Glitterschnitter - Sven Regener - E-Book
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Glitterschnitter E-Book

Sven Regener

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Beschreibung

Willkommen in der Welt von Glitterschnitter: Ein großer, wilder Roman über Liebe, Freundschaft, Verrat, Kunst und Wahn in einer seltsamen Stadt in einer seltsamen Zeit. Die Lage ist prekär: Charlie, Ferdi und Raimund wollen mit Glitterschnitter den Weg zum Ruhm beschreiten, aber es braucht mehr als eine Bohrmaschine, ein Schlagzeug und einen Synthie, um auf die Wall City Noise zu kommen. Wiemer will, dass H. R. ein Bild malt, aber der will lieber eine Ikea-Musterwohnung in seinem Zimmer aufbauen. Frank und Chrissie wollen die alte Trinkerstube Café Einfall zur kuchenbefeuerten Milchkaffeehölle umgestalten, aber Erwin will lieber einen temporären Schwangerentreff etablieren. Chrissie will, dass Kerstin endlich zurück nach Stuttgart geht, aber die muss erst noch Chrissies neuen Schrank an der Wand befestigen. Die Frage, ob Klaus zwei verschiedene Platzwunden oder zweimal dieselbe Platzwunde zugefügt wurde, ist noch nicht abschließend geklärt, aber bei den Berufsösterreichern der ArschArt-Galerie werden bereits schöne Traditionen aus der Zeit der 1. Ottakringer Shakespeare-Kampfsportgesellschaft wiederbelebt. »Aber wie schon Toulouse-Lautrec sagte: wir haben unser ganzes Leben gebraucht, damit wir das erst seit drei Wochen machen können.« – »Das hat er gesagt?« – »So ähnlich.« Ferdi und Raimund von Glitterschnitter

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Seitenzahl: 537

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Sven Regener

Glitterschnitter

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Sven Regener

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

I Das wird super!

II Nichtraucher

III Shakespeare

IV Soundcheck

V Glitterschnitter

Inhaltsverzeichnis

Für Charlotte, Alex und Max

Inhaltsverzeichnis

IDas wird super!

»Schau, da hast du ihn! Das ist der Aufschäumer. Und damit machst du dann die Melange!«, sagte Kacki.

Frank Lehmann zog am Hebel und wie erwartet kam der Dampfstrahl aus dem darunter angebrachten Metallrüssel.

»Genau so!«, sagte Kacki.

Das nervte. Denn sosehr sich Frank Lehmann gefreut hatte, dass er die Frühschicht im Café Einfall machen durfte, denn so nannte Chrissie das, was sie hier gegen den hartnäckigen Widerstand ihres Onkels, des Café-Einfall-Besitzers Erwin Kächele, eingeführt hatte, Frühschicht, so als wäre das Café Einfall ein Stahlwerk oder ein Krankenhaus, aber egal, so froh Frank Lehmann also war, dass Chrissie heute mit ihrer Mutter zu Ikea fahren und ein paar Möbel kaufen musste und er nach dem Putzen der Kneipe gleich dableiben konnte, um an Chrissies statt die Frühschicht hinter dem Tresen durchzuziehen, so sehr ging es ihm andererseits auf den Wecker, dass die einzigen Kunden, die sich bis jetzt eingefunden hatten, diese beiden Leute aus der ArschArt-Galerie waren, der, den sie Kacki, und der, den sie Jürgen 3 nannten, weil Kacki gleich mit dem Thema Milchaufschäumen angefangen hatte, und jetzt kriegten sich die beiden gar nicht mehr ein, Milchaufschäumen hier, Milchaufschäumen da, und das nur, weil sie statt eines normalen Filterkaffees, wie er nun mal standardmäßig aus der großen alten Gastrokaffeemaschine kam, die Karl Schmidt, der mit Frank Lehmann, Chrissie und H.R. Ledigt direkt über dem Café Einfall wohnte, immer Centre Pompidou nannte, weil sie also statt eines normalen Filterkaffees aus dem Centre Pompidou nun unbedingt eine Melange haben wollten, was immer das sein sollte, »damit kann man nämlich auch eine Melange machen«, hatte Kacki gesagt, »auf jeden Fall etwas, das einer Melange ähnlich wär!«, und das hatte etwas mit Milchaufschäumen zu tun und mit dem Metallrüssel am Centre Pompidou und damit, dass da Dampf rauskam, mit dem man Milch aufschäumen konnte, was Frank Lehmann natürlich schon gewusst hatte, was den beiden aber herzlich egal war, sie machten immer weiter und weiter damit, Milchaufschäumen hier, Milchaufschäumen da, es hörte überhaupt nicht mehr auf und kein Ort, an dem man sich davor verstecken konnte!

Andererseits aber wollte er auch nicht unfreundlich sein, die beiden ArschArt-Leute waren seine einzigen Kunden, das war ja das Schwierige an diesem Beruf, dass man die Beherrschung nicht verlieren und die Kunden nicht vergraulen durfte, und deshalb sagte er möglichst konziliant, nachdem er ein weiteres Mal den Dampfhebel bedient hatte, um seinen Worten mit dem Zischgeräusch Nachdruck zu verleihen: »Was für eine bescheuerte Melange denn überhaupt?!«, obwohl ihn das natürlich nicht interessierte, er die Frage nur stellte, um überhaupt auch mal wieder etwas gesagt zu haben und gegen die beiden österreichischen Melange-Folklorefreaks in die Offensive zu kommen.

»Schau«, sagte Jürgen 3, von dem Frank Lehmann wusste, dass er auch ganz normales, unauffälliges Hochdeutsch sprechen konnte, wenn er wollte, der jetzt aber onkelhaft weich und mit einer Mimik sprach, die Frank Lehmann an Filme erinnerte, die er als Kind sonntagnachmittags immer im Fernsehen gesehen hatte, Filme mit Leuten wie Paul Hörbiger und Hans Moser und dergleichen, jedenfalls sagte Jürgen 3 nun paulhörbigergleich: »Schau, das, was die Italiener Cappuccino nennen, das nennen wir Österreicher Melange. Weil wir’s erfunden haben und nicht die Italiener! Und sicher nicht der Deutsche, der das, selbst wenn er es Cappuccino nennt, mit Sahne macht, mit Sahne! Das habe ich selbst erlebt«, wandte er sich entrüstet an seinen Landsmann Kacki, er drehte sich auf seinem Hocker zu ihm hin und runzelte die Stirn, und Frank Lehmann wurde das Gefühl nicht los, dass er gerade einer Laientheateraufführung beiwohnte, wobei der eine den Paul Hörbiger und der andere den Peter Alexander gab, Charleys Tante quasi, nur ohne Frauenkleider, und Kacki Alexander sagte auch sogleich: »Es ist aber eben auch so, dass sie noch nicht einmal einen Mokka mit ihrer Maschine zusammenbringen, das ist ja das Traurigste, dass sie zwar einen Dampfhebel für eine Melange haben an ihrer deutschen Maschine, aber dann können sie den Milchschaum nur auf ihren furchtbaren Filterkaffee obendrauf tun, des is scho arg!«

»Wenn sie das nicht sowieso gleich mit Sahne machen!«, sagte Jürgen 3.

»Med eanam Obers, des pack i net!«, stimmte Kacki zu.

Frank hätte die beiden gerne rausgeschmissen, aber er machte sich keine Illusionen: Wenn man es nicht bald erreichen würde, in der Frühschicht vom Café Einfall wenigstens so viel Umsatz zu machen, dass man sich am Ende der Schicht seinen Lohn aus der Kasse nehmen konnte, ohne dabei das Wechselgeld zu plündern, wenn man also Erwin Kächele weiterhin darum würde bitten müssen, sein Portemonnaie aus der Hosentasche zu ziehen und ein oder zwei Scheine herauszugeben, bloß damit man nicht umsonst gearbeitet hatte, dann gute Nacht, Frühschicht, dachte er, und er wusste, wenn die Frühschicht fiel, dann würde Chrissie ihm den Putzjob abjagen, mit dem er im Augenblick im Café Einfall seine Brötchen verdiente, Blut, da machte Frank Lehmann sich nichts vor, war dicker als Wasser, selbst bei Erwin Kächele, und dann hieß es für Frank Lehmann, Ex-Speditionskaufmann, Ex-Bremer, Ex-Wehrpflichtiger, Ex-Selbstmordvortäuscher und kleiner Bruder von Manfred Lehmann, sich einen Job auf dem offiziellen Westberliner Arbeitsmarkt zu suchen, und dafür war er noch nicht bereit.

»Am Ufer machen sie damit Milchkaffee«, sagte er, um den beiden Alpenrepublikchauvinisten etwas entgegenzusetzen, »mit Filterkaffee, das ist da ein Riesending, die schäumen da Milch auf, als wenn’s kein Morgen gibt und die Leute trinken das wie blöd, aber das sind größtenteils auch keine Österreicher«, fügte er gallig hinzu, »deshalb kommen die prima damit klar.«

»Ja, da machen die einen auf französisch«, sagte Jürgen 3 unbeeindruckt, »grad dass sie es nicht Café au Lait nennen. Die haben sogar diese albernen Schalen, in denen das dann daherkommt, aber innen drin ist immer der deutsche Filterkaffee.«

»Das ist wie die ganzen Menschen hier«, sagte Kacki, »die sind genauso, außen machen sie einen auf französisch, aber innen drin, da steckt der Deutsche!«

Frank nickte. Er verstand die beiden eigentlich ganz gut, auch wenn sie Unsinn redeten, sie hatten Heimweh und kamen in Berlin nicht klar, ihm ging es genauso, ihm fiel es hier auch nicht leicht, er war bloß hergekommen, weil er nach einem Rausschmiss aus der Bundeswehr seinen Bruder treffen und um Rat fragen wollte, aber der steckte gerade in einer Anstalt am Kudamm fest, wo sie irgendwelche Psychopharmaka an ihm ausprobierten, und gleich danach wollte sein Bruder dann nach New York gehen, was also tat er, Frank Lehmann, in dieser Stadt, die jetzt, Anfang Dezember, immer kälter und kälter und immer dunkler und dunkler wurde, deren Luft als gelber Nebel unbeweglich in den Straßen stand und die Lungen und Gemüter verpestete, und nun stand auch noch die Frühschicht und damit sein Putzjob auf der Kippe, es war alles nicht einfach.

