Gleise in den Tod - Roman Cílek - E-Book

Gleise in den Tod E-Book

Roman Cílek

0,0

Beschreibung

In Form einer fesselnden Gerichtsreportage zeichnet Roman Cílek den Prozess vor dem Landgericht München II im Jahr 1964 gegen den Verbindungsoffizier zwischen Himmler und Hitler nach: Karl Wolff, General der Waffen-SS und SS-Obergruppenführer - "Himmlers Wölfchen". Dutzende Zeugen der Anklage und der Verteidigung sollten Klarheit darüber schaffen, in welchem Ausmaß der Angeklagte über das nationalsozialistische Massenmordprogramm informiert war und welche persönliche Verantwortung er trug. Die Schilderung des Prozessverlaufs wird dreimal unterbrochen, um die Aussagen von Tätern und Verfolgten des Holocaust mit persönlichen Schicksalen zu konfrontieren: die Lebensgeschichten der Tschechen Richard Glazar, der am Aufstand im Vernichtungslager Treblinka beteiligt war, und František Kraus, der Theresienstadt, Auschwitz und Blechhammer überlebte, und schließlich der Ungarin Ema Stern, die Auschwitz, Ravensbrück und einen Todesmarsch durchleiden musste. Was vor dem Münchner Gericht als entfernte Vergangenheit erscheinen mochte, tritt so noch einmal in all seiner unvorstellbaren Grausamkeit vor Augen, verbindet sich mit konkreten Menschen, die durch ihren Mut, durch Zufälle und durch sehr viel Glück dem Tode entronnen sind. Als Autor von über fünfzig historisch-politischen Sachbüchern sowie Kriminalromanen gehört Roman Cílek zu den bekanntesten und erfolgreichsten tschechischen Schriftstellern der Gegenwart. "Es ist ein zutiefst menschliches, ehrliches und gutes Buch. Es gehört zum Besten, was über den Zweiten Weltkrieg geschrieben worden ist und kommt auf seinem Gebiet der Perfektion nahe. Beim Lesen war ich tief ergriffen und beim Schreiben dieser Zeilen läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist ein wunderbares Buch über abscheuliche Dinge, deren Zeugen wir auf den Gleisen der Geschichte in den Tod geworden sind." Arnošt Lustig

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 425

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ROMAN CÍLEK

Gleise in den Tod

Karl Wolff:„Alles, was ich getan habe, tat ich für mein Vaterland. Ich bin meinen Idealen treu geblieben. Ich habe Befehle ausgeführt, aber mein Gewissen ist rein. Man hat mich getäuscht.“

(Foto Heinrich Himmler mit Karl Wolff)

Roman Cílek

GLEISE IN DEN TOD

HOLOCAUST

Drei Schicksale und ein Prozess

Blick hinter die Kulissen des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms

© Roman Cílek

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Hamburg 2021

Übersetzung, Lektorat, Korrektorat und Satz: Werner Imhof

ISBN Paperback

978-3-347-38635-8

ISBN Hardcover

978-3-347-38636-5

ISBN E-Book

978-3-347-38637-2

Originalausgabe: Holocaust – Slepá kolej dějín, MOBA, Brünn 2003 (1. von drei Auflagen)

Umschlaggestaltung Theresa Reichelt und Werner Imhof

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds

und von

Nakladatelství Werner Imhof s.r.o.

http://nakla-wi.com/

Nicht im Waggon sterben, nicht vor den Augen der Enkel.

Längst hat die Angst ihr Gesicht ausgelöscht,

ihre Fragen erstickt. Sie spüren, was ich nun weiß:

das Ende der Fahrt ist auch unser Ende.

Wo immer es sein wird, entsetzlicher Gott,

Dein Himmel ist über uns, und die Henker

sind Menschen, von Dir ermächtigt.

Siehst Du auch zu? Ja! Du wirst zusehen.

In Deinem Namen rufe ich Dich an:

Zeige Deine Stärke nicht, indem Du Kinder

im Angesicht ihrer Mütter verbrennen lässt,

nur um im Wehklagen der Gefolterten Deinen Namen zu hören.

Wer könnte denn im Rauch der Krematorien

Deine Mahnung zur Buße hören?

Du maßloser Gott!

Ist der Mensch Dir am ähnlichsten, wo er maßlos ist?

Ist er ein solcher Abgrund von Ruchlosigkeit,

weil Du ihn nach Deinem Bilde geschaffen hast?

Ich kann schon nicht mehr klagen, Grausamer,

nicht einmal mehr beten, nur flehentlich bitten:

Lass mich nicht im Waggon sterben,

vor den Augen der Enkel.

Monolog des Judenältesten in Rolf Hochhuths Theaterstück Der Stellvertreter

Liebe Leser,

Roman Cíleks Buch, das Sie in den Händen halten, sollten die Mitglieder aller Parlamente der Welt kennen, es sollte in keiner Universitätsbibliothek fehlen. Jeder sollte es lesen, der gern wüsste, worin das Wesentliche der Menschheit besteht und der Zeitalter, in die wir geboren wurden, in denen wir gelebt haben und leben – und worin nicht. Uns quälen die Frage und das Befremden darüber, was Menschen anderen anzutun fähig sind, und das muss uns quälen.

Dies ist ein Buch über die Banalität des Bösen – über die Legalität und Straflosigkeit des Bösen –, und ich scheue mich nicht, gewissermaßen schon aus der Entfernung und mit Abstand zu sagen, auch über die falsche Eleganz des Bösen: über Massenmord mit sauberen Händen.

Es ist ein zutiefst menschliches, ehrliches und gutes Buch. Es gehört zum Besten, was über den Zweiten Weltkrieg geschrieben worden ist und kommt auf seinem Gebiet der Perfektion nahe. Beim Lesen war ich tief ergriffen und beim Schreiben dieser einleitenden Zeilen läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist ein wunderbares Buch über abscheuliche Dinge, deren Zeugen wir auf den Gleisen der Geschichte in den Tod geworden sind. Mag es auf seine Weise dazu beitragen, dass sie sich niemals wiederholen. Das würde ich mir sehr wünschen.

Arnošt Lustig,

Genf, 20. September 2002

INHALT

PROZESS GEGEN KARL WOLFF I

Die Verhaftung eines Mannes von tadellosem Ruf

Die Verhaftung eines Mannes von tadellosem Ruf

„Ich bin unschuldig!“

Vom kaiserlichen Leutnant zu Himmlers General

„Mein teures Wölfchen“

Morden bei Minsk und Waggons für das Ghetto

Karl Wolff: Retter Europas

Defilee von Männern und Frauen von gestern

Vollstrecker der heiligen historischen Notwendigkeit

FLAMMEN ÜBER TREBLINKA

Das Schicksal von Richard Glazar

PROZESS GEGEN KARL WOLFF II

Festival der meisterhaften Vergesslichkeit

Schrecken ohne Ende

Allen Dullesʼ Versprechen?

Transporte ohne Rückkehr

Inspektion im Warschauer Ghetto

„Ich habe sie sterben sehen…“

Zwei Männer aus Himmlers Umfeld: ein Fahrer und ein Revolverheld

„Er ließ sich vorführen, wie Frauen verprügelt werden…“

Festival der meisterhaften Vergesslichkeit

89 Namen auf einer streng geheimen Liste

DIE VERKETTUNG DES BÖSEN

Das Schicksal von František Kraus

PROZESS GEGEN KARL WOLFF III

„ Verringerung“ um 3,1 Millionen Personen

Statistische Angabe: „Verringerung“ um 3,1 Millionen Personen

Ein Mann mit vielen Gesichtern

Großraub von Kindern

Das Golgatha der Warschauer Juden

Zeugnis eines Kriegstagebuchs

Hölle namens Treblinka

Hans Franks Salonreden

DIE DUNKLE WELT HINTER DEM FENSTER

Das Schicksal von Ema Stern

PROZESS GEGEN KARL WOLFF IV

Finale

„Beschämende Winkel der Geschichte tun sich vor uns auf…“

Himmlers Ausflug nach Auschwitz

Totenschein ohne Datum

Die Schattenseite eines edlen Gesichts

Die Aussage von Dulles’ Berater

Naiv und leichtgläubig

Finale

DER AUTOR

DER ÜBERSETZER

Bildnachweis

PROZESS GEGEN KARL WOLFF I

Die Verhaftung eines Mannes von tadellosem Ruf

Karl Wolff

Die Verhaftung eines Mannes von tadellosem Ruf

Am Eingang der großen Villa in Kempfenhausen am Starnberger See südlich von München, mit hohen, schmalen Fenstern, massiven Fensterläden und einem sorgfältig gepflegten Garten befand sich nur ein bescheidenes Namensschild: KARL WOLFF.

