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Ein historischer Roman in vier Büchern, angesiedelt im Florenz der Renaissance während der Herrschaft Cosimos I.
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Seitenzahl: 550
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Giuliano
Eduard Stucken
Inhalt:
Eduard Stucken – Biografie und Bibliografie
Giuliano
Erstes Buch - Die Streiche des Prinzen Karneval
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Zweites Buch - Das Maifest
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Drittes Buch - Ein verwunschenes Schloß
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Viertes Buch - Homo homini lupus
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Giuliano, Eduard Stucken
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849637293
Cover Design: Orange, von Sharon Apted
www.jazzybee-verlag.de
Deutscher Schriftsteller, geboren am 18. März 1865 in Moskau, verstorben am 9. März 1936 in Berlin. Sohn eines deutsch-amerikanischen Großkaufmanns. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Dresden absolvierte er von 1882 bis 1884 eine kaufmännische Ausbildung in Bremen. Anschließend studierte er Kunstgeschichte, Assyrologie und Ägyptologie in Dresden und Berlin. Er war zeitweise tätig bei der Deutschen Seewarte in Hamburg und unternahm ausgedehnte Reisen, die ihn u.a. nach Griechenland, auf die Krim, in den Kaukasus sowie nach Italien und England führten. 1890/91 nahm er an einer wissenschaftlichen Expedition nach Syrien teil. Ab 1891 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin. In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte er neben wissenschaftlichen Studien zu ethnologischen und sprachhistorischen Themen ein umfangreiches literarisches Werk.
Eduard Stuckens literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. In seinen frühen, neuromantischen Dramen verarbeitete er häufig Stoffe aus der keltischen Sagenwelt. Seine Prosaarbeiten sind geprägt von des Autors Hang zu Prunk und Exotismus sowie von einem zum Bombast neigenden Stil. Seinen größten Erfolg erzielte Stucken mit dem mehrbändigen Roman "Die weißen Götter", in dem der Untergang des Aztekenreiches geschildert wird.
Eduard Stucken gehörte der Preußischen Akademie der Künste an und blieb auch nach den nationalsozialistischen Säuberungen der Akademie im Jahre 1933 Mitglied. Im Oktober 1933 zählte er zu den Unterzeichnern des "Gelöbnisses treuester Gefolgschaft", einer an Hitler gerichteten Ergebenheitsadresse regimetreuer deutscher Autoren.
Wichtige Werke:
Die Flammenbraut. Blutrache, 1892
Astralmythen der Hebräer, Babylonier und Ägypter, 1896/97
Yrsa, 1897
Gawân, 1901
Hine-Moa, 1901
Lanvâl, 1903
Myrrha, 1908
Lanzelot, 1909
Astrid, 1910
Romanzen und Elegien, 1911
Merlins Geburt, 1912
Die Opferung des Gefangenen, 1913
Die Hochzeit Adrian Brouwers, 1914
Das Buch der Träume, 1916
Tristram und Ysolt, 1916
Die weißen Götter, 1918 - 1922
Das verlorene Ich, 1922
Vortigern, 1924
Larion, 1926
Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“ verfügbar; zusätzliche Bedingungen können anwendbar sein, und ist im Detail zu finden unter http://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Stucken
Der Mikrokosmos ist ein Abbild des Makrokosmos – das wußten bereits die Schreiber der Pyramidentexte. Eine Leibnizsche Monade ist ein Abbild des ganzen Menschen. Aber auch in jedem Menschen spiegelt sich das Schicksal seines Zeitalters und seiner Umwelt.
Wie Welten und Weltreiche, so haben auch manche Menschen ein silbernes, ein goldenes und ein kupfernes Zeitalter. Nicht immer sichtbar, schreibt die weiße Hand dem vom Glück Verhätschelten das "Mene-tekel-u-pharsin" an die Wand; und wörtlich übersetzt bedeutet das: "Silber-Minie" – "Gold-Sekel" – und – "kupferne Scheidemünze".
Mag Hesiod das goldene Menschengeschlecht dem silbernen vorangehn lassen, mag am Euphrat und am Ganges aus einer silbernen Zeit sich die goldene läutern, – stets ist das Dritte, das von steiler Höhe Abstürzende: das kupferne Zeitalter.
Für wenige, allzuwenige Glücksjahre glitt Italiens silbernes Zeitalter – die mondbeglänzte Kunst der Primitiven – in den Secol d'oro hinüber, in die Sonnenglut der Hochrenaissance. Nicht nur Raffael vergeudete sich. Die Landsknechte, die Rom plünderten, vernichteten eine bereits sterbende Kultur.
Herrscht der Mond über ein silbernes Menschengeschlecht und die Sonne über ein goldenes, so ist der Leitstern einer kupfernen Menschheit der Planet Venus.
Unter diesem Leitstern entstand die morbide glitzernde Spätrenaissance eines Correggio und Cellini. Weder schlichte Innigkeit noch das Große und Erhabene gefiel. Venus heischte eine blutwarme nervöse Sinnlichkeit. Als zu kalt und monumental wurde sogar der Marmor empfunden. Cellini gab sein Bestes im Erzguß, "cire perdue".
Verlorenes Wachs! – welch eine tiefgründige Bezeichnung! Man könnte an eine Mutter denken, die sterbend ihrem schönen Abbilde, ihrem Kinde, das Leben schenkt ...
Was sind die Männer und Frauen einer Epoche anderes als verlorenes Wachs, das schmelzen und schwinden muß, um Abbilder zu hinterlassen, – selten genug schöne, weit öfter fratzenhafte Abbilder der entarteten Zeit und Umwelt (deren kupferroter Himmel den einstigen Weltbrand bereits ankündigt! ...)
Tolles zu erleben, bizarre sowohl wie blendende Phantasmagorien vorüberrauschen zu sehn, waren die schaulustigen Florentiner in der Faschingszeit gewohnt. Eselrennen wurden in der Arena – der Piazza Santa Maria Novella – veranstaltet; und ganze Stadtviertel stifteten ihrem siegreichen Grautier einen silbernen Lorbeerkranz, als wäre es ein Dichterfürst. Da sah man Rennkämpfe öffentlicher Mädchen: das Laster, sonst nur einzeln und verstohlen in nachtdunklen Gassen schleichend, hier durfte es bei Tageslicht sich zur Schau stellen, in Scharen, umjubelt, Lob, Ehrenkronen zu gewinnen bestrebt. Fangbälle, umfangreicher als der gewaltigste Globus, rollten über das Backsteinpflaster der Gassen und über flüchtende, stürzende, lachend aufkreischende Fußgänger hinweg. Kindjunge Karnevalsfischerinnen warfen ihre Angeln aus (an denen Makronen und Zuckergebäck als Köder hingen), um Männerherzen zu fischen, – und wenn nicht das, so doch wenigstens einen vom Angelhaken angebohrten Männerhut oder gar eine Perücke. Der Triumph der Liebe trabte gemächlich durch die Gassen, – der wildmähnige göttliche Knabe spannte den Flitzbogen und zielte, umgeben von musizierenden Damen (seinen Opfern) auf einer mit glitzerndem Brokat behängten Quadriga. Und ebenfalls vierspännig und goldbedeckt zogen die anderen Triumphe Petrarcas einher, sogar der der Keuschheit, il Trionfo de la castità (man traute seinen Augen kaum! ...)
Priestergesänge, wie in den Zeiten der Republik, den düstern Zeiten Fra Girolamos, übertönten die Freudenschreie des Prinzen Karneval längst nicht mehr. Der Prinz war Vasall des Tyrannen von Florenz; und da sein Lehnsherr, der Duca Cosmo de' Medici, blasse Brutusgesichter nicht liebte, war Ausgelassenheit Vorschrift.
Gehorsam belachte und bestaunte Florenz alle Fastnachtsnarreteien. Diese jedoch waren althergebrachte, zahme, entgiftete Tollheiten und hielten den Vergleich nicht aus mit einem mehr als tollen Anblick, der im klaren Sonnenlichte eines frühlingshaften Februarnachmittags sich der festlich flutenden Volksmenge darbot.
Ein menschengroßer weißer Vogel schritt vom Domplatz her dem Ponte Vecchio zu. Doch der weiße Vogel hatte ein Menschenantlitz, hatte die klugen Gesichtszüge einer etwa dreißigjährigen Frau von adliger Schönheit. Zuzutrauen war diesen schneeblassen Lippen, daß sie, verfänglich und tückisch, durch zauberhaft süßen Gesang Männer an sich locken und Männerblut trinken konnten wie die wehmütigen Münder ihrer gefiederten Schwestern am Totengestade. Aber war sie denn, wie jene Sirenen der Odyssee, ein Mischwesen, halb Mensch, halb Tier? Wer sie dafür gehalten, erkannte bald, als sie näher kam, seinen Irrtum: nicht aus ihrer Haut heraus wuchsen die langen Schwungfedern, die sich schwanenflügelhaft an ihren Armen fächerten und bauschten; – angeklebt waren sie, und ebenso die ihrer Nacktheit ein Hemd ersetzenden Daunen. Wiegend, knabenhaft schmal, schritt sie, den Kopf finster gesenkt; blauschwarzes Lockenhaar rieselte auf ihre birnenförmigen Brüste.
Mehrere gutgekleidete maskierte Jünglinge führten sie an einer um den Vogelleib geschlungenen Eisenkette. Sie schienen Studenten zu sein, Wärter dieses Meerwunders.
Unheimlich stumm folgte eine unabsehbare Menschenmenge. Witz und Hohn verkrochen sich wie schuldbewußte Doggen vor ihrer Herrin, der sieghaften Anmut.