Aber es gab auch Hoffnung: Vor kurzem war er am Paul-Lincke-Ufer unterwegs gewesen, mit Chrissie, mit der er gut klarkam, zu gut vielleicht, letzte Nacht hatte er von ihr geträumt, ein verwirrender, sexverstrahlter Traum war das gewesen, er mochte gar nicht daran denken, jedenfalls war er mit ihr am Paul-Lincke-Ufer unterwegs gewesen, weil sie beim Bilka am Kottbusser Damm Lebensmittel einkaufen wollten, und dabei waren sie an drei Cafés vorbeigekommen, alle gestopft voll, vormittags schon, und in eins waren sie zu Forschungszwecken hineingegangen, da hatten die Leute gefrühstückt, als würden sie dafür bezahlt, riesige Teller mit Schinken, Wurst, Käse, Marmelade, Brötchen, Butter und Obst hatten sie in sich hineingeschlungen, vor allem aber hatten sie Milchkaffee getrunken, das war Frank aufgefallen, jeder Mensch, der dort gesessen hatte, hatte eine Suppenschale mit Milchkaffee vor sich auf dem Tisch stehen, daran erinnerte er sich jetzt, und er war sich sicher, dass man, um die Frühschicht im Café Einfall zum Laufen zu bringen, Milchkaffee anbieten musste, das war eindeutig das angesagte Getränk!

»Des is sowas von schirch!«, sagte Kacki jetzt.

»Sagt mal, ihr beiden«, sagte Frank, »warum macht ihr eigentlich neuerdings bei der ArschArt alle so penetrant einen auf Österreicher?«

»Na geh! Wir sind Österreicher!«, sagte Kacki.

»Ja, aber ihr habt das doch bis jetzt eher verheimlicht!«

»Jetzt nicht mehr!«, sagte Kacki.

Jürgen 3 nickte zufrieden. »Jetzt sind wir stolz drauf!«, sagte er.

*

»Schau mal, Chrissielein, das süße Kinderbettchen da, so eins hätte ich für dich damals auch gerne gehabt!«

Sie standen in der Kindermöbelabteilung und Chrissie war zornig, so sehr, dass es wehtat, es war ein tiefsitzender Zorn, der sich die ganze Fahrt hierher, an den Spandau-Arsch der Welt, wo sie in Westberlin ihren Ikea hatten, immer weiter aufgebaut hatte, ein Zorn wie eine Betrunkenheit oder ein gebrochener Arm, nichts, was man wegdiskutieren konnte, und das machte Chrissie hilflos und traurig zugleich.

Sie war nach Berlin gegangen, um zu bleiben, endlich raus aus Stuttgart und weg von Kerstin, ihrer Mutter, aber Kerstin war hinterhergekommen und hatte sich in ihr Leben wieder hineingedrängelt, so sah Chrissie das, und sie war fest entschlossen, sich das nicht gefallen und sich nicht wieder von ihrer Mutter einwickeln zu lassen, auf keinen Fall darf das enden wie mit der blöden Hauswirtschaftsfachschule, dachte sie.

Aber wenn es nur darum gegangen wäre, ihrer Mutter bei ihren Versuchen, sie nach Stuttgart zurückzuholen, die Stirn zu bieten, dann wäre es noch irgendwie erträglich gewesen, aber da war eben auch noch diese Traurigkeit, die mit der Anwesenheit ihrer Mutter einherging, eine Traurigkeit, gegen die Chrissie nicht ankam und die daher rührte, dass sie ihre Mutter eben doch sehr liebte und sich manchmal auch gerne wieder in genau so ein süßes Kinderbettchen legen wollte und zugleich wusste, dass das natürlich nie mehr geschehen würde, während ihre Mutter ihre sentimentalen Erinnerungen an die kleine Chrissie und die gemeinsame Zeit und was nicht alles fröhlich auslebte und aussprach und damit Chrissie immer noch trauriger und hilfloser machte.

»Kannst ja jetzt kaufen!«, sagte Chrissie patzig.

»Ach Quatsch, das ist jetzt doch viel zu klein für dich!«

»Ach, wirklich?« Chrissie konnte nur hoffen, dass sich Kerstin irgendwann an ihr abgearbeitet haben und aufgeben würde, denn sosehr sie ihre Mutter liebte und so hilflos sie auch war, so verloren war doch auch der Posten, auf dem ihre Mutter kämpfte, die einzige Lösung war, dass sie irgendwann erschöpft aus Berlin abreiste, denn das hier, das war ihre Stadt, fand Chrissie, da war kein Platz für sie beide, und für sie drei schon gar nicht, denn nun meldete sich auch noch Wiemer zu Wort, Kerstins neuer Freund, mein neuer Stiefvater nannte Chrissie ihn manchmal hämisch, um irgendwie damit klarzukommen, dass ihre Mutter mit dem Typ da Sex hatte, es war alles widerlich, aber auch traurig, man sollte sich für seine Mutter freuen können, dachte Chrissie verwirrt, da ging alles durcheinander in ihren Gedanken, Wiemer ist gefährlich, dachte sie, was ist, wenn sie wegen ihm hierbleibt, spielen wir dann Vater, Mutter und Kind, so wie man es früher gespielt hatte, im Kindergarten, zu dritt und Chrissie dann als Babylein im Kinderbettchen und was nicht alles, so ein bescheuertes Kinderspiel, sollte man das hier jetzt nachspielen, Kerstin, Wiemer und Kind, nur über meine Leiche, dachte Chrissie, jedenfalls meldete sich nun Wiemer, von dem Chrissie noch immer nicht den Vornamen wusste, was ja irgendwie auch mal bezeichnend war, mit den Worten: »Wo ist eigentlich H.R.? Wir dürfen den nicht verlieren, der ist ja wie ein Huhn bei Gewitter, da muss man immer dranbleiben!«

»Der Trottel mit der Polaroidkamera?«, sagte Kerstin. »Den haben wir doch schon ganz vorne verloren. Bei den Musterwohnungen.«

*

H.R. hatte sich erst einmal setzen müssen, so überwältigt war er von der Musterwohnung, was für ein hässliches Wort für so eine schöne Sache, diesen skulpturgewordenen Traum von einem besseren Leben, diese Studie in heiler Welt, Collage aus Möbeln, Küchengeräten, Kissen, Decken, Vorhängen, Lampen und Geschirr, sie war so perfekt, damit konnten nicht einmal die Bilder von Norman Rockwell mithalten, hier wurde von einem gelingenden Leben erzählt, in dem an alles gedacht und für alles gesorgt war, für Vati gab es einen Sekretär mit Schreibtisch, auf dem Stifte, Schreibunterlage, Radiergummi, Bleistiftspitzer und das Schreibpapier Olof ungeduldig auf ihn und seine erfolgreichen Geschäfte warteten, für Mutti eine Küche, die so kompakt und so perfekt in das Wohnzimmer integriert war, dass man sie mit den Blicken erst suchen musste, die man aber, hatte der Blick sie gefunden, nicht mehr aus den Augen lassen konnte, so genial waren dort Herd, Abzugshaube, Kühlschrank, Spüle und Arbeitsfläche ineinander verzahnt, man sah direkt vor sich, wie die Mutti hier die Smörrebröter auf den Frühstücksbrettchen namens Britt anrichtete, damit die Kinder, die derweil in ihren Stockbetten mit niedlichen schwedischen Kuscheltieren kuschelten und lustige schwedische Kinderbücher lasen, gleich aufspringen konnten, um sich mit ihren Eltern an den über und über mit Tellern, Schälchen, Schüsseln, Gläsern, Bechern, Besteck und allerhand quietschebuntem Quatschplunder wie Blumenvasen, Plastikblumen, Kerzenständern, Servietten, Serviettenringen und so weiter bestückten Esstisch in der Mitte des Raumes zu setzen und dort fröhliche Lieder singend Smörrebröter zu verputzen, nicht ohne sich vorher im Badezimmer, für das Waschbecken, Klo und Duschkabine auf engstem Raum in einer mit einer Schiebetür abriegelbaren Nische untergebracht waren, die Hände gewaschen und die Haare gekämmt und natürlich zur stilvollen Beleuchtung der Smörrebrötunterhaltung die buntbedruckte Papierballonlampe über dem Esstisch und gewiss auch die hellblau beschirmte Stehleuchte angeschaltet zu haben, die den Weg ins Elternschlafzimmer beleuchtete, dessen Schiebetür offen stand, um den Blick auf ein weißes Himmelbett mit rot-weiß kariertem Bettzeug und blauem Nachttisch freizugeben – es war fantastisch, eine Orgie in Konsum und Design, Hauptsache, es wohnte niemand darin, H.R. hatte schon einen Titel dafür: Nach der Neutronenbombe!

