Beschreibung

Komm mit auf eine epische Reise durch die fantastische Welt von Amyrantha!

Der Legende nach regierten die Gezeitenfürsten die Welt Amyrantha über viele Jahrhunderte. Eines Tages taucht ein Mann auf, der behauptet, Cayal, der unsterbliche Prinz, zu sein. Sind die mythischen Gezeitenfürsten zurückgekehrt? Die junge Herzogin Arkady kann nicht daran glauben, und doch übt der Unbekannte eine unbeschreibliche Anziehungskraft auf sie aus. Während sie seinen Geschichten lauscht, wird ihr bewusst, dass ihrer Heimat der apokalyptische Untergang droht ...

Die Gezeitenstern-Saga bietet eine einzigartige Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Ferne-Länder-Romantik. Jetzt als eBook von beBEYOND - fremde Welten und fantastische Reisen.

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EPUB

Seitenzahl: 955

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Über dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumKartenWidmungPrologErster Teil 1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344Zweiter Teil 45464748495051525354555657585960616263646566676869707172Epilog

Über dieses Buch

Über viele Jahrhunderte herrschten die unsterblichen Gezeitenfürsten über die Welt von Amyrantha. Doch ihre Macht ist an den Gezeitenstern gebunden: Mit der kosmischen Ebbe ließen ihre Kräfte nach und verschwanden schließlich ganz. Inzwischen scheinen die Gezeitenfürsten nur noch in den althergebrachten Legenden zu existieren: Das Sklavenvolk der Crasii bewahrt die Erinnerung an die mythischen Herrscher in seinen mündlichen Erzählungen auf. Eines Tages jedoch taucht ein Mann auf, der behauptet, Cayal, der unsterbliche Prinz, zu sein. Sind die Gezeitenfürsten zurückgekehrt? Die junge Herzogin und Legendenforscherin Arkady wird hinzugezogen. Niemals würde sie an die Existenz mythischer Gestalten glauben, dennoch über der Unbekannte eine unbeschreibliche Anziehungskraft auf sie aus. Ist er ein Hochstapler, ein Fantast oder gar ein ausländischer Agent? Sie lauscht seinen Geschichten und wird sich nach und nach bewusst, dass eine Gefahr von apokalyptischen Ausmaßen ihre Heimat Amyrantha bedroht …

Über die Autorin

Jennifer Fallon wurde in Carlton, Australien geboren. 1990 begann sie mit dem Schreiben von Fantasy-Romanen. Zehn Jahre später hielt sie mit ihrer ersten Veröffentlichung, der »Dämonenkind«-Saga, auf den Bestsellerlisten Einzug und feierte ihren internationalen Durchbruch. Mit der »Gezeitenstern«-Saga konnte sie diesen Erfolg fortsetzen. Jennifer Fallon ist neben Trudi Canavan und Sara Douglass die dritte Fantasy-Bestseller-Autorin aus Australien.

JENNIFER FALLON

Der unsterbliche Prinz

Die Gezeitenstern-Saga

Band 1

Aus dem Englischen von Katrin Kremmler und Rene Satzer

beBEYOND

Digitale Ausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »The Immortal Prince« bei HarperCollinsPublishers Australia Pty Limited.

Die deutschsprachige Erstausgabe erschien 2008 bei LYX ausschließlich in gedruckter Form.

Copyright © 2007 by Jennifer Fallon

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Else Laudan

Karte: Russell Kirkpatrick

Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Kirstin Osenauunter Verwendung von Motiven von © Romanova Ekaterina/Shutterstock, © Vector Tradition SM/Shutterstock, © Evgeny Milkovich/Shutterstock, © Creative Travel Projects/Shutterstock, © DnD-Production.com/Shutterstock

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4570-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für die Lakaien

Prolog

Als sich der letzte der versprengten Flüchtlinge mit versagenden Kräften in die Höhle schleppte, sah Krynan über die Schulter auf das Ende seiner Welt und fragte sich, warum der Anblick nichts mehr in ihm auslöste. Er griff nach dem Felsvorsprung und zog sich hoch, versuchte für einen Augenblick den Schmerz seiner versengten Hände auszublenden, um dann im Schutz der Höhle zusammenzubrechen. Draußen zuckte wieder ein Blitz über den blutroten Nachthimmel, die Luft war dick von vulkanischem Aschenregen.

Auf den Ellbogen gestützt richtete sich Krynan langsam auf. Er fühlte es mehr, als dass er es hörte – wieder bebte unter ihnen die Erde. Das tat sie schon seit Tagen. Die Erdstöße waren so stark, dass man kaum aufrecht stehen konnte, geschweige denn laufen, um sich vor der Katastrophe in Sicherheit zu bringen. Krynan fühlte Tränen aufsteigen, doch er blinzelte sie weg, legte die Hand über die Augen und sah in die Ferne hinaus. Viel gab es dort allerdings nicht mehr zu sehen. Die Stadt L’bekken existierte nicht mehr, und etliche der umliegenden Dörfer waren unter einer dicken Schicht Bimssteinbrocken und Asche verschwunden. Was nicht dem vorrückenden Lavastrom zum Opfer gefallen war, das hatten schon vorher die wütenden Blitze zerschmettert, die die Unsterblichen in ihrer Wut so verschwenderisch austeilten. Denn sie waren es, die diese Katastrophe zu verantworten hatten.

Es war unmöglich zu sagen, wo genau am Flussufer noch bis vor Kurzem sein blühendes Gehöft gestanden hatte; unmöglich, die alten Orientierungspunkte in der Landschaft wiederzufinden. Der Fluss war in der Hitze verdampft, die Erde lag begraben unter den geschmolzenen Felsmassen, die aus dem Berg gequollen waren, von den einst so fruchtbaren Hängen des Iriggin-Massivs.

Wie viele Menschen den Tod gefunden hatten, konnte niemand wissen, und das Los der Handvoll Überlebenden war fast zu beängstigend, um darüber nachzudenken.

»Krynan?«

Er drehte sich um. Fast hätte er die junge Frau, die ihn ansprach, nicht erkannt. Es war seine Frau. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt und mit Brandblasen übersät, wo der heiße Aschenregen sie versengt hatte. Ihr Haar war steif und schmutzig braun, und ihre einst so schönen Kleider hingen in Fetzen an ihr herunter.

Sie sah aus wie eine Bettlerin.

Das sind wir jetzt alle. Nur noch Bettler.

»Was?«, fragte er, und es klang schroffer als beabsichtigt. Schließlich war es nicht Aleas Schuld, dass sie jetzt heimatlos waren, alles verloren hatten und nur noch damit rechnen konnten, elend umzukommen in diesem Krieg der Götter – dieser schrecklichen Götter, die nichts anderes kümmerte als ihre eigene Launenhaftigkeit.

»Deine Mutter fragt nach dir.«

Krynan seufzte. Er wusste, was seine Mutter von ihm wollte. Ihm, ihrem einzigen Sohn, hatte die Bruderschaft eine undankbare und wahrscheinlich völlig sinnlose Aufgabe zugedacht – eine Aufgabe, der er sich noch nicht gewachsen fühlte.

»Sag ihr, ich komme gleich«, antwortete er und wandte sich wieder dem Anblick seiner Welt zu, wie sie in diesem feurigen Inferno vor seinen Augen unterging.

Alea zögerte kurz, dann nickte sie. »Aber der Matriarchin bleibt nicht mehr viel Zeit, Kryn«, sagte sie warnend. Dann drehte sie sich um und ging ins Innere der Höhle zurück.

Viel Zeit bleibt uns allen nicht mehr, dachte Krynan, als unvermittelt ein Berggipfel weiter östlich zerbarst, in einen Ball aus Feuer und Asche zerschmolz und hoch in den Nachthimmel hinaufsprühte wie schäumendes Ale über den Rand eines Bierkrugs. Einen Augenblick lang sah er dem schrecklichen Schauspiel zu, vom Ausmaß der Katastrophe immer noch völlig benommen. Schließlich raffte er sich auf, wandte sich ab und ging in den Berg hinein.

Im hinteren Raum der Höhle lag seine Mutter auf eine behelfsmäßige Tragbahre gebettet, die anderen eng um sie zusammengedrängt. Im unruhigen Schein der wenigen Fackeln, die sie hatten retten können, konnte er erkennen, wie verheerend die Verbrennungen waren, die sie erlitten hatte. Ihr Atem ging so mühsam, dass es beim Zuhören schmerzte. Als Alea ihn kommen sah, machte sie ihm Platz, damit er sich neben die Verletzte knien konnte.

»Mutter …«

»Krynan. Du bist … noch hier?«

»Wo sollte ich sonst sein?«

Mit einer schwarz verbrannten Hand klammerte sich seine Mutter an seinen zerschlissenen Ärmel. »Du hast eine Aufgabe zu erfüllen …«

»Meine Aufgabe ist es, mich um die Überlebenden zu kümmern.«

Mit großer Anstrengung schüttelte sie den Kopf. »Du bist der Bewahrer der Überlieferung. Deine Aufgabe … deine einzige Aufgabe … ist es, unser heiliges Wissen zu retten. Die Überlieferung ist unser einziger Schutz … gegen die Gezeitenfürsten.«

»Unser heiliges Wissen hat uns dieses Mal auch nicht retten können«, entgegnete er bitter.

