Glauben im Zweifel - Norbert Scholl - E-Book

Glauben im Zweifel E-Book

Norbert Scholl

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Beschreibung

Gott und die Naturwissenschaften: Verträgt sich das überhaupt? Für viele Menschen ist die Antwort heutzutage eindeutig: Gott ist ein Relikt aus archaischer Zeit und in einer modernen Gesellschaft überflüssig. Im Gegensatz dazu steht die wachsende Sehnsucht nach etwas Höherem. Der Wunsch nach einem individualisierten Glauben, der nicht mehr an die starren Formen der Kirche gebunden ist, wird immer deutlicher. Vor diesem Hintergrund wagt sich Norbert Scholl in seinem neuen Band an eine ›Aktualisierung‹ des Gottesbildes. Er legt anschaulich dar, wieso Gott sehr wohl mit den aktuellen Erkenntnissen der Naturwissenschaften kompatibel und der Glaube an ihn nicht irrational ist. Dabei entwickelt er eine zeitgemäße Vorstellung von Gott, die die alten Formeln und Symbole der Tradition überwindet und dem Beten wieder einen Sinn gibt.

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Seitenzahl: 320

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|3|Norbert Scholl

Glauben im Zweifel

Der moderne Mensch und Gott

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

|4|Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überwww.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG

© 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Satz: Janß GmbH, PfungstadtEinbandgestaltung: Peter Lohse, HeppenheimLektorat: Cana Nurtsch, BerlinEinbandabbildung: © Fotolia/Rawpixel.com

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-650-40145-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-650-40167-0eBook (epub): 978-3-650-40168-7

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

|5|Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

I.Ansätze bei den Naturwissenschaften

Der Urknall – hochexplosive Anfangssituation

Materie – ein fast leerer Raum

Energie – allmächtig und allgegenwärtig

Gravitation – unwiderstehlich starker Schwächling

Leben – aus Ursuppe und ein paar Milliarden Jahren Zeit

Evolution – ziellos zielgerichtet

Zeit – exakt vermessbares Nichts

Bewusstsein – Synapsengestöber im Hirn

II.Ansätze bei der Theologie

Glaube – Ungewissheit und Wagnis

Gottesbilder – alles Projektionen

Person – Maske oder Individuum

Jesus – Mensch unter Menschen

Erlösung – nicht Geschenk, sondern Aufgabe

Vater, Sohn, Heiliger Geist – säkularisiert

Dinge – Zeichen für etwas Anderes

Gebet – Unterbrechung und Widerstand

 

Rückblick und Ausschau

 

Eine Ahnung – mehr ist es nicht

 

Anmerkungen

 

 

 

 

|7|Die Grundlage für die Frage nach Gott ist schlicht und ergreifend die Tatsache, dass es uns gibt – und wir überhaupt die Frage nach dem Grund unserer Existenz stellen können.

Diese „Fragwürdigkeit“ können wir nicht einfach abschütteln, denn es ist vernünftig, sich das zu fragen: „Woher kommt alles? Was ist der Sinn? Wohin geht alles? …“

Vernünftige Fragen kann und soll man nicht unterdrücken.

Aber was macht man mit Fragen, auf die es keine absolut sicheren Antworten gibt?

Harald Günthner*

 

 

 

 

 

*http://www.haraldguenthner.de/eine-ahnung-von-gott/ [4.11.2015].

 

|9|Zur Einführung

Liebe Leserin, lieber Leser!

Für den Philosophen René Descartes war „zweifeln an allem“ der Ausgangspunkt seines Denkens – des Denkens überhaupt. Wenn wir alles nur irgendwie Mögliche bezweifeln, können wir doch nicht bezweifeln, dass wir zweifeln. Dazu müssen wir aber existieren. Sonst könnten wir gar nicht zweifeln.

Zweifel kann unkritischen Enthusiasmus enttäuschen, kann desillusionieren, kann Irrwege aufzeigen. „Der Zweifel ist eine Grundwirklichkeit der menschlichen Existenz, ein Ausdruck unserer Begrenztheit. … Der Zweifel ist ein Teil von uns.“ So äußerte sich unlängst der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki.1

Zweifel und Glauben gehören zur Wissenschaft

Der Zweifel gehört zur Wissenschaft. Denn Zweifel stachelt das Nachdenken an. Etwas bisher scheinbar Selbstverständliches kann plötzlich fragwürdig erscheinen. Wir beginnen, die Argumente genauer zu prüfen, abzuwägen, zu hinterfragen, über Alternativen nachzudenken, andere Theorien zur Erklärung zu entwickeln.

Doch um wissenschaftlichen Ansprüchen genügen zu können, müssen auch diese auf den ersten Blick besser und stringenter erscheinenden Theorien überprüft werden. Seit Karl Popper gilt: Alle Aussagen müssen, um wissenschaftlich zu sein, etwas über die Realität aussagen, intersubjektiv nachprüfbar sein und an der Realität scheitern können. Sie müssen grundsätzlich verifizierbar und falsifizierbar sein.

Allerdings kann es gerade angesichts der hochkomplizierten und immer engmaschiger differenzierten Erkenntnisse vor allem in den modernen Natur- oder auch in den Sozialwissenschaften passieren, |10|dass jemand in einem bestimmten Bereich nicht kompetent genug ist, vielleicht sogar überhaupt nicht kompetent genug sein kann, um seine Überzeugung zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Kompliziert wird es, wenn er gar nicht merkt oder nicht wahrhaben will, dass er inkompetent ist. „It is not ignorance, but ignorance of ignorance, that is the death of knowledge“ (Alfred North Whitehead). Inkompetenz bewahrt vor Zweifel.

Vertreter der sogenannten exakten Wissenschaften behaupten gern, bei ihnen gehe es nicht um Meinen oder Glauben, sondern um Wissen. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet der 1959 in Leipzig erschienene „Wegweiser zum Atheismus“: „Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass noch kein Mensch Gott gesehen, gehört oder sonstwie wahrgenommen hat. Es gibt keinerlei echte, wissenschaftlich haltbare Beweise für das Dasein Gottes bzw. für irgendeine göttliche Tätigkeit, weder logisch-theoretische noch praktische. Alle angeblichen Beweise von der Existenz Gottes sind nur der Versuch, durch entsprechende Deutung der wirklichen Welt den Eindruck zu erwecken, als wäre sie nur unter der Voraussetzung Gottes möglich. Die Welt aber besteht ewig. Sie entwickelt sich nach den ihr innewohnenden Gesetzen, und der Mensch ist grundsätzlich in der Lage, sie zu erkennen.“2