Gut, dass er die Polaroidkamera mitgenommen hatte. Und viele Filme. Er stand auf und begann, den ganzen Wahnsinn auf Polaroids zu dokumentieren. Die Bilder legte er der Reihe nach auf die Teller, die auf dem Esstisch standen. Er war beim vierten Teller angekommen, als hinter ihm eine Stimme losknarzte:

»Was machen Sie’n da?« Es war ein Mann in Ikea-Angestellten-Uniform mit einem Stapel Frotteehandtücher. »Wird ’n ditte?«

»Das müsste eigentlich«, sagte H.R. und fotografierte das Bild, das an der Wand hing, es hieß Lunebakken und stellte eine schwedische Landschaft dar, »zu erkennen sein: Ich fotografiere.«

»Ja, aber was wird ’n dit?«

»Fotos, guter Mann! Das werden Fotos.«

»Da weiß ich aber nicht, ob das erlaubt ist. Da müsste man erstma einen fraren!«

»Können Sie gerne machen. Aber wie soll ich das alles so schön bei mir zu Hause hinkriegen, wenn ich das hier nicht fotografieren darf? Das sollten Sie dann auch gleich fragen, guter Mann! Oder gibt’s dafür eine Anleitung, eine Aufbauanleitung oder sowas, wie bei den Möbeln?«

»Wie jetze, zu Hause? Wat soll’n dit heißen, zu Hause!«

»Wieso, das ist doch eine Musterwohnung, Leben auf fünfundzwanzig Quadratmetern, das ist doch die Idee dabei, dass man sich das zu Hause ganz genau so aufbauen kann. Sonst ergibt das doch keinen Sinn, sonst ist das doch bloß l’Art pour l’Art, guter Mann!«

»Ja wie jetze? Zu Hause? Da müsstnse dit ooch allet koofen, sa’ck ma! Da brauchense von allet die Nummern und dann müssense dit allet koofen.«

»Klar, koof ick.«

Der Ikea-Mann guckte H.R. ungläubig an und kratzte sich am Kopf. »Koofen? Mit allet?«

H.R. nickte. »Mit allet!«, bestätigte er.

*

»P. Immel wollte«, sagte Jürgen 3, »dass wir das mit dem Österreichersein verheimlichen, weil er die Paranoia gehabt hat, dass die uns ausweisen. Hat er jedenfalls gesagt. Oder weil er sich irgendwas davon versprochen hat. Keine Ahnung, ich hab das nie verstanden, ich bin ja erst so kurz dabei. Außerdem habe ich einen deutschen Pass, ich bin ja aus dem Mühlviertel und meine Eltern waren Deutsche, aus Niederbayern. Das war schon hart …!«

Frank Lehmann war damit beschäftigt auszuprobieren, ob sich mangels anderer Milch nicht auch eine Kondensmilch-Wassermischung irgendwie aufschäumen lassen würde, während sich die beiden Alpenstrategen auf der anderen Seite des Tresens an der Frage abarbeiteten, warum sie neuerdings einen auf Folklore machten. Das Schlimmste an der Kondensmilchaufschäumerei war das gurgelnde Geräusch, das dabei entstand, das war wirklich hässlich, gar nicht zu vergleichen mit dem irgendwie gemütlichen, spaßverheißenden Rauschen, das er in dem Café am Paul-Lincke-Ufer wahrgenommen hatte, in dem er mit Chrissie eine Weile auf einen Milchkaffee gesessen hatte, das war ein schönes Geräusch gewesen, auch in seiner Modulation, es hatte grell angefangen, wenn die den Dampfrüssel in ihr Gefäß getan hatten, aber dann war es rasch zu einem gedämpften, weichen Rauschen geworden, das hatte ihm gut gefallen, aber hier war alles falsch, der Sound war falsch, die Milch war falsch und ein professionelles Gefäß zum Aufschäumen hatte Frank natürlich auch nirgends gefunden, das waren so Blechbehälter, die gab es bei Erwin Kächele nicht, deshalb arbeitete Frank mit einem großen gelben Kaffeebecher, auf dem »Olympia 1972, München« stand.

»Des is scho arg!«, sagte Kacki.

»Was jetzt«, versuchte Frank Interesse zu heucheln, »das mit P. Immel oder das mit Niederbayern? Oder das mit dem Mühlviertel?«

»Alles«, sagte Jürgen 3.

»Was du da umeinanderschäumst, des ist aber net so leiwand«, sagte Kacki vorwurfsvoll. »Des spritzt ja. Und klingt so schirch.«

»Wahrscheinlich«, sagte Jürgen 3, »ist das zu heiß geworden. Du darfst das nicht zu lange aufschäumen, weil dann wird’s zu heiß und dann fällt’s wieder in sich zusammen, weil wenn die Milch kocht, dann ade du schöner Schaum!«

»Nein, das ist«, sagte Frank, »weil es mit Wasser verdünnte Kondensmilch in einem Olympia-Becher von 1972 ist.«

»Kondensmilch?!«, rief Kacki entsetzt, »Kondensmilch für a Melange?!«

»Wundert mich gar nicht«, sagte Jürgen 3. »In einem Land, wo sie Sahne für den Cappuccino benutzen, nehmen sie natürlich auch Kondensmilch für die Melange her. Und Filterkaffee. Es ist zum Weinen!«

»Ja«, sagte Frank und freute sich ein bisschen, dass die beiden so geschockt waren. »Ich habe halt nur Kondensmilch, da habe ich die verdünnt, ist ja im Grunde genommen dann doch wieder richtige Milch. Oder jedenfalls H-Milch. Müsste eigentlich schäumen. Am Ufer haben die auch H-Milch genommen, und das hat geschäumt wie die Hölle.«

»Geh bitte«, sagte Jürgen 3, »bist sicher, dass du uns jetzt nicht einfach nur verarschst?«

»Was? Ich?«

Die Tür ging auf und Erwin Kächele kam herein.

»Was macht ihr denn hier?«, sagte Erwin.

»Milchkaffee«, sagte Frank.

»An Schas! Med ana Kondensmilch!«, sagte Jürgen 3.

»Blöder geht’s net!«, sagte Kacki.

»Wieso macht ihr eigentlich bei der ArschArt neuerdings so penetrant einen auf Österreicher?«, sagte Erwin.

»Wir sind Österreicher!«, sagte Kacki.

»P. Immel will das jetzt so«, sagte Jürgen 3. »Er meint, das ist jetzt ein echtes Plus für uns. Also, seit wir verhaftet worden sind.«

»Jetzt hätt i scho gern so einen deutschen Kaffee«, sagte Kacki. Frank füllte eine Tasse und stellte sie ihm hin.

»Man muss sich anpassen«, sagte Kacki. »Auch beim Kaffee. Das ist das Schwerste. Aber das mit dem Reden, das ist dann wiederum das Allerschwerste, verstehst?«, sagte er zu Erwin, der ganz und gar nicht den Eindruck machte, irgendetwas zu verstehen. »Das ist nicht immer leicht, so in der Fremde. Da geht einem das richtige Reden nicht so leicht von der Zunge. Da macht man dann sogar manchmal Fehler!«

»Und weil wir da dann gar nicht ausgewiesen wurden«, ergänzte Jürgen 3 sinnlos. »Die haben unsere österreichischen Pässe gesehen und wollten uns gar nicht ausweisen.«

»Warum hätten die euch ausweisen sollen?«, fragte Erwin.

»Weil wir doch nicht in der EWG sind.«

»So so …«, sagte Erwin wieder. »Na ja, ich bin selbst schuld, dass ich gefragt habe. Und was macht ihr hier bei uns? Warum geht ihr nicht in eure eigene Kneipe, die doch gleich nebenan ist?«

»Ist das eine Art, seine Kunden zu behandeln? Sie zu fragen, warum sie nicht nach nebenan gehen? Macht ihr das bei allen so? Oder ist das, weil wir Österreicher sind?«

»Geh, lass, Kacki«, sagte Jürgen 3, »jetzt mal easy!« Und zu Erwin sagte er: »Wir wollten nur einen Kaffee trinken. Oder lieber eine Melange. Weil wir haben ja noch nicht offen, wir machen ja immer erst am Abend auf.«

Erwin seufzte. »Ihr habt’s gut«, sagte er. »Und was ist eine Melange?«

»Melange ist das, was man sonst auch Cappuccino nennt«, sagte Frank, »das meinen die beiden hier jedenfalls. Mir ist das egal, ich will lieber Milchkaffee machen.«

»Aber wir ham’s erfunden! Das mit der Melange!«, sagte Kacki.

»Das wird ja immer interessanter«, sagte Erwin. »Ich fall gleich ins Wachkoma!«

»Ich finde, wir sollten Milch kaufen und dann damit Milchkaffee für die Leute machen«, sagte Frank. »Das mögen die. Ich war neulich mit Chrissie in einem Café am Ufer, da hatten die …«

»Ja, ja, ja«, würgte Erwin ihn ab. »Und wieso arbeitest du hier und nicht Chrissie?«

»Die ist doch bei Ikea! Mit ihrer Mutter, also Kerstin. Also du weißt schon. Mit deiner Schwester.«

»Ja, kenne ich«, sagte Erwin.

»Und mit Wiemer. Und mit H.R.«

»Mit H.R.? Bei Ikea?«, sagte Erwin.

»Und mit Wiemer.«

*

Kerstin lief hinter Wiemer her, eigentlich Martin, aber so wollte sie ihn nicht nennen, Martin ging nicht, Martin ohne mich, dachte Kerstin, als sie hinter Wiemer hinterherlief, sie hatte mal was mit einem Martin gehabt, das war lange her, und das einzig Gute daran war Chrissie gewesen, und sie wünschte keine Martin-Neuauflage, auch sollte Chrissie nicht mitkriegen, dass Wiemer mit Vornamen wie ihr Vater hieß, es war auch so schon alles schwierig genug für das arme kleine Ding, fand sie, während sie immer weiter hinter Wiemer den Weg zurücklief bis dahin, wo die Musterwohnungen waren, und das ist ja mal wieder typisch, dachte sie, dass man dann so blöd ist und dem hinterherläuft.

»Heinz-Rüdiger?! Heinz-Rüdiger?!«, rief Wiemer in die Musterwohnungen hinein, das waren aber auch verwinkelte Dinger, irgendwie so Alles-auf-engstem-Raum-Quatsch, wer will denn sowas, fragte sich Kerstin, haben die da keinen Platz in Schweden?

»Heinz-Rüdiger?! Heinz-Rüdiger?!«

»Was willst du denn mit dem?!«, sagte Kerstin entnervt.