»Umso wichtiger ist es, die Überlieferung … zu bewahren, Krynan.« Das Gesicht seiner Mutter war schmerzverzerrt, aber sie schien entschlossen, sich durch ihr Leiden nicht ablenken zu lassen von der Sorge um etwas, das viel wichtiger war als die Ängste und Schmerzen einer Einzelnen. Die heilige Überlieferung bedeutete ihr alles. »Vielleicht haben wir … versagt, aber zukünftige Generationen können … auf unseren Erfahrungen aufbauen. Die Bruderschaft … verlässt sich auf dich. Bildet einen neuen Fünferrat der Weisen. Rette … unser Wissen. Es muss … weiter bestehen.«

Obwohl er mit dieser Forderung gerechnet hatte, machte sie ihn wütend. »Du willst, dass ich mein Volk im Stich lasse? Nur um ein paar zerfledderte Papierfetzen zu retten, die uns jetzt auch nichts genützt haben?«

»Dein Schmerz … trübt deine Urteilskraft, Krynan …«, warnte seine Mutter. Ihre Stimme wurde immer schwächer, so wie sie selbst. »Du hast immer gewusst, dass es einmal so kommt.«

Das war die bittere Wahrheit. Seit der Fünferrat, das Führungsgremium der Bruderschaft des Tarot, ihn seinerzeit zum Bewahrer der heiligen Überlieferung ernannt hatte, hatte Krynan gewusst, dass es dazu kommen konnte. Aber es war ein gewaltiger Unterschied, ob man wusste, dass man auserkoren war, eines Tages eine beschwerliche Aufgabe zu erfüllen, oder ob man plötzlich konkret mit dieser Forderung konfrontiert war.

Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Ich fürchte, ich hatte einfach nicht erwartet, zu überleben.«

»Dass du überlebt hast … ist ein sicheres Zeichen … es ist dein Schicksal, mein Sohn.«

Er schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich nicht stark genug, Mutter.«

»Die Bruderschaft hält dich für stark genug, sonst hätte sie dir dieses Amt nicht übertragen.«

Krynan runzelte die Stirn. Eigentlich, dachte er, hatte man ihn in erster Linie deshalb mit dieser Aufgabe betraut, weil in den kultivierten Salons von L’bekken niemand wirklich damit gerechnet hatte, dass die Gezeitenfürsten mit solcher Wildheit übereinander herfallen würden. Die Menschen wussten nicht einmal, worum die Götter überhaupt stritten, welche Auseinandersetzung da zur Zerstörung ihrer ganzen Welt eskaliert war. Vermutlich würden sie es auch nie erfahren. Aber wie bei den unzähligen Zivilisationen, die vor ihnen dasselbe Los ereilt hatte, war das nicht von Belang. Alles, was jetzt noch zählte, war, die heilige Überlieferung zu retten und gut versteckt zu halten. Und am sichersten versteckt war sie in einer unverdächtigen Form – sie verbarg sich in Gestalt des Tarot. Die Gezeitenfürsten waren zwar unsterblich, aber früher oder später, so glaubte die Bruderschaft des Tarot, würde jemand einen Weg finden, sie zu besiegen. Das war der Grund, warum die Überlieferung um jeden Preis bewahrt werden musste.

Nur war Krynan bis zu diesem Augenblick nicht klar gewesen, wie hoch der Preis dafür war.

Der Atem seiner Mutter ging stoßweise, ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Versprich mir, Krynan … versprich mir, die Überlieferung zu retten.«

»Ich verspreche es«, sagte er. So nutzlos diese Aufgabe ihm auch vorkam, er konnte seiner Mutter nicht ihren letzten Wunsch abschlagen. »Ich werde die verdammten Karten retten. Wer weiß, vielleicht sind die Menschen der Zukunft klüger und finden heraus, wie die Schufte zu besiegen sind.«

Sie nickte und hob ihre Hand, griff nach etwas, das in ihrer Bluse verborgen war. Als er sah, wie schmerzhaft die Bewegung für sie war, kam er ihr zu Hilfe. Es war ein jämmerlich dünnes Päckchen, das er da hervorzog, in Öltuch eingeschlagen, um es vor der Feuchtigkeit zu schützen. Aber feuerfest war es nicht. Seine Mutter hatte die kostbaren Karten unter Einsatz ihres Lebens mit ihrem eigenen Körper vor der glühenden Asche geschützt.

Krynan hielt sich für nicht annähernd so tapfer. Oder so pflichtbewusst.

»Die Zukunft … liegt in deiner Hand, Krynan«, flüsterte seine Mutter. »Enttäusche … sie nicht.«

»Ich werde die heilige Überlieferung um jeden Preis beschützen«, rezitierte er und gab sich Mühe, die Skepsis aus seiner Stimme herauszuhalten, denn nur so würde sie Frieden finden. »Das Tarot muss weiter bestehen, damit die Menschheit überleben kann.«

»Die Zeit … wird kommen, Krynan«, versprach sie leise und schloss die Augen. »Nur … eben jetzt noch nicht. Nicht in unserer Zeit.«

»Die Zeit wird kommen«, wiederholte er bestätigend und merkte zu seiner Überraschung, dass ihm salzige, rußige Tränen übers Gesicht rannen. Noch während er sprach, wurde der keuchende Atem seiner Mutter langsamer. Dann setzte er ganz aus. Einen Augenblick lang wartete und hoffte er. Doch der nächste Atemzug kam nie. Der Körper seiner Mutter erschlaffte, und mit einem Mal waren ihre Züge entspannt, aller Schmerz aus ihnen gewichen.

Alea trat hinter ihn und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter.

»Ich muss nicht gehen«, sagte er, ohne sie anzusehen. »Ich könnte doch hierbleiben. Jetzt ist sie tot, es kümmert doch niemanden mehr –«

»Das Tarot muss weiter bestehen, damit die Menschheit überleben kann«, fiel Alea ihm ins Wort. »Du musst deinen Schwur erfüllen, Krynan. Nicht nur für deine Mutter, für uns alle.«

Er stand auf und wandte sich ihr zu. »Glaubst du denn wirklich daran, Alea?«

»Ich muss daran glauben, Kryn.« Seine Frau lehnte sich an ihn und küsste ihn auf die tränenfeuchte Wange.

»Dann komm mit mir …«

Mit einem traurigen Lächeln schüttelte sie den Kopf. »Das können wir nicht riskieren. Geh, mein Liebster, jetzt, solange die Götter noch damit beschäftigt sind, einander mit Landschaft zu bewerfen. Ein Mann kommt vielleicht durch, wo eine Gruppe keine Chance hat. Es wird Verstecke geben, die sicherer sind, wo die Zerstörung nicht so schlimm ist wie hier.« Sie lächelte ihn mit unaussprechlicher Traurigkeit an und wischte sachte mit dem Daumen seine Tränen ab. »Aber denk manchmal an uns.«

»Alea …«

»Du bist der Bewahrer der heiligen Überlieferung, Krynan. Es ist deine Pflicht.«

Die Last schien ihm zu schwer, und so vergeblich. Sein Volk hatte schon so unendlich viel durchlitten, um das Wissen zusammenzutragen, das nun im Tarot enthalten war. Und doch hatten sich all ihre Bemühungen als fruchtlos erwiesen. Sachte berührte er ihren Bauch, der aus ihren zerlumpten Kleidern hervorstand. »Ich werde meinen Sohn niemals sehen …«

»Wenn du nicht gehst, wird es einerlei sein, ob dein Sohn geboren wird oder nicht«, antwortete sie traurig.

»Aber …«

»Ich verlasse mich auf dich«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Wange. »Das tun wir alle.«

Krynan warf einen Blick über die Schulter und betrachtete, was von seinem Volk übrig geblieben war: ein Häufchen Flüchtlinge, das sich in der Höhle zusammendrängte, die Gesichter von Ruß und Asche geschwärzt, in den Augen die helle Verzweiflung.

»Du bist unsere Hoffnung für die Zukunft, Kryn«, erinnerte ihn Alea leise. »Unsere einzige Hoffnung, dass die Menschheit überhaupt eine Zukunft hat.«

Die Verantwortung war eine tonnenschwere Bürde. Er wusste nicht, ob er die Kraft hatte, sie zu tragen. Doch dann dachte er an seinen ungeborenen Sohn. Der Gedanke, dass eines Tages auch er zu dieser grenzenlosen Verzweiflung verdammt sein würde, wenn sein Vater jetzt nicht ging, half Krynan seine Stärke finden. Sein Sohn verdiente ein besseres Los. Er verdiente Hoffnung – selbst wenn sie letzten Endes vielleicht vergeblich war.

Krynan zog Alea an sich und umarmte sie fest, küsste sie auf ihre geschwärzten Lippen. Wenn er jetzt nicht schnell ging, würde die Verzweiflung ihm allen Mut dazu nehmen. Er legte die Hand auf ihren Bauch. »Ich liebe dich, Alea. Und sag meinem Sohn, dass ich auch ihn liebe.«

»Er wird im Wissen aufwachsen, der Sohn eines Helden zu sein«, versprach sie ihm. »Und jetzt geh! Geh, bevor die Gezeitenfürsten das Interesse an ihrem Krieg verlieren und sich fragen, was aus uns geworden ist.«

Er nickte und steckte das kleine Päckchen in sein Hemd. »Brauchst du noch etwas, bevor ich …«

»Geh einfach!«, befahl sie.

Krynan nickte. Erfüllt von einem schrecklichen Gefühl der Ungewissheit wandte er sich zum Ausgang der Höhle, um all die Menschen, die ihm noch geblieben waren – der jämmerliche Rest seines Volkes, die Leiche seiner Mutter, seine geliebte Frau und sein ungeborenes Kind –, für immer hinter sich zu lassen.

Das Tarot muss weiter bestehen, damit die Menschheit überleben kann, rief er sich in Erinnerung und trat in die höllische Nacht hinaus. Die Zeit wird kommen. Nur jetzt noch nicht. Nicht in unserer Zeit.

ERSTER TEIL

Ebbe

Bei Ebbe geht das Wasser nicht weit zurück, und immer kommt es wieder.