Von der Piazza della Sigrioria her nahte durch eine der Seitengassen eine Kavalkade und stieß mit dem weißen Vogel zusammen. Der Zug machte halt. Kaum hatten die Studenten (oder was sie sein mochten) im vordersten Reiter den Duca Cosmo erkannt, ließen sie die Kette klirrend zur Erde fallen und mischten sich unter die Volksmenge, um unauffällig das Weite zu suchen.
Durch eine wogende Wolke von Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen starrten Cosmo und der weiße Vogel einander wortlos an.
Das längliche, schöne Gesicht des Duca blieb maskenhaft starr und streng, zeigte nichts von der Wut, die in ihm kochte ... Wie hatte diese tolle Frau den Mut aufgebracht, sich nach Florenz heranzuwagen, sich in die Höhle des Löwen zu wagen, – sie, die seit einer Reihe von Jahren (kein leeres Gerücht war das!) immer und immer wieder Attentäter bezahlte und aussandte gegen politische Gegner, so daß er, der vornehmste ihrer Feinde, etlichemal mit knapper Not den Anschlägen ihrer Assassinen entging ... Doch ins Unrecht gesetzt ward er heute durch die Florentiner, die das Gastrecht mißachteten! Welchen unerhörten Schimpf hatte man ihr, einer Feudalherrin, angetan! Sie war gefedert worden: entkleidet, mit Honig beschmiert, in Federn und Daunen gewälzt. So wurden Lustdirnen in Spanien gestraft. Wieviel Übles sonst Aragonesen, Borgias und kaiserliche Truppen aus der Nachbarhalbinsel eingeführt hatten, – diese rohe Sitte kannte man bisher nur vom Hörensagen in Florenz ... Und diese hohe Frau das Opfer! Wenn er Ursache genug hatte, ihr zu grollen, so war die ihr zugefügte Schmach ein Zwang für seine Ritterlichkeit, hinfort ihr ein Beschützer und Helfer zu sein.
Vor Jahren hatte er sie angebetet, bevor sie (ihre Mutter beerbend) die regierende Fürstin von Massa-Carrara wurde und als jungfräuliche Burgherrin in die beiden Meerburgen, das Castello delle cento camere und die Rocca di Venere, einzog. Bis zu ihrer Thronbesteigung war sie fast ein Jahr lang – als Freundin seiner ältesten Tochter – Gast im Palazzo degli Pitti gewesen, täglich im Banne seiner helleuchtenden Augen. Aber er, der Unvergleichliche, hatte sie nicht zu verführen vermocht. Sein Werben war an ihrer Virginität zerschellt wie Brandung am Felsen. Und eines Tages war sie aus dem Palast und aus Florenz verschwunden – gar sehr ihm zum Unheil, da er die durch sie entfachte Leidenschaft auf ein ihr gleichendes Wesen übertrug – (venenum veneno vincitur!) – der Sünde entgehend, in schlimmere Sünde verstrickt ...
Die Erinnerungsbilder in seinem Hirn jagten sich wie aufgeschreckte Hirsche. Dennoch währte es kaum den Bruchteil einer Minute, daß er zögerte, bevor er das Schweigen brach.
"Principessa Malaspina! ... Ihr, Lodovica?! ... Habt Ihr selbst dies kühne Karnevalskleid gewählt?"
Sie warf den Kopf zurück und lachte ihn an.
"Nein, Eccellenza! Der Fastnacht zuliebe würde ich mich so sommerlich nicht kleiden: Daunen sind kein Pelz!"
Augenblicks riß er sich seinen goldbestickten, mit Zobel verbrämten Mantel von den Schultern und legte ihn ihr um. Und hastig erteilte er seinen Begleitern Befehle, eine Sänfte herbeizuschaffen und warme Decken.
"Wer hat sich unterstanden, Euch zu federn, Principessa?"
"Ich kenne die Namen. Und das genügt."
"Nennt mir die Schandbuben, Principessa!"
"Wozu? ... Mir angetanen Schimpf pflege ich immer selbst zu strafen!"
"Ihr habt meinen Sohn nicht genannt, – doch ich weiß, daß nichts Schmähliches geschieht, an dem er nicht teilhat ... Hört mich an, Donna Lodovica! Florenz schuldet Euch Genugtuung. Wenn Ihr Euch an Pietro rächen wollt, so tut es in den nächsten drei Tagen. Ich werde Euch keinen Stein in den Weg legen. Wir schließen – Ihr und ich – einen dreitägigen Waffenstillstand als ehrliche Feinde, Lodovica."
"Das nehme ich dankbar an, Eccellenza."
"Eins aber müßt Ihr mir erklären –: wie habt Ihr den Mut aufgebracht, nach Florenz zu kommen? Was wollt Ihr hier?"
"Ich suche den König von Cypern."
"Einen König ...? In Florenz?"
"Er soll hier leben."
"Davon weiß ich nichts. Da aber Venedig Cypern besitzt, kann nur ein Narr sich König von Cypern nennen."
"Mag schon sein, daß er ein Narr ist. Doch er kommt aus Cypern und kann mir vielleicht Auskunft geben ..."
"Worüber?"
"Über eine Verwandte, die Tochter meines Großoheims, Marchesa Isotta Pasolini; und über meine von ihr adoptierte Base Contessina Violetta da Gambara, von deren mysteriösem Tod ein Matrose in Genua gesprochen haben soll ... Ich muß mir Gewißheit verschaffen."
"Wünscht Ihr, daß ich nach dem ›König‹ suchen lasse?"
"Das laßt meine Sorge sein, Eccellenza, – ich habe ja drei Tage Zeit dazu."
Die Sänfte wird gebracht. Des Duca Einladung, im Pittipalast zu wohnen, lehnt Lodovica dankend ab: mit ihrer Dienerschaft und ihrer (aus drei Negern bestehenden) Leibwache bewohne sie den Palazzo Ginori neben San Lorenzo.
Und die Sänftenträger schlagen den Weg nach dem Dom, der Via Larga und der Via Ginori ein.
Wie ein besiegter Feldherr mußte in der folgenden Nacht der Vorfrühling den Rückzug antreten und südwärts übers Meer fahren, afrikanischen Gefilden zu, von den schneidenden Winden des triumphierenden Winters verfolgt. Und gegen Abend des nächsten Tages verschworen sich sogar die auf Wolken reitenden Schneeengel, ein Saturnalienfest über Toscana zu veranstalten: lustig pfeifend und umherwirbelnd hüllten sie San Miniato zuerst, dann die Kuppel des Domes, den Turm des Palazzo Vecchio und schließlich alle Dächer, Straßen, Karossen und Fußgänger in einen silbrig flimmernden Flockennebel ein. Kaum noch war es möglich, hinter diesem wogenden Spitzenschleier, hinter dieser schäumenden Tarantella winziger kristallischer Tänzerinnen die flammenden Fanale und die grell erleuchteten Fenster des Palazzo Corsini zu erblicken, wohin die Nobili sowohl wie die reichen Popolani zu einem Maskenball geladen waren.
Der nordischen Landschaft draußen zum Trotz strahlte und glühte der Süden in den Prachträumen des Palastes. Rhododendron und Kamelien standen in Blüte, Liliendüfte und Myrrhenrauch durchfluteten die Tanzsäle. Die sieben Planeten und etliche Tierbilder des Zodiakus – an blitzenden Diamantensternen in den Frisuren kenntlich – promenierten im Festgewühl, astrologisch errechnete Schicksale den Damen ins Ohr flüsternd. Perser und Chinesen gleißten in pfauenhafter Seidenpracht. Langobarden, die Beine mit Lappen umwickelt, schleppten sich müde an ihren langen Bärten. Numidier, wollhaarig und kupferhäutig, boten Kaurimuscheln zum Tausch an. Zottige Wilde Männer – uomini selvatici – schwangen ungeschlachte Keulen. Griechische Nymphen ließen durch spinnwebedünne Gewänder hindurch ihre ätherischen Formen erraten; – nicht jedoch ihre Gesichter: denn alle Nymphen, Sylphen, Undinen, Gnomen und Salamander trugen schwarze Sammetmasken.
Und dies wurde Anlaß zu mancherlei Verwechslungen. So geschah es, daß Cosmos Lieblingssohn, der erst fünfzehnjährige Don Gracia, in einem vom Festgewühl etwas abgelegenen Zimmer einer ihn bezaubernden Nereide nachschlich. Sie hatte große grüne Froschfüße, ein Gewand aus Schilfblättern, und ihr Haar war mit Wasserlilien bedeckt. Als er sie eingeholt hatte, küßte er sie auf die überaus weiße Brust. Jene aber nahm sich lachend die Maske vom Gesicht. Da sah der Knabe, daß die Nereide nicht, wie er geglaubt hatte, die von ihm angebetete Donna Tolla Fiordespini war – sondern sein um drei Jahre älterer Bruder, der junge Erzbischof von Pisa, Kardinal Don Giovanni de' Medici. Heimlich bewunderte Gracia den begabten, zum künftigen Papst ausersehenen Bruder – doch immer hatte er seine Verehrung und Liebe hinter eine knabenhaft rüde Unfreundlichkeit versteckt und sich eingeredet, verhaßt sei ihm Giovannis schaugestellte Engelsgüte, mochte auch alle Welt sie bewundern. Und gerade weil Don Gracia an seiner unterdrückten Liebe litt, hätte er jetzt in die Erde versinken mögen – so beschämte ihn sein Kuß. Gutmütig klopfte der Kardinal dem Erschrockenen auf die Schulter.
"Ein Glück, daß das niemand gesehn hat, Gracia! ... Dein Kuß war ja ein Biß!"
"Verzeih mir, Giovanni", stammelte der Knabe. "Wie konnte ich ahnen, daß du ... daß du wie ein Mädchen bist ...!"
"Närrchen!" lachte Giovanni und ließ ihn ganz verwirrt stehn.