»Ich hab Hunger«, sagte Chrissie. »Gibt’s hier auch irgendwo was zu essen?«

»Ich will mit ihm reden«, sagte Wiemer. »Außerdem brauchen wir ihn. Du auch.«

»Ich? Den brauchen? Das will ich aber nicht hoffen, dass ich den jemals brauche!«

»Und wenn du ihr« – Wiemer zeigte wie anklagend auf Chrissie, das sollte er mal lieber lassen, dachte Kerstin – »ein Bett und ein Regal oder was gekauft hast, wie willst du das dann zu ihr nach Hause kriegen?«

»Wieso ich? Ich dachte, du machst das! Da wolltest du dich doch darum kümmern.«

»Ja, habe ich ja auch, und genau darum ist H.R. doch dabei! Der hat den LKW, wenn du dich erinnern willst! Da kann man doch wohl mal eben nach ihm suchen! Heinz-Rüdiger! Heinz-Rüdiger!«

»Wenn du zu H.R. Heinz-Rüdiger sagst, dann reagiert er nicht«, sagte Chrissie. »Außerdem will ich überhaupt kein Bett! Ich hab doch schon eine Matratze, das reicht doch!«

Kerstin seufzte. Wie konnte Chrissie einerseits so ein tolles Kind sein und andererseits so doof? »Das versiffte Ding!«, sagte sie. »Dass meine Tochter auf dem Boden schläft! Ohne Bett! Und einen Schrank brauchst du auch. Statt dem Karton da! Ich kann nicht wieder nach Hause fahren, bevor das nicht erledigt ist!«

»Das ist allerdings ein starkes Argument«, sagte Chrissie. Warum musste die nur so böse sein?! Kerstin hätte am liebsten geheult.

»Heinz-Rüdiger, Heinz-Rüdiger«, rief Wiemer.

*

»Heinz-Rüdiger, Heinz-Rüdiger«, rief es von draußen.

Der Ikea-Mann legte seine Handtücher ab. »Ick weeß nich«, sagte er und kratzte sich am Kinn. »Sie wollen wirklich alles kaufen?«

»Allet«, sagte H.R. nachsichtig. »Allet koofen, bitte! Einmal allet, immer allet. Ansonsten: Ja sicher, sonst ergibt das doch keinen Sinn.«

»Sinn? Wieso Sinn?«

»Na ja, halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld«, zitierte H.R. zum ersten Mal seit langem seinen Vater, der das immer sehr gerne und sehr oft gesagt hatte, sehr oft auch sehr undeutlich, bevor er dann relativ früh gestorben war.

»Vaschteh’ck nich!«

»Macht nüscht!«

»Wenn Sie das alles kaufen wollen, dann müssen Sie das teilweise aus der SB-Halle selber holen und teilweise aber auch aufschreiben lassen.«

H.R. schaute den Mann an. Der sprach ja wohl in Rätseln!

»Ick saret nur«, sagte der Mann und hob die Handtücher wieder auf. »Lassen Sie mich mal kurz durch, ich muss die hier ins Badezimmer bringen.« Er zwängte sich an H.R. vorbei.

»Das müssen Sie mal genauer erklären«, sagte H.R. »Ich war noch nie bei Ikea.«

»Na ja, das eine ist zum Selbermitnehmen, dit is vor der Kasse, sa’ck ma, so’n Lager, da müssen Sie das selber rausholen und durch die Kasse schieben, dit andere holen die Ihnen dann nachm Bezahlen aus dem anderen Lager, wa? Dazu muss dit aber dann hier uffjeschriem und an der Kasse erst bezahlt werden.«

H.R. schaute den Mann an und war beeindruckt. Aber auch verwirrt.

»Warum?«, sagte er.

»Is ebend so. Dit müssen Sie sich allet uffschreiben, aber das eine für die Kollejen, dass die dit ooch nochmal uffschreiben für die Kasse und das andere für sich selbst, damit Sie das finden. Dit is ne Musterwohnung, die jibtet nich pauschal oder im Jesamtpaket oder so, so ist dit nich jemeint, dit is mehr so l’Art pour l’Art, das haben Sie schon ganz gut erkannt.«

H.R. war überrascht. Der Mann war nicht, was er zu sein vorgab. Verdächtig war auch die seltsame Mischung aus Berlinern und Nichtberlinern bei ihm, die folgte keinen Gesetzmäßigkeiten.

»Okay, können Sie das dann mal eben alles aufschreiben?«

»Watt’n, icke? Jetze? Allet?«

»Vorschlag«, sagte H.R. »Sie schreiben alles auf und ich fotografiere alles. Aber Sie müssen das so aufschreiben, dass ich dann weiß, was …«

»Watt’n? Icke?«

Jetzt wurde es zäh, aber das war ja zu erwarten gewesen, man müsste das alles protokollieren, dachte H.R., das konnte man sicher noch irgendwann mal gebrauchen.

»Sie sagen doch selbst«, sagte er, »dass ein Teil der Sachen erst an der Kasse bezahlt werden muss und dazu muss ich das doch irgendwem von Ihnen alles sagen, was ich da will, damit ich von dem dafür einen Zettel bekomme, mit dem ich das dann an der Kasse bezahlen kann, richtig?« Langsam klärt sich alles auf, dachte H.R., den das aus irgendeinem Grund wirklich interessierte, er hatte auch alle Schilder und alle Hinweise und Erklärungen vom Eingang bis hier und in dem Katalog, den er eingangs mitgenommen hatte, gründlich durchgelesen, schon weil das so toll geschrieben war, so herrlich einfach und naiv wie ein Bild von Grandma Moses, und der Kunde wurde dabei gnadenlos niedergeduzt, wohl weil das irgendwie schwedisch wirkte, wie in Ferien auf Saltkrokan, wo die Kinder Sachen wie »Du, Herr Blomquist« oder was auch immer sagten, das hatte was! »Wenn das also für so ein Warenprotokoll alles aufgeschrieben werden muss, warum soll ich das dann erst alles hier aufschreiben und dann …«

»Hier sind überall so kleine Bleistifte«, unterbrach ihn der Mann, »und so kleine Zettel gibt es auch.«

»Ja, ja, aber das geht ja nun am Thema vorbei, guter Mann, ich meine, Sie müssen das doch sowieso aufschreiben, haben Sie gesagt, und wenn ich das vorher auch schon mache und dann Sie auch nochmal, dann ist das doch wie stille Post.«

»Könntick schon machen. Aber ick wollte eijntlich nur die Handtücher bringen, die fehlten noch.«

»Genau das hatte ich auch schon gedacht«, sagte H.R., um dem Mann eine Freude zu machen.

»Heinz-Rüdiger! Heinz-Rüdiger!«, rief es wieder von draußen. »Wo bist du denn?!«

*

»Heinz-Rüdiger! Heinz Rüdiger!«

Chrissie wusste nicht, was sie am meisten hassen sollte: das blöde Ikea, den noch blöderen Wiemer oder ihre allerblödeste Mutter, die sie erst zu dem einen hingeschleppt hatte, um dann dort dem anderen hinterherzulaufen, bloß um sich mit dem dann zu streiten.

»Hör mal, Wiemer«, sagte ihre Mutter, »wenn du willst, kannst du ja hier gerne weiter nach dem Trottel rufen. Aber ich gehe jetzt mit Chrissie«, und hier nahm sie Chrissie am Arm, hakte sich sogar bei ihr unter, wie um die Geschlossenheit ihrer weiblichen und familiären Reihen zu demonstrieren, »mal weiter und ein anständiges Bett für sie kaufen.«

»Ich will überhaupt kein …«, sagte Chrissie.

»Papperlapapp! Da kriegst du ja eine Staublunge, wenn du mit der Matratze auf dem Boden schläfst!«, sagte Kerstin und zog Chrissie mit sich fort in Richtung Betten und Schlafzimmer.

*

»Wieso ist die bei Ikea?«, fragte Erwin.

»Da kann man Möbel kaufen«, sagte Frank, »ich war da mal, das ist bei uns in Stuhr!« So, jetzt hatte er es gesagt, bei uns, hatte er gesagt, er hatte sich zum Bremer gemacht, in der Gegenwartsform, da war er jetzt zwar auch nicht besser als die beiden Melange-Fanatiker, aber irgendwie war es erleichternd.

»Ich habe ihr extra diesen Job hier eingerichtet«, sagte Erwin, »warum macht sie den dann nicht? Dann kann ich den Laden ja auch gleich wieder zumachen!«

»Nein, mach das nicht«, sagte Frank hastig und stellte schnell mit heißem Wasser aus dem Centre Pompidou einen Pfefferminztee her, in einem dieser Teegläser mit gläsernem Henkel, die hatte er früher immer doof gefunden, aber jetzt fand er sie toll, sie erinnerten ihn an den Vahraonenkeller in der Berliner Freiheit, da hatte er oft Tee aus solchen Gläsern getrunken, es wird immer schlimmer, dachte er, erst der Sextraum, dann auch noch Heimweh nach der Berliner Freiheit, ich muss mich zusammenreißen, dachte er. Er stellte das Teeglas auf eine Untertasse, dazu einen Löffel und ein kleines Döschen mit Kondensmilch, denn Erwin trank seinen Pfefferminztee mit Kondensmilch, die hatten sie in großen Mengen. Es wird Zeit, dass hier ein neuer Geist und eine neue Milch einkehrt, dachte Frank, sonst ist die Frühschicht bald Geschichte.