Hier hat Inkompetenz über Wissen gesiegt („Die Welt besteht ewig“). Dem Autor oder den Autoren war wohl nicht bewusst, dass auch die exakten Wissenschaften ohne Glauben nicht auskommen. In dem genannten Beispiel ist es der unbedingte Glaube an das atheistische Weltbild. In seiner Frankfurter Antrittsvorlesung hat 1965 der Philosoph Jürgen Habermas darauf hingewiesen, dass auch „in den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften … ein technisches … Erkenntnisinteresse“ einfließt. „Erfahrungswissenschaftliche Theorien (erschließen) die Wirklichkeit unter dem leitenden Interesse an der möglichen informativen Sicherung und Erweiterung erfolgskontrollierten Handelns.“3

Jedem naturwissenschaftlichen Experiment geht der Glaube voraus, dass eine bestimmte Versuchsanordnung zu dem erwarteten Ergebnis führen und eine vorausgehende, noch unbewiesene Annahme bestätigen wird. Je komplizierter und vielschichtiger die Erforschung einer bestimmten naturwissenschaftlichen Gegebenheit |11|ist, desto mehr fließen – bewusst oder unbewusst – in das Experiment und sein Ergebnis bestimmte Vermutungen und Deutungen, man könnte auch sagen „Glaubensinhalte“ ein. Dieser „Glaube“ oder, um mit Habermas zu sprechen, dieses „technische Interesse“ der Naturwissenschaften kann erst durch „Selbstreflexion der Wissenschaft“ richtig erkannt werden. So ist nicht zu bezweifeln, dass es Leben gibt; wohl aber können die verschiedenen Theorien über seine Entstehung bezweifelt werden. Für die Bereitschaft zu einer gegebenenfalls erforderlichen Korrektur braucht es zuvor ein „emanzipatorisches Erkenntnisinteresse“4: Es braucht den Zweifel.

Nicht allen Wissenschaftlern ist das bewusst; ihre Wissenschaftsgläubigkeit bleibt unangefochten. Eine ganze Reihe von ihnen ist freilich selbstkritisch genug, um zu erkennen und auch einzugestehen, dass es eben doch noch mehr gibt als das, was sich mit millionenschweren Instrumenten empirisch nachweisen und mit schönen Theorien darstellen lässt. Es sind gerade die klügsten Köpfe unter den Naturwissenschaftlern, die sich nicht scheuen, das demütig zu bekennen: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtender Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitiven Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem Sinn gehöre ich zu den tief religiösen Menschen“, so Albert Einstein5.

Zweifel gehört zum Glauben

Oben habe ich schon einmal Kardinal Woelki und sein Bekenntnis zum Zweifel erwähnt. Im gleichen Interview spricht er auch von Glaubenszweifeln: „Mit meinem Zweifel muss ich leben, aber eben auch mit dem Glauben. Beide sind ein Teil von mir. Ich weiß, dass ich nicht immer alles verstehen kann und auch nicht immer erkenne, was Gott will. Doch ich fühle mich zugleich gehalten von ihm. Der Glauben ist in meinem Leben bislang immer stärker gewesen als der Zweifel. Darüber bin ich glücklich.“

Der Zweifel besitzt sogar eine heilsame Funktion für den religiösen Glauben. Er ist nicht Feind, sondern Schutz des Glaubens: Er |12|schützt davor, Geltungsansprüchen oder Heilsversprechungen zu schnell und leichtfertig auf den Leim zu gehen. Er hält davon ab, Aussagen ungeprüft zu übernehmen und schlechte Argumente mit guten zu verwechseln. Er bewahrt vor allzu forschem Auftreten und vor übertriebener Selbstsicherheit, denn er lehrt mich, dass sich dahinter nicht selten Unsicherheit oder gar gähnende Leere verbergen.

Der Zweifel muss ein Hausrecht beanspruchen dürfen in unserem Glauben, in den Gemeinden, in der Kirche. Wir dürfen ihn nicht aussperren, weil er uns unbequem erscheint, weil er unsere Selbstgewissheit durchkreuzt, weil er uns in unserer Scheinsicherheit verunsichert. Allerdings muss ich auch am Zweifel immer wieder zweifeln. Denn auch der Zweifel „glaubt nur“.

Es darf uns nicht beunruhigen, wenn heute viele gläubige Menschen mit massiven Glaubenszweifeln ringen. Denn „keiner kann dem Zweifel ganz, keiner kann dem Glauben ganz entrinnen; für den einen wird der Glaube gegen den Zweifel, für den anderen durch den Zweifel und in der Form des Zweifels anwesend. Es ist die Grundgestalt menschlichen Geschicks, nur in dieser unbeendbaren Rivalität von Zweifel und Glaube, von Anfechtung und Gewissheit die Endgültigkeit seines Daseins finden zu dürfen. Vielleicht könnte so gerade der Zweifel, der den einen wie den anderen vor der Verschließung im bloß Eigenem bewahrt, zum Ort der Kommunikation werden“, so schrieb der junge Professor Joseph Ratzinger vor fast 50 Jahren.6

Die Gottesahnung verschwindet nicht

Weder die Existenz noch die Nicht-Existenz Gottes lassen sich beweisen. Für jede der beiden Positionen können Argumente benannt werden. Gleichwohl besitzen viele (wenn nicht alle) Menschen ein „anonymes und unthematisches Wissen“, sagt Karl Rahner, so etwas wie eine „Ahnung von Gott“: Vielleicht ist gerade das ahnungsvollzweifelnde, vorsichtig-glaubende Tasten im Ungewissen, im Unbeschreiblichen, im Unfassbaren die adäquate Ausdrucksform des Glaubens für den modernen Menschen.

|13|Die Gottesahnung verschwindet nicht – trotz aller Unkenrufe vom „Tod Gottes“, trotz aller philosophischen Bestreitung Gottes, trotz aller verächtlichen Rede vom „Gotteswahn“. Die Vermutung von einem „Etwas“, das größer ist als alles Gewordene, lässt sich nicht vertreiben. Irgendwie versuchen Menschen, in bestimmten Symbolsystemen immer wieder (oder auch: immer noch) diesem Gerücht und dieser ihrer Ahnung, diesem ihrem suchenden und tastenden „Glauben“ Ausdruck zu verleihen. Sie bemühen sich, dem Anspruch, dem sie sich in bestimmten Situationen ausgesetzt fühlen, zu entsprechen – sei es in ihrem veranfworfungsvollen Handeln, sei es in liturgischen Riten, in Gebet und Meditation, in mystischer Versenkung. Sie geben ihrem sprachlosen Sich-angesprochen-Fühlen eine Antwort, die sie sprachlich-stammelnd zu fassen suchen, so dass auch andere sich darin wiederfinden können. Oder sie verharren in staunendem Schweigen, in andächtiger Bewunderung, in wortloser Betrachtung. Glaubwürdiges Denken und Reden von Gott darf heutzutage nicht geprägt sein vom Grundton scheinbar unerschütterlicher Sicherheit und von einem begrifflichen „Wissen“ um das unbegreifbare Geheimnis „Gott“.