Sprichwort aus Cornwall

1

Hoffnung war ein seltsames Gefühl, wenn man kurz vor seiner eigenen Hinrichtung stand. Aber nur so konnte Cayal diese fiebrige Unruhe bezeichnen, die ihn erfasste, als man ihn die Stufen zum Schafott hinaufführte.

Bald ist es vorbei,so oder so, sagte er sich.

Mit dem schwarzen Sack über dem Kopf konnte er nichts sehen, und das raue, scheuernde Sackleinen dämpfte auch seine übrigen Sinne. Vermutlich war die Vermummung eher dazu gedacht, den Zuschauern seinen Anblick zu ersparen, als ihm, dem Verurteilten, einen letzten Hauch von Privatsphäre zu gewähren. Der Sack über seinem Kopf dämpfte auch die Geräusche, sodass ihm die Welt draußen fern vorkam und seine Realität zusammenschrumpfte auf das, was er hören und fühlen konnte. Die grimmigen hohen Mauern waren verschwunden, ebenso der wolkenverhangene Himmel und der düstere Gefängnishof. Er konzentrierte sich auf die Empfindungen seiner Haut, das Gefühl der kalten Luft auf seinem nackten Oberkörper, den muffigen Leinensack über dem Kopf, der noch schwach nach früheren Hinrichtungen roch.

Cayal atmete diese Gerüche ein und hoffte.

Mit etwas Glück war diese Hoffnung das Letzte, was er in diesem Leben empfinden würde. Das Vergessen lockte, und Cayal hieß es mit offenen Armen willkommen.

»Was zum …?« Eine dicke, schwere Schlinge wurde ihm um den Hals gelegt. Er wehrte sich – was hatten die da mit ihm vor? Sie hätten ihm doch befehlen sollen, niederzuknien und den Kopf auf den Richtblock zu legen …

Cayal wand sich. Er wollte nicht gehängt werden! Ihn aufzuhängen brachte nichts. Es war völlig sinnlos. Und vermutlich sehr, sehr schmerzhaft …

»Nein!« Jetzt schrie und zappelte er, aber man hatte ihm die Hände auf den Rücken zusammengebunden, er war ihnen völlig ausgeliefert. Der Henker überprüfte den Sitz des Knotens an seiner Kehle unter dem linken Ohr, der Stelle, die einen schnellen Genickbruch garantierte.

»Noch was zu sagen?« Die barsche Stimme klang desinteressiert. Es war eine reine Formfrage, die letzten Wünsche eines Sterbenden interessierten hier niemanden.

Im ersten Moment bezog Cayal die Frage gar nicht auf sich. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass dies vermutlich seine letzte Chance war, Protest einzulegen.

In einem Tonfall, der alles andere als reumütig war, wandte er sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Was ist hier los? Ich sollte doch geköpft werden.«

»Der Scharfrichter hat Urlaub«, informierte ihn die desinteressierte Stimme. »Los, Anklage verlesen.«

Dieser Befehl war an eine andere Person gerichtet. Gleich darauf verkündete eine unsichere Stimme irgendwo links von ihm: »Kyle Lakesh, Bürger von Caelum. Du bist des siebenfachen heimtückischen Meuchelmordes angeklagt und für schuldig befunden …«

Als könnte Mord auch nett und ehrlich sein, dachte Cayal. Ärger stieg in ihm hoch. Der Scharfrichter hat Urlaub? Wollen die mich verarschen?

»… verurteilt dich das Allerhöchste Gericht von Lebec im unabhängigen Staate Glaeba für dein Verbrechen zum Tode.«

Cayal fluchte unter seinem Leinensack. Keiner hier würde die Ironie seiner Situation begreifen. Sieben Leute hatte er umgebracht, um hier zu landen. Sieben wertlose Menschen hatte er niedergemetzelt, nur um sicher dafür geköpft zu werden. Und jetzt ist der verdammte Scharfrichter im Urlaub! Halb belustigt fragte er sich, was das Allerhöchste Gericht des unabhängigen Staates Glaeba wohl zu den mehr als sieben Millionen Menschenleben gesagt hätte, die auf sein Konto gingen. Doch davon wussten sie hier nichts mehr.

»Gibt es Nachricht, ob eine Begnadigung des Fürsten vorliegt?«

Wieder so eine Formfrage, an den Adjutanten gerichtet. Eine Begnadigung in letzter Minute konnte nur der Fürst von Lebec persönlich aussprechen, was in den letzten fünfzig Jahren nur ein einziges Mal vorgekommen war. Das wusste Cayal sicher, denn er hatte es überprüft. Wenn jemand so darauf erpicht war, seinen Leiden ein Ende zu setzen, wie Cayal, dann machte er seine Hausaufgaben gründlich.

Die Justiz hier in Glaeba war streng, aber überraschend gerecht, was ihm sehr gelegen kam. Wenn man es bewusst darauf anlegte, sich köpfen zu lassen, hatte es wenig Sinn, sich dafür ein Land auszusuchen, das Mördern gegenüber Milde walten ließ.

Die Stille, die auf die Frage des Kerkermeisters folgte, machte Cayals letzte Chance zunichte, dass das Urteil nicht sogleich vollzogen würde. Gleich darauf hallten klobige Stiefel auf den hölzernen Planken des Schafotts, und eine behandschuhte Hand legte sich schwer auf seine Schulter.

»Bist du bereit?«

Und wenn ich jetzt nein sage?, fragte sich Cayal. Was macht er dann? Warten, bis ich in Stimmung bin?

»Ich will geköpft werden«, protestierte er, die Stimme vom Leinensack gedämpft. »Mich aufzuhängen ist reine Zeitverschwendung.«

»Vergibst du mir?«, fragte der Henker fast unhörbar leise. Cayal beschlich das Gefühl, dass von all den rituellen Fragen, die der Henker seinen Opfern stellte, ihn nur die Antwort auf diese eine wirklich interessierte.

»Das ist unnötig«, versicherte ihm Cayal.

Da er durch den Sack nichts sehen konnte, wusste er nicht, wie der Henker auf seine Antwort reagierte, aber ehrlich gesagt war ihm das auch schnuppe. Cayal hatte mit Vergebung schon lange nichts mehr am Hut. Er war längst jenseits der Verzweiflung. Nur um ganz sicher zu gehen, sondierte er einmal kurz im Geiste, ob nicht doch ein kleiner Rest seiner Macht verfügbar war. Doch da war nichts. Die magische Kraft der Gezeiten, über die er gebieten konnte, hatte sich spurlos verflüchtigt. Seine Magie würde ihm die schrecklichen Schmerzen nicht ersparen, die auf ihn zukamen …

Noch ehe er den Gedanken zu Ende geführt hatte, schwang unter ihm die Falltür auf, und er fiel hinab wie ein Stein.

Gnadenlos straffte sich das Seil und schnürte ihm die Luft ab. Cayal zuckte wild und schlug um sich, als der plötzliche Ruck ihm die Luft aus den Lungen presste. Der Knoten unter dem linken Ohr renkte ihm den Kiefer aus, und dann brach mit einem hörbaren Knacken sein Genick.

In wilder Verzweiflung zappelte Cayal am Ende des Seiles, strampelte, würgte und hoffte, er würde sterben. Denn jetzt schien der Tod nicht so weit entfernt. Seine Augen tränten vor Schmerz. Seine gequälte Seele brüllte auf und flehte den Tod an, sich seiner zu erbarmen. Konnten seine wilden Zuckungen die Aufgabe des Henkers vollenden? Seine Qual war unvorstellbar. Schlimmer als jede nur erdenkliche Folter. Vor seinen Augen tanzten weiße Lichtpunkte, sein Herz raste, unerträgliche Schmerzen zuckten ihm wie Blitze durch Kiefer und Hals, er konnte nicht atmen …

Cayal schrie auf in einer Sprache, die in Glaeba schon lange niemand mehr kannte, flehte die Mächte der Finsternis an, ihn endlich zu holen … und dann, mit dem allerletzten Rest Atem, der ihm noch geblieben war, wurde sein Schrei zu einem verzweifelten Heulen. Sein Todeskampf dauerte schon viel zu lange.

Die letzte Luft in seinen Lungen war aufgebraucht. Seine Gurgel war zerquetscht. Sein Genick gebrochen.

Und immer noch lebte er.

Lange, lange Zeit ließen sie ihn hängen.

Schließlich war es der nervöse Adjutant, der befahl, den Hingerichteten abzuschneiden.

Mit einem Rums schlug Cayal hart auf dem Boden auf und blieb im Schlamm liegen. Als sich die Schlinge endlich lockerte, holte er röchelnd Atem, füllte mühsam seine Lungen. Und schon spürte er den Schmerz, mit dem sein ausgerenkter Kiefer, sein zerquetschter Kehlkopf und sein gebrochenes Genick von selbst zu heilen begannen.

»Bei den Gezeiten!«, hörte er den Adjutanten rufen, als man ihm den Leinensack vom Kopf riss. »Der lebt immer noch!«

Auch der Henker beugte sich über ihn, in seinem Gesicht stand das helle Entsetzen. »Wie kann das sein?«

Mit schmerzenden Augen blinzelte Cayal im grellen Licht der Frühlingssonne und sah zu den Männern auf. Raue Gesichter, die ihn ohne jedes Mitgefühl anstarrten, füllten sein Blickfeld.

»Ich kann nicht sterben«, krächzte er durch seinen zerquetschten Kehlkopf und den ausgerenkten Kiefer. Selbst wenn er die Worte korrekt hätte artikulieren können, benutzte er unwillkürlich seine Muttersprache, und die sprach in ganz Amyrantha schon seit Langem kein Mensch mehr. Als ihm das klar wurde, fügte er auf Glaebisch hinzu: »Ich bin unsterblich.«

»Was sagt er?«, fragte der Adjutant verwirrt.