*

Da, wo Raimund saß, nämlich hinter seinem Schlagzeug, und so lange er das tat, was er tat, nämlich Schlagzeug spielen, war die Welt in Ordnung. So war es immer gewesen und so würde es immer sein. Wenn die Trommeln sprechen, schweigt der Kummer, hatte sein Schlagzeuglehrer immer gesagt, das war lange her, da war Raimund noch klein gewesen, aber es hatte damals gestimmt und es stimmte auch heute, wie schön, dass manche Dinge immer gleich bleiben, dachte Raimund, während er über die Becken hinweg Ferdi dabei zuschaute, wie der mit spitzen Fingern irgendwelche Knöpfe an seinem Synthesizer drehte. Etwas weiter rechts drückte Charlie die Hilti-Bohrmaschine, auf die er sehr stolz war und von der Raimund vermutete, dass er sie irgendwo geklaut hatte, mit voller Kraft in den Betonklotz, den er extra in diesen Übungskeller in der Forster Straße geschleppt hatte, und nun war ordentlich Lärm, das nahm Raimund jedenfalls an, denn wenn er spielte, hörte er nur sein Schlagzeug, weil er nun einmal eine Art Tunnelgehör hatte, so hatte er das schon oft irgendwelchen Mitmusikern, von denen es viele gegeben hatte, erklärt, während die das eher darauf geschoben hatten, dass er so laut spielte und sich sowieso nur für sein Schlagzeug interessierte, wobei man sich, dachte Raimund, schon fragen musste, was daran eigentlich falsch sein sollte.

Aber es war nicht nur laut, es stieg auch eine Menge Dreck auf, das war eine ziemliche Sauerei, was Charlie da veranstaltete, Raimund konnte sehen, wie kleine Betonbrocken und -körner auf den Fellen seiner Trommeln landeten und dort kleine Tänze und Sprünge vollführten. Das war nicht gut. Raimund hörte auf zu spielen.

»Was ist denn nun schon wieder, Raimund?«, sagte Ferdi.

»Irgendwie geil, das mit der Bohrmaschine«, sagte Raimund. »Irgendwie geil, Charlie. Aber auch irgendwie scheiße. Ich meine, da kommt jetzt der ganze Dreck und fliegt mir hier auf die Trommeln!«

»Sag nicht Charlie, Raimund«, sagte Charlie.

»Man kann kein Omelett machen, ohne Eier aufzuschlagen«, gab Ferdi zu bedenken. »Wir wollten eine Bohrmaschine und jetzt haben wir eine Bohrmaschine und eine Bohrmaschine macht nun einmal Dreck. Und ohne Bohrmaschine ist das alles nur halb so gut. Obwohl, eine Flex wäre noch besser. Aber dann wäre noch mehr Dreck. Und außerdem so Funken! Wobei die Funken natürlich super wären!«

»Eier wären auch eine Möglichkeit«, sagte Raimund. »Da kann man wenigstens die Richtung bestimmen, in die die Scheiße fliegt. Ich meine, wir spielen und Charlie wirft dabei Eier ins Publikum, ist doch geil!«

»Nicht Charlie, Raimund. Sag einfach Karl Schmidt!«

*

»Heinz-Rüdiger! Heinz-Rüdiger!« H.R. war natürlich klar, wer da rief. Und auch, wer gemeint war. So viele Heinz-Rüdigers gab es ja nun auch wieder nicht auf der Welt.

»Nicht verraten«, sagte er leise zu dem Ikea-Mann und verschwand in der Badezimmernische. Der Ikea-Mann folgte ihm.

»Schnell weg«, sagte H.R. leise.

»Hier, die Handtücher«, sagte der Ikea-Mann und hielt ihm die Handtücher vor die Brust. H.R. nahm sie und hörte im gleichen Moment, wie Wiemer hereinkam.

»Heinz-Rüdiger? Bist du hier?«

»Wat? Icke?«, sagte der Ikea-Mann.

»Nein, Heinz-Rüdiger!«

»Ich bin Jürgen.«

»Ja, aber ich suche Heinz-Rüdiger. Haben Sie den irgendwo gesehen?«

»Wat? Icke?«

»Ja. So ein Freak mit Polaroidkamera.«

»Wollnse denn von dem?«

»Das ist doch mal egal, haben Sie den denn jetzt gesehen?«

»Weeß ick nich. Siehtn der aus?«

»Na so mit Polaroidkamera. Laufen ja nicht so viele mit rum, oder?«

»Weeß ick denn, wie so ne Polaroidkamera aussieht? Ha ick doch keene Ahnung von.«

»Warum fragen Sie dann, was ich von dem will?«

»Hat der Ihnen wat jetan? Ist der irjndwie jefährlich?«

»Warum fragen Sie das? Sie fragen ja schon wieder, was geht Sie das an?«

»Wieso, Sie haben doch zuerst gefragt.« Die Sprache des Ikea-Verkäufers wurde immer seltsamer, beim letzten Satz sprach er überdeutliches Hochdeutsch, jedes Wort wurde einzeln ausgesprochen, die Endungen von haben und zuerst peinlichst genau ausgeführt. Gut, dass ich in diese Stadt gekommen bin, dachte H.R., sie ist voller Wunder!

»Und wieso liegen hier überall diese Polaroidfotos? Der versteckt sich doch irgendwo!«

»Ick sag jarnüscht mehr!«

Wiemer schaute in die Badezimmernische. H.R. wollte sich noch schnell in die Duschkabine zwängen, aber da war es schon zu spät.

»Heinz-Rüdiger! Ich glaub, ich spinne!«

»Wiemer!«, sagte H.R. »Sag nicht Heinz-Rüdiger! Du willst mein Manager sein? Dann sag nicht Heinz-Rüdiger!«

*

»Ich glaube, dass Chrissie«, begann Frank Lehmann und brach ab, was genau wollte er eigentlich sagen? Er wollte vermeiden, dass Erwin auf Chrissie sauer war und deshalb die Frühschicht im Café Einfall abschaffte, okay, aber er spürte, dass es um mehr ging, er wollte für Chrissie ein gutes Wort einlegen, aber nicht nur wegen der Frühschicht, es hatte etwas mit Zuneigung zu tun, war das am Ende wegen dem Traum der vergangenen Nacht, in dem es mit Chrissie sexuell so hoch hergegangen war? Man müsste mal bei Freud in der Traumdeutung nachlesen, ob das wirklich was zu bedeuten hat und wenn ja, was eigentlich?, dachte Frank, der die Traumdeutung in Bremen mal angefangen, aber nach ein paar Seiten beiseitegelegt hatte, sowas rächt sich später, dachte er, immer schön zu Ende lesen!

»Was glaubst du, dass Chrissie?«, fragte Erwin misstrauisch.

»Ich glaube, dass Chrissie nichts dafür kann, es ist nicht ihre Schuld, dass sie bei Ikea ist, das war ihre Mutter.«

»Die Susi?«

»Nein, Kerstin. Oder ist das gar nicht ihre Mutter?« Und wenn nicht, warum waren sich die beiden dann so ähnlich? Kerstin war, fiel ihm ein, auch in dem Traum vorgekommen, mal war es Chrissie, dann wieder Kerstin gewesen, schlimm, schlimm, schlimm!

»Kerstin heißt eigentlich Susi, aber den Namen mag sie nicht, der ist von ihrer Tante, die findet sie nicht gut, Kerstin hieß ihre Oma, das ist ihr zweiter Vorname.«

»Das ist aber jetzt auch wieder interessant«, sagte Jürgen 3 und roch an dem Kaffee, den Frank ihm hinstellte.

»Und wieso«, fuhr Erwin unbeirrt fort, »will die Kerstin unbedingt heute und unbedingt vormittags zu Ikea? Und seit wann hört Chrissie auf ihre Mutter?«

»Keine Ahnung. Dann hab ich jedenfalls die Schicht hier für Chrissie übernommen«, sagte Frank.

»Das kann man nicht trinken«, sagte Jürgen 3 und schob den Kaffee von sich weg.

»Trink es oder lass es«, sagte Frank.

»Die Frühschicht scheint sich aber nicht sehr zu lohnen, wenn die beiden Guschtl da deine einzigen Kunden sind«, sagte Erwin.

»Vorhin war noch ein anderer da, der ist aber schon wieder weg«, log Frank. »Die meisten Leute kommen später. Aber ich finde, wir sollten hier Milchkaffee anbieten, genau wie die Kneipen am Paul-Lincke-Ufer, da haben die in jedem Laden Milchkaffee und die sind tagsüber immer brechend voll, die Leute trinken das gern! Dafür brauchen wir aber Milch und so Schalen, wie die Franzosen sie haben, das mögen die Leute. Und irgendeinen Behälter für die Milch zum Aufschäumen. Und Croissants.«

»Nix!«, sagte Erwin. »Milchkaffee? Von wegen! Wir hatten das mal, damit fangen wir nicht wieder an! Für Milch braucht man Kühlung, die brauchen wir aber für das Bier, da ist kein Platz für Milch, und dann wird die schlecht und das Geld ist weg. Und eine Sauerei ist das! Und die Maschine muss gereinigt werden, wer macht das schon, ihr seid doch alle so schlampig. Ich habe nicht umsonst nur Flaschenbier hier. Wenn erstmal irgendwas irgendwo rumkeimt, ist gleich das Gesundheitsamt da. Mit sowas kann ich nichts anfangen, davon kommt nur Ärger!«

»Aber wenn schon, denn schon«, sagte Frank, »also wenn wir hier schon Kuchen anbieten, dann brauchen wir auch Milchkaffee, sonst kriegt den doch keiner runter, den kann man doch nicht mit Bier runterspülen!«

»Man kann ja H-Milch nehmen«, mischte sich Jürgen 3 ein. »Das wäre dann ein Kompromiss zwischen richtiger Milch und verdünnter Kondensmilch. Wer Filterkaffee für die Melange nimmt, der kann auch gleich H-Milch aufschäumen, das ist dann eh wurscht!« Er stand auf. »Wir müssen los, Kacki! Gleich ist Plenum!«

»Das wird was!«, sagte Kacki.