Der Mann, der hier wohnte, hatte einen tadellosen Ruf. Karl Wolff – erfolgreicher Vertriebs- und Marketingvertreter eines Verlagshauses in Köln am Rhein. Einundsechzig Jahre alt, weißhaarig, markante blaue Augen, aufrechte Körperhaltung, unaufdringliches Auftreten. Wolff hatte einigen Freunden mitgeteilt, er beabsichtige, sich künftig hauptsächlich literarischen Aktivitäten widmen.

Er hatte bereits den Buchtitel seiner Lebenserinnerungen im Kopf: Zwischen Befehl und Gewissen. Im Jahr 1961 unternahm er einen ersten Schritt in diese Richtung und veröffentlichte in der Zeitschrift Neue Illustrierte eine biografische Studie über einen Mann, den er gut gekannt hatte: den Reichsführer SS Heinrich Himmler. Das Leserecho war positiv, ein Autorenhonorar wurde nach Kempfenhausen am Starnberger See überwiesen, und alles schien in Ordnung.

Das war es – bis zum 18. Januar 1962.

Was sich an diesem Tag ereignete, war später bei starkem bayrischem Bier in Kempfenhausen noch lange Gesprächsthema. Ein Wagen mit Münchner Kennzeichen hielt vor Wolffs Villa. Die beiden Männer, die ihm entstiegen, ähnelten zwar äußerlich durchaus den zahlreichen Geschäftspartnern, die hier verkehrten, die Frage, die sie dem Hausherrn sofort stellten, war indes ungewöhnlich:

„Sind Sie Karl Wolff, geboren am 13. Mai 1900 in Darmstadt?“

„Ja. Was wünschen Sie?“

„Sie müssen mitkommen!“

„Ich verstehe nicht…“

Ein Dokument mit amtlichem Briefkopf, Stempel und Unterschrift erklärte alles. Die beiden Männer waren keine Geschäftspartner, sondern Kriminalbeamte, die von der Staatsanwaltschaft München II mit einem vom Amtsgericht Weilheim ausgestellten Haftbefehl hierher geschickt worden waren.

•••

Karl Wolff – erfolgreicher Vertriebs- und Marketingvertreter. Aber auch Karl Wolff, ehemaliger SS–Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Adjutant von Reichsführer SS Heinrich Himmler, Chef seines persönlichen Stabes, Verbindungsoffizier der SS zu Hitlers Hauptquartier, gegen Kriegsende dann höchster SS- und Polizeiführer in den von den Deutschen besetzten Gebieten Italiens.

Seine Verhaftung blieb nicht ohne Echo.

Außer der Gefangennahme und Entführung Adolf Eichmanns aus Argentinien nach Israel hat Anfang der Sechzigerjahre kein vergleichbares Ereignis so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Vielen lief es sogar kalt den Rücken herunter, als sie Wolffs Namen in den Zeitungen lasen. Wolff… Himmlers „Wölffchen“? Ja! Als lebe mit einem Male Vergangenheit wieder auf, die längst vergessen und begraben schien – unter den Sedimenten der Zeit, dem Tod von Zeugen, dem Schweigen derer, die hätten sprechen können. Welche Beweise die Staatsanwalt wohl gegen Wolff in Händen hielt? – mutmaßten Historiker, Journalisten und Zeitzeugen der NS-Zeit. Womit würde sich der Prozess beschäftigen? Würde die Welt bislang geheime Einzelheiten erfahren über das Geschehen im engsten Kreis der höchsten Elite des „Dritten Reichs“, zu der Wolff gehörte? Hatte er sich doch in unmittelbarer Nähe zu Hitler, Himmler, Bormann, Heydrich bewegt. Würden seine Aussagen jetzt helfen, zumindest einige weiße Flecken auf der Landkarte der Geschichte des Nationalsozialismus zu tilgen? Würden neue Fakten auftauchen zur nicht vollständig erforschten Vorbereitung und Durchführung des Holocaust hinter den Kulissen – zum Massenmord an den Juden? Würde sich bestätigen, was über Wolff in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen kolportiert wurde: Dass er in der SS-Führung das „aristokratische Gegenteil zu den meisten anderen“ dargestellt und auch „unter schwierigsten Bedingungen sein menschliches Antlitz bewahrt“ habe?

Fragen, Fragen, Fragen.

Kaum Antworten, fast gar keine.

Über die Substanz der Gerichtsverhandlung, die in der bayrischen Hauptstadt vorbereitet wurde, war das Dienstgeheimnis verhängt worden. Einem Reporter des Hamburger Magazins Der Spiegel gab Staatsanwalt Weiß eine Antwort, die eines König Salomo würdig gewesen wäre: „Wenn ich Ihnen sagen könnte, welcher konkrete Verdacht gegen Wolff existiert, würden Sie verstehen, dass ich Ihnen überhaupt nichts sagen kann.“ Es blieb also viel Raum für Spekulationen. Und es blieb nichts, als zu warten: bis zum Montagmorgen des 13. Juli 1964.

„Ich bin unschuldig!“

Alles war vorbereitet. Zuschauer, Journalisten, Fernsehteams aus Deutschland und dem Ausland. Eine halbstündige Verspätung war der plötzlichen Erkrankung eines Geschworenen und der Notwendigkeit geschuldet, Ersatz zu finden. Und dann kam es noch zu einem störenden Zwischenfall: Ein etwa fünfzigjähriger Mann trat an den Wachtmeister heran, der den Weg zum Gerichtssaal kontrollierte.

„Ich möchte mich als Zeuge registrieren lassen“, sagte er.

„Ich werde Sie bei der Staatsanwaltschaft melden. In diesem Fall dürfen Sie den Gerichtssaal allerdings jetzt noch nicht betreten.“

„Warum nicht?“ erwiderte der Mann gereizt.

„So lautet die Vorschrift. Kein Zeuge darf durch den Verlauf der Verhandlung beeinflusst werden.“

„Eine solche Vorschrift erkenne ich nicht an!“ protestierte er – und Journalisten, erfreut über die Unterbrechung der Langeweile des Wartens, umringten ihn. Blitzlichter flammten auf. „Was ist das für ein Unsinn?!“ schrie der Mann. „Ich habe in der SS gedient und bin stolz darauf. Es darf hier nicht zu einem weiteren Eichmann-Prozess kommen! Hier ist nicht Tel Aviv! Die ganze Welt muss erfahren, dass wir keine Mörder sind!“

Dem Wachtmeister kam Verstärkung zu Hilfe, aber erst nach tumultartigen Szenen gelang es ihnen, den Mann in ein Büro zu zerren und seine Identität festzustellen. Es handelte sich um den in Karlsbad im Sudetenland geborenen Josef Faber.

Er wurde vor den Justizpalast geführt und entlassen.

Einige Minuten später nahmen die Richter, die Geschworenen und der Beschuldigte ihre Plätze ein. Karl Wolff überragte die beiden Uniformierten, die ihn hereinführten, um Kopfeslänge, und er tat nicht, was Angeklagte in ähnlichen Prozessen zu tun pflegten. Er verbarg sein Gesicht nicht hinter einer Zeitung – im Gegenteil: Er wendete es den Linsen der Fotoapparate zu.

Vorsitzender Richter war Landgerichtsdirektor Dr. Emil Mannhardt, vor ihm lag die über vierhundertseitige Anklageschrift, und neben ihm befanden sich auf zwei Holzregalen weitere Prozessmaterialien. Den Platz vor dem Angeklagten nahm sein Rechtsbeistand Dr. Rudolf Aschenauer ein, namhafter Spezialist in der Verteidigung von NS-Kriegsverbrechern. Er wohnte hier in München, aber zuletzt verbrachte er viel Zeit auf Reisen zwischen der bayrischen Landeshauptstadt und Frankfurt am Main. Wolf war nämlich nicht sein einziger Klient, gleichzeitig verteidigte er im Frankfurter Prozess gegen die Mörder von Auschwitz einen der wohl schlimmsten von ihnen: Wilhelm Boger, ein pathologischer, gefühlloser Tyrann aus der so genannten Politischen Abteilung und Erfinder einer berüchtigten, als „Bogerschaukel“ bezeichneten Foltermethode.

Dr. Mannhardt überprüfte Wolffs Angaben zur Person.

„Ich habe eine Bitte an das Gericht“, meldete sich daraufhin der Angeklagte. „Ich habe vor kurzem einen Infarkt überstanden und mein Gesundheitszustand erfordert, wenn möglich während der Verhandlung sitzen zu dürfen.“

„Dem wird entsprochen“, antwortete der Vorsitzende.

Der Justizrat Heinz Jörka trug anschließend den Eröffnungsbeschluss vor. Als er die Passage verlas, der Angeklagte „werde beschuldigt, vorsätzlich und in vollem Bewusstsein bei zwei einzelnen Taten zusammen mit anderen aus niedrigen Beweggründen heimtückisch und grausam in einem Fall wenigstens einhundert und im zweiten Fall mindestens 300.000 Menschen getötet zu haben“, schüttelte Wolff missbilligend den Kopf.