»Irgendwas von erblich?«, meinte der Henker achselzuckend.

Cayal nahm einen weiteren tiefen Atemzug, der noch schmerzhafter war als der zuvor. Dann hob er den Kopf und schmetterte mit aller Kraft sein Gesicht auf den Boden, damit sein ausgerenkter Unterkiefer wieder in die Gelenkpfanne zurücksprang.

»Ich bin unsterblich«, wiederholte er in seiner Sprache. Niemand verstand ihn. Trotz all seiner Schmerzen verlor er allmählich die Geduld mit diesen Narren, die zu beschränkt waren, um ihm endlich die Erlösung zu bringen, nach der er sich so entsetzlich sehnte. »Ihr … könnt mich nicht … töten. Ich bin ein … Gezeitenfürst.«

Erst später, als der Kerkermeister herunterkam, um nach dem Rechten zu sehen, hatte er sich genügend erholt, um seine Behauptung in einer Sprache zu wiederholen, die selbst diese dummen Glaebaner verstanden.

»Ich bin … ein Gezeitenfürst«, verkündete er und verdrängte für einen Moment den rasenden Schmerz. Er rechnete damit, Entsetzen auszulösen, vielleicht auch ein wenig Ehrfurcht – schließlich waren sie soeben Zeugen seiner Unsterblichkeit geworden. Dass er jetzt noch auf Skepsis stieß, war kaum denkbar. »Und da ich gerade bewiesen habe, dass ihr mich nicht erhängen könnt, verlange ich … geköpft zu werden!«

Der Kerkermeister war alles andere als beeindruckt. »Ein Gezeitenfürst, ja?«

So gebieterisch, wie er es bei dem wüst pochenden Schmerz in seinem Hals und Kiefer vermochte, nickte Cayal. »Ihr müsst … mich noch einmal hinrichten. Aber macht es dieses Mal richtig.«

Der Mann sah stirnrunzelnd auf Cayal herab, der zusammengekrümmt vor ihm auf der Erde lag, und lachte freudlos auf. »Auf deinen Befehl, Bürschchen, muss ich überhaupt nichts tun. Und wofür du dich hältst, ist mir schnuppe.«

Cayal hatte sich nicht überlegt, was geschehen würde, wenn sie ihn nicht köpften. Jedenfalls nicht so konkret. Er hatte sich ganz darauf konzentriert, ein Ende zu machen. Da wollte er nicht über die Folgen nachdenken, wenn es denn doch nicht klappen sollte – schon, damit nicht vielleicht gerade deshalb etwas schiefging. Lukys würde ihn einen abergläubischen Narren schimpfen. Aber Lukys würde ihm noch ganz andere Dinge an den Kopf werfen, wenn er von dieser katastrophalen Eskapade wüsste. Flüchtig fragte sich Cayal, wo Lukys stecken mochte. Er hatte seit über einem Jahrhundert keinen seiner Gefährten mehr gesehen. Sonst wäre er vielleicht gar nicht in diese Lage gekommen. Aber die anderen zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollten, war so gut wie unmöglich. Es war so leicht, in einer Welt unterzutauchen, die von Millionen von Menschen bevölkert war, wenn die eigene Spezies nur aus zweiundzwanzig Mitgliedern bestand.

Also hatte Cayal, einsam und verzweifelt, den tiefsten Stand der Gezeiten abgewartet und dann bewusst und methodisch auf das Ende seiner Qualen hingewirkt.

Und war kläglich gescheitert – was ihm erst in vollem Umfang klar wurde, als der Kerkermeister sich erkundigen kam, was da schiefgegangen war.

»Ich bin … Cayal, der unsterbliche … Prinz«, stieß er zwischen wimmernden Schmerzenslauten hervor. Die Schlinge und seine Zuckungen am Seilende hatten beträchtlichen Schaden angerichtet, das würde nicht in ein paar Stunden heilen. Vielleicht über Nacht, aber es würde auf jeden Fall seine Zeit brauchen.

»Eine Nervensäge bist du, sonst gar nichts«, knurrte der Kerkermeister. Dann wandte er sich an die Wächter, die über Cayal gebeugt dastanden und zusahen, wie er sich auf dem kalten Boden vor Schmerzen wand, während langsam der Heilungsprozess voranschritt. »Bringt ihn in den Rückfälligentrakt, bis ich entschieden habe, was wir mit ihm machen.«

»Habt Ihr … mich nicht verstanden?«, fragte Cayal, als der Kerkermeister davonging, und fragte sich, ob seine Worte irgendwie weniger Autorität besaßen, nur weil er auf dem Boden lag. Dem Kerkermeister jedenfalls war die Bedeutung seines Gefangenen offenkundig entgangen.

»Ich habe dich durchaus gehört, du mörderischer Wicht«, knurrte der Kerkermeister über die Schulter. »Wenn du denkst, dass du der Schlinge entgehst, indem du dich verrückt stellst, dann liegst du falsch.«

Verrückt? Wer stellt sich hier verrückt?

»Ihr wisst ja nicht … mit wem Ihr es zu tun habt!«, versuchte er zu donnern, aber er konnte nur heiser den Rücken des Kerkermeisters ankrächzen. Mittlerweile raubte ihm der Schmerz fast die Besinnung. Beschleunigte Wundheilung war eine äußerst unangenehme Sache.

»Du hast anscheinend noch eine Menge über die glaebische Justiz zu lernen, mein Guter«, bemerkte einer der Wächter und zog ihn auf die Füße. »Na kommt schon, Eure Heiligkeit. Eure königliche Suite erwartet Euch schon.«

Cayals Beine baumelten kraftlos unter ihm, und seine Schienbeine schlugen gegen die steinernen Stufen, als sie ihn die enge Wendeltreppe zum Rückfälligentrakt hinaufschleppten, um zu klären, wie mit einem Mann zu verfahren war, der einfach nicht starb.

Dass dieser Mann wirklich unsterblich sein könnte, war für sie natürlich völlig ausgeschlossen.

2

Warlock konnte die Gefahr über den Gang hinweg riechen, sogar in der Dunkelheit. Die Witterung überdeckte all die anderen widerlichen Gefängnisgerüche, die allgegenwärtige Mischung von schimmligem Stroh, schalem Urin, menschlichem Kot und den sauren, penetranten Kohldünsten, die sich in jede Ritze seiner Kerkermauern eingefressen hatte. Auch der ferne Regenduft kam nicht dagegen an. Das Gefühl unmittelbar drohender Gefahr zerrte an einer uralten Erinnerung jenseits von Verstand oder Vernunft. Es wurde irgendwie noch ominöser durch das ferne Donnergrollen, als draußen ein Sturm gegen die dicken Kerkermauern peitschte, gegen die er doch nichts vermochte.

Warlock wusste, was dort auf der anderen Seite des Korridors lauerte. Er konnte die Bedrohung schmecken, so deutlich, wie er die rostigen Gitterstäbe unter seinen Pfoten spürte, so deutlich, wie er die Wächter hören konnte, die am Ende des langen Ganges lärmend um Geld spielten. Die Wachstube lag so weit entfernt, dass aus ihr kein Lichtstrahl bis zu seiner Zelle drang. Doch er vernahm die Wärter trotzdem mit seinem feinen Hundegehör, das so viel stärker ausgeprägt war als Menschenohren und selbst als die Ohren eines Suzerain.

Warlock spähte zur gegenüberliegenden Zelle hinüber und fletschte die Zähne. Obwohl der Insasse schon die ganze Nacht ununterbrochen stöhnte, schlief er offenbar und würde Warlocks Respektlosigkeit nicht bemerken. Wahrscheinlich war ihm das auch einerlei. Aber Warlock fühlte sich dadurch ein wenig besser. Wenn er schon nichts gegen sein Unbehagen tun konnte, konnte er dem Feind wenigstens ins Gesicht knurren, das machte dieses Gefühl immerhin etwas erträglicher.

Die Gefahr, die er spürte, war am Vorabend angekommen, und zwar in Gestalt des Zelleninsassen von gegenüber. Ein Fremder, wie die Wächter Warlock erzählten, solange sie müßig herumstanden und warteten, bis einer der Ordonnanzen die Zelle für den Neuankömmling hergerichtet hatte. Ein Wagenschmied aus Caelum, verurteilt wegen Mordes. Gestern hätte er hingerichtet werden sollen.

Und dann, seltsam, hatten sie ihn hierhergebracht.

Hier war der Rückfälligentrakt. So nannten zumindest die Wächter diesen feuchten, schrecklichen Ort. Von den Namen, die die Insassen ihm gaben, war »Hölle« noch die freundlichste Bezeichnung. Der Rückfälligentrakt im Gefängnis von Lebec war den schlimmsten Verbrechern von Glaeba vorbehalten. Jenen, die die Obrigkeit niemals wieder freilassen wollte, die sie aber aus irgendeinem Grund nicht hinrichten lassen konnte.

Und warum sollten sie uns auch töten, dachte sich Warlock, wo wir ihnen doch so ein schönes Spektakel bieten, wie wir hier bei lebendigem Leib verfaulen.

Warlocks Verbrechen war weniger spektakulär. Er hatte nur einen Mann getötet. Dass sein Opfer drei Welpen seiner älteren Schwester ermordet hatte und eben dabei war, seine jüngere Schwester zu vergewaltigen, als Warlock ihm mit bloßen Händen die Kehle aufriss, hatte den Magistrat nicht interessiert. Denn der Magistrat bestand aus Menschen, und Warlock war ein Crasii. Ein Sklave. Sein Verbrechen bestand darin, die Hand gegen einen Menschen erhoben zu haben, und welche Gründe ihn dazu bewogen hatten, interessierte niemanden.

