Glaube und Kultur -  - E-Book

Glaube und Kultur E-Book

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Beschreibung

Dieser Sammelband mit den wichtigsten Beiträgen der Zeitschrift "Neue Ordnung" aus den Jahren 2000–2020 widmet sich den spirituellen und religiösen Grundlagen unserer Identität in ihrer gesamten Bandbreite. Dabei sind Nahtoderfahrungen im Lichte neuester Forschung ebenso Thema wie die logischen Irrtümer der sogenannten Neuen Atheisten (wie Richard Dawkins & Co.), das Gottesbild der "Neuheiden" und das Lehrgebäude der Tradition (Evola, Guenon, Coomaraswamy u.a.). Der Schwerpunkt der Artikel liegt freilich auf dem Katholizismus und befasst sich mit dem spezifisch "Katholisch-Deutschen", mit der Aufgabe der Kirche in der Welt von heute und der wahren Bedeutung von "Re-Evangelisierung", den Philosophien Othmar Spanns, Johannes Messners und des deutschen Idealismus sowie der Überwindung von säkularen Zivilreligionen und vor allem des Nihilismus. Auch den verbreiteten Fehldarstellungen über die Geschichte der Hexenverfolgung widmet sich ein historisch fundierter Beitrag. Mit Artikeln von Univ.-Prof. Dr. Paul Gottfried, Univ.-Prof. Dr. Endre A. Bárdossy, Univ.-Prof. Dr. Erich Przywara, Univ.-Doz. Dr. Friedrich Romig, Dr. Michael Weigl, Dr. Baal Müller, Hans Thomas Hakl und anderen.

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Wolfgang Dvorak-Stocker (Hg.)

Glaube

UND

KULTUR

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka, 8143 Dobl

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

Anmerkung des Verlags:

Das Recht zu einem Abdruck in einem Sammelband wurde uns von den Autoren in der Regel bereits zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung ihres Beitrags in der Zeitschrift „Neue Ordnung“ bzw. „Abendland“ eingeräumt. Da hier alle Beiträge in der ursprünglichen Fassung ohne weitergehende Aktualisierung wiedergegeben sind, müssen sie im einzelnen nicht dem heutigen Wissensstand bzw. der heutigen Auffassung ihrer Verfasser entsprechen.

Hinweis

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:

Ares Verlag GmbH

Hofgasse 5 / Postfach 438

A-8011 Graz

Tel.: +43 (0)316/82 16 36

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www.ares-verlag.com

ISBN 978-3-99081-118-4

eISBN 978-3-99081-133-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2023

Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein

Inhalt

Vorwort

Was ist rechts?

Conditio humana versus Tabula rasa

Anthropologischer Pessimismus versus anthropologischer Optimismus

Transzendenz versus Immanenz

Gemeinschaft oder Individuum?

Konservieren oder erneuern?

Die Philosophie des Deutschen Idealismus. Wegweiser für die Zukunft?

Kurze Wirkungsgeschichte des Idealismus

Die große Gegenbewegung gegen den Idealismus: die „Aufklärung“

Die Überwindung der Moderne durch den Deutschen Idealismus

Ganzheitlich-idealistische Philosophie: Wegweiser in die Zukunft

Die Aufgabe der Kirche in der Welt von heute. Die „Lehre vom Ewigen Menschen“ und die „Nouvelle théologie“

1. Die Anerkennung anderer Religionen

2. Die Allererlösung

3. Der Anthropozentrismus

Zum Beschlusse

Die ewige Aufgabe der Kirche. Kann Wahrheit geschichtlich sein?

Grenzen des Lehramtes

Allerlösungslehre

Geschichtlichkeit der Wahrheit?

Was „Re-Evangelisierung“ wirklich bedeutet. Die Wiederherstellung des inneren Zusammenhangs von Kirche, Gesellschaft, Politik und Staat

Dienst am Reich Gottes

Keine Volkssouveränität

Offene Gesellschaft?

Gottesstaat

Falsche Lehren

Kritik der Aufklärung. Die Wurzeln moderner Fehlentwicklung

Die Aufklärung führte zur Herrschaft des Nützlichkeitsdenkens

Die Menschen sind nicht „mündig“ geworden

Nietzsche und Hegel

Rechte Aufklärungskritik: Edmund Burke und Botho Strauß

Linke Aufklärungskritik: Karl Marx und Robert Kurz

Julius Evola und Alain de Benoist

Das Katholisch-Deutsche. Einheit der Gegensätze?

Sippe

Heil

Ehre

Katholische Erfüllung des Germanischen

Ordo

Katallage

Agon

Germanische Hochschätzung der Frau

Maria turris davidica

Kosmische Marianität

Luther, Goethe, Hölderlin

Novalis’ Weg zur Marienmystik

Frontal gegen die Moderne. Die Integrale Tradition

Die traditionale Gesellschaft

Qualität gegen Quantität

Transzendenz

Reichsidee

Das Kali-Yuga

Hauptvertreter der Tradition

Das traditionale Denken heute

Kirche und Demokratie. Ein Blick auf das Verhältnis von Kirche und Demokratie an Hand lehramtlicher Dokumente

Othmar Spanns integrale Philosophie. Einführung in das Prinzip seines Denkens

Die Auferstehung der Metaphysik

Zur Biographie

Die Werke

Zur Rezeption

Othmar Spanns historische Stellung in Wissenschaft und Philosophie

Was heißt Metaphysik? Die spekulative Grundfigur

Othmar Spanns universalistische Lehre

Fall und Kehre in der Postmoderne

Zivilreligion. Auf dem Weg in ein Europa ohne Gott

Menschenrecht statt Gottesfurcht

Dogmen und Gesetze

Glaubenskriege

Neusprech und Symbole

Rituale, Priester und Altäre

Uniform und Kult

Hexenverfolgung. Unbekannte Fakten zu einem brennenden Thema

Die „Hexen“ im Mittelalter

Echte Hexer

Das neue und das alte Hexenbild

Inquisition

Die Inquisition und die Hexen

Die römische Inquisition

Paderborn

Benandanti und Liebeszauber

Ein kurzer Blick nach Deutschland

Bibliographie

Odin statt Jesus? Gott- und Jenseitsvorstellungen im deutschen Neuheidentum

Ein Gott oder viele Götter?

Die Artgemeinschaft

Ásatrú – Asentreue

Ein deutscher Heidenpapst

Neuheidnische Jenseitsvorstellungen

Die neuen Atheisten. Die Irrtümer von Dawkins und Co.

Dawkins Denkfehler

Atheismus als Glaube

Religiöser Pantheismus statt Dogmenglauben

Die anderen neuen Atheisten

Überleben wir unseren Tod? Neurologische und philosophische Anmerkungen zu Nahtoderfahrungen, Gehirn und Bewußtsein

Nahtoderfahrungen

Reise ins Licht

Der Determinist und die Speisekarte oder: Sind wir die Marionetten unserer Neuronen?

Bewußtsein und Quantenphysik

Das Verhältnis von „Materie und Gedächtnis“ nach Henri Bergson

Ecclesia semper optanda. Die Kirche als Option für Konservative

Europa als glaubensloser Sonderfall

Katholische Rechtsintellektuelle

Gegen die Verhäßlichung der Welt

Die Wissenschaft hat weniger Antworten denn je

Ist das Christentum eine „Fremdreligion“?

Vom Gleichheitswahn

Das glorreiche 18. Jahrhundert

Gleichberechtigung

Gender Mainstreaming

Schulwesen

Inklusion

Die Last der Geschichte

Neid und Gleichheit

Das verspielte Erbe – Tradition, Dankbarkeit, Pietät.Nachruf auf die rasend schwindenden Werte in dürftiger Zeit

Es gibt keine spontane Neue Ordnung

Zunehmende Koinzidenz der Kampfbegriffe: Säkularisierung und Liberalismus

Die finsteren Folgen der Aufklärung

Die berühmten Inschriften von Delphi

Sin mástica no hay mística

Sind die paläokonservativen Katholiken Komplizen des Liberalismus?

Über den Zusammenhalt der Gesellschaft

Autorenverzeichnis

Vorwort

Achtung, Spoileralarm: Die Quartalszeitschrift „Abendland“ (bis 2020 „Neue Ordnung“) versteht sich – wie der Name schon erahnen läßt – als rechte, katholisch-nationalkonservative Publikation. Auf dieser grundsätzlichen Linie liegen auch die hier versammelten Artikel. Allerdings habe ich dafür bewußt Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ als Titelbild gewählt, weil niemand von uns die Wahrheit mit Löffeln gefressen hat und Glaube eben Glaube ist, nicht Wissen.

Hier gilt es allerdings schon den ersten Irrtum zu berichtigen: Das Wort „glauben“ hat zwei sehr unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits: „Ich glaube, daß es morgen regnen wird.“ „Glauben“ bedeutet hier soviel wie „vermuten“, „annehmen“, „nicht sicher wissen“. Ganz anders hingegen: „Ich glaube dir.“ In diesem Sinne bedeutet „glauben“, der Aussage einer Person absolutes Vertrauen zu schenken, ihren Bericht für unbestreitbar wahr zu halten, so als ob man selbst Augenzeuge gewesen wäre. Nur die Jünger haben Jesus Christus persönlich gekannt, die späteren Anhänger seiner Lehre mußten ihnen Glauben schenken. Daß sie nicht gelogen, sondern die Wahrheit gesprochen haben, ist die Wurzel des Christentums.