Mir geht es in diesem Buch vor allem um zwei Aspekte:

• Ansätze bei den NaturwissenschaftenAn den großen Themen der Naturwissenschaft (Urknall – Materie – Energie – Gravitation – Leben – Evolution – Zeit – Bewusstsein) möchte ich darlegen, dass hier keineswegs schon alle Fragen gelöst sind. Trotz oder wegen aller unbestreitbar großen Erfolge in der Erforschung des Universums, seiner Rätsel und Geheimnisse zeigt sich, dass jede gewonnene Antwort und jede neue Erkenntnis wieder neue Fragen aufwerfen. Es soll auch deutlich werden, das die von einigen Naturwissenschaftlern mit scheinbarer Selbstverständlichkeit und mit wissenschaftlichem Pathos vorgetragene Leugnung der Existenz einer transzendenten Kraft (Gott) wissenschaftlich unhaltbar und in Zweifel zu ziehen ist. Ganz im Gegenteil weisen viele Aspekte genau in die gegenteilige Richtung.

• Ansätze bei der TheologieAn den Beispielen Glaube, Projektionen, Person, Jesus, Erlösung, Dreiheit, Sein möchte ich versuchen aufzuzeigen, dass eine „nachmetaphysische“ |14|Gottesvorstellung und das sich daraus ergebende „neue Denken von Gott“ sich durchaus mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften vertragen. Dabei muss allerdings Abschied genommen werden vom tradierten „metaphysischen“ Gottesbild, das einer Welt entstammt, in der ein Flug zum Mond als reine Wahnvorstellung erschien und das in „moderne Zeiten“ nicht mehr hineinpasst. Ich möchte dabei auch deutlich machen, dass „Beten“ (etwas anders als gemeinhin verstanden) angesichts dieses „neuen“ und anderen Gottesbildes durchaus möglich und sinnvoll erscheint.

Vielleicht ist es wahr …

Der jüdische Philosoph und Religionswissenschaftler Martin Buber schildert in seinen „Erzählungen der Chassidim“ das Zusammentreffen eines gläubigen Rabbi mit einem skeptischen Aufklärer. Der „suchte ihn auf, um auch mit ihm, wie er’s gewohnt war, zu disputieren und seine rückständigen Beweisgründe für die Wahrheit seines Glaubens zuschanden zu machen. Als er die Stube des Rabbis betrat, sah er ihn mit einem Buch in der Hand in begeistertem Nachdenken auf und ab gehen. Er achtete nicht auf den Ankömmling. Schließlich blieb er stehen, sah ihn flüchtig an und sagte: ‚Vielleicht ist es aber wahr‘. Der Aufklärer nahm vergebens all sein Selbstgefühl zusammen – ihm schlotterten die Knie, so furchtbar war der Rabbi anzusehen, so furchtbar sein schlichter Spruch zu hören. Der Rabbi aber wandte sich ihm nun völlig zu und sprach ihn gelassen an: ‚Mein Sohn, die Großen … haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und auch ich kann es nicht. Aber, mein Sohn, bedenke, vielleicht ist es wahr‘. Der Aufklärer bot seine innerste Kraft zur Entgegnung auf; aber dieses furchtbare ‚Vielleicht‘, das ihm da Mal um Mal entgegenscholl, brach seinen Widerstand.“7

Ich lade Sie, liebe Leserin und lieber Leser, herzlich ein, auf den folgenden Seiten mit mir nachzudenken über Zweifeln und Glauben. Und vor allem über das heilige Geheimnis Gott.

 

Norbert Scholl

|15|I.Ansätze bei denNaturwissenschaften

 

Der Urknall – hochexplosive Anfangssituation

„Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, die man erwarten kann, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, sondern nichts als blinde, erbarmungslose Gleichgültigkeit“, behauptet der britische Biologe Richard Dawkins.1

Der Kosmos – ein heilloses Chaos, ein universales Durcheinander? Der Mensch – „Zufallstreffer der Natur“2 in einem kosmischen Lottospiel? Ist der Schöpfergott mittels empirischer Analyse zu Fall gebracht? Ist die Sinnlosigkeit des Universums erwiesen?

Was war vor dem Urknall?

Wir leben in einem sich ständig ausdehnenden Universum, das sich aber nicht so ausdehnt wie ein Luftballon in einem geschlossenen Zimmer. Vielmehr expandieren Universum und Weltraum (Luftballon und Zimmer) in gleicher Weise. Sie wachsen ins Unermessliche hinein. Das zwingt zu der Annahme, dass es auch einmal eine Zeit gegeben haben muss, zu der Luftballon und Zimmer gleichsam in einem gedachten „Punkt“ kondensiert waren. Irgendwann ist dieser „Nullpunkt“ explodiert. Wir nennen das „Big Bang“: der Urknall. Wissenschaftler haben berechnet, dass dieses Ereignis vor etwa 13 bis 14 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Sie bezeichnen diese |16|Phase extrem rascher Expansion des Universums als „kosmologische Inflation“ und nehmen an, dass sie unmittelbar nach dem Urknall stattgefunden hat.

Zum Zeitpunkt des Urknalls muss alles, was heute existiert – von den kleinsten atomaren Elementarteilchen bis zu den entferntesten Galaxien, auch solchen, die wir mit unseren Teleskopen noch gar nicht entdeckt haben –, in diesem einen „Punkt“ zusammengepresst gewesen sein. In diesem „Punkt“ herrschte eine Energiedichte, die wir nur als unendlich bezeichnen können. Unvorstellbar – das schier unendliche Universum zusammengequetscht in einem „Punkt“! Diese Situation ist einmalig, einzigartig, singulär. Die Astrophysiker sprechen hier von „Anfangssingularität“. Oder einfach „Singularität“.