Das Einzige, was Warlock vor der Hinrichtung bewahrt hatte, war der Umstand, dass sein Opfer ein Gesetzesbrecher ohne Angehörige war. Am Ende des Prozesses war niemand aufgestanden und hatte Gerechtigkeit gefordert. Allein das schon hätte für einen Freispruch ausgereicht, wäre Warlock ein Mensch gewesen. Die Rechtsprechung von Glaeba bemaß die Strafe nach den Konsequenzen des Verbrechens – je weniger Folgen ein Verbrechen hatte, desto milder fiel auch die Strafe aus. Der Mann, den Warlock getötet hatte, wurde von niemandem betrauert, und wäre sein Mörder ein Mensch gewesen, hätte das Gericht den Prozess womöglich sogar wegen Geringfügigkeit eingestellt. Aber bei Warlock war es nicht das erste Mal gewesen. Als halber Welpe war er einmal zufällig in eine Kneipenschlägerei geraten und hatte sich mit einem Mann geprügelt. Das hatte ihm eine Anklage wegen Körperverletzung eingebracht. Und somit war er ein Rückfälliger und landete im Rückfälligentrakt.

Die Glaebaner waren vielleicht gerecht, aber besonders tolerant waren sie deshalb noch lange nicht. Einmal einen Menschen anzugreifen konnte noch als Unfall durchgehen. Aber das zweite Mal machte ihn zu einem gefährlichen Wiederholungstäter. So gefährlich, dass auf seinem zerschlissenen Häftlingskittel der Stempel »lebenslänglich« eingeprägt war.

Und jetzt, gerade als Warlock begonnen hatte, sich allmählich mit seiner Haft abzufinden, hatten sie einen Suzerain gefangen und versuchten doch tatsächlich, ihn zu töten.

Was für Idioten.

Der Mann auf der anderen Seite des Korridors stöhnte im Schlaf. Er stöhnte schon die ganze Nacht. Warlock vermutete, dass er immer noch heilte. Das war der Preis der Unsterblichkeit. Die Natur hatte es nicht gern, wenn man an ihr herumpfuschte. Zweifellos würde der Suzerain am Leben bleiben, aber der beschleunigte Heilungsprozess war gnadenlos. Die höllischen Schmerzen, die ihn noch im Schlaf zum Schreien brachten, waren der Preis, den man für die Unsterblichkeit zu zahlen hatte.

Wieder schrie der Gefangene heiser auf, dann begann er etwas in einer Sprache zu murmeln, die Warlock nicht verstand. Alles, was er über Suzerain wusste, kannte er aus der alten mündlichen Überlieferung der Crasii, die seit Generationen weitergegeben wurde. Seine Angst und sein Abscheu waren ebenso instinktiv wie vernunftgeleitet. Das ging allen Crasii so. Allein die Nähe eines Suzerain genügte, um ihnen jeden Impuls von Unabhängigkeit, jeden Hauch von Mut oder gar Widerstandsgeist zu rauben. Warlock wusste, dass seine Spezies eigens gezüchtet worden war, um den Suzerain zu dienen. Es überraschte ihn, dass er fähig war, einem Suzerain gegenüber Hass zu empfinden. So nahe, wie der Mann ihm war, hätte Warlock sich längst in eine sabbernde Masse hündischer, kriecherischer Unterwürfigkeit verwandeln müssen. Aber seltsamerweise war dem nicht so. Er konnte den Suzerain fühlen, seinen Geruch schmecken, trotzdem fühlte sich Warlock nicht veranlasst, dem Herrn und Meister seine Dienste anzubieten.

Vielleicht lässt er ja mit der Zeit nach, dachte er, dieser innere Zwang, den Suzerain zu dienen. Es war tausend Jahre her, dass man zum letzten Mal von ihnen gehört hatte. Nicht seit dem letzten Weltenende.

Oder vielleicht stehen die Gezeiten zu tief. Warlock wusste nicht, wie man die Launen des Gezeitensterns erkannte. Seine Spezies war zwar durch Magie erschaffen worden, aber konnte die Gezeitenmagie selbst weder spüren noch lenken.

Er grübelte immer noch über dieses Rätsel nach, als er ein neues Geräusch bemerkte, das aus der Wachstube kam. Das schwache Scharren eines Stuhls, das schabende Geräusch von Leder gegen Stein, gemurmelte Entschuldigungen, ein Versprechen, wiederzukommen … Einer der Wärter machte sich an seinen Rundgang.

Warlock spähte durch die Gitterstangen, aber da war noch kein flackernder Fackelschein, der in seine Richtung kam. Trotzdem wich er vorsorglich einen Schritt zurück. Aus langer Erfahrung wusste er, wie bedrohlich allein seine bloße Anwesenheit auf die Wächter wirkte. Wenn er auch noch vorne am Gitter stand, würden sie das als offene Provokation empfinden.

Dass sie ihn fürchteten, störte ihn nicht. Das gab ihm zumindest ein wenig Selbstwertgefühl an diesem Ort, der dazu gemacht war, jeder Kreatur die Lebensgeister auszusaugen, ob Crasii oder Mensch. Zu wissen, dass die Wächter ihn für gefährlich hielten, bedeutete, dass er immerhin noch am Leben, immer noch handlungsfähig war.

Noch bevor er das Licht durch den engen steinernen Durchgang um die Ecke kommen sah, meldeten ihm die Schritte schwerer Stiefel auf den Steinplatten, dass der Wächter im Anmarsch war. Den schlurfenden Rhythmus dieser Schritte kannte er, das war Goran Dill, der schwatzhafte, fette Korporal, der gerne dem Ale zusprach und Orchideen sammelte. Ein seltsames Hobby für einen Gefängniswärter, wie der Korporal bereitwillig zugab. Er unterhielt sich gern mit den Gefangenen. Vielleicht hoffte er, die Gefahr, der er tagtäglich ausgesetzt war, zu mildern, indem er sich mit den Insassen anfreundete. Warlock hätte erwidern können, dass es ein recht seltsames Hobby für jeden Mann war, nicht nur für einen Gefängniswärter, aber kein zurechnungsfähiger Häftling legte es darauf an, es sich mit einem der wenigen halbwegs anständigen Wärter in diesem Höllenloch zu verderben. Also hatte er lächelnd genickt und sich bemüht, interessiert zu wirken, als Dill sich ausließ über Farben, Variationen und Habitate von Blumen, die er selbst nur vom Hörensagen kannte.

Man tut eben, was man kann, um in diesem Loch zu überleben.

Das Licht wurde heller, als sich Goran Dill näherte. Warlock konnte ihn riechen, lange bevor er in sein Blickfeld kam. Der Mann stank nach altem Schweiß, verdrecktem Leder und dem schwachen Duft der Blumen, die er so hingebungsvoll pflegte.

Als er die Zellen erreichte, hob Goran die zischende Fackel in die Höhe und blinzelte in die Düsternis.

»Na, du Töle, kannste nicht schlafen, was?«, bemerkte er, als Warlocks Augen im Fackelschein aufleuchteten.

»Nicht bei dem Krach da drüben«, erwiderte Warlock und wies mit dem Kinn in Richtung der Zelle, wo der stöhnende Suzerain eingesperrt war.

Goran legte den Kopf schief und lauschte einen Augenblick. Wieder faselte der Mann unzusammenhängendes Zeug in einer fremden Sprache, die weder der Crasii noch der Wärter verstanden.

»Wie lange macht er das schon?«

»Schon die ganze Nacht.«

Der Wärter zuckte die Schultern. »Der hätte mal lieber verrecken sollen, wie es sich gehört. Dann hätte er jetzt diesen Ärger nicht.«

Gorans Mangel an Mitgefühl war nicht weiter überraschend. Warlock konnte ihn gut nachvollziehen, aber er musste schlafen, und daraus würde nichts werden, solange in der Zelle gegenüber ein Mann vor Schmerzen schrie.

»Könnt Ihr ihm nicht etwas geben?«

»Sehe ich aus wie ein verdammter Apotheker?«

»Dann schlagt ihn doch bewusstlos«, schlug Warlock vor. »Oder noch besser, lasst mich ein paar Minuten rein zu ihm. Ich sorge schon dafür, dass er die Klappe hält.«

Goran schien belustigt. »Sicher, klar, das ist aber mal ’ne wirklich gute Idee. Ich lass dich rein zu ihm, Töle, ja? Und wie erkläre ich dann morgen früh eine Leiche im Trakt?«

»Korporal Dill, darüber müsst Ihr Euch garantiert keine Sorgen machen, das könnt Ihr mir glauben. Dieser Mann wird nicht sterben.«

»Dann glaubst du seine Geschichte also? Dass er so ein Unsterblicher ist?«

»Hat er das gesagt?«

»Er behauptet, er ist ein Gezeitenfürst«, informierte ihn Goran. »Er meint, deshalb hat’s bei ihm mit dem Strick nicht geklappt.«

»Dann müsste doch ein kurzer Schlag auf den Kopf genügen – entweder zeigt sich, dass er die Wahrheit sagt, oder Ihr habt dem Henker die Arbeit seiner nächsten Hinrichtung erspart«, erwiderte Warlock und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie überrascht er war. Nicht, dass er sich dazu besondere Mühe geben musste, die Beleuchtung war dämmrig und Goran Dill unfähig, das Mienenspiel der Crasii zu deuten, somit war es unwahrscheinlich, dass ihm etwas auffiel. »Wie auch immer, wenn er bewusstlos ist, hält er die Klappe, und ich kann schlafen.«

Wieder brüllte der Suzerain. Sein gequälter Aufschrei hallte an den steinernen Mauern wider, und nun begannen auch die anderen Gefangenen, im Schlaf unruhig zu werden.