Im ersten Beitrag dieses Buches versuche ich, in fünf Punkten „rechte“ von „linker“ Weltanschauung grundsätzlich zu unterscheiden. Einer dieser Punkte lautet: „Transzendenz“ versus „Immanenz“. Notwendiger Bestandteil eines wie immer gearteten „rechten“ oder „konservativen“ Weltbildes ist die Transzendenz, die Überzeugung, daß sich unser Leben nicht auf die kurze Spanne irdischer Existenz beschränkt, daß die naturwissenschaftlich erforschbare diesseitige Welt nicht alles ist. Ein bestimmter Glaube läßt sich daraus freilich nicht ableiten. „Rechte“ oder „Konservative“ können sehr unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen anhängen.

Dieser Sammelband kreist daher nicht nur um das rechte Verständnis des katholischen Glaubens und dessen Verhältnis zu Volk und Staat. Hans Thomas Hakl, der zahlreiche Werke Julius Evolas ins Deutsche übertragen hat, befaßt sich mit der integralen Tradition, und Baal Müller portraitiert die unterschiedlichen Strömungen des Neuheidentums. Auch Jürgen Schwab, der eine nachdenkenswerte Aufklärungskritik geliefert hat, ist mit Sicherheit kein „katholischer“ Autor. In Korrespondenz mit seinem Beitrag steht Friedrich Romigs wichtige Darstellung der Philosophie des „deutschen Idealismus“. Romig zeigt, daß sich zwei Traditionslinien diametral gegenüberstehen. Die eine führt von den Sophisten der griechischen Antike über die Nominalisten des Mittelalters und die Aufklärung zu heute virulenten philosophischen Systemen. Die andere führt von Plato und Aristoteles über Thomas von Aquin und den deutschen Idealismus bis zu Othmar Spann und weiter. Letzterem und seiner Lehre widmet sich ein umfangreicher Beitrag von Wolfgang Saur.

Faszinierend ist auch der Artikel von Baal Müller über Nahtoderfahrungen einerseits und neue Ergebnisse der Hirnforschung wie der Quantenmechanik andererseits, die nahelegen, daß das Gehirn keineswegs die Quelle des Bewußtseins, sondern nur eine Schaltzentrale des Geistes ist, die zwischen Sinneswahrnehmungen, Erinnerungen und Willensentscheidungen vermittelt. Trotz der Milliarden Hirnzellen und ihrer unzähligen Verbindungen würde die Speicherkapazität dieses Organs unmöglich ausreichen, alle Erinnerungen eines Lebens zu archivieren. Und wenn dann noch Nahtoderfahrungen belegen können, daß Sinneswahrnehmungen auch dann noch funktionieren, wenn keine meßbare Hirnaktivität mehr vorhanden ist, liegt es nahe, vom „unendlichen“ Bewußtsein zu reden bzw. davon, daß unser Bewußtsein keineswegs an Leben und Existenz unseres Körpers gebunden ist. Daran knüpft mein Beitrag über die „Neuen Atheisten“ rund um Richard Dawkins an, der belegt, daß ein konsequenter Atheismus im Unterschied zum Agnostizismus logisch nicht durchgehalten werden kann.

Der Frage, was Gesellschaften im Inneren zusammenhält und was es mit dem „Böckenförde-Theorem“ auf sich hat, geht Erich Körner-Lakatos nach. Eduard Huber und Hans-Ulrich March untersuchen die zerstörerischen Folgen von Neid und Gleichheitswahn für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, und Endre Bárdossy widmet sich der in unserer Gegenwart fast vergessenen Kategorie der Dankbarkeit, sind wir doch alle Erben der Leistungen unserer Vorfahren (sowohl der persönlichen als auch der vorangegangenen Generationen unseres Volkes und Landes), und zwar nicht nur in materieller, sondern gerade auch in geistiger Hinsicht. Ein Gedanke, den ich auch in meinem einleitenden Beitrag „Was ist rechts?“ aufgreife.

Geht es in diesen vier Beiträgen also um den Zusammenhalt der Gesellschaft jenseits konfessioneller oder religiöser Fragen, widmet sich eine Reihe von Artikeln jedoch konkret der katholischen Kirche und ihrer Rolle respektive Bedeutung für unser Volk und unseren Staat. Hier geht Friedrich Romig auf die „Lehre vom ewigen Menschen“ der Nouvelle théologie ein und stellt die Frage nach der „Aufgabe der Kirche in der Welt von heute“, was von Pater Michael Weigl der Priesterbruderschaft St. Pius X. im Artikel „Die ewige Aufgabe der Kirche. Kann Wahrheit geschichtlich sein?“ entschiedenen Widerspruch erfährt. Romig geht in der Folge auch auf das Verhältnis von Kirche und Demokratie und die Frage, was „Re-Evangelisierung“ wirklich bedeute, ein. Zentral für die fünf Beiträge, die sich konkret mit der katholischen Kirche befassen, ist der bereits in den 1950er Jahren im Leopold Stocker Verlag erschiene Artikel von Erich Przywara über „Das Katholisch-Deutsche“, in dem der Jesuit und Universitätsprofessor feststellt, daß „katholisch und deutsch“ äußerste Gegensätze zu sein scheinen, um dann jedoch herauszuarbeiten, daß die „germanische Natur“ innerlich „Voraussetzung“ der römisch-katholischen „Gnade“ sei und letztlich ein direkter innerer Bezug „zwischen germanisch und römisch-katholisch deutlich“ werde.

Damit eine solche Sicht unbefangen aufgenommen wird, müssen zahlreiche absichtlich gestreute Irrtümer hinsichtlich der Lehre und der Rolle der katholischen Kirche widerlegt werden. Einer ganzen Reihe solcher Fehlurteile widme ich mich in meinem Beitrag über die Hexenverfolgungen. Doch nicht nur diesbezüglich werden falsche Behauptungen zu Lasten der katholischen Kirche bewußt oder unbewußt verbreitet. Es vergeht kein 8. Dezember, ohne daß in einer „nationalen“ Zeitschrift über die „Leibfeindlichkeit“ der katholischen Kirche hergezogen wird von wegen „jungfräulicher Empfängnis“. Doch am 8. Dezember wird nicht die jungfräuliche Empfängnis Jesu’ gefeiert, sondern der Tag, an dem Joachim und Anna, die Eltern Mariens, diese in einem hoffentlich lustvollen Sexualakt zeugten. Vielleicht können die Kritiker ja auch nicht rechnen: Neun Monate nach dem Feiertag Mariä Empfängnis am 8. Dezember begeht die Kirche den (nicht mehr staatlich gebotenen) Feiertag Mariä Geburt, am 8. September nämlich. Und neun Monate vor der Geburt Christi, am 25. März, feiert sie mit Mariä Verkündigung den Tag, an dem der Erzengel Gabriel Maria verkündete, daß sie den Sohn Gottes empfangen habe. In einer weit verbreiteten nationalen Zeitschrift in Österreich stand sogar zu lesen, daß es eine Reihe von Kirchen gäbe, die (dem von den Nationalsozialisten ermordeten österreichischen Bundeskanzler) Dollfuß geweiht seien. Doch Kirchen können nur Heiligen geweiht sein, und ganz sicher nicht einem Engelbert Dollfuß!

Wer die katholische Kirche kritisieren will, muß sie also kennen. Als Jugendlicher meinte ich eine Zeit lang, aus der Kirche austreten zu müssen. Dann dachte ich mir, daß es intellektuell wohl nicht redlich sei, etwas zu verlassen, das man nicht wirklich kennt, und ich begann, mich intensiver mit der Lehre der Kirche zu befassen und auch die katholische Messe am Sonntag zu besuchen. Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich immer hinten im Grazer Dom saß und bei den Messen regelmäßig eingeschlafen bin. Das ging eine ganze Weile so, bis ich plötzlich in einer Kirche (ich weiß noch genau in welcher, aber es war nicht der Grazer Dom) ein merkwürdiges Erlebnis hatte: die Erfahrung einer Präsenz, die mir unendlich realer schien als meine eigene Existenz. Diese Erfahrung wurde mir geschenkt, sie ließ sich nicht wiederholen, weder durch Gebet, Meditation oder sonstige Techniken. Allerdings wurde sie mir noch ein weiteres Mal geschenkt, als ich im Gebet in einer Kirche die Mutter Gottes fragte, ob sie wirklich existiere oder nur in meiner Vorstellung. Die verschiedenen von der katholischen Kirche vorgegebenen Glaubensdogmen hinsichtlich der Mutter Gottes habe ich seither nicht mehr hinterfragt, wenngleich ich nicht behaupten kann, jedes einzelne tatsächlich zu verstehen. Darauf kommt es aber auch nicht an.

