9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Ein großer Roman voll schräger Vögel in einer schrägen Welt. Derbe, lustig und bizarr wie seine Protagonisten. Wiener Straße beginnt im November 1980 an dem Tag, an dem Frank Lehmann mit der rebellischen Berufsnichte Chrissie sowie den beiden Extremkünstlern Karl Schmidt und H. R. Ledigt in eine Wohnung über dem Café Einfall verpflanzt wird, um Erwin Kächeles Familienplanung nicht länger im Weg zu stehen. Österreichische Aktionskünstler, ein Fernsehteam, ein ehemaliger Intimfriseurladen, eine Kettensäge, ein Kontaktbereichsbeamter, eine Kreuzberger Kunstausstellung, der Kampf um die Einkommensoptionen Putzjob und Kuchenverkauf, der Besuch einer Mutter und ein Schwangerschaftssimulator setzen eine Kette von Ereignissen in Gang, die alle ins Verderben reißen. Außer einen! Kreuzberg, Anfang der 80er Jahre – das war ein kreativer Urknall, eine surreale Welt aus Künstlern, Hausbesetzern, Freaks, Punks und Alles-frisch-Berlinern. Jeder reibt sich an jedem. Jeder kann ein Held sein. Alles kann das nächste große Ding werden. Kunst ist das Gebot der Stunde und Kunst kann alles sein. Ein Schmelztiegel der selbsterklärten Widerspenstigen, die es auch gerne mal gemütlich haben, ein deutsches Kakanien in Feindesland. Wer könnte böser und zugleich lustiger und liebevoller darüber schreiben als Herr-Lehmann-Erfinder Sven Regener?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 332
Sven Regener
Roman
Buch lesen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Sven Regener
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
I STINGL
II DAS WIRD SUPER
III DIE NEUE NEUE NATIONALGALERIE
IV CHATEAU STRUNZINGER
V HAUT DER STADT
Inhaltsverzeichnis
Die Tür fiel zu und es war zappenduster. Erwin stellte den Werkzeugkasten ab, den er für die Pfeifen mitgebracht hatte, denn das waren sie, Pfeifen, wie bin ich hier nur reingeraten, fragte er sich schon den ganzen Tag immer wieder rhetorisch, meist in Gedanken, manchmal auch laut, aber weder Karl Schmidt noch Frank Lehmann, der offensichtlich Karl Schmidts neuer Lieblingskumpel war, noch H.R. und schon gar nicht Chrissie, seine beknackte Nichte, hatten sich auch nur angesprochen oder sonstwie kompetent gefühlt, mal irgendwas darauf zu antworten; er wollte ja hoffen, dass sie sich nur wegen eines schlechten Gewissens zurückhielten, aber er machte sich keine Illusionen, sie waren einfach zu stumpf, waren wahrscheinlich davon ausgegangen, dass er irgendwas ganz anderes meinte, Westberlin als solches oder Kreuzberg oder das Gastrogeschäft oder die gerade begonnenen achtziger Jahre, den scheiß Baumarkt, vielleicht auch das ganze scheiß Neukölln, weil der Baumarkt ja auf der Neuköllner Seite der Hasenheidenstraße lag, dabei war es natürlich die Gesellschaft mit ihnen, den Pfeifen, die sie nun mal waren und immer sein würden, gewesen, die er gemeint hatte, als er wieder und wieder »Wie bin ich hier nur reingeraten?!!« ausgerufen hatte, zuletzt im Baumarkt, als sie mit zwei Einkaufswagen voller Renovierungsscheiß an der Kasse gestanden und sich herausgestellt hatte, dass er der Einzige war, der überhaupt Geld oder jedenfalls Euroschecks dabeihatte, »Wie bin ich hier nur reingeraten?!