Goran seufzte schwer, aber dann nickte er zustimmend, da musste etwas getan werden. »Na gut. Ich schau mal, was sich machen lässt.«

Er klemmte die Fackel in die Halterung an der Wand, nahm den Schlüsselbund vom Gürtel und fummelte am Schloss herum. Wenig später schwang die Zellentür auf, hinter der der Suzerain lag. Durch die Gitterstäbe konnte Warlock sehen, dass der Mann nichts von seinem Besucher bemerkte. Entweder schlief er tief, oder er konnte vor Schmerzen nicht wahrnehmen, was um ihn herum vorging. Goran Dill ging zu der Pritsche und starrte auf den gekrümmten Körper hinab, der sich auf der verdreckten Strohmatratze hin und her warf. Dann zog er seinen Knüppel und verpasste ihm einen harten, gezielten Schlag auf die Schläfe. Sofort war der Mann still.

Erleichtert atmete Warlock auf.

»Mag sein, dass er unsterblich ist«, scherzte Goran, als er die Zellentür wieder zusperrte, »unverwundbar ist er jedenfalls nicht.«

»Ich danke Euch«, sagte Warlock mit ehrlicher Dankbarkeit.

»Immer zu Diensten«, meinte Goran und hob die Fackel aus der Halterung. »Jetzt sieh mal zu, dass du ’ne Mütze Schlaf kriegst, Töle. Dass du mir morgen nicht knurrst und geiferst, wenn du dein Bad kriegst.«

»Ein Bad?«, wiederholte Warlock überrascht. »Warum soll ich denn ein Bad verpasst kriegen?«

»Im Rückfälligentrakt ist morgen Badetag für alle, mein Junge. Ihr kriegt auch frische Klamotten, und wir müssen eure Zellen schrubben und die Strohschütten auswechseln.«

»Wieso das denn?«, fragte Warlock. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was in diesem Kerker einen solch unerwarteten Ausbruch von Reinlichkeit auslösen sollte.

»Es kommt ein wichtiger Besucher«, informierte ihn Goran und schickte sich an zu gehen. »Zu unserem Gezeitenfürsten hier. Ein wirklich wichtiger Mann ist das. Dem wollen wir ja den Anblick von euch stinkenden Dreckspatzen nicht zumuten, was?«

»Wer denn?«, fragte Warlock neugierig. »Was für ein wichtiger Mann?«

»Declan Hawkes«, rief Goran über die Schulter, »der Erste Spion des Königs höchstpersönlich.«

Mit dieser Ankündigung ging der Wächter davon, summte unmelodisch vor sich hin und nahm den flackernden Fackelschein und seinen strengen Geruch mit. Seine schlurfenden Schritte verhallten, und Warlock blieb allein in himmlischer Stille.

Der Erste Spion des Königs beehrt die Gefangenen im Rückfälligentrakt mit seinem Besuch.

Warlock saß auf seiner Pritsche und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Was war so wichtig, dass ein bedeutender Mann wie Declan Hawkes sich persönlich in die Niederungen des Gefängnisses von Lebec begab?

Durch die Gitterstäbe spähte er hinüber zu dem bewusstlosen Suzerain jenseits des Gangs und glaubte zu wissen, was der Grund war.

3

Die Ankunft des Ersten Spions, des obersten Beamten des königlichen Geheimdienstes von Glaeba, war für das Gefängnis von Lebec ein außerordentliches Ereignis, wenn auch kein sonderlich willkommenes. Obwohl er hier in Lebec keine Befehlsgewalt besaß – zumindest nicht offiziell –, war Declan Hawkes Auge und Ohr des Königs von Glaeba, und das machte ihn zu einem Mann, dem man lieber mit Vorsicht begegnete.

Aus dem Fenster seines Amtszimmers, das auf den düsteren Gefängnishof hinausging, sah der Kerkermeister seinen hohen Besucher im strömenden Regen vom Pferd steigen. Er nagte an seiner Unterlippe und fragte sich, was diese äußerst beunruhigende Wendung des Geschehens zu bedeuten hatte.

Will er mich persönlich für eine missglückte Hinrichtung zur Verantwortung ziehen?

Dass sein Bericht über diese missliche Angelegenheit Ärger nach sich ziehen würde, hatte er erwartet. Er hatte mit einer Untersuchung gerechnet, vielleicht sogar mit einer Rüge, damit der caelische Gesandte zufriedengestellt war – aber der Erste Spion des Königs hier in seinem Gefängnis …

Ob er meine Abdankung will? Oder noch Schlimmeres?

Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Ihm waren Gerüchte von Männern zu Ohren gekommen, die das Missfallen des Ersten Spions erregt hatten und nie wieder gesehen wurden. Er kannte auch die anderen, noch beunruhigenderen Gerüchte über diesen Mann aus einfachsten Verhältnissen, den Sohn einer Hure, der vor fünf Jahren mit gerade mal fünfundzwanzig Jahren zum obersten Beamten des königlichen Geheimdienstes ernannt worden war, weil sein Vorgänger Daly Bridgeman in den Ruhestand ging. Als der Beschluss verkündet wurde, ihn in die Reihen der königlichen Justizbeamten aufzunehmen, hatte alle Welt am Verstand des Königs gezweifelt. Aber nachdem Declan Hawkes es trotz seiner dubiosen Herkunft erst einmal geschafft hatte, sich zum Ersten Spion ernennen zu lassen, zweifelte bald niemand mehr daran, dass er alle nötigen Fähigkeiten für dieses Amt mitbrachte – er war rücksichtslos, effizient und hatte keine Skrupel, Umstände oder Personen zu beseitigen, die er für eine Bedrohung der Souveränität seines Landes hielt.

Der Erste Spion verschwand aus seinem Blickfeld, als er das Gebäude betrat. Der Kerkermeister wandte sich vom regennassen Fenster ab und zwang sich, dem dicken Kloß in seiner Kehle zum Trotz den letzten Schluck aus seiner Teetasse zu trinken. Dann setzte er die Tasse ab – das Porzellan klirrte verräterisch – und sah sich ein letztes Mal prüfend in seinem Amtszimmer um, um ganz sicherzugehen, dass es hier nichts mehr gab, was dem Ersten Spion womöglich ins Auge fallen konnte. Was genau das sein könnte, davon hatte der Kerkermeister nicht die leiseste Ahnung. Und das machte Hawkes so gefährlich. Man wusste einfach nie, worauf er gerade aus war.

Obwohl er es erwartet hatte, zuckte der Kerkermeister vor Schreck zusammen, als es einige Minuten später an seiner Tür klopfte. Er setzte sich und stand dann gleich wieder auf. Lieber dem Mann auf gleicher Höhe begegnen, als von seinem Stuhl zu ihm aufschauen zu müssen.

Noch bevor er die Aufforderung zum Eintreten geben konnte, öffnete sich die Tür. Der Kerkermeister musste dem Drang widerstehen, sich den Angstschweiß von der Stirn zu wischen.

»Master Hawkes! Was für ein unerwartetes Vergnügen!«

Der Erste Spion musterte ihn neugierig und schloss die Tür hinter sich. »Gestern habe ich Nachricht geschickt, dass ich nach Lebec komme, Kerkermeister. Habt Ihr die Botschaft nicht erhalten?«

Declan Hawkes wirkte in Person noch bedrohlicher als sein Ruf. Er war fast einen Kopf größer als der Kerkermeister. Sein feuchtes Haar war dunkel wie seine Augen … Augen, denen nichts entging.

»Doch, ja, natürlich …«

Hawkes entledigte sich seines regennassen Umhangs aus Ölzeug und schüttelte die Regentropfen auf den Teppich, völlig unbekümmert über den Schaden, den er damit anrichtete. »Dann kommt meine Ankunft wohl kaum unerwartet, nicht wahr?«

Der Kerkermeister wusste nicht, was er erwidern sollte. Hawkes, dieser Abschaum aus den Elendsvierteln von Lebec, stand da, wartete auf eine Antwort und schien es förmlich zu genießen, wie sich die unbehagliche Stille ausdehnte.

Der Kerkermeister hielt es nicht aus. »Tja … wollt Ihr Euch nicht setzen, Master Hawkes?«

»Ich danke Euch.«

Aus Angst, dass seine Knie unter ihm nachgeben würden, sackte der Kerkermeister abrupt auf seinen Stuhl, während Hawkes seine lange Gestalt auf den gegenüberliegenden Besucherstuhl gleiten ließ. Der Schreibtisch war erstaunlich leer geräumt. Die halbe Nacht hatte der Kerkermeister damit zugebracht, um sicherzugehen, dass nicht ein einziger Zettel auf der abgewetzten ledernen Oberfläche das Augenmerk des Ersten Spions auf sich ziehen konnte.

»Ich … ich nehme an, Ihr seid wegen dieser Hinrichtung gekommen?«

»Ach. Und dabei geht in Herino das Gerücht um, Ihr wäret mit keinen besonderen Geistesgaben gesegnet«, gab Hawkes zurück.