Rolf Rücker zeigt in seinem Beitrag über „Zivilreligion“, daß unsere Gesellschaft von einer solchen beherrscht ist, die „das irdische größte Glück der größten Zahl der Angepaßten“ an die Stelle der ewigen Seligkeit setzt. Anstelle des Glaubens, der das Abendland fast zwei Jahrtausende lang geprägt hat, postuliert die Zivilreligion die Gleichheit aller Menschen, die universalen Menschenrechte und die Demokratie. Sie verneint, daß es eine unveränderliche objektive Wahrheit gibt, die mit der Vernunft erkannt werden kann, und toleriert jenseitsbezogene Religionen nur so lange, wie diese den Pluralismus bejahen und sich dem liberalistisch-demokratischen Zeitgeist unterwerfen. In diesem schon 2009 erschienenen Artikel schreibt Rücker bereits vom „Gleichheitswahn der Gutmenschen“, denen Toleranz nicht mehr wie früher „Duldung“ bedeute, sondern „akzeptierte bzw. zu akzeptierende Gleichwertigkeit“! Schon damals schrieb er über „die verquere Auffassung, daß es mehr als zwei biologische Geschlechter gäbe“, über „Gender-Gap“, die Behauptung, daß Geschlechter bloß „austauschbare Rollen“ seien. Begriffe wie „woke“, „Black Lives Matter“ (und gerade nicht: All lives matter!), Transhumanismus, Great Reset usw. hat Rücker vor 14 Jahren freilich noch nicht gekannt. Auf den angeblich menschengemachten Klimawandel und die umfassende Abreibungspropaganda hat er hingegen schon hingewiesen. Im Ausklang seines Artikels zitiert er Karlheinz Weißmann mit den Worten, „das deutlichste Kennzeichen von Dekadenz ist immer die Ausbreitung der Auffassung vom Nur-Leben als höchstem Wert; die letzten Menschen blinzeln und sagen ‚wir sind doch gleich, wir sind doch glücklich‘“. Doch dann kommt Rolf Rücker, der als Burschenschafter selbst erst in seinen letzten Lebensjahren zum Glauben gefunden hat, auf das Christentum zurück und schreibt: „Sicherlich kann es auch ein Christentum ohne Europa geben, aber kein Europa ohne Christentum. Europa fußt auf drei Säulen: der griechisch-römischen Antike, dem Christentum und dem Germanentum.“

Besonders wichtig ist für mich auch der Artikel „Ecclesia semper optanda – Die Kirche als Option für Konservative“ von Hans-Ulrich Kopp. Er schreibt, daß die „schier unfaßbare Bodenlosigkeit der herrschenden Ideologien und Ersatzreligionen bei Nachdenklichen eine diametral entgegengesetzte, in subkutanen Gefilden tradierte Anschauung wieder in den Blick gerückt“ habe: „jene christliche Anthropologie, die nicht den gegenderten neuen Menschen propagiert und damit – wie noch jedes Projekt des neuen Menschen – eine Katastrophe menschheitsgeschichtlichen Ausmaßes heraufbeschwört, sondern die unbeirrt auf den alten Adam verweist und sich nicht scheut, ihn geradewegs auf seinen tiefsten Urgrund zurückzuführen, den ersten Beweger alles Seienden“. Denn Kopp hält fest: „Der entschiedenste und unaufhebbare Widerspruch zum gesichts- und kulturlosen, sein vermeintlich ‚sozial konstruiertes‘ Geschlecht auslebenden Massenmenschen ist der nach Gottes Willen geschaffene Mensch.“ Heute sind die „Herrschaftsverhältnisse, unter formaler Beibehaltung demokratischer Strukturen, kraft ihrer technischen Möglichkeiten und medial bewirkten Konformitätszwänge totaler als seinerzeit; selbst der Ausweg der physischen Auswanderung […] ist angesichts der Angleichung der Verhältnisse nahezu gegenstandslos geworden. Wo aber die Seitwärtsbewegung nicht mehr möglich ist, findet die Aufwärtsbewegung als bleibende Option in das Bewußtsein zurück.“ Kopp hält in guter konservativer Tradition fest: „Nicht die Tradition ist rechtfertigungsbedürftig, sondern die Neuerung. Da sich also unser Volk von Anbeginn mit dem christlichen Glauben verbunden hat, so besitzt dieser das gute alte Recht.“ Dafür stehen nicht allein so bedeutende katholische Intellektuelle wie Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn, Carl Schmitt, Gerd-Klaus Kaltenbrunner und Martin Mosebach, sondern ebenso wichtige Konvertiten wie Günter Maschke, Ernst Jünger, Günther Nenning und Matthias Matussek. Auch weit verbreiteten und bewußt gestreuten Irrtümern über die christliche Religion wendet sich der Autor zu. So schreibt er, „die christliche Barmherzigkeit“ sei „nicht als sozialer Egalitarismus zu verstehen, sie dient überhaupt nicht in erster Linie dem Schwachen, sondern der Seele des Mächtigen, die durch geübte Tugend gerettet werden soll“. Ebenso ist „die chiliastische Heilserwartung alles andere als Fortschrittsoptimismus: Die Welt bedarf der Erlösung, weil es dem gefallenen Menschen nicht gelingen wird, selbst Vervollkommnung zu erlangen“.

Der Glaube an Gott läßt sich, das weiß auch Hans-Ulrich Kopp, nicht im Sinne des menschlichen Erkenntnisvermögens „beweisen“, heute stehen einander jedoch nicht mehr Glaube und Wissen, sondern zwei grundsätzlich unterschiedliche Glaubensrichtungen gegenüber: „Die gottlose und die gottanerkennende, dabei genießt letztere den Vorzug, das sittliche System und menschliche Tugenden zu begründen und Beurteilungsmaßstäbe an die Hand zu geben.“

Eine genuin „rechte“ bzw. „konservative“ Weltanschauung kommt jedenfalls ohne die Transzendenz nicht aus. Im Jahr 2019 zeigte die „Neue Ordnung“ in der Rubrik „Knapp & klar“ ein Plakat mit folgendem Text: „Ob Sie an Gott glauben oder nicht, ändert nichts an seiner Existenz. Aber vielleicht an Ihrer.“ Hans-Ulrich Kopp (der Redakteur der Berliner Zeitung „Junge Freiheit“ war), Rolf Rücker und Friedrich Romig sind jedenfalls der Auffassung, daß deutsche Nationalität und katholische Religiosität keinesfalls einen Widerspruch bilden, sondern im Gegenteil zusammengehören. Zu dieser Erkenntnis will auch das vorliegende Buch seinen Teil beitragen.

Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker

Was ist rechts?

Mir hat die Selbstbezeichnung „konservativ“ schon als Student nicht gefallen. Immerhin kommt es darauf an, was man konservieren will. Wie wir weiter unten sehen werden, gehört der bewahrende Gedanke aber zu jeder rechten Weltanschauung und sind auch die Unterschiede zwischen „Wertkonservatismus“ und „Strukturkonservatismus“ in Wahrheit weit geringer als von konservativen Publizisten gemeinhin behauptet. Gänzlich unsinnig war freilich Franz Josef Strauß’ Slogan: „Konservativ sein heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren!“

Doch all das stimmt nicht: die schiefe Ebene natürlich nicht, aber auch nicht die Behauptung der grundsätzlichen Menschenfreundlichkeit einer linken Gesinnung, der ein kaltherziger rechter Realismus gegenüberstünde. In Wirklichkeit geht es um zwei diametral entgegengesetzte Menschenbilder, von denen nur eines richtig sein kann. Stimmt das rechte Menschenbild, dann ist die linke Weltanschauung eben nicht menschenfreundlich, sondern im Gegenteil falsch und unheilbringend. Oder, um einen weiteren dummen Spruch zu bringen: Right is right and left is wrong.

Im folgenden will ich anhand von fünf wesentlichen Punkten die grundlegenden Unterschiede zwischen rechter und linker Sichtweise festmachen:

Conditio humana versus Tabula rasa

Rechte gehen davon aus, daß es eine menschliche Natur gibt, die nicht oder zumindest nicht leicht zu ändern ist. Linke – und ich zähle die Liberalen ausdrücklich dazu – meinen hingegen, jeder Mensch komme als „unbeschriebenes Blatt“ auf die Welt. Durch die Einflüsse von Staat, Gesellschaft und Familie würden dem „unbeschriebenen Blatt“ dann bestimmte Rollenbilder eingeprägt. Nur, wenn der einzelne sich so weit wie möglich von diesen Fesseln befreit, soll er ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben führen können. Schon im 18. Jahrhundert kämpften Aufklärer und Liberale daher gegen die Religion, die den Menschen in Fesseln schlage. Das war nicht ganz unverständlich. In der Zeit der Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts war es ja dem Zufall der Geburt überlassen, ob jemand zum frommen Anglikaner, Calvinisten, Lutheraner oder Katholiken von oft bornierter Selbstgefälligkeit erzogen wurde. Diese Verquickung von Geographie und Wahrheitsfrage konnte nur den Kopf schütteln lassen. Und als man im 19. Jahrhundert entdeckte, daß der Umstand, zu einem frommen Moslem, Hindu oder Buddhisten erzogen zu werden, ebenfalls vor allem vom Zufall der Geburt abhing, mußte sich die Wahrheitsfrage der Religion nicht nur für glaubenslose Denker neu stellen.

In der zweiten Phase wurde dann die Prägung des Menschen durch Nation und Staat beeinsprucht, die ihrerseits wieder den einzelnen in die Pflicht nehmen und von ihm gemeinschaftsbezogenes Wohlverhalten erzwingen wollen. Heute sind wir bei der dritten Phase angelangt, in der behauptet wird, daß es auch keine natürlichen Geschlechter gebe, sondern nur mehr „Gender“, also Geschlechterrollen. Nach Religion und Nation wird damit das letzte Hindernis auf dem Weg zum völlig freien, selbstbestimmten Individuum beseitigt. Wer die linke Idee der Tabula rasa für richtig hält, der muß auch dieses Zerstörungswerk grundsätzlich begrüßen, selbst wenn hier mancher die Entwicklungen unserer Tage als Auswuchs ablehnen mag.