Der frühreife Knabe hatte nämlich mit Donna Tolla Fiordespini die Verabredung getroffen, sie solle als froschfüßige schilfbedeckte Nereide zum Ball kommen. Älter und reifer als er, tändelte sie mit seiner kindlichen Leidenschaft, verlachte seine Schwüre, ließ es aber unwidersprochen, wenn der kleine Mediciprinz sie seine Braut nannte. Es war kein Zufall, daß der Kardinalerzbischof – (ebenfalls ein Verehrer der leichtfertigen Damigella) – sich ihr ähnlich zurechtgemacht hatte; denn ihm war von ihrer Kammerfrau ihr Kostüm beschrieben worden, und überraschen wollte er sie als ihr froschfüßiges, schilfbekleidetes Spiegelbild.
Daß der Menschenverächter Cosmo – obzwar immer bereit, wenn es nottat, kaiserliche oder päpstliche Einladungen anzunehmen, fast nie jedoch bürgerliche – daß er an diesem Abend durch seine und der Seinen Gegenwart das Maskenfest ehrte, war eine hohe Auszeichnung für den Gastgeber. Vor einem Vierteljahrhundert, als nach der Erdolchung des liederlichen Duca Alessandro de'Medici dessen Vetter und Orgienkumpan Lorenzino unklugerweise nach Venedig und Konstantinopel geflohen war – anstatt als "neuer Brutus" die Früchte des Tyrannenmordes einzuheimsen –, hatte Andrea Corsini zu den Besonnenen gehört, die, sich um den Kardinal Cybò und Francesco Guicciardini scharend, dem schönen siebzehnjährigen Sohn des "Gran Diavolo", des tragisch für Italiens Freiheit ums Leben gekommenen Giovanni delle Bande Nere, auf den Thron Toscanas verhalfen.
Jedoch nicht alle Angehörigen Cosmos waren heute mit ihm zur Lustbarkeit gekommen. Die im Sarge lagen, konnten ja ihr stilles Haus nicht verlassen: das waren die beiden blütenjung, kaum erst mannbar, verblichenen Töchter Donna Maria und Donna Lucrezia. Im Pittipalast geblieben war krankheitshalber auch Cosmos Gattin, die Duchessa Eleonora di Toledo: seit langem schon wankte sie dem Grabe zu, unaufhaltsam, eine Vergiftete, zu spät Entgiftete, zu spät vom Rande der Gruft Zurückgerissene und dem Leben Zurückgegebene, lebend noch, ohne dem Leben mehr anzugehören ... Beim Ballfest fehlte auch der Älteste, der Thronerbe Don Francesco: den noch Ungeschliffenen hatte Cosmo für ein Jahr an den Madrider Hof geschickt, damit er dort die arte de prudencia, eleganten Hochmut zu zeigen und Gedanken zu verbergen, erlerne ... Nicht anwesend war auch die jüngste Prinzessin, Donna Isabella, die einzige noch lebende Tochter Cosmos. Allzuteuer war sie ihrem Vater gewesen in jenem Verhängnisjahr, als er sich verlassen sah von Lodovica, – der sie seltsam ähnlich war in ihrer amazonenhaften Wildheit. Blutenden Herzens hatte er sie dann nach Rom an den dickwanstigen Paolo Giordano Orsini, den Gonfaloniere der päpstlichen Truppen, verheiratet, durch eine tragische Verkettung gezwungen, das Kind aus einem schuldvollen Paradies in eine Ehehölle zu verstoßen.
In den zwei Staatskarossen, die von der Piazza Pitti zum Lungarno Corsini gefahren waren, hatten mit dem Duca seine drei minorennen Söhne gesessen – Kardinal Giovanni, Don Gracia und Don Ernando – und außer diesen auch seine Nichte Donna Faustina, Lorenzinos Tochter, um derentwillen tags zuvor die Fürstin Mala spina gefedert worden war.
Daß es Donna Faustinas wegen geschah, hatte Lodovica nicht erwähnt, als sie frostbebend auf der Straße die Fragen Cosmos beantwortete und auch nicht beantwortete. Erst bei seiner Rückkehr in den Pittipalast erfuhr er, daß die Fürstin zufällig Zeugin gewesen war, wie Donna Faustina auf der Via Larga von einem maskierten Jüngling – seinem mißratenen Sohn Don Pietro – belästigt wurde, der an sie das Ansinnen stellte, sie solle sich öffentlich vor allen Passanten von ihm küssen lassen. Und da Faustinas alte Ehrendame kein Schutz für die Prinzessin war – (ihr Sonnenschirm hätte gegen Pietros Florett nichts ausrichten können!) –, nahm sich Lodovica der Belästigten an und befahl ihrer Leibwache – ihren drei bis an die Zähne bewaffneten Negern –, die Damen nach Hause zu begleiten ... Zu spät wurde die Fürstin inne, daß sie sich selbst ihrer Beschirmer begeben hatte – wehrlos sah sie sich den wüsten Kumpanen Don Pietros ausgeliefert, die sie dann aus Rache federten.
Der sonst so stoische Duca ballte die Fäuste. Man hatte seine Freundin, seine Krähe, anzutasten gewagt, – sie, die er sein Gewissen zu nennen pflegte! ... Und in der Tat, das schöne Mädchen war wie sein Gewissen: gut und auch schlecht. In ihren Augen spiegelten sich Cosmos Traurigkeiten und sein Frohsinn; was aber in ihr selbst vorging, verrieten ihre Augen nicht. Vielleicht irrte er sich, wenn er ihre Versklavtheit für Liebe hielt ... Die Staatsklugheit hatte ihn einst gezwungen, als er den Thron des ermordeten Duca Alessandro bestieg, dessen Mörder Lorenzino de'Medici, Donna Faustinas Vater, erdolchen zu lassen. Die Bluträcherin hätte sein müssen, war seine Geliebte, seine "Krähe" (cornacchia) geworden ... Nicht etwa verstört, sondern mit überlegenem Humor beschrieb sie den Affront Don Pietros und bat Cosmo, sich's nicht so sehr zu Herzen zu nehmen. Sie hatte wahrlich drei Tränen Satans im Leibe: eine lachende, eine böse und eine schwermütige ...
Der ungalante, allzugalante Übeltäter Don Pietro, Isabella Orsinis Zwillingsbruder, der als erwachsener Prinz ein eigenes Haus mit fürstlichem Troß bewohnte, war von seinem grollenden Vater nicht mitgenommen worden. Vielleicht gehörte er nicht einmal zu den geladenen Gästen; – aber dennoch hatte er sich eingefunden: dank dem Maskengewühl war es ihm und auch einigen Kurtisanen, die nicht gebeten waren, möglich gewesen, sich unbemerkt unter die Tanzenden zu mischen.
Noch immer suchte der junge Gracia nach seiner Freundin Donna Tolla Fiordespini. Er wollte sie zur Rede stellen, er grollte ihr und hegte den eifersüchtigen Verdacht, daß sie seinen Bruder Giovanni heimlich verständigt habe – denn wie hätte der sonst auf den Gedanken kommen können, das Nereidenkostüm zu wählen? ... Im großen Tanzsaal hat Gracia sie nicht zu erspähen vermocht und nun forscht er nach ihr in den andern Sälen, Zimmern und Kammern, wo maskierte Paare, des Tanzens müde, ausruhn, Sorbetto schlürfen oder Arm in Arm promenieren. Schließlich gelangt er in einen Raum, der gemieden zu sein scheint, weil er dunkel und düster und gar nicht einladend ist für das lebensfrohe Geplauder und Gescherz der Masken. Im Dämmerschein einer einzigen Kerze schimmern schwärzlich an gekalkten Wänden Schwerter, Lanzen, Schilde und Morgensterne; und inmitten des Zimmers stehn Ritterrüstungen aufrecht da, ein froschgesichtiges eisernes Volk, durch den Zeitwandel zwecklos und inhaltlos geworden wie alte Krebsschalen. Es ist die Rüstkammer der Corsinis.
Schon will Don Gracia sich zurückwenden, da hört er – ganz sacht geflüstert – seinen Namen, erkennt die Stimme seiner Braut und eilt (sich beinahe verirrend im eisernen Gehege der hoch ihn überragenden Rüstungen) in die dunkelste Ecke des schummrigen Saales, von woher der Lockruf ertönte ...
Nach etwa einer Viertelstunde schleicht eine Wassernymphe aus dem Halbdunkel ins grelle Licht des Tanzsaales.
Noch ganz benommen vom Glück der Aussöhnung und wie versengt von den heißen Küssen Tollas, zögert Gracia, die Rüstkammer zu verlassen. Da tritt eine tiefverschleierte Vestalin herein. Die Flamme des antiken tönernen Öllämpchens, das sie in der Hand trägt, ist erloschen. Eine blaßblaue Sammetmaske deckt ihre Gesichtszüge; – doch ihrer biegsamen Gestalt nach zu urteilen, muß sie jung und anmutig sein. Rasch kommt sie auf den Knaben zu und raunt ihm einige Sonettverse ins Ohr, die ihn aus der Fassung bringen. Er murmelt ganz verwirrt:
"Von wem sind die Verse, Maske?"
"Von einer Dichterin; der besten in Florenz."
"Die ist eine Hure, sagt man."
Auch anständige Mädchen sind Huren, nur sagt man es von ihnen nicht."
"Du beleidigst eine, die ich liebe, denn sie ist ein anständiges Mädchen!"
"Wenn du die meinst, die dich eben küßte, so weißt du nicht, was ich weiß, Prinz."
"Was weißt du, Maske?"
"Komm morgen in meine Wohnung, dort wirst du's erfahren."
"Sag es jetzt gleich, Maske!"
"Nein, Prinz, heute würdest du mich erwürgen, wenn ich's sage."