Die Augen des Kerkermeisters verengten sich. Er musste sich nun mal mit dem Ersten Spion des Königs abgeben, aber hier sitzen und sich von ihm beleidigen lassen musste er nicht. Also keine falschen Höflichkeiten mehr. »Was wollt Ihr, Hawkes? Ich bin ein viel beschäftigter Mann.«

Hawkes’ dunkle Augen glitten über die leer gefegte Schreibtischplatte, dann lächelte er. »Das sehe ich. Warum habt Ihr versucht, ihn zu hängen?«

»Wie bitte?«

»Ihr habt versucht, diesen Gefangenen zu hängen. Ich hatte bislang den Eindruck, dass die in Lebec übliche Hinrichtung durch Abschlagen des Kopfes erfolgt.«

»So ist es«, bestätigte der Kerkermeister. »Aber vor ein paar Wochen ist die Mutter meines Scharfrichters verstorben. Er ist zur Beerdigung nach Herino gefahren und hat dort noch Familienangelegenheiten zu regeln. Damit wir derweil nicht in Verzug geraten, habe ich entschieden, einstweilen ohne ihn weiterzuarbeiten. Da das Köpfen ein Handwerk ist, bei dem Erfahrung vonnöten ist, werden bis zu seiner Rückkehr die Verurteilten gehängt.«

»Ich verstehe.«

»Ich nehme an, Ihr wollt den Gefangenen verhören?«, erkundigte sich der Kerkermeister.

»Später.«

»Warum später? Mit Sicherheit wollt Ihr doch als Erstes in Erfahrung bringen, wie Lakesh dieses Kunststück gelungen ist?«

»Erst wenn ich die Möglichkeit ausgeschlossen habe, dass es kein Kunststück war.«

Der Kerkermeister lächelte den Ersten Spion mit aller Herablassung an, die er aufbringen konnte. »Wisst Ihr, Master Hawkes, nur weil Ihr in den Elendsvierteln unter den Crasii aufgewachsen seid, müsst Ihr nicht alles für bare Münze nehmen, was man Euch dort erzählt hat.«

Declan Hawkes schien nicht einmal zu bemerken, dass der Kerkermeister ihn soeben beleidigt hatte. »Ich spreche von der Möglichkeit, dass dieser Caelaner einen Eurer Männer bestochen hat, um die Hinrichtung zu vereiteln – damit er die Chance auf einen zweiten Gerichtsprozess bekommt.«

»Das ist unmöglich!«

»Dass es zu einem zweiten Prozess kommt?«

»Nein. Dass einer meiner Männer bestechlich ist, ist absolut auszuschließen.«

»Ja, da habt Ihr sicher recht«, entgegnete Hawkes mit undurchdringlicher Miene. »Ich bin sicher, nur die ehrlichsten und charakterstärksten Männer schlagen eine Laufbahn als Henker und Gefängniswärter ein.«

Der Kerkermeister wand sich unter dieser ironischen Anspielung des Ersten Spions. »Selbst wenn meine Männer bestechlich wären – von einem Caelaner würden sie sich niemals zu so etwas anstiften lassen.«

»Ich verstehe, Ihr stellt also nur wahre Patrioten ein.«

Jetzt wurde es dem Kerkermeister doch zu bunt. »Das muss ich mir nicht anhören.«

»Ihr habt recht, Kerkermeister, das müsst Ihr nicht«, stimmte Hawkes zu. »Also werde ich einfach hier warten, und Ihr dürft gehen und mir den Henker herschicken, den will ich zuerst befragen. Dann die übrigen Wächter, die der Hinrichtung beigewohnt haben, und den Adjutanten und die Wärter, mit denen Lakesh täglich Umgang pflegte, bevor er auf so wundersame Weise dem sicheren Tod entging.«

»Was ist mit dem Gefangenen? Ich dachte, das Naheliegende wäre, ihn zuerst zu verhören.«

»So, dachtet Ihr?« Hawkes ließ die Frage im Raum stehen, als wartete er darauf, dass der Kerkermeister seine Annahme rechtfertigte.

Der tat, als bemerkte er das nicht. »Ich kann veranlassen, dass Ihr unverzüglich Gelegenheit bekommt, ihn zu verhören.«

»Bei den Verletzungen, die Ihr in Eurem Bericht genannt habt, dürfte der Mann kaum vernehmungsfähig sein.«

»Er hat sich erholt.«

Zum ersten Mal wirkte Hawkes überrascht. »Erholt? Wie das?«

»Bis auf ein paar abklingende Prellungen ist der Mann vollständig wiederhergestellt«, erwiderte der Kerkermeister achselzuckend. »Genau genommen war er das schon am nächsten Morgen.«

Hawkes lehnte sich in seinem Stuhl vor, eine Geste, die bei ihm drohend wirkte, ohne dass er sich besondere Mühe gab. Der Kerkermeister fragte sich unwillkürlich, wie der Kerl das anstellte. Beim Kaliber der Leute, mit denen ein Mann in seiner Position sich Tag für Tag herumschlagen musste, wäre dieser Trick auch für ihn von großem Nutzen.

»Ihr habt versäumt, diese außerordentliche Genesung in Eurem Bericht zu erwähnen.«

»Ich hielt es nicht für wichtig.«

Für eine beunruhigend lange Zeitspanne schwieg Hawkes, dann sagte er: »Vielleicht spreche ich dann doch zuerst mit dem Gefangenen.«

Der Kerkermeister lächelte triumphierend. Er hatte einen kleinen, aber bedeutsamen Sieg errungen. »Ich lasse Euch zu ihm bringen«, bot er an. Du kannst ihn verdammt noch mal da unten verhören, fügte er im Stillen hinzu. Wenn der Erste Spion des Königs glaubte, er könnte hier einfach einmarschieren und sein Amtszimmer übernehmen, ohne auch nur bitte zu sagen, dann täuschte er sich gewaltig.

Doch enttäuschenderweise stand Hawkes einfach auf, als hätte er den kleinen, aber bedeutsamen Sieg des Kerkermeisters gar nicht bemerkt. »Ich will ihn jetzt sehen.«

»Natürlich«, stimmte der Kerkermeister zu, läutete mit der kleinen Handglocke auf seinem Schreibtisch und erhob sich.

Wenig später öffnete sich die Tür. Der Wächter sah den Kerkermeister fragend an. »Sir?«

»Begleite Master Hawkes zum Rückfälligentrakt. Er möchte Kyle Lakesh sprechen.«

»Danke, Kerkermeister.« Hawkes wandte sich zur Tür.

Der Kerkermeister konnte einer letzten Spitze nicht widerstehen. »Wenn Ihr mit ihm fertig seid, möchtet Ihr vielleicht den Tee mit mir einnehmen?«

Hawkes starrte ihn an, dann lächelte er unerklärlicherweise. »Den Tee?«

»Ein zivilisierter Brauch von Männern guter Herkunft«, erklärte der Kerkermeister mit nur der allerleisesten Betonung auf dem Wort Herkunft.

Hawkes verbeugte sich mit für einen Mann aus so dubiosen Verhältnissen überraschender Grazie. »Ich danke Euch, Kerkermeister, aber ich fürchte, ich muss Eure … zivilisierte Einladung ausschlagen. Da ich schon einmal hier in Lebec bin, hatte ich geplant, mich nach Abschluss dieser Untersuchung mit einigen alten Freunden zu treffen.«

Der Kerkermeister lächelte. »Dann will ich mir nicht zuschulden kommen lassen, Euch von den Gespielen Eurer Kindheit fernzuhalten, Master Hawkes. Wenn Ihr mir ihre Namen nennt, kann ich gern für Euch in unserem Register nachsehen. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Eurer einstigen Gefährten inzwischen bei uns weilen …«

Hawkes war wohl zu niedriger Herkunft, um die Beleidigung überhaupt zu bemerken, er wirkte vielmehr belustigt. »Das ist durchaus denkbar, Kerkermeister. Vielleicht sollte ich Euch tatsächlich Namen nennen. Es gab da ein Mädchen, das mir damals ganz besonders nahe stand, wie hieß sie doch gleich … ach, natürlich. Arkady Morel. Sie ist inzwischen verheiratet. Wie man hört, hat sie es ganz gut getroffen. Vielleicht kennt Ihr sie ja?«

Der Kerkermeister wurde blass. Sein kleiner Sieg über diesen unerträglichen Mann schmeckte plötzlich wie Asche in seinem Mund. »Natürlich kenne ich sie.«

»Wunderbar! Wenn ich hier fertig bin, gebe ich Euch auch die Namen meiner anderen Freunde, dann könnt Ihr sehen, ob Ihr sie für mich findet. Ich bin im Palast von Lebec abgestiegen. Bei meiner alten Freundin Arkady.«

Hawkes verließ das Amtszimmer und ließ den Rest ungesagt.

Der Kerkermeister sank auf seinem Stuhl zusammen. Jeder hier in Lebec wusste, wer Arkady Morel war. Bei den Gezeiten, ganz Glaeba kannte sie.

Nur hieß sie inzwischen nicht mehr Arkady Morel. Heutzutage kannte man sie als Lady Arkady Desean.

Die Fürstin von Lebec.

4

Die Abendgesellschaften im Palast von Lebec waren immer großartige gesellschaftliche Ereignisse. Das exquisite Dekor, das traumhafte Menü, die tadellose Bedienung, die anregende Konversation und das Lügengeflecht, das dort Tag für Tag gesponnen wurde, stellten alles in den Schatten, was man sonst auf Lustbarkeiten des Hochadels von Glaeba geboten bekam.

Die Gastgeberin, Lady Desean, Fürstin von Lebec – ihre engsten Freunde nannten sie Arkady, und ihre Kollegen an der Universität kannten sie als Dr. phil. Desean –, führte den Vorsitz über die fürstliche Tafel mit jener ungezwungenen Leichtigkeit und Raffinesse, die nur lange Erfahrung verleiht. Mit ihren hohen glaebischen Wangenknochen, dem üppigen dunklen Haar und ihren ungewöhnlich saphirblauen Augen war sie das erlesenste Stück der fürstlichen Kronjuwelen, die strahlende Siegestrophäe ihres Gemahls. Doch ihre nach außen hin so vollkommene Ehe war eigentlich eine Farce, wenn auch sehr überzeugend gespielt. Arkady wusste, dass man sie hinter ihrem Rücken die Eisfürstin nannte, aber das machte ihr nichts aus. Sie war sehr gut darin, abfällige Bemerkungen und neiderfüllte Blicke einfach von sich abprallen zu lassen.