Dem gegenüber steht die rechte Auffassung einer Conditio humana, eines nicht oder nicht so einfach zu verändernden menschlichen Wesens. Das Problem ist, daß diese Sichtweise nicht so einfach und in wenigen Worten erklärbar ist wie die linke. Es ist eben viel leichter, zu sagen: „Laß dich nicht einschränken und fremdbestimmen, nur du kannst wissen, was für dich gut ist“, als ein gewisses Maß an Einschränkungen und Vorbestimmungen für unaufhebbar zu deklarieren, wenn einerseits weder Ausmaß noch Art dieser Einschränkungen letztgültig bestimmt werden können, noch andererseits in Abrede zu stellen ist, daß solche Abhängigkeiten und Einschränkungen von interessierten Gruppen oft auch nur behauptet wurden, um einzelne einzuschüchtern, ohne daß sie wirklich gegeben waren.

Konkret heißt das: Jeder Mensch hat ein Wesen, mit dem er sich auseinandersetzen muß, hat Vorzüge und Fehler, die er fördern und hemmen, aber nicht aufheben kann, während ihm andere Talente, die er vielleicht gern hätte, fehlen und ihm Schwächen, die seinen Nachbarn beschäftigen, unbekannt sind. In welchem Ausmaß dafür Gottes Wille, genetische Veranlagung oder frühkindliche Prägung durch Familie und Kultur wirksam sind, wird unterschiedlich beantwortet werden. Der Rechte wird jedoch daran festhalten, daß sich jeder Mensch seinem Wesen, seinem Ich, seinem Charakter stellen muß. Eine schulterzuckende Hinnahme kann man daraus nicht ableiten, vielmehr eine lebenslange Aufgabe. „Ich bin halt so“ ist keine Rechtfertigung für den Lustmörder.

Conditio humana meint aber eigentlich etwas viel Weitergehendes, nämlich daß es bestimmte Eigenschaften gibt, die alle Menschen teilen. Jede Reform, jede Art der Gesellschaftsgestaltung muß also dieses „Wesen des Menschen“ berücksichtigen. Tut sie es nicht, scheitert sie zwangsläufig. Der gewichtigste Einwand der Rechten gegen den Kommunismus war, daß sein ideologisch bestimmtes Menschenbild der Conditio humana zuwiderlaufe und er daher gar nicht funktionieren könne. Doch was ist die Natur des Menschen? Auf diese Frage kann es keine endgültige, wissenschaftlich haltbare Antwort geben. Rechte sind daher immer wieder der Versuchung erlegen, Dinge, die ihnen bloß ideologisch wünschenswert erschienen, zur unveränderbaren Menschennatur zu zählen, um sie so gegen Kritik zu immunisieren. Wenngleich dieser von der Linken erhobene Vorwurf nicht zurückzuweisen ist, muß dennoch festgehalten werden, daß es eine Conditio humana gibt, die nach dem jeweiligen Wissensstand bestimmt werden und an der sich die eigene Ideologie orientieren muß.

Menschliche Freiheit kann sich nur in Begrenzung entfalten. Natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß es immer wieder Menschen geben wird, die unter den Zwängen der Heimat, der Nation oder des Geschlechts leiden und sich davon zu befreien versuchen. Man kann seine Heimat verlassen und eine andere finden. Man kann auch den Schritt in eine neue nationale Identität hinein unternehmen, wenngleich dies für den einzelnen immer nur in bestimmtem Maße möglich ist. Man kann sogar die geschlechtliche Identität wechseln: Eine der wichtigsten deutschen rechten Politikerinnen der 1990er Jahre war als Sohn eines Wehrmachtsgenerals geboren worden. Und einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller unserer Zeit hat sein Schaffen als Autorin begonnen. Doch die allermeisten Menschen sehen in Heimat, Nation und Geschlecht keine negativen Begrenzungen ihrer Person, sondern entfalten ihre Individualität ganz selbstverständlich in deren Rahmen. Wer sie zerstören will, weil er in ihnen nur Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit und Gleichheit aller sieht, nimmt den meisten Menschen damit auch das Gerüst, das sie zur Gestaltung ihrer eigenen Identität benötigen. Man kann zur Verdeutlichung die Knochen als Analogie nehmen: Unsere Knochen erlauben nur bestimmte Bewegungen, ohne Knochen wären aber gar keine mehr möglich.

Anthropologischer Pessimismus versus anthropologischer Optimismus

Rechte werden sagen: Der Mensch braucht Regeln. Linke meinen, der Mensch sei gut, wozu braucht es also Regeln? Doch sogar der Straßenverkehr funktioniert nur, weil sich alle Teilnehmer an bestimmte Regeln halten, selbst wenn diese im konkreten Fall unsinnig erscheinen, etwa wenn wir nächtens vor einer leeren Straße an einer roten Ampel stoppen. Wie rasch wären alle Einfahrten zugeparkt, wenn Falschparker keine Geldstrafen mehr fürchten müßten?

Menschen sind nicht einfach „gut“, sie können auch böse handeln, und ohne Gesetze herrschte das Faustrecht, würden sich Stärkere auf Kosten der Schwächeren Vorteile verschaffen. Von daher wird der Rechte daran festhalten, daß Gesetze und Regeln prinzipiell für eine funktionierende Gesellschaft notwendig sind, wenngleich im Einzelfall jedes Gesetz und jede Regel beständig auf ihre Sinnhaftigkeit hinterfragt werden muß.

Transzendenz versus Immanenz

Linke sind der Auffassung, daß der Sinn des Lebens in einem guten Leben liegt. Rechte hingegen haben die Ewigkeit im Blick. Dieser Unterschied ist ebenso wichtig wie problematisch. Absolute Gleichheit kann auf dieser Erde niemals hergestellt werden: Auch wenn staatliche Sozialprogramme ärmere Bevölkerungsteile fördern, wird doch der eine alt und der andere stirbt früher, der eine erfreut sich guter Gesundheit und der andere kämpft schon als Kind mit Krankheiten und Beeinträchtigungen. Die Vorteile, die gutes Aussehen, Intelligenz oder mannigfache Talente verschaffen, lassen sich nicht mit Sozialleistungen ausgleichen. Hier wird immer eine Ungleichheit bestehen. Gleichheit kann nur existieren, wenn wir davon ausgehen, daß es einen Gott gibt, der im Jenseits Gerechtigkeit herstellt, indem er von dem einen mehr und von dem anderen weniger verlangt. Sub specie aeternitatis ist das früh an Krebs verstorbene Kind nicht schlechter gestellt als der Mensch, der bis ins hohe Alter den Luxus dieser Welt genießen konnte. Das ist leicht gesagt und schwer gelebt. Die Gründerin der deutschen Grünen, Petra Kelly, hat ihren Glauben verloren, als ihre Schwester in jungen Jahren an Krebs verstarb. Natürlich ist die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod nur eben das: eine Hoffnung und kein Wissen. Gerechtigkeit ist auf dieser Welt allerdings nie herstellbar, die Idee der Gerechtigkeit setzt ein Weiterleben nach dem Tod und eine danach richtende Instanz zwingend voraus. Das muß festgehalten werden. Mehr können wir nicht. Wir können auch nicht die Wahrheitsfrage der Religionen mit innerweltlichem Wissen sicher beantworten, sondern nur aus dem Glauben heraus.

Die linke Weltanschauung zeigt sich hier als Schönwetterideologie: Solange es uns gutgeht, wir uns um niemanden sorgen müssen und auch an den eigenen Tod nicht denken, solange wir unser Leben genießen, können wir uns den Luxus einer linken Weltanschauung leisten. Anders sieht es aus, wenn es ans Sterben geht, wenn liebgewonnene Menschen versterben, wenn das gewohnte Leben plötzlich nicht mehr möglich ist. Not lehrt beten? Oder zwingt uns Not nicht vielmehr zu einem realistischeren Weltbild? Festzuhalten ist jedenfalls, daß „rechts“ ein transzendentes Weltbild voraussetzt, wenngleich nicht zwingend das einer bestimmten Religion. „Rechte“, denen diese Transzendenz mangelt, sind eigentlich keine.

Gemeinschaft oder Individuum?