Erwin wartete, bis sie draußen waren, dann sagte er: »Denen kann man nicht trauen! Wie heißt der eine nochmal? Nicht Kacki, das ist ja wohl ein Name, den keiner vergisst, ich meine den anderen, den sie da als Strohmann eingetragen haben für das Intimfrisur … – oder muss man die Intimfrisur sagen?«

»Jürgen heißt der. Bei uns heißt er ArschArt-Jürgen, aber die bei der ArschArt nennen ihn Jürgen 3. Weil die noch zwei andere Jürgens haben.«

»Woher weißt du denn sowas? Wie kannst du dir sowas bloß merken?!«

»Keine Ahnung«, sagte Frank. »Sowas weiß man eben!«

*

»Geh mir weg, Raimund!«, sagte Ferdi. »Eier – das ist zu riskant. Könnte sein, dass die Leute die dann wieder zurückwerfen. Und der Synthie hier gehört mir nicht. Ich weiß auch, ehrlich gesagt, gar nicht, wie der eigentlich funktioniert.«

»Das weiß bei den Synthesizern doch niemand«, sagte Raimund nachsichtig. »Das ist doch alles Versuch und Irrtum. Außerdem können die Leute die Eier nur zurückwerfen, wenn sie die fangen und die Eier dabei auch noch heil bleiben, unwahrscheinlich, denke ich mal, das ist der Vorteil dabei!«

»Ich finde die Eier-Idee gar nicht so schlecht«, sagte Charlie. »Aber die Bohrmaschine ist besser!«

Ferdi war nicht bei der Sache. Er drehte nachdenklich an den Knöpfen seines Synthesizers herum. »Versuch und Irrtum«, sagte er träumerisch, »ja, so klingt’s dann auch. Irgendwie gut.«

»Natürlich ist das gut«, sagte Raimund.

»Die Bohrmaschine ist unabdingbar, wenn wir auf die Wall City Noise wollen«, sagte Charlie. »Ich meine, das Ding heißt ja nicht umsonst was mit Noise!«

*

»Mein Gott, H.R.«, rief Wiemer empört, »was drückst du dich denn hier in den Ecken rum? Und was willst du mit den Handtüchern?«

»Ecke? Das ist das Badezimmer. Diese Musterwohnungen sind der Hammer! Könnte ich den ganzen Tag drin abhängen.«

»Wieso Hammer? Das ist Ikea! Wo soll denn da der Hammer sein?«

»Musterwohnung auf fünfundzwanzig Quadratmetern! Mit Kinderzimmer, Arbeitszimmer, Badezimmer, Küche, Wohnzimmer, Esszimmer! Guck dir das doch mal an!« H.R. hatte nichts gegen Wiemer, es war keine schlechte Idee, wenn Wiemer meinte, er könne sich um seine, H.R.s, Geschäfte kümmern, aber, dachte H.R., es wäre auch nicht schlecht, wenn er mal irgendwas kapieren würde! »Guck dir das doch mal an!«, wiederholte er beschwörend.

Wiemer war seltsam unbeeindruckt. »Kann ich kaum vermeiden, das anzugucken«, sagte er, »ich stehe ja mittendrin. Kann mich kaum bewegen, so vollgemüllt ist das.«

»Vollgemüllt? Natürlich, aber womit denn? Mit heiler Welt, Wiemer. Guck mal, die Servietten hier, das ist alles von denen, die Tischdecke, alles. Der ganze Kram. Und alles sagt: Dein Leben wird gelingen, du darfst bloß nicht darin stören. Ich nenne das: Nach der Neutronenbombe! Spitzentitel!«

»H.R.«, sagte Wiemer mahnend. »Du hast jetzt keine Zeit für so einen Scheiß! Du musst was für die Wall City vorbereiten! Die wollen eine Arbeit von dir sehen!«

»Wie jetzt, als Demo, oder was?«

»Ja klar. Meinst du, die nominieren dich einfach nur wegen der Krawalle nach?«

»Aber klar. Weswegen wohl sonst? Ich bin doch nicht blöd, das ist nur, weil ich im Fernsehen war, Fernsehen, Kunst-Riots, Kreuzberg, da stehen die doch drauf.«

»Ja. Und weil ich mich drum gekümmert habe, H.R.! Weil ich extra zu Sigi gegangen bin damit. Und Sigi sagt, er muss jetzt mal irgendwas von dir Gemaltes sehen. Sigi sagt, er braucht was, damit er sich absichern kann.«

»Was jetzt? Avantgarde und Riots oder absichern?«

»Beides. Ist doch klar!«

Das gefiel H.R., weil es so doof war. »Okay«, sagte er. »Aber du musst mir helfen. Du musst die Sachen aufschreiben, die man hier aus dem Abholdings …« – er wendete sich dem Ikea-Mann zu: »… wie heißt das nochmal, wo man das rausholt? Also selber rausholt, nicht das, was Sie da aufschreiben?«

»Das wäre dann«, sagte der Ikea-Mann und sah dabei kurz von der Schreibarbeit auf, die er gerade mit der Zunge im Mundwinkel angefangen hatte, »die SB-Halle. Aber auch die Markthalle. Im Prinzip ist die SB-Halle an die Markthalle angeschlossen, sa’ck ma.«

»Also, Wiemer: Du musst die Nummern von den Sachen aufschreiben, die aus der SB-Halle abgeholt werden müssen. Und das andere, das muss der Kollege da erfassen und aufschreiben und das muss dann erst bezahlt werden.«

»Das ist doch Quatsch, H.R.«, sagte Wiemer. »Wo willst du denn hin mit dem ganzen Scheiß?«

»Also bitte mal!«, sagte der Ikea-Mann.

»In mein Zimmer. Das hat ziemlich genau fünfundzwanzig Quadratmeter.«

»H.R., es ist ja schön, dass du so ein Traumtänzer bist«, sagte Wiemer, »aber jetzt ist keine Zeit für sowas, jetzt musst du erstmal ein Ölbild malen.«

H.R. hatte keine Lust mehr auf diese Unterhaltung. »Haben Sie diese Wohnung eingerichtet?«, fragte er den Ikea-Angestellten.

»Nee.« Es entstand eine kurze Pause, in der der Ikea-Mann zu Ende schrieb. Dann schaute er auf und sagte: »Aba wär’ick jerne jewesen. Heile Welt, dit stimmt! Findick jut. Ick helfe Ihnen!«

*

Warum nur ist es Anfang Dezember schon so kalt, so bitter-, bitterkalt, dachte Kacki, als er mit Jürgen 3 die Skalitzer Straße überquerte. Es war so kalt, dass sie die ArschArt-Galerie nicht mehr warm kriegten, da freute man sich nicht mehr groß darauf, dahin zu laufen, das Haus war ja total heruntergekommen, wenigstens hatten sie die Kachelöfen noch nicht rausgerissen bei dem ganzen Sanierungs- und Instandsetzungswahnsinn, den P. Immel, da war Kacki sich ziemlich sicher, nur inszeniert hatte, um den Journalisten und sonst wem vorzugaukeln, sie seien Instandbesetzer und nicht in Wirklichkeit Hausbesitzer, obwohl, Hausbesitzer war nur P. Immel, die anderen nannte er seine Bagage, manchmal auch seine Entourage, bloß nach außen hin waren sie als ArschArt-Galerie angeblich alle gleich oder P. Immel höchstens Primus inter Pares, nun ja, was man so daherratscht, dachte Kacki, während er die Oranienstraße hinuntereilte, neben sich Jürgen 3, mit dem er sich ein bisschen angefreundet hatte in letzter Zeit, obwohl er das eigentlich gar nicht gewollt hatte, weil sein einzig richtiger Freund immer nur P. Immel sein sollte, der aber neuerdings immer schlimmer wurde mit seinem Wahn, alles zu bestimmen, der ihn, Kacki, seinen ältesten Freund, hintergangen hatte, hinter Kackis Rücken von H.R. Ledigt, der irgendwie reich sein musste, das Geld für den Kauf der Intimfrisur besorgt und dafür ein schmutziges, geheimes Gegengeschäft vereinbart hatte, nämlich dass sie bei der blöden Haut-der-Stadt-Ausstellung im blöden Kunsthaus Artschlag von dem blöden Wiemer in der blöden Ratiborstraße ihre schöne Dr.-Votz-Performance eben nicht im eigenen Recht, sondern nur als Untermalung für einen Kettensägenkrawall aufgeführt hatten, den H.R. mit einem am Bethaniendamm gestohlenen Baum veranstaltet hatte, und das wäre ja noch alles nicht so schlimm gewesen, wenn P. Immel doch wenigstens ihn, Kacki, seinen ältesten und besten Freund, vorher informiert und vorgewarnt hätte, aber nein, P. Immel hatte Kacki, der ihm immer vertraut und alles mitgemacht hatte, stattdessen als Kaiser Maximilian in dem lebenden Bild »Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko« verheizt, Kacki hatte alles gegeben, aber umsonst, H.R. hatte mit seiner Kettensäge die ganze Aufmerksamkeit an sich gerissen, Kacki war sinnlos im imaginären Kugelhagel gestorben, und bei aller Liebe – und die Liebe Kackis für P. Immel war unendlich, wie jede anständige Liebe – war es dann wohl kein Wunder, dass Kacki sich auch mal ein bisschen nach anderen Freunden umgeschaut hatte, denn wie schon der große Wiener Schriftsteller Johannes Mario Simmel getitelt hatte: Niemand ist eine Insel!

Und so lief er nun neben Jürgen 3 einher, mit dem er sich verabredet hatte, für die Intimfrisur, den ehemaligen Friseursalon, der neben dem Café Einfall darauf wartete, aus seinem gastronomischen Dornröschenschlaf geweckt zu werden, ein neues Konzept zu entwickeln, nur deshalb waren sie im Café Einfall gewesen, sie wollten die Lage sondieren, die nähere Umgebung der Intimfrisur erkunden, schauen, wie es die anderen machten, bei der Intimfrisur ging es im Moment nicht weiter, da ist im Augenblick so wenig Liebe drin, dachte Kacki, nicht einmal die Heizung war an gewesen, als sie vorhin da hineingeschaut hatten, so wenig Liebe steckt in der Intimfrisur, aber so viel Kälte, dachte Kacki, und er musste zugeben, er war auf das Café Einfall ein wenig neidisch gewesen, so stark, wie dort geheizt gewesen war, und die schöne Kaffeemaschine, auch wenn sie deutsch war, und so hatte er sich hinreißen lassen, den Piefke dort in Sachen Kaffee weiterzubilden, das hätte ich mal lieber lassen sollen, dachte Kacki, man darf der Konkurrenz nicht helfen, auch wenn’s grausam ist!