Aber damit nicht genug. Die Ur-Explosion erfolgte – so jedenfalls die gängige Annahme – nicht aus einer bereits vorhandenen, zu unermesslicher Dichte komprimierten Materie. Man darf sich den Urknall nicht so vorstellen wie die Explosion einer Bombe. Da explodiert etwas bereits Vorhandenes – Sprengstoff, Metallmantel und anderes. Beim Urknall gibt es aber keine bereits vorhandene Materie, vielmehr entstehen Materie, Raum und Zeit erst bei der Explosion. „Mit dieser Singularität begann die Existenz von Zeit und Raum; vor dieser Singularität existierte buchstäblich gar nichts. Wenn also das Universum mit einer solchen Singularität seinen Anfang nahm, dann hätten wir wahrhaftig eine Schöpfung ex nihilo (aus dem Nichts).“3 Die Explosion von etwas nicht Vorhandenem erscheint nun aber gänzlich undenkbar. Wie soll ein „Nichts“ explodieren können?

Darum vermuten andere Forscher, es wäre eher denkbar, dass der Urknall aus einer bereits existierenden, zu unendlicher Dichte komprimierten Materie entstanden sei. Es wäre dann also dem Urknall ein Universum vorausgegangen – vielleicht ähnlich dem unseren –, das irgendwann einmal in sich zusammengefallen ist. Doch damit verschiebt sich nur das Problem. Denn man muss sich sofort die Frage stellen: Wer oder was hat dieses „Vor-Universum“ in einem Punkt zusammengepresst? Und wie könnte dieses Universum entstanden sein? Ebenfalls aus einem Urknall? Und wie kam dieser zustande? „Ex nihilo“?

|17|Oder muss ich mir das (zurzeit) sich ausdehnende Universum vielleicht als etwas vorstellen, das gleichsam im ewigen Wechsel ein- und ausatmet, sich ausdehnt und zusammenzieht, implodiert und explodiert? Ein pulsierendes „Ewig“-Universum? Wer oder was gibt ihm die Kraft dazu? Und wie ist das mit den Naturgesetzen (Gravitation, Lichtgeschwindigkeit, Thermodynamik und Ähnliches)? Gelten diese Gesetze eigentlich „überall, immer und ewig“? Fragen, die kein Physiker beantworten kann, weil wir einfach mit den uns zur Verfügung stehenden Instrumenten nicht über den Urknall hinausreichen. Weil wir nicht „hinter“ den Urknall blicken können.

Argumente aus dem kosmologischen Standardmodell

Zu dem skizzierten astrophysischen Befund und dem daraus entwickelten „kosmologischen Standardmodell“ hat in jüngster Zeit der amerikanische Religionsphilosoph William Lane Craig folgende Überlegungen vorgelegt4. Sie lassen sich thesenartig so zusammenfassen:

1. Was einen zeitlichen Anfang hat, hat eine Ursache seiner Existenz.

2. Das Universum hat einen zeitlichen Anfang.

3. Also hat das Universum eine Ursache seiner Existenz.

4. Wenn das Universum eine Ursache seiner Existenz hat, muss diese „ganz anders“ sein als das existierende Universum. Sie darf dessen Eigenarten und Beschränktheiten nicht teilen. Sie darf selbst keinen Anfang haben.

5. Also gibt es eine Ursache mit diesen Eigenschaften.

Winfried Löffler hat diese Überlegungen aufgegriffen und bei einem Vortrag in der Katholischen Akademie Bayern sechs Aspekte vorgelegt, die für einen Argumentationsstrang im Hinblick auf den Urknall, für ein mögliches „Davor“ und für die Frage nach „Gott“ zu beachten sind5:

1. Empirischer Ausgangspunkt. Ein Argument für die Existenz Gottes muss an irgendwelchen Ausschnitten menschlicher Erfahrung |18|anknüpfen; es sollte einen möglichst öffentlichen, für jedermann nachvollziehbaren Ausgangspunkt haben.

2. Weltanschaulicher Rahmen der Argumentation. Es geht hier nicht um einen eng begrenzten, rein astrophysischen oder mathematischen Argumentationsrahmen, sondern um allgemeine und selbstverständliche Überzeugungen, die über den Rahmen streng naturwissenschaftlichen Vorgehens hinausweisen. Denn „wir können niemals wissen, was sich am Anfang des Universums abgespielt hat. Unserer Erkenntnismöglichkeit sind Grenzen gesetzt. … Der eigentliche Anfang wird für uns immer ein Rätsel sein. Fragen nach dem Davor und dem Draußen sind naturwissenschaftlich sinnlos.“6

3. Plausibler Abbruch des Erklärungsregresses. Ein Weiterfragen über die letztmöglich empirisch fassbaren Erkenntnisse hinaus erscheint sinnlos. Man kann mit den zur Verfügung stehenden Messinstrumenten über den Urknall hinaus nichts empirisch Aufweisbares ermitteln. Ein ewiges Weiterfragen ist nutzlos.

4. Klärung der Eigenschaften Gottes. Argumente für die Existenz Gottes können darum nicht auf der empirisch fassbaren Objektebene liegen. Gott kann weder „gut“ noch „schlecht“, weder „groß“ noch „klein“ sein, wie wir das aus unserem menschlichen Erfahrungsbereich kennen. Wenn Gott Gott sein soll, dann muss er „anders“ sein. Und zwar „ganz anders“. Dann muss er völlig andere „Eigenschaften“ besitzen als die Objekte um uns herum. Aber irgendwie muss er doch wieder diese „Eigenschaften“ in sich tragen. Sonst könnte ein von ihm geschaffenes Universum nicht mit den Eigenschaften existieren, wie wir sie kennen.

5. Die Einzigkeit des erwiesenen Gottes. Jedes Argument für Gott kann nur auf ein einziges „Etwas“ zutreffen. Aus der Aussage „Für alles gibt es eine erste Ursache“ folgt nicht „Es gibt eine erste Ursache für alles“ – es könnte auch zwei oder mehr geben.

6. Logische Schlüssigkeit, wenngleich nicht „Beweisbarkeit“. Für einen Beweis ist erforderlich, dass die Prämissen jeglichem Zweifel enthoben sind. Logische Schlüssigkeit ist auch dann gegeben, wenn das Argument zwar logisch klar ist, aber die Schlüsse daraus nicht zwingend sind.7

|19|Winfried Löffler wendet nun diese sechs Anforderungen an die Argumente für die Existenz Gottes auf die Überlegungen von William Lane Craig an.

1. Unproblematisch erscheint die Erfüllung der Forderung eines empirischen Ausgangspunktes. Das Universum ist schon mit bloßem Auge erkennbar. Tiefere Einblicke liefern die modernen Teleskope und Satelliten.

2. Auch der weltanschauliche Rahmen ist gegeben. Es geht nicht darum, Erklärungslücken innerhalb der Physik durch Berufung auf das Eingreifen Gottes zu stopfen. Es geht vielmehr um Überlegungen in einem Bereich, in dem die Physik nichts mehr sagen kann.