Der Mensch kann sich nur in Gemeinschaft entwickeln. Jeder einzelne verdankt nicht nur seiner Familie, sondern auch seinem Volk und seinem Staat ungeheuer viel: Sprache und Kultur, Sicherheit, Recht und Ordnung. Wir alle können uns glücklich schätzen, in einem Land geboren zu sein, in dem Korruption begrenzt ist, in dem Recht und Ordnung herrschen, in dem wir uns selbst, unsere Familien und unser Eigentum nicht auf eigene Faust schützen müssen. Ob Rußland, die Philippinen oder Südamerika: Ich kenne viele Länder, in denen auch Menschen mit mittlerem Einkommen nur in Gated communities leben können, wo sie selbst für Wächter und Zäune bezahlen, weil es sonst ihren Kindern nicht mehr möglich ist, vor dem Haus zu spielen. Und in Mexiko lassen begütertere Einwohner ihre Kinder nur mehr von Leibwächtern in die Schule bringen, aus Angst vor Entführungen. Ich verdanke meinen Wohlstand dem Konsumverzicht meines Großvaters, der, um seinen Verlag zu retten, jahrelang eine Stunde zu Fuß in die Firma und zurück ging, um das Geld für die Straßenbahn zu sparen. Wir könnten noch so talentiert sein, wären wir in einem Land geboren, dessen Einwohner es nicht geschafft haben, einen einigermaßen korruptionsfreien Rechtsstaat zu errichten, wir wären um vieles schlechter dran, als wir es in Österreich oder Deutschland sind. Nicht nur aufgrund der Kultur, auch wegen dieser Dinge verdanken wir dem Staat, in dem wir leben, ungeheuer viel. Dies müssen wir zurückgeben und den Staat daher auch für die folgenden Generationen zumindest in der Form bewahren, die uns selbst unabhängig von unserer eigenen Leistung Wohlstand und Sicherheit gewährt hat. Linke behaupten hingegen, daß Staat und Volk nur für die freie Entfaltung des einzelnen da seien, von einer Verpflichtung wollen sie nichts wissen.

Konservieren oder erneuern?

Linke glauben, daß Fortschritt per se gut sei. Doch das ist er nicht. Er kann in die falsche Richtung führen und Institutionen zerstören, die für das Funktionieren eines Staatswesens nötig sind. Daher ist auch die oft getroffene Unterscheidung zwischen „Strukturkonservativen“ und „Wertkonservativen“ irrig. Natürlich kann es nicht darum gehen, überlebte Strukturen in einer neuen Welt zu bewahren. Doch wie Konrad Lorenz festhielt, sind Institutionen das geronnene Wissen vieler Generationen. Man kann erneuern und soll es auch. Doch dies muß mit Bedacht geschehen. Über Jahrhunderte gewachsene Institutionen dürfen nicht einfach zerstört werden, außer es ist sicher, daß an ihre Stelle etwas Besseres, Zeitgemäßeres gesetzt wird. Rechte werden daher immer sehr vorsichtig sein, wenn Institutionen (Strukturen) verändert werden. Die zugrundeliegende Ordnung (Werte) darf ohnedies nicht verändert werden. Wer meint, daß sich jede Generation ihre Werte selbst definieren müsse, kann kein Rechter sein.

Ich habe in den vorangegangenen Abschnitten versucht, die Eckpunkte rechter Weltanschauung darzustellen:

• Es gibt eine Conditio humana, die freilich schwierig und immer nur vorläufig zu definieren ist.

• Der Mensch braucht Regeln und Gesetze.

• Gerechtigkeit kann es nur sub specie aeternitatis geben.

• Wir verdanken dem Volk und dem Staat, in dem wir aufgewachsen sind, ungeheuer viel.

• Institutionen sind die geronnene Erfahrung von Generationen und dürfen daher nur vorsichtig und schrittweise verändert werden.

Damit ist die Weltanschauung einer echten Rechten umrissen. Freilich kann sie nicht mit den einfachen Schlagworten argumentieren, die linken Weltanschauungen eignet. Aber schon Joseph de Maistre sprach von den „terrible simplificateurs“, den „schrecklichen Vereinfachern“, die komplizierte Gedankengänge auf einfache, politisch gängige Formeln zu bringen versuchen. Das ist der strukturelle Nachteil rechter Positionen gegenüber linken: Die Linken können mit einfachen Schlagworten arbeiten, die den meisten Menschen einleuchten. Diese sind zwar falsch, aber die Rechten können ihnen nur wenig entgegensetzen, weil sich ihre eigene Weltanschauung nicht in einige kurze, gefällige Sätze pressen läßt. Doch menschliche Identität und menschliche Individualität sind komplizierte Dinge. Jahrhundertelang hat die Linke triumphiert, weil sie einfache Antworten auf schwierige Fragen bot, die in Wahrheit komplizierte und differenzierte Antworten verlangen. Das müssen wir ändern.

Wolfgang Dvorak-Stocker, „Abendland“ I/2023

Die Philosophie des Deutschen Idealismus. Wegweiser für die Zukunft?

Der Deutsche Idealismus ist die Philosophie der Deutschen. Er unterscheidet sich von der Philosophie der Aufklärung durch seinen Zugang zur Metaphysik, zum Numinosen oder „Heiligen“. Gemeinschaft, Volk und Staat sind für ihn Lebenswirklichkeiten, die im Sittlichen und Religiösen wurzeln. Ohne ernste Rückbesinnung auf seine geistige Herkunft, so die These, hat das deutsche Volk keine Zukunft.

Im Brief vom 13. Oktober 1796 an seinen Bruder schreibt Hölderlin: „Philosophie mußt Du studieren, und wenn Du nicht mehr Geld hättest, um eine Lampe und Öl zu kaufen, und nicht mehr Zeit als von Mitternacht bis zum Hahnenschrei!“1 Woher kommt diese Hochschätzung der Philosophie? Warum genügt es nicht, sich zu sättigen, Reichtum zu erwerben, seine Triebe auszuleben und in der kurzen Zeit der menschlichen Existenz von Genuß zu Genuß zu taumeln? Die Antwort, die Platon, der König unter den Philosophen, uns gibt, ist ebenso einfach wie für viele heute befremdlich: „Aus Sorge um die Seele“2.

Die Frage, ob wir denn überhaupt eine Seele haben, wäre dem Griechen nicht einmal in den Sinn gekommen. Noch war für ihn und seine Zeit alles, was lebt, auch beseelt, in jedem Strauch, in jedem Baum und jedem Hain war die Seele zu finden, kein Vogel und Fisch war ohne sie. Selbst Fluß und Meer, Himmel und Erde, der ganze Kosmos war ohne Seele nicht zu denken. Der Mensch bildete da keine Ausnahme. Was ihn von Tier und Pflanze unterschied, das war das „Wissen“ um seine Seele. Über die bloß das Leben „ernährenden“ und äußere Reize „empfindenden“, auch Pflanzen und Tieren eignenden seelischen Vermögen hinaus besitzt nach der Auffassung der alten Griechen die menschliche Seele das Vermögen, zu „denken“ und zu „erkennen“, und sie nennen dieses Vermögen „Vernunft“ (logos oder nous). Die Vernunft bezeichnet geradezu Wesen und Eigenart der Spezies „Mensch“: Der Mensch ist ein Vernunftwesen, ein Animal rationale.

Die Betätigung der Vernunft, das Denken und Erkennen, ist die dem Menschen und seiner Würde entsprechende Beschäftigung. Sie geht den Dingen auf den „Grund“: Erkennen heißt, das hinter den äußeren Erscheinungen, den „Phänomenen“, liegende Noumenon, das Numinose oder „Heilige“, unzerstörbare und unveränderliche „Wesen“ der Dinge zu „entdecken“ und zu „ent-bergen“. Platon nennt dieses heilige Wesen „Idee“. Ihr verdankt der Idealismus seinen Namen, der zugleich Programm ist: das philosophische Bemühen um das Erkennen der hinter und über den Erscheinungen stehenden Ideen.

Die Frucht des philosophischen Bemühens um die Erkenntnis der Ideen ist für die Griechen die Weisheit. Das Streben nach Weisheit – wir nennen es „Philosophie“ – ist die eigentliche Bestimmung des Menschen, der Weise ist der von den ewigen Ideen, den „Gedanken Gottes“ Erfüllte, „Heilige“. Der Heilige ist der Gott Ähnliche: „Die Verähnlichung mit Gott soweit als möglich“ ist für Platon die Aufgabe des Menschen.3 Über zweitausend Jahre später gebraucht Pius XII. für die Beschreibung dieser Aufgabe die gleichen Worte.4 Hier begegnen wir der Philosophia perennis, der die ewige Wahrheit festhaltenden und doch immer wieder sie aufs Neue, in der Sprache der Zeit aussagenden Philosophie.

Die Sorge um die Seele ist für Platon wichtiger als Reichtumserwerb und sogar Gesundheit. Die Sorge um den Erwerb äußerer Güter, so meint er, stehe der Sorge um Gesundheit nach, denn fehle sie, könnten wir unseren Reichtum nicht einmal genießen. Wichtiger aber noch als die Sorge um unsere Gesundheit sei die Sorge um unsere Seele.5 Schließlich sei körperliche Gesundheit ein vergängliches Gut, unsere Seele aber sei unsterblich. Nachdem sie sich im Tod vom Leib getrennt habe, trete sie ihr jenseitiges Schicksal an, und dieses hänge davon ab, wie ihre Lebensführung hier auf Erden war. Hat sie hier schon die ewigen Güter gesucht, so werden ihr diese auch im Jenseits zuteil werden, und sie wird in deren Anschauung höchstes Glück und Ruhe erlangen; war ihr Streben dagegen auf vergängliche Güter gerichtet, dann wird sie auch im Jenseits keine Ruhe finden, sondern umhergetrieben werden von ihrer Sucht, Marter und Qualen leidend.6 Wer sich um seine Seele sorgt, der führe daher ein „gutes Leben“, d.h. ein Leben nach der „Tugend“. Das aber wiederum heißt, ein Leben im Streben nach Weisheit, nach den heiligen Ideen des Guten, Schönen, Wahren und Gerechten. Idealistische Philosophie ringt von Anbeginn bis heute in Ethik, Ästhetik, Logik und Soziallehre oder „Politik“ um die Erkenntnis dieser höchsten Ideen, und dieses Ringen wird nicht aufhören, so lange es Menschen gibt.