« hatte er auch da noch einmal gesagt und nicht einmal da und dort hatten sie verstanden, dass sie und ihre ganze punkfreakverblödete Dusseligkeit damit gemeint gewesen waren, aber wie sollten sie so etwas auch verstehen, die ganze Frage war ja eigentlich sinnlos, dass er da reingeraten war, das war nicht mehr zu ändern und sowieso nichts Neues, sein ganzes Leben war so verlaufen, dass er immer irgendwo reingeraten war und immer war es, wenn er dann irgendwann verwundert sich selbst rhetorisch diese Frage stellte, schon lange zu spät, so auch hier, Erwin hatte den Mietvertrag für die Pfeifen besorgt, der Mietvertrag lief auf seinen Namen, den Pfeifen hätte ja niemals einer einen Mietvertrag für eine Wohnung gegeben, also hing er mit drin, so kam eins zum anderen, er wollte ja bloß mit Helga, die schwanger war, etwas, von dem er sich auch manchmal fragte, wie es hatte passieren können, in der Fabriketage zu zweit und friedlich und in Ruhe beziehungsweise dann ja zu dritt, da kam ja dann wohl das Kind, das ließ sich ja wohl nicht mehr verhindern, jedenfalls zusammenwohnen, und ob das dann noch was mit Ruhe zu tun hatte, war natürlich auch nicht sicher, jedenfalls hatte er ja bloß gewollt, dass der Knallkopf, der hier vorher gewohnt und alle Wände und auch die Lichtschalter und Rohre und Fußleisten und was wusste er nicht noch alles schwarz gestrichen hatte und zwar mattschwarz, damit auch garantiert kein Licht von egal wo egal wohin reflektiert wurde, endlich aufhörte, ihn mit Drohungen, die Polizei wegen seiner, Erwins Kneipe bzw. deren Lärm zu rufen, zu nerven und stattdessen auszog und irgendwie endlich und wenigstens von dieser Seite her mal Ruhe einkehrte in seinem Leben, und die Idee war zwar teuer, aber auch gut gewesen, ein klassischer Fall von zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, weil er die Pfeifen, die bis jetzt alle noch bei ihm wohnten, was nur zum Teil, bei H.R. und Karl Schmidt, seine eigene Schuld gewesen war, das musste er sich selbst und seinem verdammten Geiz, unter dem er zwar litt, gegen den er aber nicht ankam, aufs Konto schreiben, wohingegen er sich bei den anderen zwei, Chrissie und Frank Lehmann, dem kleinen Bruder von Freddie, zu Recht fragte, wieso die nun auch plötzlich – egal, die Idee war jedenfalls gut gewesen, weil er die Pfeifen gleich in die neue Wohnung umquartieren und also ohne großes Drama loswerden konnte, so war es geplant gewesen und dann vielleicht mal ein bisschen Ruhe und Frieden, aber bis jetzt war das Gegenteil eingetreten, es reichte nicht, dass er ihnen eine Wohnung besorgt hatte, nein, sie brauchten auch seinen Werkzeugkasten und sein Auto, um den ganzen Krempel zum Renovieren zu kaufen und zu transportieren, Tapeten, Tapetentisch, Kleister, Eimer, Schwämme, Drahtbürsten, Lacke, Pinsel, Rollen und natürlich auch ganz viele Eimer mit weißer Farbe, und dann brauchten sie auch noch sein Geld, um das alles zu bezahlen und dann brauchten sie seinen Körper, um ihnen beim Hochschleppen zu helfen und jetzt war es zappenduster, jetzt war die Tür zu und man sah hier gar nichts mehr, und das schien ihn, Erwin Kächele, den Erfolgsgastronom aus Kreuzberg, wie er sich selber manchmal scherzhaft bezeichnete, besser als alles andere zu symbolisieren, wie es für ihn und in ihm aussah.
»Mach doch mal Licht an, Kerle«, rief er ins Dunkel.
»Ich finde hier keinen Lichtschalter«, sagte Karl Schmidt und Erwin hörte, wie er mit der flachen Hand da und dort gegen die Wand klatschte.
»Dann such halt, Kerle!«
»Ich sage doch, ich finde keinen. Hol doch mal die Taschenlampe aus dem Werkzeugkasten!«
»Wie kommst du darauf, dass ich da eine Taschenlampe drin habe?«
»Ich kenne doch deinen Werkzeugkasten!«
»Ja, weil du da immer rangehst und was rausnimmst und nicht wieder reintust.«
»Die Taschenlampe ist aber noch drin!«
Erwin seufzte und kramte vorsichtig in seinem Werkzeugkasten, bis er eine Taschenlampe erfühlte. Er knipste sie an, aber die umliegenden Wände warfen kaum etwas von ihrem Licht zurück.