Und solcherart in Gedanken verfangen stapfte Kacki mit Jürgen 3 auf die Naunynstraße zu, der ArschArt-Galerie und dem Plenum entgegen, wenn schon nicht als Freunde, so doch wenigstens als Verbündete, »sieh es als Aktionseinheit«, hatte Jürgen 3 gesagt, der hatte manchmal so komische Politwörter drauf, das lag wohl daran, dass er mal im Kommunistischen Bund Österreich gewesen war, und was immer Aktionseinheit bedeutete, Kacki war sich sicher, Freundschaft war es nicht!

»Aber nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, verstehst?«, sagte Jürgen 3. Sie waren schon an der Zone vorbei und bogen auf dem Heinrichplatz rechts ein, um von dort in die Naunynstraße zu kommen.

»Du hast gut reden«, sagte Kacki. »Mich schickst du vor und dann noch Anweisungen geben. Und was soll das heißen, mit der Tür ins Haus? Was soll ich denn sagen, wenn ich nicht mit der Tür ins Haus …«

»Du bist P. Immels Liebling«, unterbrach ihn Jürgen 3, »wenn du es nicht durchkriegst, kriegt es niemand durch.«

»Von wegen Liebling!«, sagte Kacki bitterer, als er wollte, man muss seine Gefühle verbergen, dachte er, das ist eine der schlimmen Sachen in diesem Land, dass man seine Gefühle verbergen muss, sogar vor den eigenen Leuten! »Hast du eine Ahnung!«

»Egal, wie du es nennst, Kacki, du musst anfangen! Nur du kannst bei ihm etwas erreichen, wenn ein anderer das vorbringt, schmettert er das gleich ab.«

»Geh, bitte …«, sagte Kacki verlegen und wider Willen etwas geschmeichelt, »es ist genau andersherum. Du musst es sagen und ich unterstütze dich dann. Dann ist P. Immel verwirrt. Und dann geht’s durch.«

»Komm schon, Kacki! Du bist doch sein Liebling!«

»Ah geh …«, sagte Kacki und spürte, wie er rot wurde.

*

»Also diese Sachen mit den gelben Etiketten sind dann alle in der Markthalle?«, sagte Wiemer, um auch mal ein bisschen Interesse zu heucheln.

»In der Markthalle!«, bestätigte der Ikea-Fachmann. »Da gibt es die kleineren Sachen, die man in einen Einkaufswagen tun kann. Die Markthalle kommt noch vor der SB-Halle. Manche Kollegen sagen, die SB-Halle gehört zur Markthalle, und ich sehe das auch so, weil bei beidem Selbstbedienung ist, wobei andere Kollegen das anders sehen, weil …«

Der Mann redete weiter und Wiemer nickte alles ab, er saß am Esstisch und schrieb die Namen und Nummern der kleinen Sachen von einem laminierten Zettel ab, den der Ikea-Fachmann ihm gegeben hatte, Servietten, Kerzenständer, Kerzen, Bestecke, Gläser, Untersetzer, Kochtöpfe, Klopapier, Topflappen und so weiter und so fort, der ganze bunte Plunder, der überall herumlag, und alles mit schwedischen Namen, aber von dem Zettel abzuschreiben war immer noch besser, als die Infozettel abzulesen, die an Lampen und Lämpchen, Tischen und Tischchen, Betten und Bettchen und was auch immer angebracht waren, und Wiemer hoffte nur, dass, je länger er seine jetzige Aufgabe hinauszögerte, desto größer am Ende die Chance war, dass der Ikea-Mann das auch noch übernehmen würde. Der protokollierte gerade die ganz großen Sachen, Tische, Schränke, Herd, also Dinge, die irgendwie mit dieser SB-Halle zu tun hatten oder eben auch nicht, Wiemer hatte es immer noch nicht ganz begriffen und wollte es auch nicht begreifen. H.R. war derweil damit beschäftigt, alles zu fotografieren. Wieso hatte der die Polaroid dabei? Er konnte das doch nicht geplant haben, er hatte doch mehrmals erwähnt, noch nie bei Ikea gewesen zu sein, und so reich, wie H.R.s Familie allem Anschein nach war, glaubte Wiemer ihm das auch. Und dann die vielen Filme! Wer hatte auf gut Glück so viele Polaroidfilme dabei, wenn er in ein Möbelhaus ging? Entweder ein Genie oder ein Wahnsinniger, dachte Wiemer. H.R. war gewiss beides.

»Tut mir ja auch leid, H.R.«, sagte Wiemer, als der Ikea-Mann mal kurz Luft holte. »Aber es geht nicht anders. Ölbild oder gar nicht.«

»Ich mache keine Ölbilder!«, sagte H.R.

»Muss ja nicht Öl sein. Meinetwegen nimm den Schultuschkasten. Aber Sigi will, dass du mit einem Bild kommst. Irgendwas, das man an die Wand hängen kann.«

»Ich mach keine Ölbilder!«

»Red nicht, H.R.! Die wollen Bilder. Das ist eine Bilderausstellung. Jedenfalls überwiegend.«

»Wiemer! Du weißt doch ganz genau, dass ich kein Ölbildschmierant bin, wieso machst du dann mit denen solche Dinger aus? Ich denke, du bist mein Manager, was ist das denn für ein Manager, der einem sowas einfach ins Gesicht sagt, ich meine, Ölbild?!«

»Damit wir mal ein bisschen weiterkommen. Du hast es bis jetzt nur geschafft, zweimal im selben Leben Klaus vom Einfall etwas an den Kopf geworfen zu haben, ansonsten balancierst du immer haarscharf am Abgrund der Bedeutungslosigkeit entlang, H.R.! Immer noch! Nach all den Jahren!« Ruhig auch mal an die Ruhmsucht appellieren, dachte Wiemer, mit Geld zu winken brachte bei einem wie H.R. ja leider nichts! »Aber jetzt ist mal Schluss damit, H.R., da hat sich jetzt eine Möglichkeit ergeben, dass du mal weiterkommst als immer nur bis zur nächsten Klowand! Und jetzt mal einfach mal was!«

»Aber was?«, sagte H.R.

»Ist mir doch wurscht!«

»Jetzt hör aber mal auf, Wiemer! Wurscht ist gar nichts! So kannst du nicht mein Manager sein. Ich meine, du weißt, was für Kunst ich mache, ich meine, Konzeptkunst, Wiemer, mal ehrlich, da ist überhaupt nichts wurscht, wenn da alles wurscht wäre, dann …«

»Ick will mich nicht einmischen, ick vaschteh sowieso imma nur Bahnhof«, sagte der Ikea-Fachmann, »aber hier sind noch Servietten. Die sind in der Markthalle. Die sind nicht auf dem Zettel da! Schreim Sie die uff?« Er hielt Wiemer eine Packung Servietten hin.

»Markthalle?«, sagte Wiemer. »Welche Markthalle jetzt? Das SB-Lager? Ich verstehe nämlich auch immer nur Bahnhof.«

»Dit is ja beides Selbstbedienung, sa’ck ma! Und die Servietten sind natürlich in der Markthalle, sowat tut man doch nicht ins SB-Laber, dit is ja viel zu … – ha’ck Laber jesagt? Kommt’n ditte?!«

*

»Okay«, sagte Ferdi und drückte die Stopptaste.

»Das Okay ist jetzt aber mit drauf«, sagte Charlie. »Wäre besser gewesen, du hättest erst draufgedrückt und dann okay gesagt.«

»Klugscheißerei. Ist doch egal. Wie viele Stücke haben wir jetzt?«

»Drei«, sagte Charlie.

Raimund war genervt. Das Aufnehmen von diesem Demotape war ein ziemliches Gewürge, weil Ferdi und Charlie so ein Geschiss darum machten, bei denen musste alles abgesprochen sein, wann man anfing, wann man aufhörte, das war langweilig, schnarch, aufhören!

»Und drei reichen?«, sagte Ferdi.

»Ja sicher«, sagte Charlie. »Höchstens drei, hat Wiemer gesagt. Wahrscheinlich wären auch zwei okay gewesen.«

»Lass mal anhören«, sagte Ferdi.

Raimund legte die Trommelstöcke beiseite. Jetzt auch noch anhören, dachte er, was kommt als Nächstes? Notenlesen?

*

»Ich trinke keinen Kaffee. Kriege ich Pickel von. Drehe ich voll durch. Vertrage ich nicht«, sagte Erwin. »Und Milchkaffee auch nicht! Was soll ich mit Milchkaffee?«

»Du ja nicht, die Kunden«, sagte Frank. »Da nehmen die am Ufer drei Mark für einen, das ist doch gut.«

»Warum sollten die Leute hierher gehen, wenn sie das auch am Ufer kriegen können?«, sagte Erwin, aber sein Widerstand, das wusste Frank, war gebrochen, das Zauberwort war »drei Mark« gewesen, Geld ist sein Kryptonit, dachte Frank im Gedenken an die vielen Superman-Hefte, die er als Kind immer bei Roman Heinze gelesen hatte, der hatte jede Woche das neue Superman-Heft von seinen Eltern bekommen, das war ein guter Freund gewesen, was jetzt, in seinen Gedanken, Frank irgendwie unangenehm berechnend vorkam, dass er da einen Zusammenhang herstellte, warum und ab wann hatte er eigentlich Roman Heinze aus den Augen verloren? War der noch in Bremen? Er wusste es nicht. Er wusste nicht einmal mehr, welche Farbe die Häuser auf der anderen Seite der Adam-Stegerwald-Straße hatten, so schnell geht das, dachte er.