Kurze Wirkungsgeschichte des Idealismus

Mag sein, daß in den Augen des Weltenrichters das Griechentum keine andere Aufgabe hatte, als der Welt seine idealistische Philosophie zu schenken und damit die ganze Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben. Jedenfalls ist die Ausstrahlungskraft dieser Philosophie von der Antike bis heute kaum zu überschätzen.

Aristoteles, der Meisterschüler Platons, wird zum Lehrer Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.). Alexander entspricht in vielen Zügen dem Bild des Philosophenkönigs, das Platon in seinem „Staat“ zeichnet.7 Herstellung von Friede und Gerechtigkeit sind die Leitideen, die in seinem weit ausgreifenden Reich herrschen sollen.

Bild: gemeinfrei

Platon, der König unter den Philosophen und Begründer der idealistischen Philosophie.

Die Römer werden durch die Griechen kultiviert. Römische Rechts- und Staatsidee sind ohne griechische Philosophie nicht denkbar, Cicero zollt dieser auf Schritt und Tritt Tribut.8 Der Beitrag der griechischen Philosophie zu Verständnis, Interpretation und Ausbreitung des Christentums ist unübersehbar. Evangelisten und Apostel machen sie sich zunutze, die frühen Päpste und Kirchenväter sind, wie vor allem ihre Auseinandersetzung mit den Häretikern und die schließliche Formulierung der Dogmen zeigen, ganz von griechisch-idealistischer Philosophie durchdrungen. Die Scholastik des Mittelalters ist nicht denkbar ohne die Rezeption des Aristoteles. Das in der Tradition des Imperium Romanum neu errichtete Reich mit seiner monarchisch-aristokratisch-hierarchischen und ständischen Gliederung in Lehrstand, Wehrstand und Nährstand kommt, wenn wir dem Urteil Rankes vertrauen dürfen, der Verwirklichung des platonischen Idealstaates nahe.9 Bis heute bildet die griechisch-idealistische Philosophie, vermittelt durch die Scholastik und den „engelsgleichen Lehrer der Kirche“, Thomas von Aquin (1226–1274), das Fundament aller großen Theologen, Moralphilosophen und Naturrechtslehrer der Kirche.

Und von der Entwicklung der gesamten nachantiken Philosophie selbst bleibt die Einschätzung von Alfred N. Whitehead (1861–1947), selbst Philosoph und Mathematiker von Rang, wohl richtig, sie sei „just a few footnotes to Plato“. Vielleicht gibt es keinen besseren Beweis für die ungebrochene Lebenskraft der griechisch-idealistischen Philosophie als den, daß sie den USA heute in einem Bestseller als Medizin empfohlen werden kann, die geeignet sei, den unheilvollen, weil destruktiven Einfluß der freudomarxistischen „German Connection“ auf die Universitäten und die amerikanische Kultur einzudämmen. Allan Bloom rät, „die Großen Bücher“ wieder zu lesen …10

Die große Gegenbewegung gegen den Idealismus: die „Aufklärung“

Der große und mächtige Gegner des Idealismus ist die Philosophie der Aufklärung. Wie die ganze Menschheitsgeschichte einem ununterbrochenen Kampf zwischen den Heerscharen und Mächten des Guten und Bösen gleicht,11 so gleicht die Geistesgeschichte einer einzigen Auseinandersetzung zwischen Idealismus und „Aufklärung“. Es ist nicht von ungefähr, daß die Herausbildung der großen Systeme des Idealismus regelmäßig dann geschieht, wenn Aufklärung, kultureller und politischer Verfall, die immer zusammengehen, unerträglich zu werden beginnen. So geschah es jedenfalls zu Platons, Thomas’ und Hegels Zeiten. Im antiken Griechenland sind die Vertreter der Aufklärung die „Sophisten“ – Protagoras, Gorgias, Hippias, Alkidamas, Lykophron, Antisthenes, Demokrit und nicht zuletzt Perikles, der politische Führer der sophistischen Bewegung. In ihre Tradition stellte sich bezeichnenderweise Karl Popper, dessen verhängnisvoller Einfluß auf das deutsche Geistesleben im Rahmen der Umerziehung noch kaum erforscht wurde.12 Gegen sie kämpft Platon mit seiner ganzen Kraft, fast in allen Dialogen finden sich über weite Strecken schärfste Auseinandersetzungen mit diesen Frühaufklärern, besonders natürlich im „Sophistes“, „Protagoras“ und „Gorgias“. Die Kunst, die die Sophisten beherrschen und lehren, ist die Rhetorik. Zur rhetorischen Meisterschaft hat es gebracht, wer Gesprächspartner, Gericht oder Volksversammlung davon zu überzeugen vermag, daß der Schuldige schuldlos, das Falsche wahr, das Häßliche schön und das Ungerechte gerecht sei oder umgekehrt. So gelang es den Sophisten, zu erreichen, daß Sokrates, der geliebte Lehrer Platons und der Gerechteste unter den Athenern, zum Tod verurteilt wurde und den Schierlingsbecher leeren mußte. Das Todesurteil war die Quittung dafür, daß Sokrates den Politikern vorgeworfen hatte, sie wüßten nicht, wovon sie reden, wenn sie Gerechtigkeit und Gleichheit zugleich versprechen oder Worte wie „das Wohl des Staates und seiner Bürger“ in den Mund nehmen. Angemaßte Autorität und Demokratie in Frage zu stellen, war schon damals ein todeswürdiges Verbrechen.

Den Sophisten – Platon nennt sie „Volksschmeichler“ – war nichts mehr heilig, Wahrheit wurde zur Ansichtssache, Kunst zur Geschmackssache, Politik zur Machtfrage, Gerechtigkeit zur Frage des Abstimmungsergebnisses. Auf Perikles, immerhin noch dem Schöngeistigen zugetan, folgten der Gerber Kleon und die Verurteilung des Sokrates, der Verfall Athens nahm rasante Formen an, die attische Vorherrschaft ward rasch verloren. Platons Staatstheorie entstand zu einem Zeitpunkt, da die Staatswirklichkeit Athens bereits zerbrochen war, wiederherstellen konnte er sie nicht mehr. Als Darstellung der Prinzipien des gerechten Staates dagegen bleibt Platons Theorie für alle Zeiten gültig, auch als Warnung vor den Folgen der Abkehr von ihren Grundsätzen.

Die Sophisten des Mittelalters sind die „Nominalisten“. Im Kampf gegen sie entwickelt Thomas von Aquin sein System des Idealismus, noch einmal den Versuch wagend, die Einheit und Ganzheit von Sein, Kirche, Gesellschaft, Mensch und Staat in einer großen, wahrhaft universalistisch zu nennenden Gesamtschau zusammenzufügen, um auf diese Weise das endgültige Auseinanderbrechen der geistlichen und weltlichen Gewalten noch zu verhindern. Ein Versuch, der genauso zu spät kam wie jener Platons. Als Thomas seine „Summen“ schrieb,13 war die nie wirklich gelungene Synthese zwischen geistlicher und weltlicher Macht, zwischen Papsttum und Kaisertum, bereits endgültig zerbrochen und das Reich entscheidend geschwächt. Doch im Triumph der Kirche über das Reich, des Papstes über den Kaiser, witterte Thomas bereits die Gefahr, die der päpstlichen Autorität und der Einheit der Kirche von innen her drohte. Kirchenspaltung und Reichsauflösung waren für den Doctor angelus aus normannisch-aristokratischem Geblüt ein und dieselbe Sache, Wirkung des gleichen Geistes der Sophistennominalisten, die die metaphysisch-objektive Realität und Substanz der Allgemeinbegriffe oder Ideen und damit die Heiligkeit der Institutionen (Kirche, Staat, Reich) leugneten. Marsilius von Padua (1275–1343), ein Jahr nach dem Tod des Aquinaten geboren, zog mit äußerster Schärfe die politischen Konsequenzen aus dieser Leugnung. Sie münden und gipfeln in der individualistischen Auffassung von Kirche und Staat, die bis heute tonangebend geblieben ist. Sein „Defensor pacis“ (1324) liest sich über weite Strecken wie ein Traktat der „Kirchen-Volksbegehrer“ unserer Tage: Nicht der Papst, sondern ein Konzil aus Geistlichen und Laien soll als oberste Instanz in geistlichen Dingen entscheiden. Der Papst ist nicht der Nachfolger Petri und besitzt keine primatiale Jurisdiktionsgewalt. Wie er gewählt wird, so kann er auch abgesetzt werden. Die Kirche ist die Versammlung der Gläubigen, dieser kommt daher auch das Recht zu, die Kandidaten für kirchliche Weihen zu beurteilen und zur Erhebung in den Priester- oder Bischofsstand zu ermächtigen.

Bild: WikiMedia Commons / Rvalette (CC BY-SA 4.0)

Thomas von Aquin, der „engelsgleiche Lehrer“. – Gemälde von Michel Serre in der Basilika Sainte-Marie-Madeleine de Saint-Maximin-la-Sainte-Baume.