Das Wort erhielt dann die Anklage, vertreten durch die Staatsanwälte Dr. Gustav Matschl und Dr. Benedikt Huber. „Auch wenn dies für Deutschland keineswegs erhebend ist – ganz im Gegenteil – müssen wir im Verlauf dieser Verhandlung zurückkehren“, sagte zur Einleitung Dr. Matschl, „zu jener berüchtigten »Endlösung« – dem Plan zur physischen Vernichtung der Juden, zu der es auf der Grundlage eines Befehls Hitlers vom Jahresbeginn 1941 auf dem Territorium des Reiches und in den besetzten Ländern oder beeinflussten Gebieten kommen sollte… Hitlers Befehl zur Ermordung der Juden führten höhere und niedrigere Mitglieder der Polizei und der SS in Mordaktionen aus, organisiert von Himmler und höheren Führern der SS, der Polizei und der NSDAP – und zwar durch Massenmorde, durchgeführt von besonderen operativen Abteilungen und Kommandos (Einsatzgruppen, Einsatzkommandos), später mordete man mit Hilfe von »Vernichtung durch Arbeit« und durch Giftgas… Der Angeklagte Wolff war als Himmlers engster Mitarbeiter an dieser »Endlösung der Judenfrage« beteiligt. Er war sich der Tatsache bewusst, mit jenen zusammenzuarbeiten, die für diese Mordaktionen die volle Verantwortung trugen, und lehnte das nicht ab.

Der erste Anklagepunkt: Im August 1941 besuchte Wolff zusammen mit dem Reichsführer SS Himmler die »Operationsabteilung B« in Minsk. Er nahm persönlich an der Erschießung von etwa einhundert Menschen teil und stärkte so den Willen der Offiziere und der Einsatzgruppe, die diese Liquidationen durchführte, alle diese Morde gehorsam zu begehen.

Der zweite Anklagepunkt: In der zweiten Hälfte des Jahres 1942 half Wolff bei der Organisation beispielloser Vernichtungsaktionen im sogenannten »Generalgouvernement«, das heißt im Gebiet des besetzten Polens. Beim damaligen Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium Dr. Ganzenmüller setzte der Angeklagte Wolff in Himmlers Auftrag durch, dass die Reichsbahn über die Generaldirektion Ostbahnen in Krakau große Zugbestände zur Verfügung stellte, um Hunderttausende Juden aus jüdischen Heimatbezirken und Sammellagern im Generalgouvernement in die Vernichtungslager Treblinka, Bełżec und Sobibor zu deportieren. Auf diese Weise ermöglichte und unterstützte der Angeklagte eine Massenmordoperation, bei der vom 22. Juli 1942 bis Ende September 1942 mindestens 300.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka transportiert wurden – und dort grausam, sehr grausam getötet wurden.“

Der Staatsanwalt setzte sich und der vorsitzende Richter wandte sich an Wolff: „Wollen Sie zu diesen Vorwürfen Stellung nehmen, Herr Angeklagter?“

„Ja. Und meine Aussage ist kurz: Ich bin unschuldig.“ sagte der ehemalige SS-General.

Im Gerichtssaal herrschte Stille. Wolffs elegante Manieren und seine kultivierte Stimme verunsicherten die Zuschauer, unter denen sich viele junge Menschen befanden. Einer der anwesenden Journalisten schrieb darüber: „Wolffs Hände scheinen sauber zu sein. Das Blut jener dreihunderttausend Menschen, von denen hier die Rede ist, kam ihnen nicht nahe. Und auch die hundert Menschen irgendwo bei Minsk, weit weg von Berlin, hat er lediglich sterben sehen. Er hat es nur gesehen… ! Ein Bürger dieses Landes, der sich erst seit kurzem an die Rechtsstaatlichkeit gewöhnt, ist verständnislos mit dem Prozess gegen einen Mann konfrontiert, der angeblich weit vom Tatort entfernt zum Mörder geworden ist. Für diesen Bürger gehört zum Bild eines Mörders die blutbefleckte Hand des Täters und eine Tatwaffe, mit der das Verbrechen begangen wurde und mit der es möglich ist, zu stechen, zu schießen, zu schlagen oder zu würgen …“

„Ich bin einfach unschuldig“, wiederholte Wolff etwas lauter.

Stille.

Vom kaiserlichen Leutnant zu Himmlers General

Es war ein sehr asymmetrischer Dialog. Der vorsitzende Richter Emil Mannhardt stellte kurze Fragen, Karl Wolff beantwortete sie blumig, mit vielen Wendungen, in seinem hessisch gefärbten Dialekt und fügte immer wieder etwas hinzu, präzisierte, ließ keine Gelegenheit aus, sich in einem guten oder zumindest besseren Licht zu zeigen. Er führte viele nebensächliche Details an, sogar das Gründungsjahr des Gymnasiums in Darmstadt, das er einst besucht hatte.

Und er rühmte sich – noch! – seines ausgezeichneten Gedächtnisses.

Die inhaltliche Aufgabenstellung lautete: die Biographie des Angeklagten. Für sich genommen keineswegs ein uninteressantes Thema. Wollte man im Schicksal eines Einzelnen die Linie anschaulich nachzeichnen, die in Deutschland von der kaiserlichen Armee über die Freikorps und die „Schwarze Reichswehr“ bis hin zur Geburt der SA- und SS-Divisionen geführt hatte, dann hätten nur wenige mit ihrem Lebenslauf perfekter als Vorlage dazu dienen können als Karl Wolff. Nachkomme einer bekannten Darmstädter Anwaltsfamilie – sein Vater war Bezirksgerichtsrat –, wurde er im Alter von siebzehn Jahren Soldat. Als Kriegsfreiwilliger und Offiziersanwärter trat er in das 115. Regiment ein, wo er – seinen Worten nach – 1917 seine „Feuertaufe erlebte“ und es im September 1918 zum Leutnant der kaiserlichen Armee brachte. Der Erste Weltkrieg endete jedoch bald darauf unrühmlich für die Deutschen, und Wolff wollte keinen bürgerlichen Beruf anstreben. Er wählte den Weg des geringsten Widerstandes und schloss sich in Hessen einem der bewaffneten Freikorps an, die gegen die linksrevolutionäre Bewegung im Nachkriegsdeutschland kämpften. Die Einheit löste sich jedoch bald auf, und in der Reichswehr, deren Potential durch die restriktiven Vorschriften der Siegermächte allzu eingeschränkt schien, sah der ehrgeizige junge Mann keine Hoffnung auf eine Karriere. So verließ er die Reichswehr, tauschte seine Uniform gegen Zivilkleidung, wurde Bankangestellter, dann Angestellter und schließlich Leiter der Filiale einer Werbefirma in München. 1925 gründete er seine eigene Werbefirma. Sechs Jahre später geriet er jedoch im Kontext der globalen Wirtschaftskrise in geschäftliche Schwierigkeiten.

„Damals war nicht nur für mich, sondern auch für viele Menschen in meinem Umfeld klar,“ erklärte er jetzt vor Gericht, „dass in Deutschland innenpolitisch bald eine Entscheidung fallen musste: entweder zu einer scharfen Wende ganz nach links oder ganz nach rechts. Ein Kriegskamerad, der zusammen mit 150 Kriegskadetten am 9. November 1923 mit den Nazis hinter Ludendorff marschierte, beeinflusste mich politisch, und so trat ich 1931 der NSDAP bei.“

„Sind Sie im selben Jahr, in dem Sie sich der NSDAP angeschlossen haben, auch Mitglied der SS geworden?“

„Dazu kam es im Grunde genommen eher zufällig. Ich fühlte mich zu militärischen Aktivitäten hingezogen und vermisste vielleicht meine Uniform. Im Oktober 1931 ging ich in das Braune Haus in München, um Mitglied der SA zu werden. Vor der Parteizentrale standen jedoch Mitglieder der SS. Ich kam mit ihnen ins Gespräch, und als sie erfuhren, dass ich ein ehemaliger Offizier des ältesten Wachregiments der preußischen Armee war, des 1621 gegründeten großherzoglichen hessischen Infanterieregiments der Leibwache, überredeten sie mich, nicht Mitglied der SA zu werden, sondern der persönlichen Leibgarde des Führers – der SS. Ich leistete ihrem Rat Folge. Damals hoffte ich, die bewundernswerte dreihundertjährige Tradition meines Wachregiments auf diese Eliteeinheit der Bewegung übertragen zu können.“

Der vorsitzende Richter konnte sich die ironische Frage nicht verkneifen: „Heute – belehrt durch das, was geschehen ist – denken Sie wohl nicht mehr, dass Ihnen das hätte gelingen können?“

Wolff indes weigerte sich, das Parkett des Pathos zu verlassen. „Ich verlange, anzuerkennen, dass ich idealistisch zu bedingungsloser Vaterlandsliebe erzogen wurde. Und ich habe immer danach gestrebt, diesem Ideal die Treue zu halten. Es ist eine andere Sache, dass all dies später in den Schmutz gezogen wurde.“