"Vielleicht auch morgen, Maske!"
"Nicht mich! ... denn morgen werde ich dir den Star stechen, blinder Prinz; das kann ich hier nicht, das kann ich nur, wenn du zu mir kommst."
"Wo wohnst du, Maske?"
"An der Porta San Gallo, wo nur Vestalinnen wohnen!"
Traurig lachend geht sie hinaus. Er ist im Begriff, ihr nachzueilen, wird jedoch daran gehindert, da ihm an der Türschwelle ein dunkler Kavalier entgegentritt.
Der Eintretende hat sich nicht verkleidet, trägt auch keine Maske. Er ist ein hagerer Mann in schwarzer Hoftracht mit gestepptem Wams, seidenen moosgrünen Strümpfen und weißer Halskrause alla Spagnuola. Er hat den Gang eines Malvolio und die wissenden Augen eines Jesuiten. Einst war er in der Romagna ein Dorfpfarrer gewesen, bevor er ein Bravo der Orsini wurde und, zum Hauptmann avanciert, im Hause Medici eine Anstellung fand als Lehrer der Kriegskunst und Pagenerzieher. Der nicht mehr junge, immer düster dreinblickende Mensch, Abbate Agostino Selmi geheißen, ist neuerdings der Fechtlehrer Gracias und – nach Ansicht vieler – auch sein Hofmeister. Die ihn dafür halten, bedenken freilich nicht, daß ein soeben eingefangener Wolf sich leichter hofmeistern läßt als ein junger Medici.
"Was wollte die Vestalin von dir, Gracia? Laß dich mit der nicht ein!"
"Warum nicht?"
"Es ist La Delfina, die berüchtigte Kurtisane. Man weiß von ihr, daß sie immer hinter Kindern her ist. Der kleine Fabio Nerli hat sich ihretwegen erhängt ... Eingeschlichen hat sich die Hündin hier, – ich werde den Dienern sagen, daß man sie hinausjagen soll!"
"Wenn Ihr das tut, Messer Selmi, so gehe ich morgen zu ihr!"
"Lud sie dich ein zu sich?"
"Ja, das tat sie."
"Versprich mir, daß du nicht hingehn wirst, Gracia! Versprich mir ..."
Im großen Prunksaal tanzt der Kaiser von China mit einer hochgewachsenen, schwarz verschleierten Mohammedanerin eine spanische Seguidilla und flüstert mit ihr.
"Ich errate, wer du bist, Maske!"
"Auch ich kenne dich, Sohn des Himmels! – vielleicht besser als du selbst dich kennst."
"Dann weißt du also, daß ich gefährlich bin?"
"Auch ich bin es: ich werde heute deinem Sohn Pietro gefährlich sein."
"Ich habe es dir erlaubt; – strafe ihn, wie er es verdient ... Hast du den König von Cypern gefunden?"
"Ihn selbst sah ich noch nicht; doch seine Spur fand ich."
"Ist sie blutig, die Spur?"
"Warum ...?"
"Du sprachst vom mysteriösen Tod deiner Base. Wie starb sie?"
"Ich weiß nur, was ein Levantefahrer in Genua erzählt haben soll –: sie sei von dem Mann, der sie liebte, umgebracht worden."
"Die Vermutung liegt nahe, daß der Narr, den du suchst, ebensowenig ein Narr ist wie ein König."
"Deshalb suche ich ihn ja, in dies Dunkel hineinzuleuchten ..."
Schon zwei Stunden währte das Fest. Man war müde geworden des Tanzens und Stolzierens, die Augenlider und Wangen brannten unter den lästigen Gesichtsmasken; man entlarvte sich, man suchte Rast und leibliche Genüsse: sizilische, korsische, cyprische Weine, Zuckerwerk und kandierte Früchte boten sich lockend an auf kleineren und größeren Tischen in Kabinetten, Korridoren und Gemäldesälen. Stämmige Negersklaven balancierten auf säulenhaft aufragenden Armen Silberschüsseln mit Kapaunen, Spanferkeln, radschlagenden Pfauen, funkelfarbigen Goldfasanen. Die prickelnden Rhythmen des Orchesters erloschen wie ermattete Irrlichter – nur noch die Viola d'amore schwelgte nachtigallenhaft.
Zwischen einigen Altersgenossinnen saß in einem der kleineren Nebensäle Donna Faustina. Ihr Liebreiz, erhöht durch das kostbare, schmuckbehängte Cinderella-Kostüm, kam jetzt erst im vollsten Maße zur Geltung, nachdem ihre kindschmalen Wangen, der Gesichtsmaske ledig, vom botticellischen Rotblond ihrer Ringellocken wie von einem schwergoldenen Rahmen eingefaßt wurden. Sie saß – mit dem Rücken zu einem flandrischen Wandteppich – an der hinteren Längsseite eines nicht sehr langen und ziemlich schmalen Tisches. Zur Linken hatte sie Alda Pandolfini, Domitilla de'Monforte und Betta Ridolfi; zur Rechten Nannina Sansedoni, Agnese Gondi und Tolla Fiordespini. Die entsprechenden Plätze an der vorderen Längsseite der Tafel nahmen junge Kavaliere ein, Tänzer und Verehrer der kichernden Signorinas, lauter Träger nicht minder gutklingender altflorentinischer Namen. Bloß ein Stuhl, genau Faustina gegenüber, war unbesetzt. Auf diesem Stuhl hatte eben noch der dreizehnjährige Don Ernando de'Medici, Cosmos jüngster Sohn, gesessen, – der war jedoch durch die Affensprünge eines Arlecchino in den großen Tanzsaal weggelockt worden. Und so blieb denn bis zu seiner Rückkunft der Platz leer.
Maske gegen Maske eingetauscht hatte Faustina –: denn ihre Fröhlichkeit verbarg das wahre Gesicht ihrer Angst. Ob Pietro sich zwischen den Ballgästen umhertrieb, sie wußte es nicht; das aber wußte sie, daß eine Pferdebremse sich leichter verscheuchen ließ als er. Seinen Vorsatz, den verweigerten Kuß ihr öffentlich und zwar gewaltsam zu rauben, hatte tags zuvor ihre Retterin Lodovica Malaspina zunichte gemacht; – zuzutrauen war ihm, daß er nun erst recht versuchen werde, die Scharte auszuwetzen, mochte es auch hier angesichts der vornehmsten Florentiner geschehen. Hatte er sie im Tanzgewühl nicht zu erblicken vermocht, ebensowenig wie sie ihn, so war jetzt einander leichter zu finden, nachdem Männlein und Weiblein, demaskiert und bequem zu überblicken wie auf eine Schnur gereihte Perlen, nebeneinander tafelten.
Furchtsam wanderten Faustinas Augen immer wieder zu beiden offenen Türen hin, gewärtig, ihn auf sich zukommen zu sehn, ein Schreckgespenst. Und in der Tat – plötzlich stand er mitten im Zimmer. Aus seinen trunkenen Zügen leuchtete der Triumph, daß er sie gefunden, die Gesuchte.
Auch sonst leuchtete alles an ihm: vom Kopf bis zu den Zehen war seine Gestalt ein glimmerndes Geflirr. Am Diamantenstern im geckenhaft frisierten Haar ließ sich erkennen, daß er zu den sieben Planeten gehörte; und zwar stellte er die Sonne, d. h. il Sole, den Sonnenjüngling, dar –: daher der funkelnde Goldbrokat seiner trikotartig enganliegenden Kleidung. Kreisrunde Platten aus purem Golde klirrten auf dem Brokat, so dicht aneinander geschichtet, als wären es Fischschuppen. Inmitten der Brust war diese Beschuppung von einer tellergroßen Goldplakette unterbrochen, darauf in Basrelief Ikarus zu sehn war, der aus Sonnennähe kopfüber ins Meer stürzt, weil die Sonne das Wachs seiner Flügel geschmolzen. (Das mochte eine Warnung an Lodovica sein.) Durch den kostbarsten Schmuck aber zeichnete sich Pietros Gesäß aus: eine von Meisterhand entworfene biblische Szene – Dina, des Patriarchen Jakob Tochter, sich verzweifelt wehrend gegen die Küsse ihres Schänders, des Heviter-Prinzen Sichem – war mit grellweißen Seidenfäden auf den himmelblauen Hosenboden des prinzlichen Gesäßes gestickt.
Pietro ging auf den Tisch zu. Das Kichern der Damigellen war verstummt. Er faßte die Stuhllehne, er schob den Stuhl hinter sich und stand, beide Hände auf den Tischrand gestützt, Faustina gegenüber. Mit weinschwerer Zunge sagte er:
"Küsse mich, meine Seele."
"Ich bin deine Seele nicht, Pietro!"
"Du wirst es bald sein, Faustina!"
"Nie!"
"Oh, ich werde dich bezaubern, Faustina, –: ich besitze die Milch aus den Brüsten des rostschwarzen Adlers! Paß auf, du wirst bezaubert sein von mir!"
"Das möchte ich gern wissen, wie du das anfangen willst!"
"Da schau, wie! Da schau, wie es dir ergehn wird!"
Er wandte sich geschwind um, bückte den Oberkörper und zeigte ihr sein Gesäß.
Es war die denkbar ungeheuerlichste Beschimpfung einer Gentildonna. Doch von den jungen Kavalieren an der Tafel getraute sich keiner, dem gefürchteten Prinzen den Handschuh hinzuwerfen.
Während noch Pietro sich beugte, trug eben ein Negersklave Wildbret durchs Zimmer, und ein anderer Sklave ging hinterdrein mit Saucenschalen auf einem Tablett. Diesem zweiten Sklaven versetzte eine Mohammedanerin, die neugierig an Pietro herangekommen war, durch eine unvorsichtige Bewegung einen Stoß, so daß eine große Silberschale zu Boden fiel, und zwischen dem Prinzen und dem Tisch ein See von schwarzbrauner Wildbretsauce entstand. Trunken wie er war, bemerkte er es nicht.