Die gleichen Prinzipien gelten für den Staat: Die Grundlage der staatlichen Herrschaft ist die Volkssouveränität. Dem Legislator humanus, dem aus dem Volk gebildeten menschlichen Gesetzgeber, steht allein das Recht zu, Gesetze zu erlassen, Regierungen zu bestellen und Monarchen zu wählen oder abzusetzen. „Menschlicher Gesetzgeber ist allein die Gesamtheit der Staatsbürger oder deren bedeutsamerer Teil“, daher gibt es auch keinen eigenen Rechtsbereich der Kirche als Gemeinschaft menschlichen Rechts oder eine „zweite Gewalt“, denn „in jeder Stadt und in jedem Staat darf es nur eine oberste Regierungsgewalt geben“.14 Der menschliche Gesetzgeber ist an eine transzendente Rechtsquelle (z.B. die Zehn Gebote) nicht gebunden: Recht ist nicht vor oder über dem Staat, sondern es wird durch den Staat, d.h. den menschlichen Gesetzgeber, erst geschaffen (Leugnung des Naturrechts).

Wie leicht einzusehen ist, liegen die Wurzeln von Reformation und neuzeitlicher Aufklärung im Nominalismus, der die Sakralität aller Ordnungsformen und Institutionen bestreitet und so jenen Prozeß der Säkularisierung einleitet, welcher bis zum heutigen Tag andauert.

Was die Reformation betrifft, so ist es wohl nicht zuviel behauptet, wenn man sie als den entscheidenden Einschnitt ansieht, der die neuzeitliche Kultur des Individualismus und der Aufklärung vom mittelalterlichen Universalismus trennt. Luther (1483–1546) gründet seine Lehre aIlein auf dem Glauben als persönliches Erlebnis („sola fide“) und auf der Heiligen Schrift als der einzigen Quelle der Verkündigung („sola scriptura“). Zusammen mit der Bestreitung des Weihepriestertums legt er die Axt an den Baum der kirchlichen Autorität, an ihr Sakraments- und Dogmensystem und löst so Glauben und Gläubige aus den Banden der Kirche. Damit leitet er die geistige Emanzipation des Individuums ein, welche die Geschichte der Neuzeit formt und gestaltet.

Der Prozeß immer weiter gehender Emanzipation oder „Befreiung“ aus der Bevormundung des Individuums durch Kirche, Staat und Stand wird zum Inhalt der „Aufklärung“, die das „Rote Rad“ (Solschenizyn) der Revolution in Bewegung setzt, das seine grausige Blutspur in den kommenden Jahrhunderten durch die Völker legt.

Auf die kürzeste Formel gebracht, verfolgt „Aufklärung“ (illumination, enlightenment) als Programm die Loslösung („Emanzipation“) des Menschen von Gott und schließlich von jeglicher Autorität unter Rekurs auf die als „mündig“ angenommene einzelmenschliche Vernunft.15 Wie sie Religion und Metaphysik bekämpft, so fördert sie gleichzeitig jede Art von Rationalismus, Naturwissenschaft, Wissenschaftsgläubigkeit und Fortschrittsglauben. Politisch-juristischgesellschaftlich-wirtschaftlich fordert sie Freiheit von allen nicht aus dem Nutzen für den einzelnen zu erklärenden Bindungen sowie die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und schließlich gleiche Rechte für alles, was Menschenantlitz trägt.16

Dementsprechend bedeuten Denken und Erkennen nicht mehr Teilhabe und Innewerdung des Logos der göttlichen Ideen, sondern Empfang von äußeren Eindrücken und Sinnesreizen und ihre Verarbeitung durch den neurophysiologischen Apparat zu subjektiven Vorstellungen von den Dingen und ihren Beziehungen zueinander. Die Natur war jetzt kein beseelter Kosmos mehr, dem man nur mit Scheu und Einfühlung nahte, sondern ein toter Mechanismus, der nach immer gleichen Gesetzen ablief. Sie zwecks Naturbeherrschung und Naturausbeutung zu entdecken, wurde zum Ziel exakter Wissenschaft („Wissen ist Macht“). Der Staat wurde nicht mehr als Inbegriff sittlicher Tugenden und heiliger Gerechtigkeit angesehen, sondern er war allein aus dem Nutzen, den er seinen einzelnen Bürgern brachte, zu erklären und zu konstruieren. Doch weil Nutzen und Wohlstand keine Grenzen kennen, erwies er sich bei einem so konsequenten Denker wie Thomas Hobbes (1588–1638) sogleich als „Leviathan“, der dazu neigt, in alle Bereiche des Lebens einzugreifen.

Den letzten Bruch mit den Resten der Tradition und der Kultur vollzog Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dessen Werk zum Schibboleth jakobinischer Demokratien wurde, die sich im Laufe der Geschichte allenthalben gegen die aus dem englisch-liberalen Geiste entstandenen demokratischen Formen mehr und mehr durchsetzten. Rousseau ist nicht nur der Wegbereiter der Französischen Revolution, sondern, über Karl Marx, auch der kommunistischen Revolutionen auf der ganzen Welt, vor allem aber jener in Rußland und China, die mit ihren Hekatomben an Menschenopfern17 zum unwiderleglichen Beweis der Gottverlassenheit des 20. Jahrhunderts wurden. Es gibt gute Gründe, auch den Nationalsozialismus in diese Traditionslinie, die von Rousseau zum Massenmord führt, einzuordnen.18 Die Thesen Rousseaus: Die Kultur hat die Sitten verdorben, Privateigentum ist die Erbsünde der Gesellschaft, Herrschaft ist Beraubung der ursprünglichen Freiheit des Menschen, daher „zurück zur Natur“, Abschaffung des Privateigentums und Befreiung von jeder Herrschaft.19 „L’homme est né libre“20, er allein darf über sich selbst herrschen, kein anderer. In der Gesellschaft herrscht er zusammen mit allen anderen auf Grund eines Contrat social. Gemäß diesem Vertrag bringt jeder sich selbst und alle seine Rechte „sans réserve“ in die Gesellschaft ein und übt sie dort zusammen mit allen anderen aus. Der Contrat social hat eine einzige Klausel. Ihr Inhalt bedeutet „das vollständige Aufgehen des Individuums mit all seinen Rechten in der Gesamtheit. Wie die Natur dem Menschen eine absolute Gewalt über seine Glieder gibt, so übergibt der soziale Vertrag dem Gesellschaftskörper eine absolute Gewalt über die, die ihm angehören“21. Diese vollständige Hingabe des einzelnen und seine vollkommene Einordnung stehen nicht im Gegensatz zu den ursprünglichen und unveräußerlichen Freiheitsrechten des Individuums, denn diese Unterwerfung vernichtet nicht die Freiheit, sondern der einzelne gewinnt erst durch sie seine bürgerliche und moralische Freiheit, die ihm jetzt alle anderen garantieren, wie er sie ihnen garantiert. Nicht ein einzelner herrscht, sondern Herrschaft wird von allen in gleicher Weise ausgeübt. Bei der Ermittlung des Volkswillens kommt jedem Bürger das gleiche Stimmrecht zu, die Mehrheit entscheidet, und diese Entscheidung ist als Allgemeinwille oder Volonté générale für alle bindend. „La république est une et indivisible“, Minderheitsrechte gibt es nicht. Alle Menschen sind gleich, mit den gleichen Rechten und Pflichten geboren. Da bleibt kein Platz für die Vorrechte des Adels oder die Privilegien der Stände, der Kirche und des Klerus. Die Fesseln der bestehenden Bindungen und Vorrechte zu zerschlagen, bedeutet, Unrecht zu vernichten: Durch Rousseau wird die Revolution zur sittlichen Pflicht. Wenige Jahre nach Rousseaus Tod wird diese Pflicht von der Französischen Revolution erfüllt. Seither rast eine Furie durch die Welt, die im Namen von „Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Recht“ Kriege und Bürgerkriege anzettelt und von einem Massen-, Klassen- und Völkermord zum anderen fortschreitet. Die acht „G“ sind die Mittel zur Durchsetzung von „Vernunft“ und „Freiheit“ – Guillotine, Galgen, Gaskammern, Genickschüsse, Gefängnisse, Geisteskrankenhäuser, Gulags, Genozide.22 Rousseau hat die Leidenschaften aufgewühlt, die nicht mehr gebändigt wurden: „Liberté, égalité, fraternité, ou le mort!“ Die „bürgerliche“ Revolution versackte im Tugendterror und den im Namen von Freiheit und Menschenrechten angerichteten Blutbädern.