»Das bringt nichts, die Wände sind doch schwarz, da bringt das nichts«, sagte er.
»Die Lichtschalter auch?«
»Ja, natürlich. Das ist nichts für mich hier!« Erwin spürte, wie Panik in ihm aufstieg, er hatte plötzlich Angst, sich zu bewegen. »Das ist doch gruselig, mach mal die Tür wieder auf!«
»Wo ist die denn?«
»Die war doch eben noch da, die hast du doch gerade zugemacht, du Blödi!« Erwin hatte Angst im Dunkeln, immer schon gehabt, und dies war nicht bloß irgendein Dunkel, es war das diabolische Dunkel einer leeren Wohnung, in der ein satanistischer Psychopath und Kleinerpresser gewohnt hatte. Er richtete die Taschenlampe dahin, wo er Karl vermutete und tatsächlich tauchte dessen feistes, selbstzufriedenes Gesicht aus der Dunkelheit auf wie der Vollmond am Firmament. Das beruhigte ihn ein bisschen.
»Ich hab die nicht zugemacht, die muss von selbst zugefallen sein«, sagte Karl. »Hör mal auf, mich so zu blenden.«
»Du bist das Einzige, was man hier anleuchten kann«, sagte Erwin und hielt weiter auf Karl drauf, der seine Augen zusammenkniff und mit den Händen beschirmte. »Alles andere wirft kein Licht zurück!«
»Was ist das denn für ein bescheuertes Argument, einen zu blenden?!«
»Für mich reicht’s, Kerle, ich habe mit diesem Argument kein Problem!«
Jemand klopfte an der Tür. Erwin hoffte, dass es Frank Lehmann und Chrissie waren und nicht der Nachbar mit dem Laberflash, der, wie Erwin sich erinnerte, Marko hieß, »mit k, weil ich aus dem Osten bin!«, was immer das nun wieder hatte sagen wollen! – der hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt.
Wenigstens wusste er durch das Klopfen nun wieder, wo die Tür war, und leuchtete in ihre Richtung. Eine neonfarbene Türklinke leuchtete zurück.
»Da!« rief Erwin ermunternd. »Da ist die Türklinke. Mach mal auf, das ist die Tür nach draußen.«
»Wie sieht die denn aus, voll so radioaktiv?!«
»Nun mach schon auf!«
»Ich weiß nicht … die sieht irgendwie so … verstrahlt aus.«
»Wenn die verstrahlt ist, dann ist sie hier aber nicht alleine, du Säggel. Nun mach schon auf!«
»Mach doch selber, du blöder alter …«, sagte Karl und verstummte.
Die neonfarben strahlende Türklinke bewegte sich.