3. Auch die Forderung der Vermeidung eines unendlichen Erklärungsregresses wird plausibel erfüllt: Die innerweltlichen physikalischen Erklärungen finden am Uranfang des Universums ihr Ende. Es muss der Umstieg erfolgen auf eine andere Form der Erklärung. Es spricht auch nichts für eine Kette oder Mehrzahl von außerweltlichen Erklärungsfaktoren.

4. Die Forderung der Klärung von Eigenschaften Gottes werden bei Craig klar herausgestellt und einleuchtend erfüllt (s.o. Punkt 4).

5. Am Anfang des Universums laufen sämtliche innerweltlichen Erklärungsketten in einem einzigen Punkt zusammen. Und es ist durchaus plausibel, diesen Beginn nur auf eine außerweltliche Ursache zurückzuführen. Nach dem antiken Philosophen, Mathematiker und Astronomen Thales von Milet soll es das „Wasser“ sein, das die Einheit des Ursprungs bezeichnet. „Das Wasser macht anschaulich, wie Vieles in Einem sein kann: Myriaden von Tropfen, Wellen, Strömen, Seen und Meeren sind hier verbunden; durchaus Verschiedenes hat in ihm Platz. Gleichwohl können wir uns das Ganze so bestenfalls in einem frühen naturgeschichtlichen Zustand denken. Alles mag aus dem Wasser stammen, Wasser mag eine ursächliche Bedingung sein. Inzwischen aber ist ihm Unzähliges entwachsen, auch wenn es das Wasser in sich aufgenommen hat. Soll die Einheit zeitlich umfassend sein, soll sie nicht nur das Vergangene und das Kommende, sondern vor allem auch das Gegenwärtige in seiner jetzt gegebenen Verfassung umschließen, muss es unendlich vielfältig und selbst unendlich sein“, so der Philosoph Volker Gerhardt.8

|20|6. Die Anforderung der logischen Schlüssigkeit dürfte problemlos erfüllt sein. Sie wird vom kosmologischen Standardmodell und dem Faktum des expandierenden Universums bereitgestellt.

Winfried Löffler kommt zu dem Schluss: „Insgesamt schneidet das Argument aus dem kosmologischen Standardmodell nicht schlecht ab und dürfte wohl zu den plausibelsten gegenwärtig verfügbaren Argumenten zählen.“ Ob man die Frage nach dem „Davor“ des Urknalls so beantworten will, wie Craig das tut und wie Löffler es zustimmend erläutert, ist nicht zwingend und bleibt der freien Entscheidung des Einzelnen anheimgestellt. Wer meint, dem Argument nicht zustimmen zu können und deswegen lieber eine nicht weiter zu erklärende „Singularität“ als „seine“ adäquate Antwort betrachtet, handelt keineswegs irrational.

Auch der Berliner Philosoph Holm Tetens hat bei einem „Philosophischen Meisterkurs“ in der Katholischen Akademie Bayern dieses „kosmologische Standardmodell“ aufgegriffen: „Die Welt ist nur dann vernünftig eingerichtet, wenn es für alles einen zureichenden Grund oder eine Ursache gibt. Es gibt nun in der Welt Sachverhalte, die kontingent existieren. Sie existieren nicht notwendig. Sie könnten auch nicht existieren. Wenn etwas kontingent existiert, dann hat es seine Ursache in etwas anderem. Die Ursache kann selber kontingent existieren. So entstehen regressive Ketten von Ursachen von Ursachen von Ursachen …

Heute wissen wir aus den Naturwissenschaften, dass manche dieser regressiven Ursachenketten endlich und kontingenzvollständig sind, d.h. nicht mehr durch etwas kontingent Existierendes verlängert werden können. Dann haben wir folgendes Argument, das ich fast wörtlich von Uwe Meixner übernehme:

1. Prämisse: Manche Folge kontingent existierender x1, x2, …, xi, xi+1, …, die so ist, dass jeweils die Existenz von xi von xi+1 verursacht wird, ist endlich und kontingenzvollständig (d.h. nicht mehr durch etwas kontingent Existierendes zu verlängern).

2. Prämisse: Alles, was kontingent existiert, hat eine Ursache.

3. Konklusion: Etwas existiert, was notwendigerweise existiert und Ursache der Existenz von etwas kontingent Existierendem ist.

|21|… Das ist selbstverständlich kein schlüssiger Gottesbeweis. … Was der Konklusion zufolge notwendigerweise und als Ursache von kontingent Existierendem existieren muss, muss nicht Gott sein. Nur umgekehrt gilt: Gott existiert, wenn er denn überhaupt existiert, notwendig.“9

Vorgängermodelle der Argumente aus dem kosmologischen Standardmodell

William Lane Craig sowie auch Winfried Löffler und Holm Tetens fußen mit ihren Argumenten auf den berühmten „Fünf Wegen“ des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin10, der seinerseits wieder auf den antiken griechischen Philosophen Aristoteles aufbaut. Für unsere Überlegungen sind nur die ersten drei „Wege“ von Interesse:

• Der erste Weg geht von der Bewegung aus: Alles Bewegte wird von einem anderen bewegt. Am Anfang aller Bewegung steht ein erster unbewegter Beweger.

• Der zweite Weg geht von der erfahrbaren Ursachenverknüpfung aus: Alles, was geschieht, hat eine Ursache. Am Anfang steht eine Ursache, die selbst nicht mehr verursacht ist.

• Der dritte Weg geht aus vom Unterschied des bloß möglichen zum notwendigen Sein: Allem Erfahrbaren kommt das Sein nicht notwendig zu; das setzt ein Notwendiges als Anfang voraus.

Thomas bezeichnet seine Vorgehensweise ausdrücklich als „Wege“ (zu Gott), nicht als „Beweise“ (für Gott). Dennoch hat man ihm wegen der Form dieser „Wege“ vorgeworfen, er sei ein Intellektualist, der Gott vor allem mit dem Verstand, weniger aber mit dem Herzen suche. Das mag hinsichtlich der reichlich formalen Konstruktionsweise seiner „Wege“ zutreffen. Freilich ist zu bedenken, dass Thomas sich zu diesem Hinweis auf mögliche Wege der Gotteserkenntnis aus der Vernunft genötigt sah durch die Herausforderung der zu seiner Zeit stark aufkommenden arabischen Philosophie griechischer Prägung durch Avicenna und Averroes von|22|Córdoba. Im Grunde folgt Thomas nur dem einfachen Grundsatz: Alles, was einen Anfang hat, ist natürlich. Alles, was anfangslos ist, ist übernatürlich. Es gehört nicht der natürlichen Ordnung an, sondern einer anderen Ordnung, die anderen Gesetzen folgt, welche für uns nicht mehr einsichtig und erklärbar sind.