Die Überwindung der Moderne durch den Deutschen Idealismus

Die zahllosen Salons, die geistreichelnden Sociétés pensées und geheimen Gesellschaften23 erzeugten im 18. Jahrhundert aus der Philosophie der Aufklärung in Frankreich ein derart explosives Gemisch, daß ein verhältnismäßig kleiner Funke – der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 – genügte, um die Französische Revolution auszulösen, den Pöbel zur Herrschaft zu bringen und jenes Schreckensregiment – Le terreur – im Namen der Göttin „Vernunft“ zu installieren, das in wenigen Jahren rund eine Million „Feinde der Republik“ das Leben kostete. Die dabei angewandten Methoden – etwa beim Genozid in der Vendée – übertrafen in ihren Greueln alles bisher Dagewesene.24

Die anfängliche Begeisterung der besten Köpfe in den deutschen Landen für die „Errungenschaften“ der Französischen Revolution – die „Déclaration des Droits de l’Homme“, die Abschaffung der Monarchie, des Adels, der Stände und der Privilegien der Kirche sowie die Errichtung der Demokratie – verflog sehr rasch und machte noch um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einer Gegenbewegung Platz, die zur Hochblüte des Idealismus führte. Seit Kant, Fichte, Schelling und Hegel ist Idealismus gleichbedeutend mit „Deutschem Idealismus“ und der Idealismus die Philosophie der Deutschen. Der im Hinblick auf den französischen oder englischen Nationalgedanken so ganz andere deutsche Nationalgedanke ist eine Frucht des Deutschen Idealismus. Die Deutschen verdanken ihm ihre Identität, aber auch ihren „Sonderweg“ durch die Geschichte der jüngsten Vergangenheit. Im Unterschied zu den aus der Aufklärung stammenden Ideen gründen sie die Einheit der Nation und den Staat nicht auf willkürlichem „Volkswillen“, individuellen Menschenrechten und rationalem Nutzenkalkül, sondern auf Sittlichkeit und Glaubensüberzeugung. Durch ihren Idealismus werden für die Deutschen Volk, Nation und Staat zu metaphysischen Begriffen und Gütern eigener Objektivität und Wirklichkeit. Volk und Staat zu dienen, gehört zur ersten Pflicht des Königs, aber auch zu der des geringsten Bürgers.

Die Wirkung der idealistischen Philosophie auf die Bildung der deutschen Nation wurde durch eine Reihe von Faktoren noch verstärkt. Den Deutschen wurden in dieser Zeit ihre beiden größten klassischen Dichter geschenkt, die die Entwicklung des Deutschen Idealismus aufmerksam begleiteten und förderten, Goethe und Schiller. Die Romantik brachte die zum Teil verschütteten Quellen des „Volksgeistes“ mit ihren Dichtungen, Erzählungen, Romanen, Geschichten, Märchen und Mythen aufs neue zum Sprudeln. Hölderlin „erfüllte mit Göttern die himmlischen Hallen“ und erweckte das Interesse an den griechischen Wurzeln der deutschen Kultur. Jetzt wurden Fluß und Landschaft wieder beseelt, und die gemüthafte Seite des Menschen fand ihre Befriedigung.

Bild: gemeinfrei

Immanuel Kant überwand die Philosophie der Aufklärung.

Dazu trat das Phänomen Napoléon, Produkt von Aufklärung und Französischer Revolution, gewissermaßen „der Weltgeist zu Pferde“, der ganz Europa mit Krieg überzog und den Völkern seine Bedingungen diktierte. Frankreich und die es prägende Ideologie der Aufklärung wurden zum Feind, von dem es sich schnellstmöglich zu befreien galt. Mit dem geistigen Rüstzeug, das der Deutsche Idealismus einbrachte, wurden die Freiheitskriege zu einer „heiligen Sache“, die das Werden der Deutschen Nation noch beschleunigte.

Doch von dieser Leistung für die „verspätete Nation“ und ihre Identität ganz abgesehen, ist der Deutsche Idealismus genauso wie der griechische ein Geschenk an die Welt und Gemeingut der Menschheit. Wenn wir heute vom Ende der Moderne sprechen, dann wurde dieses Ende durch die geistige Überwindung der Aufklärung im Deutschen Idealismus eingeleitet und vorweggenommen. Einige Schlüsselmomente dieser Überwindung seien hervorgehoben:

• die philosophische Begründung der sittlichen Würde des Menschen und der Unverzichtbarkeit, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als ihre Bedingungen anzunehmen;25

• die Begründung der Wissenschaft auf Denknotwendigkeit statt auf „Erfahrung“. („Es ist der Verstand, der der Natur die Gesetze vorschreibt, nicht umgekehrt!“);26

• die Überwindung des (dialektischen) Materialismus durch den Begriff der Vernunft (des Geistes) als „Selbstsetzung“ und damit „Freiheit“ („Geist wird aus Geist, und nicht aus Stoff“, etwa im Wege der „Evolution“);27

• der Aufweis der apriorischen Bedingungen möglicher Erfahrung in der Vernunft (z.B. die Anschauungsformen „Raum“ und „Zeit“ sowie die Urteilsformen und Verstandeskategorien);28

• die Entdeckung der Person (des „Ich“) als des Trägers und Produzenten („Radikalvermögen“) aller Erkenntnis;29

• die Entdeckung des vom Subjekt und seinen Neigungen vollkommen unabhängigen „moralischen Gesetzes“ (des „kategorischen Imperativs“) durch Vernunftschluß;30

• die Erfassung der Natur des Gewissens in der menschlichen Person (des Deus in nobis);31

• die Erkenntnis, daß „Gott der tiefste Grund der moralischen Ordnung, der Übereinstimmung der Geister und ihrer gemeinsamen Sinnenwelt ist“;32

• die Methode der „intellektuellen Anschauung“ (Ideenschau, Intuition) zur Erfassung des Wesens von Dingen und Erscheinungen (durch Sammlung, Kontemplation, Unio mystica als Ausdruck der „Vermählung“ oder „Identität“ von Subjekt und Objekt, auch Introspektion, Anamnesis, Eingebung);33

• der Begriff des Denkens als Verarbeitung („Vergegenständlichung“) von Ideen, die durch die Eingebung „erfaßt“ wurden, nach logischen Schritten;34

• die Begründung der Wahrheit auf der Einheit von Denken und Sein;35

• die Begründung der Ethik (Wert, Norm, Recht) auf der Vollkommenheit des Seins („Wertaussagen sind Seinsaussagen“, nicht subjektive Empfindungen);36

• die Gründung des Staats auf der Idee des Sittlichen („Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“), nicht auf dem Nutzen oder der Willkür von Meinungen und Abstimmungen;37

• die (theoretische) Entwicklung des „organischen“ Staatsaufbaus (mit gesellschaftlichen Lebenskreisen, Verbänden oder „Ständen“);38

• die Komplementarität von Herrschaft und Opfer als Begründung für jeden Führungsanspruch in der Gesellschaft;39

• der Begriff der Communio als Wesenskern der Gemeinschaft (Bloßlegung der sakralen Wurzeln der natürlichen Gemeinschaften und ihrer Institutionen);40

• das Erfassen der „vormateriellen“ (geist- und seelenartigen) Wurzeln der anorganischen und organischen Natur sowie die Berücksichtigung dieser Wurzeln im Verhältnis des Menschen zur Natur („Ökologie“, Lebensganzheit);41

• das Verstehen des künstlerischen Schaffens als Ideengestaltung („Kunst ist Versinnlichung des Heiligen“);42

• die Interpretation der Geschichte als Kampf um die Versittlichung des Menschengeschlechts („Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“);43

• die Erkenntnis der Gottverwandtschaft des Menschen (Teilhabe des Menschen an der Natur Gottes oder Gottes Geist);44

• das Begreifen des Denkens und wahren Erkennens als Offenbarung Gottes im Geist („Lichtung des Seins“).45

Mit jedem dieser Momente – und hinter jedem einzelnen Moment verbirgt sich eine ganze Theorie! – steht der Idealismus aufs Schroffste gegen die Philosophie der Aufklärung und der Moderne. Kants Entdeckung des Apriori sowie der übersubjektiven Verstandesbegriffe oder „Transzendentalien“, die „Selbstsetzungslehre“ Fichtes, die Naturphilosophie und Identitätslehre Schellings und schließlich Hegels grandiose Logik, die alle Momente aus einem einzigen Gedanken, dem sich selbst schaffenden und bewußtwerdenden Geist ableitet, widersprechen Empirismus, Positivismus, Sensualismus, Subjektivismus, Utilitarismus, Rationalismus und damit der „Aufklärung“ in jeder nur denkbaren Weise. Im Urteil des Idealismus stellt die ganze Aufklärung und ihre Manifestation in der Moderne einen „Irrweg der Vernunft“46 dar. Wie recht er damit hat, zeigt sich heute in der radikalen Existenzbedrohung des Menschen und der Welt. Statt Befreiung führte die Moderne zu Entfremdung und Verdinglichung des Menschen mit dem Verlust der Humanität. Infolge seiner Gottverlassenheit wurde das 20. Jahrhundert zum „Jahrhundert des Massenmordes“. Statt Rationalismus kam es zur gigantischen Verschwendung der Ressourcen und zur Umweltzerstörung. Die moderne „Dreifaltigkeit von Naturwissenschaft, Technik und Industrie“47 verwandelte Nutzen in Verdinglichung, Verschwendung, Zerstörung.48 Der Liberalismus wurde zur „Immunschwäche Europas“49. Unter dem Mantel der Demokratie entstanden die neuen „stählernen Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber). Freihandel und Marktwirtschaft resultierten in der totalen Verschmelzung von Politik und Geschäft, staatlicher Bürokratie und Industrie, Großforschung und Machtstreben, Massenkommunikation und -kontrolle, Hochfinanz und Spekulation, Korruption und Administration.50

Wie sehr es unter der Oberfläche brodelt, deuten die immer wieder blasenartig aufsteigenden Bewegungen und „Revolten wider die moderne Welt“51 an: Jugendbewegung, Hippies, Flower power