Wolff hat seinen Eintritt in die SS allerdings damals bestimmt nicht bereut. Und das nicht nur aufgrund seiner „Sehnsucht nach einer Uniform“. Rasch erreichte er den Rang eines SS-Sturmbannführers und lernte während der Sonderausbildung Hitler, Himmler, Rosenberg, Röhm und Heydrich persönlich kennen. „Bevor wir an dieser Schule den Eid ablegten“, erinnerte er sich vor Gericht, „sagte uns Auge in Auge Hitler persönlich, dass er von uns nichts verlangen werde, was nicht legal sei. Und auch, dass er niemals einen Befehl erteilen werde, der mit unserem Gewissen unvereinbar sei.“ Während der Ereignisse im Januar 1933, als Hitler Reichskanzler wurde, besetzte eine SS-Einheit unter Wolffs Kommando den bayerischen Landtag und die Staatskanzlei. Der Weg für den Aufstieg des dreiunddreißigjährigen Mannes war geebnet. Eine Zeitlang diente er als Adjutant von General Ritter von Epp, der für seine Verdienste in den Freikorps mit der Position des stellvertretenden NS-Reichsstatthalters in Bayern belohnt worden war. Nach hundert Tagen in dieser Funktion erhielt Wolff jedoch ein vollkommen unerwartetes Angebot: Der Reichsführer SS Himmler persönlich forderte ihn auf, hauptamtliches Mitglied der SS zu werden, und mit sofortiger Wirkung die Stelle seines Adjutanten zu übernehmen.

Er zögerte nicht und nahm an.

Und damit entschied er für zehn Jahre im Voraus über die Richtung seiner Karriere und seines Schicksals.

„So wurde ich 1935“, sagte er dem Münchner Schwurgericht, „zu Himmlers Chefadjutanten und half ihm vor allem politisch beim Aufbau später zur Verfügung stehender SS-Einheiten, aus denen dann zu Beginn des Krieges die Waffen-SS entstand. 1936 wurde ich zum Stabschef des Reichsführers SS ernannt, damit ich auch auf eigene Verantwortung handeln konnte und nicht nur auf Himmlers direkte Befehle und Forderungen angewiesen war.“

Er nutzte diese Gelegenheit in vollem Umfang.

Wolff war an vielen wichtigen Entscheidungen im SS-Führungsstab beteiligt, und alle Quellen bezeugen, dass er einen erheblichen Einfluss auf Himmler hatte. Er wurde mit wichtigen Aufgaben betraut, die ihm geholfen haben, Bekanntheit zu erringen und allmählich das Vertrauen auch der führenden Repräsentanten des „Dritten Reiches“ zu gewinnen. Während der Besetzung Österreichs im März 1938 etwa landete Wolff zusammen mit Himmler am 12. März um drei Uhr morgens auf dem Wiener Flughafen Aspern, während Hitler es erst zwei Tage später wagte, in die Hauptstadt seines Geburtslandes zu reisen, als die SS-Führung alles Notwendige vorbereitet hatte. „Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges“, setzte der Angeklagte seine persönliche Beichte fort, „wurde ich als Verbindungsoffizier des Reichsführers zu Hitler ins Hauptquartier des Führers entsandt. Im Mai 1940 erfolgte meine Ernennung zum Generalleutnant der Waffen-SS. Ich war der erste, der diesen Rang in den SS-Kampfeinheiten erlangte, was in der Wehrmacht und in der SS Aufmerksamkeit und Neid hervorrief. Sogar Sepp Dietrich, Hausser, Gille und einige weitere berühmte Frontkommandanten stehen in der Rangliste der höchsten SS-Offiziere später aufgeführt.“ Er machte eine Pause und sah sich um – fast so, als erwarte er Applaus.

„Mein teures Wölfchen…“

Lassen Sie uns bitte klarstellen“, sagte der vorsitzende Richter Dr. Mannhardt an einem der nächsten Verhandlungstage: „Worum geht es im Kontext dieser Causa? Ohne unsere Pflicht gegenüber dem Recht und der Verantwortung des Einzelnen zu schmälern, geht es um viel mehr als lediglich die Frage, ob ein Mensch an der Schwelle des Alters für konkrete Taten, die ihm die Staatsanwaltschaft zur Last legt, verurteilt wird oder nicht. Da unser Prozess öffentlich ist und viele Beobachter hat, geht es auch um die Gestalt der historischen Wahrheit. Auf der Suche nach ihr müssen wir ohne Rücksicht auf die Konsequenzen das Korn der Wahrheit von Unkraut reinigen und zum Wesentlichen vordringen.“

Vielleicht gleich zu Beginn zu den wesentlichen Fragen:

Was spielte sich wie im engsten Umfeld des Reichsführers SS ab, und wie war in diesem Zusammenhang Wolffs Verhältnis zu seinem mächtigen Vorgesetzten?

Himmler, Himmler, Himmler – um diese Achse drehte sich alles, worüber Karl Wolff sprach und zu sprechen gezwungen war. „Bis ins Jahr neununddreißig“, sagte er dem Gericht, „war unsere Beziehung völlig makellos, weil ich in ihm vor allem den bewundernswerten Organisator des SS-Ritterordens sah.“ Bewundernswert…? Freilich war dem Gericht bekannt, wie der Angeklagte damals über Himmler gedacht hatte, davon zeugten unter anderem Wolffs persönliche Aufzeichnungen, die, wie er sagte, „die Grundlage für eine künftige Niederschrift der Geschichte der SS sein sollten.“

Wolff schrieb die Geschichte der SS nicht mehr.

Allerdings wurden zum Beispiel seine folgenden Sätze im Münchner Gerichtssaal verlesen: „Er ist bis auf den Grund unserer Seelen vorgedrungen. Während der äußerst überzeugenden Vorträge, die uns der Reichsführer SS über die Geschichte der Weltrevolutionen, des Judentums, der Freimaurerei, des Christentums und der Rassenprobleme hielt, waren wir vom ersten Augenblick an von seiner starken Persönlichkeit gefangen genommen und fühlten zu ihm eine lebendige Verbindung. Der Samen dieser Weltanschauung, der in unsere empfänglichen Herzen gesät wurde, spross später auf wunderbare Weise und trug Früchte.“ Oder an anderer Stelle: „Es war ein großer Moment, als der Reichsführer zum ersten Mal vor unsere angetretene Formation trat… Überraschenderweise trug er jenen schwarzen Dienstmantel der SS, der erst danach allgemein eingeführt wurde. Für diejenigen, die den Reichsführer SS noch nicht von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten, war es ein großes Erlebnis, wie er langsam unsere Reihen abschritt und mit seinen außergewöhnlich klaren Augen in unser Inneres hineinschaute.“ Jetzt wollte Wolff von diesen Ergüssen nichts mehr hören.

Er verteidigte sich: „Wie ich schon einige Male ausgeführt habe, gilt, was hier verlesen wurde, nur bis ins Jahr 1939, höchstens bis Anfang 1940. Damals begannen bereits meine sehr ernsten Differenzen mit Himmler.“

„Berichten Sie darüber“, forderte ihn der Richter auf.

„Himmler verhielt sich sehr negativ, schließlich sogar feindselig gegenüber allem, was meine Scheidung betraf, also…“

„Das sind Privatangelegenheiten,“ unterbrach ihn der Richter, „uns würden jetzt mehr Ihre Meinungsverschiedenheiten mit dem Reichsführer SS im Blick zum Beispiel auf die jüdische Frage und auf die Haltung gegenüber östlichen Nationalitäten interessieren.“

Der Angeklagte Wolff zögerte einen Moment, bevor er antwortete: „Ich könnte über Himmlers Memorandum Ende 1940 aussagen.“

„Tun Sie das bitte.“

„Als ich diesen Text zur Lektüre erhielt, war ich von seinem Inhalt erschüttert.“

Das erwähnte Dokument trug den Titel „Memorandum über die Behandlung fremder Nationalitäten im Osten“ und wurde im Himmler-Sekretariat mit dem Datum 28. November 1940 versehen. „Beim Umgang mit fremden Nationalitäten im Osten“ hieß es darin unter anderem, „müssen wir darauf abzielen, so viele einzelne Nationalitäten wie möglich anzuerkennen und ihre Unterschiede auf jede mögliche Weise fördern. Also neben Polen und Juden zum Beispiel Ukrainer, Weißrussen, Goralen, Lemken und Kaschuben… Wir werden die Bevölkerung im Osten in die größte Anzahl von Teilen und Gruppen untergliedern. Nur wenn wir diesen gesamten nationalen Brei von fünfzehn Millionen des Generalgouvernements und der acht Millionen in den östlichen Provinzen verdünnen, wird es uns gelingen, eine gründliche Rassenklassifizierung vorzunehmen, um die rassisch Wertvolleren aus diesem Brei herauszufischen, nach Deutschland zu bringen und dort, soweit möglich, zu assimilieren.“ Himmlers Memorandum zufolge sollte die Bildung der nichtdeutschen Bevölkerung im Osten auf niedrigstem Niveau gehalten werden: „Höchstens bis 500 zählen, den eigenen Namen schreiben und ihnen deutlich machen, dass es Gottes Gebot ist, den Deutschen zu gehorchen und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Die Fähigkeit zu lesen erachte ich nicht für notwendig.“

Himmler bezeichnete dieses Vorgehen dann als das mildeste, da aus innerer Überzeugung die Methode der physischen Vernichtung dieser Personen bisher als ungermanisch abgelehnt werde. Abschließend definierte das Memorandum klar das zukünftige Schicksal der östlichen Bevölkerung: „Sie wird als Arbeitsvolk ohne irgendeine eigene Führung zur Verfügung stehen. Aufgrund ihrer Unkultiviertheit wird sie unter der Führung der deutschen Nation aufgerufen sein, dieser bei ihren unsterblichen kulturellen Werken zur Hand zu gehen.“

„Haben Sie, Herr Angeklagter, aus der Lektüre dieser grässlichen Erwägungen, für die ich in meinem Wortschatz nicht einmal eine Bezeichnung finde, Konsequenzen gezogen?“ fragte Dr. Mannhardt.