Schon Jahrhunderte früher haben sich die sogenannten griechischen Naturphilosophen Gedanken über die Entstehung des Kosmos gemacht. Sie lebten im Zeitraum von etwa 600 bis 350 v. Chr. vornehmlich im Westen Kleinasiens und in Süditalien. Diese auch als Vorsokratiker bezeichneten Männer folgerten aus der Harmonie und der Ordnung der Welt das welt-jenseitige Prinzip eines denkenden, vernünftigen und allmächtigen, aber unpersönlich gedachten Weltgeistes. Nicht durch Zufall, sondern durch ein Weltgesetz ist aus dem einen Urgrund die Vielfalt des Daseins entstanden. Der Philosoph Anaximander sah im „Apeiron“ die Grundsubstanz alles Gewordenen. Der Begriff Apeiron kann unterschiedlich gedeutet werden: als räumlich und zeitlich unbegrenzter Urstoff, als unendlich hinsichtlich Masse oder Teilbarkeit, als unbestimmt oder grenzenlos. Der Begriff des Unermesslichen spiegelt wohl am ehesten die Offenheit der Deutungsmöglichkeiten des Apeiron.11

In seinem monumentalen Werk „Existiert Gott?“ hat Hans Küng alle diese Überlegungen ausführlich referiert und kritisch gewürdigt. Er kommt zu dem Ergebnis:

•„Gott kann nicht wie ein uns vorgegebenes Gegenständliches erkannt werden. Es kann nicht allgemein überzeugend bewiesen werden, dass Gott existiert. Es kann aber noch weniger allgemein überzeugend bewiesen werden, dass Gott nicht existiert. Für die reine Vernunft, die nach Beweisen verlangt, scheint Gott nicht mehr als eine Idee ohne Realität, ein Gedanke ohne Wirklichkeit zu sein.

• Unmöglich erscheint also eine deduktive Ableitung Gottes aus dieser erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch durch die theoretische Vernunft, um seine Wirklichkeit in logischen Schlussfolgerungen zu demonstrieren.

• Nicht unmöglich erscheint hingegen eine induktive Anleitung, welche die einem jeden zugängliche Erfahrung der fraglichen |23|Wirklichkeit auszuleuchten versucht, um so – gleichsam auf der Linie der ‚praktischen‘ Vernunft, des ‚Sollens‘, besser des ‚ganzen Menschen‘ – den denkenden und handelnden Menschen vor eine rational verantwortbare Entscheidung zu stellen, die über die reine Vernunft hinaus den ganzen Menschen beansprucht.

Also – so soll der letzte Satz erläutert werden – keine rein theoretische, sondern eine durchaus praktische, ‚existentielle‘, ganzheitliche Aufgabe der Vernunft, des vernünftigen Menschen: eine die konkrete Erfahrung der Wirklichkeit begleitende, aufschlüsselnde, ausleuchtende, nachdenkliche Reflexion mit praktischer Absicht.“12

 

Materie – ein fast leerer Raum

Materie ist alles, was man sehen, greifen, riechen, schmecken, was man mit den fünf Sinnen wahrnehmen kann. Wirklich? Die Physiker sagen etwas anderes: Wenn Menschen etwas anfassen, eine Mauer zum Beispiel, dann liegt das an ihrer subjektiven, selbst konstruierten Einbildung, die sie sich zurechtgebastelt haben aus überlebenstechnischer Notwendigkeit. In Wirklichkeit fassen sie fast überhaupt nichts an. Sie greifen ins (beinahe) Leere. Denn Materie besteht „zu 99,9999999999 Prozent aus leerem Raum.“13

Wie das? Materie ist (fast) leerer Raum? Ein Mauerstein, an dem ich mir den Kopf wund schlage – leerer Raum? Daran ist die Quantenphysik schuld. Sie und die Relativitätstheorie haben dazu beigetragen, dass die Wirklichkeit bzw. das, was wir dafür halten, neu definiert werden musste. „Materie ist nicht aus Materie zusammengebaut. Das bedeutet, der Urgrund der Materie ist nur eine innere Form oder Gestalt und dies in einem sehr allgemeinen Sinne: ein ‚Dazwischen‘. Wir können auch sagen: Es bedeutet so etwas wie: Im Grunde ist nur Beziehung, Verbindung, religio, connectedness, Prozesshaftigkeit, aber dieses alles ohne einen Bezug auf ein substanzielles Etwas, einen materiellen oder begreifbaren Urgrund. Hier versagt unsere Sprache.“14

Drei Entdeckungen haben diese ungewohnte Perspektive eröffnet.

|24|Atome

Von der Antike bis in die Neuzeit hinein ging man davon aus, dass Atome die kleinsten, selbst nicht mehr teilbaren Teilchen jeder bekannten Substanz bilden. Das griechische Wort „átomos“ heißt „unteilbar“. Zum Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte man, dass Atome keineswegs unteilbar sind. Sie bestehen aus einem Atomkern und einer Elektronenhülle. Der Kern hat einen Durchmesser von etwa einem Zehntausendstel des gesamten Atomdurchmessers, enthält jedoch über 99,9 Prozent der Atommasse. Dass ein Atom bis auf den sehr kleinen Kern leer ist, konnte als Erster der neuseeländische Physiker Ernest Rutherford nachweisen.

Er beschoss eine extrem dünne Goldfolie mit Alphateilchen15 und beobachtete, wie diese sich auf einem Filmstreifen hinter der Folie verteilen. Zu seiner großen Überraschung flogen die meisten Alphateilchen geradlinig durch die Folie hindurch, einige wurden jedoch abgelenkt und landeten an ganz anderer Stelle auf dem Filmstreifen. Es gibt also Teilchen, die vorbeifliegen, und andere, die nicht vorbeifliegen und einen Volltreffer landen. Sie werden reflektiert und fliegen in ganz andere Richtungen weiter. Diese Beobachtungen führten Rutherford zu seinem „Kern-Hülle-Modell“, das den grundlegenden Aufbau eines Atoms erklärt: Ein Atom hat einen positiv geladenen Kern. Diese positiven Anteile erhielten den Namen „Protonen“. Um den Kern herum kreisen Elektronen auf Kreisbahnen; sie bilden den negativ geladenen Teil des Atoms.