»Dann nimm halt H-Milch, in Gottes Namen. Und wenn die Frühschicht vorbei ist, kippt ihr den Rest Milch aus der Packung weg, damit das hier nicht rumsteht oder in der Kühlung vergammelt. Und die Maschine muss saubergemacht werden. Ab 18 Uhr gibt es dann keinen Milchkaffee mehr. Einfach wegschmeißen die H-Milch, ist jetzt auch schon egal, schlimmer kann’s ja schon gar nicht mehr kommen, manchmal denke ich, ich sollte Chrissie einfach Geld schenken, damit der Laden tagsüber zubleibt, da würde ich billiger wegkommen, wenn …«

Erwin hielt in seiner Rede inne, weil die Tür aufging und ein Polizist hereinkam, den Frank Lehmann nicht kannte, wahrscheinlich der neue Kontaktbereichsbeamte, dachte er, der alte KOB war einer der Hauptakteure der Krawalle im Kunsthaus Artschlag gewesen, seitdem hatte Frank ihn nicht mehr gesehen, ein gemütlicher, älterer Herr war das gewesen, dick, langsam und berlinernd, und niemals hätte Frank gedacht, dass einer wie der so viel Staub aufwirbeln konnte, aber der Mann war unbeirrt seiner Arbeit nachgegangen und hatte den Baum, den H.R. für seine Installation »Mein Freund der Baum« am Bethaniendamm gefällt hatte, ausgerechnet auf der Ausstellungseröffnung von »Haut der Stadt« beschlagnahmen wollen.

Dieser Polizist war älter, aber dünn und drahtig, er wirkte nervös und müde zugleich und im Gesicht trug er einen großen, melancholisch herabhängenden Schnurrbart. Er kam herein, schloss hinter sich die Tür und sagte: »Na, schönen guten Tag auch. Ich wollte mich mal vorstellen. Ich bin der KOB hier.«

»Allet klärchen«, sagte Frank.

Erwin seufzte und schwieg. Der Polizist zeigte mit dem Finger auf ihn. »Und Sie sind der Herr Kächele, ja?«

»Uff jeden«, sagte Frank.

Erwin drehte sich zu ihm um. »Lehmann«, sagte er, »noch ein uff jeden oder allet klärchen oder irgendeine andere folkloristische Schleimscheißerei und ich entlasse dich!« Dann wandte er sich wieder dem KOB zu. »Ich habe gerade das Gefühl, dass sich alles immer und immer wieder wiederholt.«

»Das habe ich auch oft«, sagte der KOB. »Aber das liegt wahrscheinlich daran, dass es das Wesen von Wiederholungen ist, dass sie sich immer und immer wieder wiederholen.«

»Was ist das denn für ein Quatsch?«

»Wiederholen und immer und immer wieder, das ist doch ein Oxymoron!«

»Sie meinen Tautologie«, sagte Erwin. »Aber ich meine, es ist eher ein Pleonasmus und rhetorisch gerechtfertigt.«

»Sehen Sie, schon habe ich die Situation mit einem kleinen Rhetorikdiskurs etwas aufgelockert«, sagte der KOB.

»Die Situation«, sagte Erwin, »könnte unlockerer nicht sein!«

»Das sehe ich anders. Es geht immer noch unlockerer, Herr Kächele. Und was ich Ihnen sagen will, ist …«

»Wollen Sie einen Kaffee«, unterbrach ihn Frank.

»Nein, danke«, sagte der KOB, ohne den Blick von Erwin zu lassen. »Ich will gar nichts. Deshalb bin ich hier. Das wollte ich sagen: Ich will gar nichts.«

»Okay«, sagte Erwin, »aber für gar nichts brauchen Sie nicht hereinzukommen.«

»Ich habe nicht mehr lang bis zu meiner Pensionierung«, sagte der KOB unbeirrt. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich drücke keine Augen zu. Ich mache sie gar nicht erst auf. Das soll aber kein Freibrief sein.«

»Was denn sonst?«

»Ein Angebot! Nehmen Sie es als Angebot. Machen Sie mir keinen Ärger, dann mache ich Ihnen keinen Ärger. Aber wenn Sie mich mal brauchen sollten, bin ich da!«

Erwin richtete sich auf seinem Barhocker auf. »Hören Sie«, sagte er, »ich weiß nicht, was man Ihnen über mich erzählt hat, aber Sie machen sich da, glaube ich, falsche Vorstellungen. Ihr Kollege«, fügte er nach einer kurzen Denkpause hinzu, »hat immer berlinert, gehört das bei euch KOBs nicht dazu?«

»Könnse haben«, sagte der KOB. »Und ick sare ooch nur: Allet oké!«

Dann ging er wieder.

»Die werden immer irrer, die Typen«, sagte Erwin.

»Vielleicht war’s ja nett gemeint«, sagte Frank. »Weshalb bist du überhaupt hier, Erwin?«

»Was ist das denn für eine Frage? Das ist meine Kneipe!«

»Ja, schon klar, aber dafür musst du ja nicht herkommen.«

»Ach so, ja …«, sagte Erwin und kratzte sich am Kopf. »Was war das nochmal?«

*

Raimund hörte nicht hin, die anderen beiden dafür umso genauer. Sie standen vor dem kleinen Kassettenrecorder, den Ferdi auf den Synthie gestellt hatte, und lauschten mit geneigten Köpfen auf das, was aus dem Lautsprecher kam. Raimund interessierte sich nicht für Aufnahmen. Wenn es erstmal aufgenommen war, dann war es ja Vergangenheit, was sollte das dann noch? Raimund hätte lieber weitergespielt.

»Also ich find’s gut«, sagte Ferdi und drückte die Stopptaste. »Das Problem ist höchstens, dass die Bohrmaschine zu laut ist. Immer wenn die Bohrmaschine angeht, ist alles andere weg!«

»Weiter weg als dahinten kann ich aber nicht sein, Ferdi«, sagte Charlie. »Dazu bräuchten wir einen größeren Übungsraum. Oder ein Mehrspurgerät. Einen Vierspurkassettenrecorder oder sowas. Oder ihr müsst lauter spielen.«

»Noch lauter kann ich nicht«, sagte Raimund. »Ich prügel schon die Scheiße aus den Trommeln, ehrlich mal. Ich hab schon Angst, dass mir die Felle reißen.«

»Du hattest noch nie Angst, dass dir die Felle reißen, Raimund«, sagte Ferdi sanft. »Nur ich hab immer Angst, dass mir die Trommelfelle reißen, wenn du spielst … – Vierspurkassettenrecorder«, wandte er sich an Charlie, »wo kriegt man sowas her?«

»Ich kenne einen, der hat einen, vielleicht leiht er uns den, aber der wohnt in Schöneberg.«

»Ja geil«, sagte Ferdi, »aber auch zu weit. Und morgen ist Abgabeschluss.«

»Übermorgen«, sagte Charlie.

»Die Bohrmaschine ist zu laut«, sagte Ferdi.

»Finde ich nicht«, sagte Charlie.

»Ich weiß nicht«, sagte Raimund, »ist doch egal, oder?«

»Ich habe eine Idee«, sagte Ferdi. »Lasst uns noch eine Kassette aufnehmen, aber ohne Bohrmaschine, und dann gehen wir damit ins Café Einfall!«

»Verstehe ich nicht«, sagte Raimund.

»Macht nichts, Raimund, ich erklär’s dir später.«

»Okay!«

*

»Guck dir die beiden an«, sagte ihre Mutter. »Mein Gott, die teilen sich wirklich ein Gehirn.«

»Ich wollte hier überhaupt nicht her«, sagte Chrissie. »Ich könnte jetzt schön im Einfall arbeiten und Geld verdienen.«

H.R. saß am Steuer von dem LKW, der hinten nur so Planen hatte, keinen richtigen Koffer, ein ziemlich blödes Teil war das, in das sie zu viert gar nicht reinpassten, Chrissie hatte bei Kerstin auf dem Schoß sitzen müssen bei der Herfahrt und dann immer das Geschiss mit »Hoffentlich sieht das die Polizei nicht«, mit dem Wiemer nicht hatte aufhören können, den ganzen Weg nach Spandau nicht, wo immer das überhaupt lag, das hatte ewig gedauert, und gleich würden sie genauso blöd wieder zurückfahren müssen, H.R. jedenfalls saß am Steuer und Wiemer winkte ihn rückwärts an den großen Haufen Möbelkram heran, den sie auf dem Gehweg aufgehäuft hatten.

»Du solltest mal lieber wieder ein paar Kuchen backen«, sagte Kerstin.

»Die bringen irgendwie nicht so viel ein, die werden ja kaum gegessen!«

»Schau dir die bloß mal an!«

Wiemer und H.R. mühten sich gerade damit ab, die rückwärtige Plane des LKWs irgendwie so nach oben zu werfen, dass sie da liegen blieb, aber das tat sie nicht, die beiden schleuderten die Plane hoch und sie rutschte wieder herunter, mehrmals hintereinander, das sah schon ziemlich komisch aus. Chrissie musste lachen.

»Nicht lachen«, sagte Kerstin. »Das kriegen die mit!«

»Wenn ich jetzt die Matratze und das Bett und so weiter habe, wie lange bleibst du denn dann noch?«, fragte Chrissie.

»Wieso? Willst du mich loswerden?«

»Nein, aber Erwin und Helga«, log Chrissie. »Die haben mich gefragt, wie lange du noch bleiben willst.«

»Wieso fragen die mich nicht selber?«

»Keine Ahnung, vielleicht haben die Angst vor dir.«

»Die spinnen doch!«

H.R. und Wiemer standen auf der Ladefläche und zählten beide zusammen bis drei, dann warfen sie die Plane noch einmal nach oben. Diesmal blieb sie liegen.

»Sag ich ja«, sagte Kerstin. »Ein Gehirn!«

»Wir können jetzt einladen«, rief Wiemer.

»Ja super!«, rief Kerstin. »Dann fangt mal an, ihr beiden! Ich rauch noch eben zu Ende.« Sie kramte in ihrer Jacke und zog ein Päckchen Zigaretten heraus.

Sie nahm sich eine Zigarette und hielt die Schachtel Chrissie hin.

»Hier«, sagte sie. »Und langsam rauchen!«

*