„Welche Konsequenzen meinen Sie?“

„Natürlich meine ich persönliche Konsequenzen. Schließlich waren Sie Teil des Mechanismus, den diese Überlegungen unmittelbar betrafen. Und das nicht allein in einem theoretischen, sondern in einem buchstäblich exekutiven, also realisierenden Sinn des Wortes.“

Karl Wolff antwortete mit einem Achselzucken. „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass es heute sehr einfach ist, so darüber zu sprechen. Aber damals lag es nicht bei mir, über diese Angelegenheiten zu entscheiden. Das Memorandum wurde mir wie viele andere Dokumente vorgelegt, ich habe es paraphiert und an das Rassenpolitische Amt der NSDAP weitergeleitet. Aber ich betone noch einmal: Diese Pläne haben mich erschüttert und ich fühlte mich dadurch in meinem Hauptcharakterzug bedroht – das heißt in meiner Ritterlichkeit.“

Es folgte ein Protestausbruch: Ein Teil des Publikums im Gerichtssaal konnte sich nicht beherrschen. Der Widerspruch zwischen den kaltherzigen Sätzen in den SS-Plänen und dem Mann, der in diesem Zusammenhang seine Ritterlichkeit hervorhob, erinnerte an schwarzen Humor.

„Ruhe bitte!“ rief Dr. Mannhardt.

„Ja doch – es hat mich erschüttert,“ fuhr der Angeklagte fort, „dass die Völker Osteuropas wie Sklaven behandelt werden sollten. In einem persönlichen Gespräch habe ich auch Himmler gegenüber meine Meinung zum Ausdruck gebracht. Er schalt mich und warf mir Weichheit vor. Er fragte, ob ich etwa naiv glaubte, die Pyramiden seien von völlig freien Menschen gegen eine Entlohnung gebaut worden. Auch über meinen Einwand, Deutschlands ganze Zukunft könne nicht auf Bajonetten aufgebaut werden, war er sehr wütend.“

„Gut. Bei meiner vorherigen Frage hatte ich jedoch im Sinn, ob Sie aus dem, was Ihnen nach Ihren Worten widerstrebte, ganz konkrete Folgerungen abgeleitet haben. Folgerungen für Ihre berufliche Anstellung und daraus resultierend für Ihr zukünftiges Verhalten.“

„Sie können sich diese Zeit nicht vorstellen“, sagte Wolff. „Ich konnte doch nicht mitten im Krieg aufgrund einer anderen Meinung zu einem Tätigkeitsbereich, der zudem gar nicht in meine Verantwortung fiel, einfach weglaufen und sagen, dass ich nicht länger an dem beteiligt sein werde, was geschieht. Dies hätte für mich natürlich schlimmste Folgen gehabt. Aber ich habe Himmler gesagt…“

„Das Gericht beurteilt Sie nach Ihren Taten, nicht nach Ihren Worten.“

Wolff schrie geradezu: „Welche Taten?! Weglaufen, sich verstecken, auswandern? Das war nicht gut möglich, aber… ich muss noch einmal wiederholen, dass ich keinen Hass gegen Juden empfunden habe!“

„Sehr viele Menschen in Hitlers Reich, Herr Angeklagter,“ stellte der Vorsitzende des Gerichts dazu fest, „und unter ihnen befanden sich angeblich auch einige hochrangige Funktionäre, empfanden tatsächlich keinen persönlichen Hass gegen Juden. Sie glaubten jedoch, diese Frage stelle ein sehr wichtiges politisches Problem dar, das unbedingt gelöst werden müsste. Und so schoben sie Gewissensbisse und moralische Bedenken beiseite. Ich frage Sie nun ernsthaft, Herr Wolff: Haben Sie sich damals diese allgemein verbreitete und mithin nahezu offizielle Denkweise der Partei zu eigen gemacht?“

„Was Sie sagen“, nickte Wolff, „ist vielleicht im Grunde richtig. Ich muss jedoch mit Nachdruck die Vorstellung zurückweisen, dies habe auch für mich gegolten.“

•••

„Mein teures Wölfchen“, so begannen die meisten offiziellen und halboffiziellen Mitteilungen von Heinrich Himmler, dem meistgefürchteten Mann des „Dritten Reiches“, an seinen Günstling. Aber nun verleugnete Wolff seinen ehemaligen Chef und Fürsprecher wie einst Petrus Christus verleugnete. „Ich bin zu dem Schluss gekommen“, sagte er, „dass ich im Grunde genommen sehr wenig über ihn wusste. Über ihn und die wirklichen Ziele, die er in der SS verfolgte. Namentlich in Fragen der Rassentheorie habe ich vieles nicht verstanden.“

Das erschien wenig glaubwürdig.

Das Gericht belegte dies anhand von Dokumenten, etwa einem Zitat aus einem Brief, den Wolff im Februar 1939 aus dem sizilianischen Kurort Taormina an seine Frau sandte: „Das Schicksal hat mich zum engsten Mitarbeiter eines einzigartigen Mannes bestimmt, des Reichsführers SS, den ich für seine vollkommen außergewöhnlichen Qualitäten über die Maßen bewundere. Ich glaube zutiefst an seine historische Mission. Unsere gemeinsame, sehr befriedigende Arbeit, in der ich nur ein Helfer bin, entspringt rassischen Ideen… Mein ganzes Wesen und meine Anstrengungen sind der SS und ihren Zielen gewidmet. Kein Wunder also, dass mich die Vorstellung sehr belastet, dass meine Söhne – soweit das menschlich vorhersagbar ist – die Auswahlkriterien für die SS nicht werden erfüllen können, die in fünfzehn oder zwanzig Jahren gelten werden. Theoretisch könnte ich meinem Volk rassisch noch hochwertigere Kinder schenken.“

Und Wolffs aktueller Kommentar zu diesen seltsamen Sätzen? „Wenn heute jemand die Worte Himmler und Rasse hört, denkt er sofort an die Vernichtung der Juden. Ich dachte damals anders. Positiv. Ich bin den alten Idealen treu geblieben. Bis zum Ende habe ich in der SS die erhabenen Gedanken eines ritterlichen Ordens angestrebt.“

Auch das erschien kaum glaubwürdig.

„Himmler selbst, Herr Angeklagter, muss Ihnen durch seine Äußerungen doch von Anfang an klargemacht haben, welche Ziele die Rassenpolitik der SS wirklich verfolgte“, entgegnete Dr. Mannhardt. „Zum Beispiel als er im Jahr 1936 in einer Rede über die Aufgaben der SS sagte: »Wir kennen ihn, diesen Juden, dieses Volk, das sich aus den Abfällen verschiedener Völker und Nationalitäten auf dem ganzen Erdball zusammensetzt, die er alle mit dem Siegel seiner jüdischen Blutsorte gekennzeichnet hat. Wir kennen seinen Wunsch nach Weltherrschaft. Wir kennen den Juden, dessen Freude es ist, zu zerstören, dessen Wille es ist, zu vernichten, dessen Religion Gottlosigkeit ist, und seine Ideologie der Bolschewismus.« Bei einer anderen Gelegenheit erklärte Himmler: »Wir können uns vorstellen, dass viele Menschen sich beim Anblick der schwarzen SS-Mäntel nicht gut fühlen. SS-Männer wollen jedoch gar nicht von allen geliebt werden.« Diese Aussagen sind unbestreitbar Ausdruck eines gezielten Rassenterrors. So hat es der Mann ausgedrückt, dem Sie viele Jahre gedient haben. Was sagen Sie dazu?“

„Ich wiederhole: Heute klingt das alles ganz anders. Auch ich habe dem Reichsführer verschiedentlich Vorhaltungen gemacht. Er interpretierte jedoch alles, was er in seinen Reden sagte und was mich beunruhigte, als notwendige Propagandaübertreibung, woraus ich schloss, es betreffe mich nicht so sehr und ich müsse mich in keiner Weise danach richten.“

„In keiner Weise danach richten?! Das kann nicht Ihr Ernst sein, Herr Angeklagter! Ich werde Ihnen ein Zitat aus einem Buch über die Organisation der SS vorlesen: »Der Gehorsam in der SS ist absolut bedingungslos. Die SS kämpft ohne einen Schatten des Erbarmens gegen Geistlichkeit, Judentum und Freimaurerei.«“

„Wann ist dieses Buch erschienen?“ fragte Wolff.