Aber Faustina bemerkte es. Obgleich durch Schreck an ihn gebannt, waren ihre Blicke von ihm abgeglitten, um das dunkle Wesen – seinen Schatten gleichsam – zu streifen, sofort schon, als beide fast gleichzeitig ins Zimmer getreten waren. Wie alle, hatte auch die Mohammedanerin die Maske abgenommen, doch unerspähbar hinter einem dichten türkischen Frauenschleier blieb ihr Gesicht. Dafür verheimlichte die Kleidung nichts von ihrer biegsamen, amazonenhaften, knabenschlanken Gestalt. Und plötzlich durchzuckte Freude Faustinas Herz: die Verschleierte da konnte niemand anders sein als ihre gestrige Retterin Lodovica ...
Lange, allzulange hatte Don Pietro seine Rückseite bewundern lassen. Jetzt hob er den Rumpf und wandte sich eitel dem Tische wieder zu.
"Nun, wie habe ich dir gefallen, Faustina? Hast du dich endlich verliebt in mich? Willst du mich nun endlich küssen? – ich lasse dir die Wahl frei, wo!"
Die temperamentvolle Nannina Sansedoni konnte nicht länger mehr an sich halten. Sie schrie ihn an:
"Du gehörst in einen Schweinestall, du trunkenes Schwein!"
Auch Faustina wollte ihm eine empörte Antwort geben, – da sah sie, daß die Türkin ihr heimlich winkte und eine beschwichtigende Handbewegung machte. Sofort bezwang sich Faustina und lachte übermütig.
"Du hast mich bezaubert, Pietro! Du übertriffst die Aphrodite Kallipygos, – du weißt doch, die man in Neapel gefunden hat ..."
"Die mit dem schönen Steiß? Hast du jetzt endlich auch mich gefunden? Brav so! Küsse mich also!"
"Nachher ... Erst laß uns mit Rosa Solis anstoßen, – oder welchen Wein trinkst du am liebsten?"
"Deine weißen Lippen, Faustina."
"An denen nipptest du noch nicht ... hier in den Flaschen sind süßere und heißere Weine!"
"Deine Blicke sind der heißeste Wein, Faustina! ... Hast du ein Gespenst damit berauscht? Wessen Geist sitzt auf diesem Platz?"
"Niemandes. Komm, setze dich zu uns, Pietro."
"Ich brauche deine Erlaubnis nicht. Aber setzen will ich mich in aller Teufel Namen! – magst du mich auch in die Erde wünschen!"
Er stand an den Tisch gelehnt und rückte den Stuhl heran. Während er jedoch sich niederließ, riß die Mohammedanerin den Stuhl unter ihm weg. Rückwärts niederfallend setzte sich der Prinz mit seinem herrlichen silberweißen Gesäß in die schwarzbraune Wildbretsauce.
Die Lautlosigkeit, die darauf folgte, das erstickte tonlose Lachen – es war unbeschreiblich. Und es wurde unerträglich, wandelte sich in Gepruste, stoßweise hervorzischend wie Dampf aus geplatztem Kessel. Sie hielten sich die Seiten, wie wenn sie zu platzen fürchteten, die jungen Mädchen alle und ihre Ritter; und dann johlten sie, ja, trotz hoher Kultur und adeliger Erziehung johlten sie geradezu und verließen fluchtartig das Zimmer, stoben auseinander; mit ihnen auch Faustina und Lodovica. Als auf Pietros Alarmgeschrei andere Gäste aus den Nebensälen herbeikamen, stand die reichgedeckte Tafel verlassen da wie nach einem Erdbeben.
Nicht nur für den prinzlichen Hosenboden war, was sich ereignet hatte, eine Katastrophe.
Am Nachthimmel draußen schoben noch immer Schnee-Engel Wolken heran, finstere Wolken über Florenz. Sie verdeckten die Mondscheibe, die nur hin und wieder herausblinkte wie ein glitzernder Lachs aus dunkler Flut. Ausgetollt haben sich die Schneeflocken, mit ihrem Tanzen ist's vorbei; auf Türme, Schornsteine und Bildsäulen haben sie sich falterhaft niedergelassen. Kristallisch flirrend weißen sie das Dach einer Staatskarosse, die am Arno entlang zur Piazza Pitti heimfährt. Im Wagen befinden sich Faustina, der junge Kardinal Giovanni und das Nesthäkchen der Medicifamilie, der dreizehnjährige Don Ernando.
Ein paar feurige Andalusier sind vor die Karosse gespannt. Durch den Lungarno Corsini trappeln sie, vom Kutscher straff gezügelt, in gleichmäßigem Tritt und Trott, – etwas hohl klingt es auf dem mit schmelzendem Schnee wattierten Backsteinpflaster ... Da kommt am Ponte S. Trinità übermütiges Fastnachtsvolk, grelle Laternen schwingend, dem Wagen in die Flanke, und eine übermenschengroße Strohpuppe fällt vor die Pferdehufe. Die erschreckten Tiere gehn durch. Wahnsinn hat die Tiere ergriffen, selbstmörderischer Wahnsinn. Die mitten auf der Straße entgegenkommenden Fußgänger stürzen in wilder Flucht auf die linke Straßenseite zu, sich an die Mauern der Häuserreihe anzudrücken, und vermehren erst recht hiedurch die Gefahr, daß die Pferde nach rechts abgedrängt werden, wo unterhalb der Brüstung der Arno rauscht. Der rasend hüpfende Wagen hat die beiden Lakaien abgeschüttelt, in den Schnee geworfen, und saust, leichter geworden, um so geschwinder dahin, schon poltert er mit den rechten Rädern funkensprühend an die Brüstung. Niedrig ist die Brüstung, und der Fluß ist tief.
Da plötzlich wirft ein ärmlich gekleideter Mann, ein Pastetenverkäufer, seine Ware von sich, tut einen Tigersprung und hängt an der Kandare des einen Pferdes. Das andere bäumt wütend kerzengerade empor, gleitet aus auf dem geschmolzenen Schnee, stürzt. Und jenes, gebändigt durch das Gewicht des an ihm hängenden Menschen, steht nun stockstill, schaudernd, zuckend am ganzen Körper.
Während der zu Tode erschrockene Kutscher vom Bock steigt, dem gestürzten Pferde aufzuhelfen, öffnet der Pastetenverkäufer den Verschlag des Wagens. Kreideblaß steigt der junge Kardinal aus und murmelt Dankesworte. Von einem Passanten läßt sich der Fremde eine Laterne reichen und leuchtet in den Wagen, um der Signorina und dem Knaben herauszuhelfen. Da gewahrt er, daß beide ohnmächtig sind. Unschlüssig steht er, ob er es wagen darf, sie zu wecken. Dieweil er noch zögert, schlägt Faustina die Augen auf. Unheimlich nahe sind sich die vier staunenden, fragenden Augen.
"Hast du die Pferde zum Stehn gebracht?"
"Das kann nur der Gott der Pferde, Signorina."
"Wie heißt du?"
"Pulcinello hat keinen Namen ..."
In diesem Augenblick erlischt das Licht der Laterne. Und – doch das war vielleicht nur ein Wachtraum Faustinas. Ihr war, als streife falterhaft zart ein Kuß ihre Wange. Es konnte aber auch bloß Schneestaub gewesen sein, von einem Windstoß in den Wagen gewirbelt.
Als sie ohne seinen Beistand aus der Karosse gestiegen war, hatte er sich schon entfernt. Er habe die Goldbörse des Kardinals zurückgewiesen, wurde erzählt. Doch das war so unwahrscheinlich, daß Faustina es nicht glauben mochte; – eher glaubte sie, auch er sei nichts als Schneestaub oder ein Traum ihrer kranken Sinne gewesen.
Glocken riefen zur Frühmette, Schlüssel knarrten in Haustüren; Fensterläden klappten geräuschvoll ans Gemäuer; schon begannen Maultiertreiber mit gutmütigen Verwünschungen Säcke und Ballen aufzuladen; Waffenschmiede, Sargschreiner und Schuster hämmerten. Tok, tok, tok sagten die Nägel, ins Sargholz eindringend, – und zu ihrem Takt sang eine Knabenstimme das glückselige Karnevalslied des Lorenzo Magnifico. Graziös schreitende, holzbeschuhte Bäuerinnen brachten Gänseeier, Täubchen und Winterrosen zum Markt in Körben, die auf ihren Scheiteln wiegend schwebten. In der Lichtflut der Sonne ertrank das Licht des Morgensterns. Nirgendwo beginnt der Alltag zauberhafter als in Italien.
Durch eine der unsaubersten und verrufensten Gassen außerhalb der Porta San Gallo schallte der Glöckchenschritt einer jungen Hure. Daß sie eine der Hetären von San Gallo war, bewiesen die Glöckchen an ihrem Gewand, die rote Kappe auf ihrem kastanienbraunen Haar und ihr honiggelber Schleier. So zu gehn war für alle Kurtisanen Vorschrift, mochten auch manche der bedauernswerten Geschöpfe eine hohe humanistische Bildung haben und begabte Dichterinnen sein wie diese junge La Delfina.