Jeder Atomkern enthält positiv geladene Protonen sowie eine Anzahl von etwa gleich schweren, elektrisch neutralen Neutronen, die durch eine enorm starke Wechselwirkung aneinander gebunden sind. Die negativ geladenen Elektronen kreisen wie Planeten um die Sonne. Anschaulich gesprochen: Sie bilden eine Art Elektronenwolke mit viel Leerräumen dazwischen und unscharfem Rand. Der positiv geladene Kern bindet die negativ geladenen Elektronen der Außenhülle durch elektrostatische Anziehung. Die Außenhülle enthält weniger als 0,1 Prozent der Masse. Der Durchmesser der Hülle eines Atoms beträgt etwa l0-10m (0,000.000.000.1 m), der Durchmesser des Kerns etwa 10-15 (0,000.000.000.000.001 m) bis |25|etwa 10-14m (0,000.000.000.000.01 m). Aufgrund dieser extrem geringen Größe sind einzelne Atome selbst mit den stärksten Lichtmikroskopen nicht zu erkennen. Erst seit einigen Jahren erlauben Elektronenmikroskope eine direkte Beobachtung. „Statt uns vorzustellen, die Natur bestünde aus unveränderlichen Atomen, aus Materieteilchen, die ewig fortdauern, haben wir jetzt die Vorstellung, dass Atome komplexe Aktivitätsstrukturen seien. Wir sehen die Materie mehr als einen Prozess, denn als einen Gegenstand. Wie es der Wissenschaftsphilosoph Sir Karl Popper ausgedrückt hat, hat sich der Materialismus durch die moderne Physik selbst überwunden. Die Materie ist nicht mehr das grundlegende Erklärungsprinzip, sondern wird selbst in Begriffen grundlegender Prinzipien erklärt, nämlich durch Felder und Energie.“16

Die Bemühungen, diesen komplizierten inneren Aufbau zu verstehen und zu erklären, führten 1925 zur Quantenmechanik. Die Atommodelle werden letztlich nur noch unanschaulich als mathematische Aussagen formuliert. Auf die Frage, wie man sich denn ein Atom vorzustellen habe, soll Werner Heisenberg, einer der Entdecker und „Schöpfer“ der Quantenmechanik, geantwortet haben: „Versuchen Sie es gar nicht erst!“

Phänomen Licht

Licht ist allgegenwärtig, aber nicht greifbar. Wir brauchen es zum Leben – ohne Licht gäbe es keine Photosynthese, kein Pflanzenwachstum, keinen Sauerstoff. Ohne Sonnenlicht wäre die Erde kalt und unbewohnbar. Licht gestaltet unseren Tagesablauf. Licht kann Gefühle auslösen, macht gute Laune und vertreibt Depressionen. Was aber ist das Licht?

Licht hat etwas mit Materie zu tun. Wenn ich einer mit Quecksilberdampf und Neon oder Argon gefüllten Leuchtstoffröhre elektrische Energie zuführe, beginnt das Gas im Inneren zu leuchten. Zünde ich trockenes Holz an, beginnt es zu brennen und – wiederum – zu leuchten. Schlage ich mit einem Schmiedehammer auf ein Stück Metall, so beginnt das Metall zu leuchten. Aber warum geschieht das? Ich führe der Materie (Gas, Holz, Metall) Energie zu – |26|Elektrizität, Wärme, Hammerschlag. Die zugeführte Energie versetzt die Elektronen in der Atomhülle in Bewegung. Bei entsprechend hoher Energie beginnen sie von ihren Bahnen in der Atomhülle zu springen. Je größer der Abstand der Elektronen vom positiv geladenen Kern ist, umso größer ist das Energieniveau des negativ geladenen Elektrons. Beim Sprung von einer äußeren Bahn mit einer höheren Energiestufe zu einer näher am Kern liegenden Energiestufe wird die Energiedifferenz in Form eines Photons abgegeben.17 Photonen (vom griechischen „phos“ – das bedeutet Licht – der Genetiv „photós“), umgangssprachlich auch „Lichtteilchen“ genannt, treten überall auf, wo elektromagnetische Kräfte ausgetauscht werden. Sie übertragen die Energie von einem Ort auf einen anderen. Wenn die Photonen eine bestimmte Wellenlänge besitzen (etwa 380–780 Nanometer), kann ich sie mit bloßem Auge als „sichtbares Licht“ wahrnehmen.

Neben dem „sichtbaren Licht“ gibt es auch anderes Licht, das ich mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmen kann. Dazu gehört die sogenannte Infrarotstrahlung, die wir als Wärme auf der Haut spüren können. Mit besonderen Geräten und Antennen können wir Infrarotstrahlung und andere Arten von „unsichtbarem Licht“ versenden und empfangen, welches wir z.B. für Mobilfunk, Fernsehen oder Radioempfang nutzen.

Lange Zeit war strittig, ob es sich beim Licht um eine Wellen- oder Teilchenstrahlung handelt. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man ein merkwürdiges doppeltes Verhalten des Lichtes:

• Zum einen verhält sich das Licht wie eine Welle. Es breitet sich im Raum aus. Es schwächt oder verstärkt sich durch Überlagerung und kann gleichzeitig an verschiedenen Stellen mit verschiedener Stärke einwirken. Das alles lässt sich leicht an einem See beobachten, wenn man einen Stein ins Wasser wirft.

• Zum anderen verhält sich das Licht wie Materie. Es setzt sich aus einzelnen „Energiequanten“, den Photonen, zusammen. Ein Photon kann entweder als Ganzes absorbiert und emittiert werden oder es wird gar nicht absorbiert und emittiert. So kann das Licht Elektronen in Metallen in Bewegung bringen und manchmal sogar regelrecht hinausstoßen. Diese Eigenschaft erlaubt es, Sonnenlicht in elektrische Energie umzuwandeln (Fotovoltaik). Licht |27|ist somit zählbar wie ein Teilchen (die „Leistung“ einer Fotovoltaik-Anlage kann gemessen werden). Man kann das Licht „quanteln“.

Diese merkwürdige Doppelstruktur des Lichts wird als „Welle-Teilchen-Dualismus“ bezeichnet. Es handelt sich dabei freilich um eine eigene Klasse von „Quantenobjekten,“ die je nach der Art der Messung, die man an ihnen durchführt, entweder nur ihre Wellen- oder nur ihre Teilcheneigenschaft in Erscheinung treten lassen, aber nie beide gleichzeitig. Um die Ausbreitung von Licht zu beschreiben, müssen wir Licht als Welle betrachten. Wenn uns hingegen die Wechselwirkung von Licht mit Materie interessiert, so ist die Beschreibung als Teilchen angebracht. Licht ist also beides. Die Frage, ob es sich beim Licht „wirklich“ um elektromagnetische Wellen oder „wirklich“ um winzigste Teilchen handelt, kann nicht beantwortet werden. Es kommt immer darauf an, welche Situation betrachtet wird.