„Im Jahr 1943.“

Seine Augen blitzten. „Ich habe es nicht gelesen, es musste überhaupt nicht in meine Hände gelangen – denn da war ich bereits in Italien.“

Morden in Minsk und Waggons für das Ghetto

Im Fortgang des Prozesses war es nicht mehr möglich, lediglich aus gesprochenen, gedruckten und gelesenen oder ungelesenen Worten zu zitieren. In den folgenden Tagen der Verhandlung, die noch immer der Befragung des Angeklagten gewidmet waren, standen konkrete Ereignisse im Zentrum der Erörterung. Zum Beispiel, was den ersten der Hauptanklagepunkte betraf: die blutigen Ereignisse in der Nähe der weißrussischen Stadt Minsk im August 1941.

„Ich kam ganz zufällig zu diesen Hinrichtungen. Wahrscheinlich ähnlich zufällig wie Sie, verehrte Herren, hier zu Prozessbeteiligten wurden“, sagte Wolff und erklärte: „Der Kommandeur der in der Umgebung von Minsk operierenden Panzerarmee, General von Schenckendorff, meldete damals dem Führerhauptquartier, dass Partisanen in das Gebiet eingedrungen und in der Folge die Versorgung der Fronteinheiten ernstlich beeinträchtigt sei. Während eines der Treffen, an denen ich als SS-Verbindungsoffizier teilnahm, gab Hitler mir den persönlichen Befehl, sofort zum Stab dieser in Baranovice stationierten Panzerarmee zu fliegen und das Nötige zu arrangieren. Ich ging zu Himmler, um mich zu verabschieden, und dieser beschloss unerwartet, ebenfalls zu fliegen – und seine persönliche Maschine für die Reise zu benutzen. In Baranovice erfuhren wir von den Hinrichtungen bei Minsk, die am nächsten Tag stattfinden sollten. Der Reichsführer kontaktierte die örtlichen Polizeibehörden und kündigte an, dass er beabsichtige, an der Exekution teilzunehmen.“

„Hat er Ihnen befohlen, ihn zu begleiten?“

„Ja. Und ich erinnere mich sogar, dass er sagte: »Ich kenne Ihre zurückhaltende Beziehung zu diesen Angelegenheiten. Sie müssen aber sehen, wie es bei solchen Interventionen zugeht, damit Sie dem Führer berichten können.« Ich habe das als Befehl wahrgenommen. Nach dieser Aktion sagte ich Himmler jedoch von Angesicht zu Angesicht, dass er mich nie im Leben wieder dazu bringen würde, so etwas beizuwohnen.“

„Wie haben Sie sich die Gründe für diese Massenexekution erklärt?“

„Wie habe ich sie mir erklärt habe? Damals?“

„Ja.“

„Vermutlich als rechtmäßige Hinrichtung. Als Intervention gegen Menschen, die sich auf gefährliche Weise schuldig gemacht hatten und dafür verurteilt wurden. Es war doch Krieg, und im Krieg…“

„Dazu werden sicher Zeugen und auch Dokumente im Beweisteil des Verfahrens etwas sagen, uns geht es jetzt um Ihre persönliche Verantwortung“, unterbrach ihn der vorsitzende Richter. „Ich muss Sie an eine ernste Tatsache erinnern. Wenn Ihre Teilnahme an den Hinrichtungen in Minsk so unschuldig war, dann erklären Sie uns hier, warum Sie diese 1945 und 1946 in Ihrer Zeugenaussage für die Zwecke des Internationalen Militärgerichts in Nürnberg wiederholt bestritten haben?“

„Dazu hat mich in dieser extrem antideutschen Zeit damals ein natürlicher Instinkt veranlasst.“

„Welcher Instinkt?“

„Selb sterhaltungstrieb.“

•••

Der nächste Anklagepunkt: Wolffs aktive Beteiligung an der Vorbereitung, Organisation und Durchführung von Transportoperationen im Rahmen der Zwangsumsiedlung von mehreren hunderttausend Juden aus dem Warschauer Ghetto und anderen Orten in Polen in die Vernichtungslager Treblinka, Bełżec und Sobibor.

Und die gleiche Taktik des Angeklagten.

„Ich hatte keinerlei Kenntnis von Massenmorden an Juden“, behauptete Karl Wolff. „Ich habe Himmler vertraut. Irgendwann im Sommer 1942, also etwa ein Jahr nach Beginn des deutschen Ostfeldzuges, wies er mich darauf hin, dass der Kampf mit den Partisanen auf russischem Gebiet immer schwieriger werde und es nötig sei, SS-Kräfte für Gegenmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Deshalb sei es angeblich notwendig, das jüdische Ghetto im Generalgouvernement aufzulösen und stattdessen im Raum Lublin ein sogenanntes »großes Ghetto« zu schaffen, das – wie sich Himmler einmal ausdrückte – ein wenig den amerikanischen Indianerreservaten nachempfunden sein sollte. Ein Teil der Juden würden dort landwirtschaftliche Arbeit verrichten und so für die Ernährung der anderen sorgen, der Rest würde in dem riesigen Zentrum der Waffenproduktion, das dort beschleunigt entstehen sollte, mancherlei Verwendung finden.“

„Und Sie haben das, was Himmler Ihnen sagte, geglaubt?!“

„Selbstverständlich.“

„Vollkommen geglaubt?“

„Sicher. Und deshalb habe ich es – in Unkenntnis des Kerns der Dinge – als gewöhnliche Amtsangelegenheit aufgefasst, als der Reichsführer Mitte Juli 1942 ins Führerhauptquartier in der ukrainischen Stadt Vinice kam und mich beauftragte, Dr. Ganzenmüller aus dem Reichsverkehrsministerium anzurufen und mit ihm irgendwelche Transportprobleme zu lösen.“

„Wir werden Ihnen bald nachweisen, dass Sie bewusst die Unwahrheit sagen“, wandte der Gerichtsvorsitzende ein. „Haben sich doch sogar ihr und Himmlers persönliche Fahrer regelmäßig beim Bier über die Schrecken bei den Massenmorden an den Juden unterhalten.“

„Vielleicht verzeihen Sie mir, dass ich nichts darüber weiß, was sich wo die Fahrer erzählt haben. Für mich persönlich beharre ich auf dem, was ich gesagt habe!“

„Nicht doch! Schon die Bedingungen der sogenannten Umsiedlung des Warschauer Ghettos in Ostgebiete des besetzten Polen hätten Ihnen – wenn Sie gewollt hätten – signalisieren müssen, was geschah. Etwa allein der Umstand, dass fünftausend Menschen in einen einzigen Zug gezwängt wurden, und zudem gab es unzählige dieser Züge. Und dass diese Menschen an Orte gebracht wurden, die niemand kannte und die nicht im Geringsten zuvor für die Aufnahme so riesiger Massen jüdischer Bevölkerung vorbereitet worden waren.“

„Ich habe diesen Dingen aber“, verteidigte sich Wolff, „keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es flog alles flüchtig an mir vorbei. Machen Sie sich bitte bewusst, dass zu der Zeit, über die wir sprechen, im Führerhauptquartier zwei große Offensiven vorbereitet wurden, die von entscheidender Bedeutung für unseren Feldzug im Osten waren. In meiner Gegenwart wurde über die Juden und ihre Liquidierung kein einziges wichtiges Gespräch geführt. Deshalb wusste ich nicht…“

„Sie sagen nicht die Wahrheit – wir haben hier nämlich Dokumente, die beweisen, dass Sie über die Massenvernichtung der Juden einfach Bescheid wissen mussten“, beharrte der Gerichtsvorsitzende. „Wir werden sie alle in der Beweisaufnahme vorlegen. Jetzt nur eine Stichprobe. Mir liegt hier ein Brief vor, den SS-Gruppenführer Turner, Chef der Militärverwaltung in Serbien, im April 1942 an Sie gerichtet hat. Er wurde nach dem Krieg zum Tode verurteilt und hingerichtet. Turner schrieb Ihnen: »Schon vor einem Monat habe ich alle Juden, die wir in der hiesigen Region aufgegriffen haben, erschießen lassen, und alle jüdischen Frauen und Kinder habe ich nach und nach in einem Lager konzentriert. Gleichzeitig habe ich mit Hilfe des Sicherheitsdienstes der SS ein Entlausungsfahrzeug (zur Vergasung) besorgt, mit dem wir jetzt im Verlauf von zwei bis vier Wochen die endgültige Räumung des Lagers durchführen.« Ist Ihnen klar, Herr Angeklagter, was SS-Gruppenführer Turner damit gemeint hat?“