Vor einer grauen Spelunke blieb sie gähnend stehn. Hier hauste ein berüchtigter Dieb, seines Zeichens ein Koch: Messère Lelio Marfagnone. Seine Spezialität waren nächtliche Besuche in Kirchen und Kapellen. Da er einst, als Jüngling, etliche Jahre in Famagosta gelebt hatte, hieß er "der cyprische Koch". Er hätte auch "der Kahlkopf" oder "der Pockennarbige" heißen können, denn Glatze sowohl wie Blatternarben verhäßlichten auffallend seine kühne Verbrecherphysiognomie. Eben öffnete er die Bottega und stellte auf das (wie eine Laube überwölbte) Fensterbrett Gläser mit Mostsirup, ferner Brezeln, Makronen und kleine Fleischklößchen, die er einem Schmortiegel entnahm. Während er damit beschäftigt war, goß seine Ehefrau, die Strega (oder Hexe) Finicella, aus dem oberen Stockwerk den Inhalt eines Nachtgeschirrs hinab in die Gasse.
La Delfina pflegte auf dem Rückweg von ihren nächtlichen Sündengängen beim cyprischen Koch den Morgenimbiß einzunehmen und zu warten, bis ihr halbwüchsiger Diener Guerzolo sie heimzubegleiten kam. Sie, die alle Nächte ohne Begleitung durch die stockfinsteren Gassen schlich, fürchtete im Morgenlicht Steinwürfe und üble Nachrufe von Straßenjungen. Den Imbiß nahm sie (wie alle es taten) auf der Gasse stehend ein, durch das überwölbte Fensterbrett getrennt von dem in der Bottega befindlichen Verkäufer. Devot redete er sie an, – sie glich ja einer Fürstin mehr als einer Hure.
"Euer Gnaden gähnen? Fleißig gewesen die ganze Nacht?"
"Nur eine halbe, Messer Lelio! ... Nein, keine Makronen, – gebt mir vom Mandelkuchen! ... Eine halbe Nacht in eines Basilisken Nest ..."
"Legte er nicht goldene Eier? Was war es denn für einer?"
"Ein Scheusal, ein Lakai, der seinen Herrn bestohlen hat ..."
"Der Tausendsassa! ... hat er auch Euer Gnaden Jungfernschaft gestohlen? ... Doch wenn er Euch ein Scheusal dünkte, warum gingt Ihr denn mit ihm?"
"Weil's ein Kerl war ... und was für ein Kerl! ... Dann aber – pfui Teufel! Man hat doch noch ein Herz ..."
"Eine schlechte Angewohnheit, Euer Gnaden! Das habe ich mir ganz abgewöhnt, das Herz ... Wart Ihr so übel gebettet?"
"In den Armen eines stinkenden Ziegenbockes ... Beruf ist ja Beruf, Messer Lelio, das ist nicht anders ... Aber heute habe ich es doch gesegnet, daß es bloß eine halbe Nacht war."
"Und die andere Hälfte?"
"Die vertanzte ich im Palazzo Corsini."
"Donner und Blitz! Da wart Ihr eingeladen?"
"Genau so eingeladen wie die böse Fee im Märchen. Wäre es herausgekommen, man hätte mich ausgepeitscht – mir eine Bastonata von einunddreißig Hieben auf den Rücken gepfeffert ... Dennoch habe ich es gewagt – nicht etwa weil ich tanzsüchtig war ..."
"Sondern?"
"Fragt die Kasserolle dort, warum sie ihr Liedchen summt; – ebensoviel Antwort werdet Ihr von mir erhalten ... Was macht Eure Tochter?"
"Die Antonietta? Die schläft noch, das Faultier, und träumt davon, Königin von Cypern zu werden."
"Noch immer? Hat sie es nicht aufgegeben? ... Und wo ist Seine Majestät, ihr hoher Verlobter?"
"Seine Majestät wäscht sich. Er leidet an königlicher Sauberkeit. Es ist eine Krankheit, Euer Gnaden!"
"Ich wünschte, alle Männer hätten die Krankheit! ... Eure Tochter ist zu beneiden ... Doch ehrlich gestanden, ich glaube nicht daran – – – "
"Woran?"
"Daß er ein Lusignan ist, ein Enkel der Catarina Cornaro."
"Unter uns gesagt, Euer Gnaden, ich glaube es ja selber nicht. Aber kommt es denn darauf an, daß wir es glauben? Die Hauptsache ist doch, daß die Welt es glaubt."
"Wenn sie es bis jetzt nicht tat ..."
"Oh, nur Geduld, sie wird noch!"
"Ist die Welt so dumm?"
"Unbeschreiblich dumm, – fast so dumm wie Seine Majestät."
"Wißt Ihr, Messer Lelio – doch lacht mich nicht aus –, wißt Ihr, was mir zuweilen vorkommt?"
"Was?"
"Daß Seine Majestät zu dumm ist, um ganz so dumm zu sein."
"Euer Gnaden meinen, daß er den Blöden spielt? ... Anfangs dachte ich es auch. Doch nein, nein, nein, – unmöglich. Stellt Euch vor: einmal nahm ich ihn nachts in eine Kirche mit – – –"
"Nachts? Seid Ihr so fromm, Signore?"
"So fromm bin ich ... Alles klappte. Wir hatten gute Arbeit getan. Da fängt Seine Majestät an, die Glocken zu läuten, so daß die Sbirren herbeigestürzt kommen ... Habt Ihr gehört, was er gestern abend angestellt hat?"
"Er hat zwei Prinzen gerettet ..."
"Doch wie! Die Pasteten wirft er in den Straßenkot – und die Goldbörse des Kardinals schlägt er aus! Als ob wir hier einen Goldklumpen nicht brauchen könnten! Als ob mein Kind Antonietta nicht seine Braut wäre, die auch einmal Unterhosen und einen Hüftenwulst tragen möchte wie die vornehmen Signoras! ... So dankt er es uns, daß wir ihn aus den Läusen aufgelesen haben!"
"War Jacopo Malatesti eine Laus?"
"Und noch dazu eine hungrige, Euer Gnaden. Und jetzt ist er eine tote Laus. Mir hat er den König von Cypern vererbt – aber nicht dessen Geheimnis. Das eben war das Pech, daß Malatesti auf dem Sterbelager nicht reden konnte. Er nämlich wußte das ganze Geheimnis, er wußte, warum General Bragadino den zum Tode Verurteilten begnadigt hat. Aber ..."
Des Kochs Rede wurde hier unterbrochen durch Guerzolo, das junge, viel zu junge Dienerchen der Kurtisane. Der in Samt und Seide prangende Bengel, schlaff und verlebt um die hängenden Mundwinkel und die Augen herum, kam jetzt von der Porta San Gallo her keuchend und schweißtriefend dahergerannt. Seine Herrin fuhr ihn an wie einen entlaufenen Hund.
"Wo hast du dich wieder herumgetrieben? Warum kommst du so spät? Wo warst du?"
"Am Palazzo Pitti, Euer Gnaden!"
"Wozu? Um dich warmzulaufen, Nichtsnutz! Dir rinnen ja die Schweißtropfen übers Gesicht bei der Kälte!"
"Das sind heiße Tränentropfen, Euer Gnaden!"
"Ich lache nicht, kleiner Halunke!"
"Ich aber beweine eine Hoffnung, die mir entschlüpft ist, Madonna!"
"Am Palazzo Pitti? Hat eine Medici dir's angetan? Was hattest du dort zu schaffen?"
"Euer Gnaden werden mir mit einem Kuß die Tränen wegtrinken, wenn ich's erzähle."
"Nun also, – verdiene dir den Kuß!"
"Euer Gnaden werden mir einen zweiten Kuß geben, wenn ich es nicht hier erzähle!"
"Weder den ersten noch den zweiten, – wenn du mich noch einen Augenblick länger warten läßt!"
"Doch, doch, Signorina, – für das Erwartete werden Euer Gnaden mir zwei und für das Unerwartete drei Küsse geben!"
"Oder Prügel! ... Welches Unerwartete denn? ... Wo rennst du hin?"
La Delfina konnte der Neugier nicht widerstehn. Ohne sich vom cyprischen Koch zu verabschieden, ging sie dem voraneilenden kleinen Kuppler nach. An der nächsten Straßenecke blieb Guerzolo stehn:
"Vor dem Kirchendieb konnte ich es unmöglich sagen, Euer Gnaden."
"Was soll die Geheimniskrämerei! Bin ich eine Heilige?"
"Darauf leiste ich jeden Eid, daß Ihr keine Heilige seid, Madonna! ... Aber was ich weiß, braucht die haarlose Altarratte nicht zu wissen ... Ein Maskierter fragte nach Euch."
"Wer?"
"Er nennt sich: Nemo."
"Also Niemand? Und Niemand fragte nach mir?"
"Ja, genau so war's! Niemand sagte, er sei Bote von Jemand, dem die Vestalin beim Tanz auf den Fuß trat ... Als Niemand wegging, bin ich Niemand nachgeschlichen bis Pitti, bis Niemand durch eine Seitenpforte in den Boboligarten ging ... Hat Euer Knappe nicht einen Kuß verdient, Signorina?"
"Hundert Küsse, Guerzolo! ... Niemand fragt also nach mir? Und weiter nichts? Gar nichts weiter?"
"Niemand sagte: Jemand, dessen Bote er sei, werde morgen mittag, wenn der Stierkampf beginnt, Euer Gnaden besuchen kommen ... Ach, Madonna, ich bin ein Siebenmonatskind!"
"Bist du ein Unglückskind, mein Eselchen? Was du dir einbildest!"
"Ich bilde mir ein, daß Euer Gnaden strahlen – während ich am Weinen bin."
"Warum denn? ... Ach so! – du spitztest wohl darauf, den Stierkampf zu sehn?"
"Ein Kaninchen läßt sich leichter wiedereinfangen als eine entschlüpfte Hoffnung, Euer Gnaden."
"Gut, gut. Sieh dir morgen den Stierkampf an – ich gebe dir Urlaub!"