Das Fazit dieser Beobachtungen erscheint höchst ungewöhnlich und bedenkenswert: Materie ist objektiv keineswegs etwas Hartes, Widerständiges, Festes. Sie kann vielmehr physikalisch gesehen und gemessen „wie (fast) nichts“ erscheinen, wie (fast) luftleerer Raum. Die für unser normales menschliches Wahrnehmungsvermögen so harte und undurchdringliche Materie löst sich in (fast) nichts auf. „Wenn wir die Materie immer weiter auseinander nehmen, bleibt am Ende nichts mehr übrig, was uns an Materie erinnert. Am Schluss ist kein Stoff mehr, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie, Beziehung. Materie ist nicht aus Materie zusammengesetzt! … Am Grunde bleibt nur etwas, was mehr dem Geistigen ähnelt – ganzheitlich, offen, lebendig, Potenzialität. … Es ist echte Kreation: Verwandlung von Potenzialität in Realität.“18

Higgs-Teilchen

Vor einem halben Jahrhundert veröffentlichte der schottische Physiker Peter Higgs einen zunächst wenig beachteten Aufsatz. Er legte darin eine theoretische, experimentell noch nicht untermauerte |28|Antwort auf die Frage vor, woher die winzigen, durch kein Mikroskop erkennbaren Elementarteilchen, aus denen alle Atome aufgebaut sind, eine Masse erhalten. Jeder physikalische Körper braucht diese Masse. Durch sie kann er von Gravitationsfeldern beeinflusst werden und sich Beschleunigungen widersetzen.19 Hätten beispielsweise Elektronen keine Masse, würden sie allesamt mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum irren, weil die Gravitation nicht auf sie einwirken könnte. Niemals könnten sich Elementarteilchen zu Atomen zusammenfinden, um Materie zu formen – Sterne, Planeten, Menschen. Es gäbe überhaupt keine Atome. Die Welt hätte gar nicht aufgebaut werden können. Und die vorhandene würde in ihre winzigsten Bestandteile zerfallen. Die Wissenschaftler vermuteten daher, das gesamte Universum sei von einem unsichtbaren Feld durchzogen, das die Elementarteilchen abbremst und dabei mit Masse „auflädt“. Wie ein riesiger Honigtopf, der alles abbremst, was in ihn hineinfällt.

Ich will hier gar nicht den Versuch machen, diese Theorie weiter zu beschreiben (das kann ich als Theologe sowieso nicht). Ich lasse lieber den aus Fernsehsendungen bekannten Astrophysiker und Naturphilosophen Harald Lesch zu Wort kommen. Er antwortete auf eine diesbezügliche Frage einer Journalistin bei einem Interview: „Das versteht kein Mensch. Das ist unglaublich kompliziert.“ Als die Journalistin nachhakte, meinte er: „In der Sprache von uns Physikern, der Mathematik, gibt es für vieles gar keine Übersetzung. Würde man versuchen, das Higgs-Theorem, das 1964 auf eine DIN-A4-Seite passte, in Worte zu fassen, das würde eine ganze Bibliothek voll von Lexikonbänden mit Goldschnitt füllen. … Stellen Sie sich vor, eine Kugel, so groß wie ein Apfel, fliegt durch die Luft. Dabei ist sie ziemlich schnell. Taucht sie in Honig ein, wird sie viel langsamer. Der Honig ist das Higgs-Feld, das manchen Partikeln ganz kurz – eine Milliardstelsekunde, wenn man großzügig sein will – nach dem Urknall ihre Masse gegeben hat. … Wir bestehen zum allergrößten Teil aus der Bindungsenergie von Kohlenstoffen und die wiederum bestehen aus Teilchen, die vor Abermillionen Jahren mal durch den Honig geflogen sind.“20

Jahrzehntelang wurde eine Art von Indizienprozess geführt. Beweise gab es nicht, denn für Experimente fehlten die dafür notwendigen |29|Instrumente. Die wurden in den letzten Jahren mit enormen Kosten errichtet – ca. 3,5 Milliarden Euro für den Bau, ca. 1 Milliarde Euro jährlich für den Unterhalt. Bei Genf entstand am Europäischen Kernforschungszentrum CERN ein riesiger Teilchenbeschleuniger, der „Large Hadron Collider“ (LHC; die deutsche Bezeichnung lautet Großer Hadronen-Speicherring). An diesem LHC wurden nun in den letzten Jahren unter gewaltigem Aufwand und mit erheblichen Risiken jene Versuche unternommen, die eine Bestätigung der Theorie liefern sollten und zur Entdeckung des „ Higgs-Teilchens“ führten.

Vermutlich. Denn die Detektoren des LHC haben lediglich Bruchstücke aufgefangen, die darauf hindeuten. Diese Bruchstücke müssen erst präzise untersucht werden, um zu klären, ob es sich dabei tatsächlich um das ins Standardmodell genau passende Higgs-Teilchen handelt oder ob seine Eigenschaften nicht doch von den Vorhersagen abweichen. Und außerdem ist noch keineswegs klar, ob es nicht vielleicht noch mehr größere, schwerere Higgs-Teilchen gibt und ob das Higgs-Teilchen wiederum in andere Teilchen zerfällt und wenn ja, in welche. Sollte das Higgs-Teilchen nämlich nicht die Erwartungen des Standardmodells erfüllen, würden neue Fragen auftauchen, die vielleicht zu einer ganz neuen Physik führen könnten. Denn das Standardmodell kann „nur die sichtbare Materie beschreiben, die gerade ein Fünftel aller Materie im All ausmacht. Den Rest kann es nicht erklären, ebenso wenig die Gravitation. Nun sind wieder die Theoretiker gefragt“, so Hermann Nicolai vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik.21

Zahlreiche Wissenschaftler bezeichnen das Higgs-Teilchen als „Gottesteilchen“, weil sie meinen, Gott sei damit endgültig der Todesstoß versetzt worden. Auf den sich ausdrücklich als Atheisten bekennenden Peter Higgs können sie sich dabei allerdings nicht berufen. Dieser unpassende Begriff stammt indirekt von dem amerikanischen Physiker Leon Max Ledermann. Der wollte 1993 ein Buch veröffentlichen mit dem Titel „The Goddamn Particle“ (Das gottverdammte Teilchen) – offenbar aus Frust darüber, dass er trotz jahrelanger Forschungen zwar wichtige Bausteine des Atoms entdeckt hatte, wofür er 1988 sogar den Nobelpreis bekam, aber eben nicht dieses „goddamn“ Teilchen. Sein Verleger nötigte ihn jedoch, den Titel zu ändern, so dass das Buch 1993 unter dem nicht |30|