„Nicht wirklich.“

„Solche Antworten von Ihnen überraschen mich! Sie haben im Rahmen Ihrer amtlichen Verpflichtungen einen Brief erhalten und nicht gewusst, wovon eigentlich die Rede war?! Ich fülle Ihre Wissenslücken: In diesem Vergasungsfahrzeug, von dem SS-Offizier Turner Ihnen berichtete, sind alle von Turner erwähnten Frauen und Kinder, einschließlich der Säuglinge, sehr langsam und daher unvorstellbar schmerzhaft erstickt. Sie wurden durch die Auspuffgase getötet und…“

„Ich habe das nicht gewusst!“

„Dieser Brief war an Sie adressiert und Sie haben seine Lektüre durch eigene Unterschrift bestätigt… Aber lassen wir das“, winkte der Vorsitzende ab. „Vorläufig.“

Karl Wolff: Retter Europas

Je kürzer sich der Angeklagte immer dann fasste, wenn von der Ausrottung der Juden die Rede war – also dem Kern der Anklage – umso beredter argumentierte er in Fällen, wo er in einem besseren Licht glaubte erscheinen können. Artistisches Balancieren zwischen den beiden Enden des Seils: Einerseits betonte er seinen geringen Informationsstand alle grundlegenden Fragen betreffend und mithin eigentlich die Bedeutungslosigkeit seiner Funktionen in der SS – andererseits sprach er gern über seine außergewöhnliche Stellung innerhalb des „Dritten Reichs“, teilweise sogar in Opposition gegen den Reichsführer SS.

„Mein Respekt für Himmler nahm immer mehr ab“, behauptete er.

„Das sagten Sie bereits. Wir würden es gern detaillierter hören.“

„Ich erinnere mich an einen charakteristischen Vorfall. Der Gauleiter der Partei in Danzig, Forster, sagte einmal unter Alkoholeinfluss vor niederen SS-Rängen, er selbst würde es nicht wagen, das Wort Rasse in den Mund zu nehmen, wenn er wie Himmler aussehen würde. Meiner Meinung nach war dies eine schwere Beleidigung. Himmler jedoch unternahm nichts gegen Forster und unterdrückte aus taktischen Gründen eine Reaktion. Dadurch hat er vor mir das Gesicht verloren und ich habe seine Unmännlichkeit erkannt.“

„Unmännlichkeit…? Ich gebe Ihnen nun, Herr Wolff, die Gelegenheit, über Ihre Scheidung und den folgenden Streit mit Heinrich Himmler zu sprechen.“

„Ja, das war der Moment, in dem alles in mir zerbrochen ist… Ich hatte ein Kind aus erster Ehe. Dann habe ich eine dauerhafte Beziehung zu einer anderen Frau aufgebaut und hatte auch mit ihr ein Kind. Nach Jahren wollte ich diese Angelegenheit durch eine Scheidung und eine neue Ehe ehrenhaft lösen. Mein Chef Himmler indes widersetzte sich dieser Lösung.“

„Warum?“

„Hauptsächlich, weil er in eine nicht beneidenswerte Position geraten wäre, denn er selbst war unfähig, für sich eine ähnliche Lösung zu finden. Als einer von wenigen Menschen war mir näher bekannt, dass Himmler eine streng geheime Beziehung mit seiner ehemaligen Sekretärin Potthast unterhielt… Ich glaube, sie hieß Hedwig, aber er nannte sie Häschen – und hatte mit ihr, wenn ich mich nicht täusche, einen Jungen und ein Mädchen. Wir haben uns wegen seinen und meinen persönlichen Sorgen schrecklich gestritten, und er hat mich einmal derart beleidigt, dass ich ihn fast körperlich angegriffen hätte. Zum Glück habe ich mich im letzten Augenblick beherrscht, andernfalls hätte das schlimme Folgen für mich gehabt.“

„Danach hat er Ihnen die Scheidung aber doch erlaubt?“

„Er hat es nicht erlaubt. Ich habe dann aber Hitler persönlich um Erlaubnis zur Scheidung und Schließung einer neuen Ehe gebeten, der meiner Bitte umgehend entsprochen hat. Himmler ärgerte sich über die Tatsache, dass ich ihn umgangen hatte, schrie mich an, lehnte es ab, zu meiner Hochzeit zu kommen und verbot den Kameraden aus der SS, mir Glückwünsche zu schicken… Danach bin ich auch erkrankt und musste mich einer schweren Operation unterziehen. Auf jeden Fall konnte ich die anspruchsvolle Funktion des Verbindungsoffiziers der SS-Einheiten im Führerhauptquartier nicht mehr ausüben.“

„Unter diesen Umständen sind Sie nach Italien gegangen?“

„Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus im Sommer 1943 hatte ich andere Absichten. Himmler bot mir an, als Stellvertreter des Reichsprotektors Böhmen und Mähren nach Prag zu gehen. Ich antwortete: »Ich möchte Sie bitten, mich aus gesundheitlichen Gründen aus der SS zu entlassen.« Der Reichsführer explodierte buchstäblich: »Aus der SS austreten? Sind Sie wahnsinnig, Mann? Was fällt Ihnen ein – wir sind ein Ritterorden und kein Kegelklub. Sie wollen doch nicht, dass ich dem Führer melde, dass Sie an Verrat denken!?« Nun, am Ende kam alles anders…“

Wahrlich anders.

Wolff wurde nach Italien versetzt, wo er Oberbefehlshaber der SS und der Polizei wurde, aber später praktisch Kommandant dieses gesamten Kampfabschnittes, was für einen General der Waffen-SS eine ungewöhnliche Position war. Anschließend war er an der Vorbereitung einer der dramatischsten Einzelaktionen des Krieges beteiligt: Der Befreiung Benito Mussolinis aus der Gefangenschaft in Gran Sasso. Nachdem das daran beteiligte Sonderkommando des SS-Hauptsturmführers Skorzeny am 12. September 1943 mit dieser tollkühnen Aktion Erfolg hatte, wurde Mussolini nach einem Besuch bei Hitler in Wolffs Obhut übergeben. Dieser wählte ein Gebäude am Ufer des Gardasees als Wohnsitz und ließ den Duce von SS-Einheiten beschützen. In Waffen-SS-General Wolffs Hände gelangte auch der berühmte Befehl von Marschall Albert Kesselring vom 17. Juni 1944: „Ich werde mich für jeden Befehlshaber einsetzen, der bei Repressalien gegen die Aufständischen oder die Zivilbevölkerung härter vorgeht als im Wortlaut der erteilten Befehle.“ Selbstverständlich gingen Wolffs Untergebene, Angehörige der SS, auf italienischem Territorium mit größter Brutalität vor. Im August und September 1944 zog ein SS-Bataillon durch die Toskana und die Emilia. Unter anderem sind seine Mitglieder für die Tragödie in der Stadt Marzabotto verantwortlich – das „italienische Lidice“, wo mehr als achtzehnhundert Menschen vor den Hinrichtungskommandos standen. Die Zeit, die Wolffs Person mit Legenden umspinnen sollte, war jedoch noch nicht gekommen.

Frühjahr 1945.

Die Situation war damals auf beiden Seiten kompliziert, obwohl die Entscheidung über den schließlichen Ausgang des Krieges im Grunde genommen bereits gefallen und die endgültige deutsche Niederlage nur noch eine Frage der Zeit war. Seit Herbst des Vorjahres hatten deutsche Truppen in Italien den Vormarsch anglo-amerikanischer Invasionskräfte verhindert. Nach der Versetzung von Feldmarschall Kesselring auf den Posten des Kommandanten der Westfront wurde Wolff zum uneingeschränkten Gebieter in Norditalien. Die Partisanen-Bewegung und der Hass auf die Besatzer nahmen zu dieser Zeit in Italien deutlich zu. Tag für Tag stieg die Wahrscheinlichkeit eines revolutionären Volksaufstands und der Vereinigung italienischer Partisanen mit jugoslawischen Truppen unter der Führung von Marschall Tito. Die Westalliierten hingegen bemühten sich, so schnell wie möglich und ohne unnötige Verluste über Triest und den Laibacher Zipfel Jugoslawiens nach Österreich vordringen zu können und sich so dem Zentrum Europas zu nähern.

All dies bereitete den Boden für Verhandlungen hinter den Kulissen.

Karl Wolff verstand damals, dass sich ihm hier eine wahrhaft einzigartige Gelegenheit bot.