Während Guerzolo dankerfüllt La Delfinas Rocksaum an die Lippen drückte, kam ein überaus dicker Mensch auf sie zugesteuert, – was wegen der Enge der Gasse gefährlich aussah: denn rund wie eine Tonne rollte er heran, mit beiden Ärmeln die Häuser streifend. Er war mittelgroß, biederäugig, prall, durchaus nicht schwammig; durchaus nicht gesetzt, obgleich ein Fünfziger, – zu geckenhaft und bunt in seiner Kleidung für ein so würdiges Alter. Sein gelbhäutiger, schwarzbebarteter Kugelkopf quoll aus einer gestärkten Spitzenkrause wie eine bemalte Schweinsblase hervor. Des geschmolzenen Schnees wegen steckten seine hellgelben Schaftstiefel in dunklen Ledergaloschen.
Dies Phänomen, dieser mit Fleisch, Behendigkeit und Gutmütigkeit zum Bersten gefüllte Ledersack hieß Messer Antonio di Domenico Martelli, stadtbekannt als Begründer des Klubs der Stravaganti, als der Phantastischeste unter den Phantasten und deren Leithammel bis vor kurzem; – denn neuerdings (auch das war stadtbekannt) wurde ihm die Führerschaft durch Cosmos mißratenen Sohn Pietro streitig gemacht ... Der Flinkheit seiner Zunge sowohl wie seines Körpers verdankte Martelli den Spitznamen: der Kleine Walfisch. Im Ozean der Sprache tummelte er sich wie ein tauchender Wal. Er war "abbondantissimo di parole", er spie Hyperbeln, wie ein Walfisch Wasserfontänen emporspritzt. Doch den Fontänen gleich zerstoben Wortschwall und Schwulst, kaum daß sie in die Luft geblasen waren, und besaßen ebensowenig Erdenschwere wie sein federleicht tänzelnder Silenenschritt.
Martelli begrüßte die Kurtisane, indem er ehrerbietig vor ihr den Hut zog.
"Oh, La Delfina, Krone der Frauen und Konterfei jenes Griechenmädchens, das anzuschauen dem Pharao mehr Freude machte als der Morgengesang der Memnonsäulen, der Duft des Lotos und der Geschmack eines geschlachteten und im eignen unsterblichen Nierenfett geschmorten Phönix. Aber – bei Santa Lucia! – Pharaos Freude war so mager wie die Besoldung eines Stadtschreibers, sie war so schwindsüchtig wie die haarfeine Mondsichel im Vergleich zur elefantendicken Freude, welche Euer Gnaden Anblick mir bereitet."
"Verzeiht, wenn ich gähne, Signor. Mein müder Verstand ist ein leck gewordener Napf: nichts kann er fassen."
"Oh, Trösterin aller Endymions, liebensmüde Mondgöttin du, zerstöre die Hoffnung meiner Hand nicht, die in den lecken Napf deines Verstandes greifen möchte wie in einen Sack voll Rosinen und Pistazien, um eine kleine Antwort herauszuziehn."
"Welche Anwort?"
"Wo wohnt der fleischgewordene David des göttlichen – des mehr als göttlichen – Michelangelo, wo der Wunderheld von Etrurien, der tuskische Rossebändiger, der Kinderretter von Florenz, der unvergleichliche Mandelbackwarenhändler von San Gallo, dem – wenn man Fama, der tausendzüngigen Heroldin, Glauben schenken darf – die unsichtbare Krone Cyperns die Stirnlocken schmückt?"
"Endlich verstehe ich! Wo Don Giuliano wohnt, der Pastetenverkäufer? Dort hinten im Bäckerladen. Seht, Signore, eben tritt er aus der Bottega ... Gleich wird er hier vorbeikommen."
Es währte nicht lange, und der Kleine Walfisch konnte vor Seiner Majestät ehrerbietig den Hut ziehn. Doch der Pastetenverkäufer erwiderte zerstreut den Gruß. Mit bohrenden Blicken betrachtete er La Delfina und trat so dicht an sie heran, daß sein Atem sie streifte. Leise sagte er:
"Du bist weißer als Milch, La Delfina. Ich wollte, der Wächter der Welt gäbe mir die Macht, dich rot wie eine Anemone zu machen. Wann darf ich zu dir kommen?"
"Wozu? Um mir das seidene Hemdlein auszuziehn? Um mir eine Nonnenkutte anzuziehn?"
"Dein Lachen ist ein Frösteln, La Delfina!"
"Ich bin eine Sumpfschildkröte, – du kannst nicht eine Kreuzkröte aus mir machen, Freund Giuliano!"
Unwillig wandte sie sich ab und entfernte sich geschwind mit ihrem Pagen.
Einen Augenblick schien es, als wollte Giuliano ihr nacheilen. Doch da trat ihm von neuem der Kleine Walfisch in den Weg und zog tief den Hut vor ihm. Noch ganz in Gedanken, lächelte Giuliano den buffonesken dicken Herrn an und zeigte auf das mit Leckereien bedeckte Brett, welches wie ein beinloses Tischchen ihm vor der Brust hing, an einem um den Nacken geschlungenen Riemen befestigt.
"Was wünscht Ihr, Signore? Brezeln? Hirsekuchen? Waffeln? Hier habe ich auch Oliven und Kapern ... Sehr zu empfehlen ist der gebackene Stockfisch. Oder begehrt Ihr gezuckerte Früchte?"
"Nichts hiervon, Signore! Nichts begehre ich, was die Zähne – diese beinernen Mühlsteine – zermahlen, zerknirschen, zermalmen und zerstampfen; was die Zunge – diese in uns hausende Schlange – umringelt, umzingelt, beleckt, befeuchtet und drosselt; was die Kehle – dieser Kraterschlund oder Wirbelschlund – einzehrt, einverleibt, eingräbt und einkellert; was die Magensäfte – diese unsere acherontischen Fluten – in Fäulnis und Moder verwandeln in den unterirdischen Gewölben des Leibes ... Nein, o nein! Ich begehre die Ehre Eurer Bekanntschaft, Signore."
"Warum nicht Oliven, Signore? Die schmecken doch besser. Ich bin ungenießbar. Was wollt Ihr mit mir anfangen?"
"Euch in die Akademie der Stravaganti einführen, von denen ich beauftragt wurde, dem heldenmütigen Retter der Prinzen – – –"
"Laßt gut sein, Signore! ... Verzeiht, Signore, ich tat gestern, was jeder andere auch hätte tun können, – das ist wirklich nicht der Rede wert ..."
"Es ist ein Denkmal aus Erz oder Marmor wert! Jawohl, wert ist es, daß ein Dichter Euch in einer Ode verherrlicht! – wert, daß ein Sternbild nach Euch benannt wird ... Ja, mehr noch als das: die Akademie der Stravaganti hält Euch für würdig, einen Platz in ihren Reihen einzunehmen."
"Signore, mein Platz ist auf der Straße: ich bin ein Straßenhändler ... Wer sind die Stravaganti?"
"Euer Gnaden belieben zu scherzen! Das wißt Ihr nicht? Wo habt Ihr denn gelebt? Habt Ihr auf dem Monde Lavendel gesucht oder in den Tiefen des Weltmeeres Pulpe gejagt? Ihr kennt nicht unsere Akademie? Ihr wißt nicht, daß wir die Verschrobenen, Überspannten, Tollen, Seltsamen, Närrischen sind? Ihr wißt nicht, daß einer der Unsern zu werden schwerer ist, als den Großmeister aller Flöhe zu knicken oder zu knacken? Ihr wißt nicht, daß es schwerer ist, die Bedingungen zur Aufnahme in unsere Akademie zu erfüllen, als durchs berühmte Nadelöhr zu kriechen ...?"
"Welches sind die Bedingungen, Signore?"
"Nur wer eine Heldentat vollbracht hat und drei unwiderlegbare Wahrheiten vorzubringen imstande ist, wird aufgenommen."
"Mein Unglück war immer, daß ich nicht lassen konnte, Wahrheiten zu sagen. Vielleicht wird es diesmal mein Glück sein. Versuchen kann ich es ja ... Führt mich also hin!"
An diesem Morgen wurde in der alten Kirche S. Lorenzo ein Dankgottesdienst für die Errettung der Kinder des Duca zelebriert. Er selbst, in der Tracht der Stefansritter – der Ordensritter "di Santo Stefano papa e martire" –, im funkelnden Stahlpanzer und mit spannenlangen schwarzgoldenen Sporen, bezeugte durch seine Anwesenheit und seine sichtbare Andacht dem Florentiner Volke, welch ein Wunder in der vergangenen Nacht der Weltlenker an den Medici vollbracht hatte.
Offenbar: Gott liebte die Medici. Aber das Volk liebte die Medici nicht sonderlich ... Trotzdem hatte Cosmo durch eine fünfundzwanzigjährige weise und gerechte Regierung und durch seinen vorbildlichen, auf Kosten seiner Gesundheit unermüdlichen Fleiß sich Achtung, ja sogar Liebe ertrotzt bei den Florentinern, welche ihm das Gedeihen und den Wohlstand der von Serenadenklängen durchtönten Stadt dankten. Die aber an den Serenadenklängen nicht teilhaben durften, die Demokraten, die Schwarzen (d. i. die guelfisch Gesinnten), genötigt, als Flüchtlinge und Emigranten außerhalb Toscanas zu leben, Attentate zu planen und von sieghafter Rückkehr zu träumen, – die verbreiteten im Volke böse Märchen über die Medici.
Ein solches Märchen – hübsch und Schaden bringend wie ein gifthauchender Schmetterling – leitete den Reichtum und das Ansehen der Medici her von einem Pakt, den vormals ihr Urahn mit den Dämonen sollte geschlossen haben. Als Entgelt für den Verkauf seiner Seele sei ihm der Pfad gezeigt worden in ein unterirdisches Land, wo auf einem Baum ein rostschwarzer Adler saß mit grellweiß aus dem Gefieder vorquellenden Frauenbrüsten. Heimlich von der Milch aus den Brüsten des Adlers trinkend, waren seitdem alle Medici mit satanischer Magie begabt: für die verscherzte himmlische Seligkeit erlangten sie die irdische Seligkeit, Liebe der schönsten Frauen und Herrschermacht.