Die adelige Gesellschaft von Glaeba war beileibe nichts für schwache Nerven.

Etwa zwanzig Gäste hatten sich heute Abend unter der hohen Decke des langen Bankettsaals eingefunden, allesamt in erster Linie Stellans Freunde, nicht ihre – wenn man sie denn als Freunde bezeichnen wollte. Viele von ihnen waren eher Bekannte; mit einem Großteil der Gäste pflegte der Fürst wichtige geschäftliche und diplomatische Beziehungen. Andere waren hier, um sich bei ihrem Landesherren einzuschmeicheln, weil sie von ihm eine bestimmte Gunstbezeugung erhofften. Einer oder zwei, wie der Poet Etienne Sorell, der in der Mitte der langen Tafel saß und gerade die alte Lady Fardinger bezirzte, waren hier, weil sie die fesselnde Konversation gewährleisten konnten, für welche die Abendgesellschaften am Fürstenhof von Lebec so berühmt waren.

Ein paar Plätze weiter rechts von Etienne thronte ein weiterer Stammgast: Lady Tilly Ponting, selbst ernannte Wahrsagerin der Reichen und Berühmten von Lebec. Von einer etwas maßlosen Persönlichkeit, hatte die gute Witwe Ponting eine Vorliebe für hanebüchene Farbkombinationen und war immer für einen Lacher gut. Wenn man so reich war wie sie, konnte einem Verrücktheit noch als Exzentrik durchgehen. Außerdem besaß sie die spezielle Gabe, unangenehme Pausen in der Tischkonversation mühelos mit irgendeiner hirnverbrannten, aber harmlosen Bemerkung zu überbrücken, und dieses Talent machte ihre Anwesenheit bei gesellschaftlichen Anlässen wie diesem absolut unbezahlbar. Seit ihrem letzten Erscheinen bei Hof leuchtete ihr Haar in einem neuen, grellen Purpurton, und vorhin hatte sie sich erboten, nach dem Dessert für alle Anwesenden die Tarotkarten zu legen. Was bedeutete, dass die politischen Diskussionen sich auf ein Minimum beschränken würden – in Anbetracht der angespannten politischen Lage eine wirklich brillante Idee.

Andere Gäste, so wie der Mann, der neben Stellan saß – und über die Tischecke hinweg mit Kylia Debrell, der Nichte ihres Gemahls, flirtete –, waren aus ganz eigenen Gründen hier und damit viel gefährlicher als Tilly. Arkady beäugte ihn nachdenklich, wobei sie ihrer Sitznachbarin zur Rechten abwesend zunickte. Die Dame ließ sich lauthals über die wachsende Anzahl verwilderter Crasii aus, die ihren Herren davongelaufen waren, und dass man gegen diese Plage doch endlich etwas unternehmen müsse. Arkady nippte an ihrem Wein und betrachtete durch den Wald von Kristall und Tafelsilber, der die obere Hälfte der Tafel von der unteren trennte, den jungen Mann. Er musste ihren Blick gespürt haben, denn er sah unvermittelt auf und prostete ihr spöttisch mit seinem Weinglas zu, um sich dann wieder vollständig Lady Debrell zuzuwenden.

Arkady runzelte die Stirn. Jaxyn Aranville. Oberaufseher der fürstlichen Crasii-Zwinger. Entfernter Cousin des Grafen von Darra. Hallodri. Spieler. Tunichtgut. Auf seine dunkle Art sah er extrem gut aus, und das wusste er auch. Ein arroganter Mann. Und Stellans Liebhaber, daher unmöglich loszuwerden.

Lange konnte das nicht halten, da war Arkady sicher. Das taten die Affären ihres Mannes nie. Stellan tat ihr wirklich leid, er war ein sanfter Mann, der anderen nie etwas nachtrug. Aber er würde mit seinem Leben nie zufrieden sein, denn die Liebe, die er suchte, würde er nie finden. Arkady fand, er suchte sich immer die falschen Männer aus.

Sie vermutete, dass Jaxyn nur mit ihm spielte. Schenkte man dem Klatsch Glauben, hatte der junge Lord Aranville vor Stellan seine Gunst einer Frau geschenkt, die gut zehn Jahre älter war als er. Und so heißblütig, wie er Kylia Debrell jetzt ansah, war es gut möglich, dass er Stellan eines Tages wegen einer siebzehnjährigen Jungfrau den Laufpass gab. Die Nichte ihres Mannes schien nichts gegen seine Aufmerksamkeiten zu haben, wie Arkady verstimmt bemerkte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, die beiden so nah zusammenzusetzen, aber sie hatte keine Wahl gehabt. Kylia war nun einmal Stellans Erbin und musste gemäß dem Hofzeremoniell zur Rechten ihres Onkels sitzen. Diese Abendgesellschaft fand ihr zu Ehren statt. Stellans Nichte und Thronfolgerin war erst vor wenigen Tagen unerwartet aufgetaucht, und ihr Debüt in den Lebecer Adelskreisen erforderte nichts Geringeres als ein Galadiner mit allen Schikanen. Dennoch hätte Arkady nicht gedacht, dass ein leichtfertiges junges Mädchen für einen Mann wie Jaxyn Aranville von Interesse sein könnte.

Andererseits flirtete er vielleicht gerade deshalb mit ihr. Weil er wusste, dass Arkady nie damit gerechnet hätte.

Jaxyn Aranville tat solche Dinge. Das amüsierte ihn.

»Meint Ihr nicht auch, Euer Gnaden?«

Arkady nahm ein fernes Donnergrollen wahr – diesen Frühling stürmte es oft – und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mann zu ihrer Linken zu, einem Herrn Ende fünfzig mit beginnender Glatze, einer der wenigen Gäste des heutigen Abends, den Arkady als ihren Freund betrachtete. Wie sie war auch er Akademiker und forschte zur verlorenen Geschichte von Amyrantha. Es war eine undankbare Aufgabe, die ihnen für ihre Bemühungen nur Verachtung eintrug. Denn die Leute interessierten sich nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft.

Deshalb war Tilly Ponting mit ihren leidigen Tarotkarten auf Abendgesellschaften auch so unglaublich populär.

»Bitte entschuldigt, Andre. Ich fürchte, ich war in Gedanken meilenweit fort.«

»Doktor Fawk meinte eben, dass diese verwilderten Crasii uns leidtun sollten«, informierte sie Lady Jimison mit einem Mund voller Trüffelpastete, und sie klang ziemlich pikiert. »Ich meine, Euer Gnaden, seid Ihr in letzter Zeit mal in den Elendsvierteln gewesen? Draußen am Stadtrand wimmelt es geradezu von diesen verlausten Kreaturen. Sie leben da wie die Tiere, kopulieren, wo immer es sie überkommt, und die Straße betrachten sie als öffentliche Bedürfnisanstalt. Es ist einfach ekelerregend. Man sollte sie allesamt einfangen und einschläfern.«

»Ist das nicht etwas drastisch?«, fragte Arkady und versuchte sich vorzustellen, wie Lady Jimison mit ihren zierlichen Satinschühchen im knöcheltiefen Schlamm der Elendsviertel von Lebec herumwatete. »Die Crasii in unseren Elendsvierteln – wie auch in jeder Stadt in Glaeba – sind bitterarm, haben kein Einkommen, keine Unterkunft und verfügen über keine der minimalen Existenzgrundlagen, wie sie die hörigen Crasii in Anspruch nehmen können. Sie haben so gut wie keine Chance auf einen Arbeitsplatz und darum nur wenig Hoffnung auf ein besseres Leben. Ich kenne diese Leute, liebe Lady. Sie verdienen unser Mitleid, nicht unsere Feindseligkeit.«

Lady Jimison runzelte die Stirn, ob wegen der radikalen Haltung ihrer Gastgeberin in Crasii-Fragen oder der unpassenden Erinnerung an ihre niedrige Herkunft, konnte Arkady nur vermuten. Es machte ihr diebisches Vergnügen, Snobs und Heuchler wie Lady Jimison daran zu erinnern, dass ihre Fürstin ihr Leben in eben jenen Elendsvierteln begonnen hatte, die sie so sehr verachteten. Und Mitleid mit den Crasii war in der guten Gesellschaft momentan alles andere als en vogue. Das war schon lange aus der Mode gekommen, seit vor etwa zehn Jahren Harlie Palmerston seine Theorie der menschlichen Evolution veröffentlicht hatte. Für ihn waren die Crasii nichts als eine mutierte Seitenlinie der Menschheit und lebender Beweis für seine Theorie, dass die menschliche Rasse ihren Platz am oberen Ende der Nahrungskette ihrer höheren Intelligenz zu verdanken hatte.

Da es bis zu diesem Zeitpunkt nur eine andere Erklärung für die Existenz der Crasii gegeben hatte – der bizarre Gedanke, dass die mythischen Gezeitenfürsten Mensch und Tier auf magische Weise vereinigt hätten, um so eine Rasse von Sklaven zu züchten, die ihnen bedingungslos diente –, war Palmerstons Theorie in den wissenschaftlichen Kreisen von Glaeba auf begeisterten Widerhall gestoßen. Wenn man dem Gesandten von Caelum – der zwischen Kylia und Etienne saß – Glauben schenken durfte, stand diese Theorie kurz davor, auf globaler Ebene als erste logische und umfassende Theorie der menschlichen Evolution Anerkennung zu finden. Für die Lady Jimisons dieser Welt war die Wissenschaft hinter der Theorie natürlich von wenig Interesse. Bigotte Heuchler wie sie suchten nur nach Bestätigung für ihren Hass auf die Crasii.