•••

„Herr Angeklagter“, fragte ihn Dr. Emil Mannhardt jetzt vor dem Münchner Gericht, „wie haben sich Ihre Ansichten zu den deutschen Kriegschancen entwickelt?“

„Schon früher tauchten bei mir Zweifel einen deutschen Sieg betreffend auf, hervorgerufen durch das allmähliche Scheitern bei El Alamein, den Verlust der Kontrolle über den deutschen und europäischen Luftraum und die Katastrophe von Stalingrad im Januar 1943. Später wuchsen diese Zweifel durch die italienische Krise, den Sturz Mussolinis und Anfang Juni 1944 die Evakuierung Roms.“

„Bereits zuvor, im April 1944, kam es zu einer Papst-Audienz…“

„Ja, damals dachte ich bereits systematisch darüber nach, dass ich etwas für die Sache des Friedens tun sollte. Das Gespräch mit Pius XII. vermittelte mein Verbindungsoffizier bei Mussolini, SS-Standartenführer Dolmann, der über glänzende Kontakte in die römische Gesellschaft verfügte. Der Heilige Vater sagte mir in diesem persönlichen Treffen: »Wieviel Unglück hätte verhindert werden können, wenn Gott Sie etwas früher zu mir gebracht hätte.« Und zum Abschied sagte er: »Sie begeben sich auf eine schwierige Reise, General Wolff! Darf ich Ihnen dafür meinen Segen geben?«“

„Wenn Sie von Handlungen für die Sache des Friedens sprechen, meinen Sie damit die Kapitulationsverhandlungen, an denen Sie etwa elf Monate nach Ihrem Treffen mit dem Papst teilgenommen haben?“

„Ja sicher.“

Wasser auf Wolffs Mühlen. Im Gerichtssaal ertönten dann viele große Worte. Der Kern des Geschehens kann knapper wiedergegeben werden. Anfang März 1945 saß SS-General Karl Wolff im Gebäude des amerikanischen Konsulats in Zürich, um mit einem Mann zu verhandeln, der definitiv nicht zum Kreis seiner dienstlichen Kontakte zählte. Es war der Leiter der örtlichen Abteilung des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes Allen Welsh Dulles. Die streng geheime Operation, auf die sie sich geeinigt hatten, erhielt von amerikanischer Seite den Codenamen „Sunrise“, von den Briten „Crossword“. Es ging um die Einstellung der Kampfaktivitäten deutscher Truppen in Italien und ihre separate Kapitulation vor den angloamerikanischen Alliierten, was allerdings einen beträchtlichen Verstoß gegen die Vereinbarungen über ein gemeinsames Vorgehen der gesamten Anti-Hitler-Koalition, einschließlich der Sowjetunion, in der allerletzten Kriegsphase bedeutete. Fieberhafte geheime Verhandlungsaktivitäten wurden in Gang gesetzt. Dulles flog zum Hauptquartier der Alliierten in Caserta, um die Entwicklung voranzutreiben, und auch Militärexperten wurden beauftragt, technische Details zu vereinbaren. Karl Wolff reiste dann wieder in die Schweiz. In Ascona, in der Villa des deutschen Magnaten und ehemaligen Finanziers Hitlers Stinnes, traf er sich am 19. März mit dem britischen General Airey und seinem amerikanischen Kollegen Lemnitzer. Die Verhandlungen wurden dann auf mehreren Unterebenen fortgesetzt.

Aber wie fiel schließlich das Ergebnis aus?

Aus vielen, insbesondere aus zeitlichen Gründen, nicht allzu umwälzend. Dies nahm offenbar knapp zwei Jahrzehnte später auch der Münchner Richter Dr. Mannhardt so wahr, als er Wolff fragte: „Sehen Sie es als Ihr Verdienst an, die deutsche Kapitulation in Italien ermöglicht zu haben?“

„Zweifellos. Die Kapitulation rettete Soldaten auf beiden Seiten der Front das Leben und bewahrte die italienische Zivilbevölkerung und zahlreiche dortige historische Denkmäler vor der Taktik der verbrannten Erde, zu der ich zuvor im Reichshauptquartier den Befehl erhalten hatte.“

„Wir haben nicht die Absicht, Ihnen zu nahe zu treten, Herr Wolff – aber wann kam es zu dieser Kapitulation?“

„Sie wurde am 29. April 1945 von meinem Bevollmächtigten im Hauptquartier der Alliierten in Caserta unterzeichnet.“

„Und wann trat sie in Kraft?“

„Am 2. Mai…“

„Ich fühle mich nicht im Entferntesten dazu berufen, die Geschichte zu bewerten,“ sagte Dr. Mannhardt, „mir scheint nur, dass am 2. Mai bereits eine vollkommen andere Situation eingetreten war als zu der Zeit, als diese Verhandlungen begannen. Immerhin hatte sich Hitler bereits am 30. April das Leben genommen und damit namentlich seinem Umfeld signalisiert, dass alles verloren war. Die Kapitulation in Italien konnte am Kern des Geschehens nichts mehr ändern. Wenn ich mich in diesem Fall auf eine Autorität stützen darf, erlaube ich mir den britischen Historiker Professor Gerald Reitlinger zu zitieren, der geschrieben hat: »Man kann feststellen, dass Wolffs Separatverhandlungen, die ihm bei den Westalliierten so viel Vertrauen eingebracht haben, die Kampfhandlungen um keinen einzigen Tag verkürzt haben.«“

„Aber es war ein riskanter Versuch von mir, Europa zu retten.“

„Riskant…? Auch wenn ersichtlich ist, dass ihre Verhandlungen mit Dulles und Offizieren der Alliierten mit Wissen nicht nur Himmlers, sondern wahrscheinlich sogar Hitlers stattgefunden haben?“

„Sie wussten davon, aber auch so… Kaltenbrunner, Heydrichs Nachfolger im RSHA, dem Reichssicherheitshauptamt, wollte mich in dieser Angelegenheit an den Galgen bringen. Während eines Besuchs im Führerhauptquartier, bei dem ich vertraulich über meine Schweizer Verhandlungen berichtete, starrte mich Kaltenbrunner an, und wenn ich kein gutes Gewissen gehabt, diesem Blick nicht hätte standhalten können, hätte mich ein Standgericht zum Tode verurteilen können, genau wie später buchstäblich in letzter Minute zum Beispiel General Hermann Fegelein, der beschuldigt wurde, kapituliert zu haben…“

„Eine derartige Anklage hat gegen Sie aber niemand erhoben.“

„Nein. Dafür hätte allein schon die Zeit gefehlt.“

„Räumen wir also Ihre italienischen Verdienste ein, sie betreffen im Übrigen nicht den Kern dieses Prozesses.“ resümierte Dr. Mannhardt das Thema. „Zuvor waren Sie jedoch viele Jahre lang treuer Anhänger Himmlers und Hitlers und haben ihre Ziele verfolgt.“

„Ich wiederhole: Ich wurde von ihnen getäuscht. Aber mit dem, was mir vor diesem Gericht vorgeworfen wird und für das ich wahrscheinlich auch verurteilt werden soll, habe ich nichts zu tun und dienstlich betrafen mich diese Angelegenheiten nicht.“

„Sollten Sie tatsächlich verurteilt werden, Herr Wolff,“ sagte der Gerichtsvorsitzende, „dann nicht, weil Sie für etwas nicht zuständig waren – sondern vielmehr, weil Sie etwas verbrochen haben.“

•••

Die Vernehmung des Angeklagten näherte sich ihrem Ende und ein interessanterer Teil der Verhandlung wurde erwartet: Beweisverfahren, Zeugen, Dokumente, Gegenüberstellung. Erwähnung fand noch einiges zu Wolffs Schicksal nach dem Krieg.

Als ob er unantastbar gewesen wäre …!

Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg trat er lediglich als Zeuge auf, und das sogar in Generalsuniform. Auch die Briten stellten später keinerlei Verantwortung Wolffs für den mörderischen Terror auf italienischem Gebiet fest. Erst das mit der Entnazifizierung beauftragte Spruchgericht in Hamburg-Bergedorf verhängte eine Strafe gegen ihn: fünf Jahre Gefängnis, die später auf vier Jahre reduziert wurde. Sein Vergehen: dienstliche Kenntnis und dadurch Mitbeteiligung an den unmenschlichen und fast immer tödlichen Versuchen Dr. Sigmund Raschers mit Unterdruck und Unterkühlung, die er an Häftlingen des Konzentrationslagers Dachau durchführte. Wolff verbüßte, von der Untersuchungshaft abgesehen, von der Gesamtstrafe nur eine einzige Woche. Später kehrte er erfolgreich zu dem zurück, womit er Ende der Zwanzigerjahre aufgehört hatte: privates Unternehmertum. Aber das wissen wir bereits – Karl Wolff, Vertriebs- und Marketingvertreter eines bedeutenden Verlagshauses, wohnhaft in Kempfenhausen am Starnberger See.

Die Vergangenheit schien erst jetzt wieder lebendig geworden zu sein – mit einer Generation Verspätung.

„Das Gericht tritt am Montag den 20. Juli“, teilte Richter Dr. Mannhardt mit, „erneut zusammen.“

Stühlerücken, ein Wachtmeister öffnete die Tür.