Und ebenso gehässig lauteten andere Märchen, die von der berühmten Fonderia de'Medici – (dem Laboratorium nämlich in den Kellerräumen des Pittipalastes) – zu berichten wußten: ein Kindergespenst gehe dort um, der Spuckgeist eines ermordeten fünfjährigen Mediciprinzen. Weltbekannt war die Fonderia nicht nur wegen ihrer wirksamen Medikamente und wollüstigen Parfüms, nicht nur wegen des die Haut verjüngenden Jasminpulvers und der grünen Salbe, die Cosmo an alle befreundeten Herrscherinnen zu versenden pflegte. Auch das überall, diesseits und jenseits der Alpen, Grauen erweckende venenum atterminatum, das langsam wirkende markaufzehrende Gift, wurde – (wollten die Märchenerzähler wissen) – von einem fürstlichen Giftkoch bereitet ...
Tatsächlich hielt sich Cosmo – selbst wenn er von Staatsgeschäften überlastet war – täglich mindestens eine Stunde lang in der Fondería auf. Daß er sich seit Jahren damit abgab, die chinesische Erfindung des Porzellanbrennens neuzuerfinden, wußte kein Mensch. Denn kein Mensch hatte Zutritt zu seiner geheimnisvollen Welt der Phiolen und Retorten. Zeugen seiner Arbeit waren nur ausgestopfte Vögel und gedörrte Reptilien, vor allem aber weißlich gelbe, des Chlorophylls beraubte Kellerpflanzen, die er in Töpfen hegte und pflegte. Es war mehr als spielerische Liebhaberei, daß er Naturwissenschaften – Chemie, Zoologie und Botanik – trieb wie ein Gelehrter. Mochte er als Sänger (er hatte eine vielbewunderte Stimme), mochte er auch als Maler ein Dilettant sein; unter Kräutern und Pflanzen kannte er sich aus wie kaum einer seiner Zeitgenossen. Der Umfang seiner Bildung war wie eine große Bannmeile: schier unabsehbar. Sein Gedächtnis war stupend.
Zu früherer Stunde als sonst wollte sich Cosmo heute ins Laboratorium begeben, um für Faustina ein Pflaster zu bereiten. Ohnmächtig hin und her geschleudert im dahinrasenden Gefährt, hatte sie sich nämlich eine kleine blutende Kopfwunde zugezogen, die der Pastetenverkäufer beim Schein der Laterne nicht hatte sehn können, die später erst im Palast entdeckt und verbunden worden war.
Eben hatte Cosmo das Stefansritter-Ornat – Mantel, Harnisch und Goldsporen – abgelegt und war im Begriff hinabzusteigen, als ihm der große Gelehrte Pier Vettori gemeldet wurde. Wenngleich etwas ungeduldig, empfing ihn Cosmo in seinem getäfelten, mit einem kleinen Judith-Bilde Botticellis geschmückten Cabinetto. Wenige standen seinem Herzen so nahe wie dieser alte Mann, dieser immer begeisterte fanatische Archäologe mit den leuchtenden Augen und der silbrigen Löwenmähne. Wie Andrea Doria den Kaiser Karl V., so pflegte der Alte den so hochmütigen, so unnahbaren Duca zu duzen und "figliuolo", "Sohn", anzureden. War dies verwunderlich, so war noch merkwürdiger, daß Cosmo ihn "Vater" nannte, – ihn, der einst den liederlichsten und begabtesten der Republikaner, den nach der Rebellenniederlage bei Montemurlo mit 430 gefangenen Gesinnungsgenossen zum Tode verurteilten Filippo Strozzi, Vittoria Colonnas Freund, tagtäglich im Gefängnis besuchte, als Tröster ihm Plutarch und Polybius vorlas, – bis zu jenem Morgen, da in der Zelle Strozzi mit durchschnittener Kehle und neben der Leiche ein Zettel aufgefunden wurde, darauf (geschrieben von seiner Hand) das Zitat aus der Aeneide zu lesen war: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor – "Möge aus unsern Gebeinen ein Rächer erstehn" ...
Ein Vierteljahrhundert war seitdem vergangen und kein Rächer war erstanden. Schon damals hatte Pier Vettori den verrannten Idealismus Strozzis mißbilligt, wie sehr er auch ein Bewunderer seines geniehaften Leichtsinns war. Die Besuche im Gefängnis waren mit Cosmos heimlicher Zustimmung erfolgt. Gern hätte Cosmo Foltermartern und Köpfung dem Liebling Italiens erspart und ihn begnadigt, dessen Kopf der Kaiser so dringend forderte. Der Degen, mit welchem Filippo Strozzi sich die Kehle durchschnitt, war schwerlich aus Versehn vom Gefängniswärter oder einem Besucher in der Zelle vergessen worden ... Aus jener Zeit stammte Cosmos und des großen Gelehrten Vertraulichkeit.
Fünfundzwanzig Jahre lang – nahezu während der ganzen Regierungszeit Cosmos – hatte Pier Vettori als Rektor des Florentiner Gymnasiums der heranwachsenden Jugend Liebe zu Homer, Sappho und Plato und Verehrung für die römischen Dichter des augustäischen Zeitalters eingeimpft. Sahen die Fuorusciti – (die geflüchteten, außerhalb Toscanas zu leben gezwungenen Republikaner) – in Cosmo einen Tiberius, so war in den Augen des Rektors Cosmo ein Octavianus Augustus, ein Ordner des Chaos und Vollender, schön an Leib und Geist, sublim gescheit wie der Überwinder des Marc Anton. Und in diesem Sinne hatte Vettori während seines langen Rektorats die Schüler, meist Söhne alter rebellischer Familien, zu beeinflussen verstanden. Das neue Geschlecht trank gekühlten Falerner lieber als heißes Menschenblut.
Grund zur Dankbarkeit hatte Cosmo gewiß. Doch die Bändigung der jüngsten Generation, die Umwandlung junger Wölfe in zahme Hunde, hätte er wohl kaum mit seiner herzoglichen Duzfreundschaft bezahlt. Weit mehr als den Rektor schätzte er den Gelehrten, durch den ihm das Zauberreich der Antike erschlossen worden war.
Seit zwei Jahren hatte Pier Vettori das Rektorat niedergelegt, um ganz seiner Leidenschaft – der Archäologie – zu leben. Traumsicher, wie wenn er eine Wünschelrute in der Hand hielte, spürte er Orte auf, wo, nach kurzer Grabung, totgewesene Schönheit emporstieg, in glitzerig weißer Marmorseligkeit die Augen blendend.
Da der Alte stets nur nach einer Entdeckung sich einfand, bedurfte es des Umschweifs und der Fragen wenig.
"Du mußt sogleich mit mir kommen, figliuolo!"
"Wohin, padre? Nach dem Kap der Guten Hoffnung?"
"Nach Volterra! ... Etwas Herrliches wirst du sehn! Komm schnell, figliuolo!"
"Fürchtest du, Marmor könne davonlaufen? Hat der Marmor Beine? Ist's also diesmal kein Torso?"
"Eine etruskische Grabkammer, figliuolo. Nur hineingelugt habe ich, keinen Schritt wagte ich hineinzutun ... Totengeschirr ... Gräbergefäße ... Aschenkisten ... Doch das Unerhörteste, ein ganz einzigartiges Stück von wunderbarer Erhaltung: ein Schlachtwagen! – so einer wie der des Achill, als er Hektor schleifte –, milchig grüne Bronze ... Ich habe das Grab unangetastet wieder zumauern lassen."
"Warum, padre?"
"Es ist ein Königsleckerbissen, und der muß dir vorbehalten bleiben! Das Grab sollst du als erster betreten! ... Komm, verliere nicht Zeit, figliuolo!"
"Heute ist es mir nicht möglich. Reite du voraus und erwarte mich dort. Vielleicht kann ich morgen nachkommen."
Schon hatte sich Pier Vettori verabschiedet und war bis zur Tür gegangen. Die Klinke in der Hand, stand er unschlüssig da, lächelte verlegen (so daß man einige silberne Zähne in seinen Zahnlücken blitzen sah) und kehrte zu Cosmos Schreibtisch zurück.
"Du hast noch was auf dem Herzen, padre?"
"Ließ ich nicht meinen Handschuh liegen? ... Ja, richtig, was ich noch fragen wollte, figliuolo. Weißt du, daß die Fürstin Lodovica Malaspina – – –"
"Daß sie gefedert worden ist? Ich weiß auch, wer ihr den Bubenstreich gespielt hat."
"Nicht das war's, was ich fragen wollte ... Was tut sie in Florenz?"
"Sie will sich rächen – an meinem Sohn ... Ich gab ihr die Erlaubnis."
Etwas ungeduldig klangen die letzten Worte. Cosmo war ein Geheimniskrämer: in die Geheimberichte seiner Kundschafter gewährte er andern ungern einen Einblick. Was ihm bekannt war über Ränke Lodovicas, ging die Florentiner und auch seinen greisen Freund nichts an; – noch wußte er selbst nicht, wann und ob überhaupt er zum Schlag ausholen werde ... Leichtsinnig war es vielleicht von ihm, daß er den dreitägigen Waffenstillstand mit seiner Feindin schloß; doch wenn sie daraus seine Ahnungslosigkeit folgern sollte, – um so besser: so konnte sie das in Sicherheit wiegen und unvorsichtig machen ...
"Will sie sich bloß an Don Pietro rächen?" fragte Vettori.
"An wem denn sonst?"