H.R. stand im Baumarkt bei den Grabgabeln. Er nahm eine in die Hand. Sie sah gefährlich aus, der Schaft dick und schwer aus Holz, die vierzackige Forke grün lackiert bis auf die scharfen, stahlfarbenen Spitzen, die er neugierig befühlte. Er war sicher, dass er so eine Gabel irgendwann gut würde gebrauchen können und fragte sich, ob es klüger war, sie jetzt gleich zu kaufen, wo sie mit dem Auto da waren, oder ob er später, wenn er wusste, wozu er sie verwenden wollte, noch einmal wiederkommen sollte, und gerade als er so darüber nachdachte, was es wohl sein könnte, das einen nach so einer Grabgabel verlangen lassen würde, so formulierte er es in Gedanken, das tat er manchmal, dass er solche geschraubten Formulierungen in Gedanken gründlich durchkaute, weil ihn das irgendwie anmachte oder jedenfalls inspirierte, gerade also, als er völlig in Gedanken versunken mit der Gabel im Baumarkt stand, ihre Spitzen befühlte und sich an dieser Formulierung erfreute, kam von hinten eine Stimme:
»Kann ick helfen oder wollnse bloß mal allet anfassen?!«
H.R. fuhr herum und sah einen Angestellten in einer rot-weiß karierten Latzhose, die H.R. an Rotkäppchens Kuchen-und-Wein-Korb denken ließ, den er sich immer als mit genau so einer Decke zugedeckt vorgestellt hatte, genauso rot-weiß kariert wie die Latzhosen, mit denen man die Alles-Frisch-Berliner uniformierte, die in diesem Baumarkt ihre Brötchen, oder vielmehr, dachte er in diesem Moment, ihre Schrippen verdienten, der Alles-Frisch-Berliner, wie er ihn nannte, seit die »Alles-Frisch«-Aufkleber des Berliner Fleischerhandwerks, die überall in der Stadt umsonst an den Wursttheken auslagen, ihren Weg an die Rückseiten der Westberliner Autos gefunden hatten – ein Prozess kollektiven Wahnsinns, nur vergleichbar mit dem plötzlichen und unaufhaltsamen Siegeszug der zusätzlichen, hinter den Rückscheiben angebrachten Bremslichter, die die Berliner Nächte seit Kurzem zu einer Orgie rotfunkelnder Lichtspiele machten – der Alles-Frisch-Berliner würde, so schätzte er das in diesem Moment in Gedanken ein, wegen einer Brötchenredensart nicht auf den Schrippenbegriff verzichten.
»Ich brauche eine Kettensäge«, sagte er.
»Dit ist keene Kettensäge, dit ist ’ne Grabgabel, sa’ ick ma!«
»Bloß weil ich eine Kettensäge will, heißt das ja nicht, dass ich keine Grabgabel halten darf, da besteht doch überhaupt kein Sinnzusammenhang, guter Mann!« sagte H.R., der sich beim Betreten des Baumarkts fest vorgenommen hatte, sich von den Alles-Frisch-Berlinern nicht provozieren zu lassen, das passierte in letzter Zeit zu häufig, aber heute und hier sollte das nicht sein, es war so schon alles schwierig genug, fand H.R., der Umzug und was er alles mit sich brachte, die Sache mit Klaus, dauernd war irgendwie Alarm und kaum Zeit zum Ordnen der Dinge.
»Kettensägen sind zwei Regale weiter«, sagte der Baumarkt-Mann unsicher und ins Normaldeutsche wechselnd. »Da sind die Kettensägen, die stehen zwei Regale weiter.«
»Ja, wenn Sie dann so nett wären und mir eine herüberbringen würden«, sagte H.R., ohne die Befingerung der Grabgabelspitzen zu unterbrechen. Er wusste genau, dass man jetzt nicht lockerlassen durfte, vor allem durfte er jetzt nicht zu den Kettensägen gehen, er war mit der Grabgabel noch nicht fertig, Grabgabel, Grabgabel, das Wort wurde immer besser, je länger er es in Gedanken hin- und herschob, ich habe hier eine Grabgabel für dich, die wird dich grabgabeln, Gabi, dachte er, das würde ein Gedicht werden, wenn er es sich merken konnte. Denn das war sein Prinzip: Ideen, die man wieder vergaß, die man hätte aufschreiben müssen, waren es nicht wert.
Der Mann in der rot-weiß karierten Latzhose schob beide Daumen hinter die Träger eben dieser Latzhose und drückte sie nach vorne, bevor er sagte: »Wattn ditte? Spinnick? Bin ich hier die gute Fee oder was?«
»Oder wat!« sagte H.R.
»Wie oder wat?«
»Entweder berlinern oder nicht berlinern, aber nicht das dauernde Durcheinander«, sagte H.R. »Entweder ›Wattn ditte‹ und ›spinnick‹ und dann auch ›binnick‹ und ›oder wat‹ oder gar nicht! Sonst nervt das!«
»Wattn, wattn? Binnick hier die Wohlfahrt? Hol ick hier die Kettensäjen oder wat?«
H.R. hob die Gabel und richtete sie auf den Mann. »ICH DACHTE, SIE WOLLTEN HELFEN!! DAS HABEN SIE DOCH GESAGT: KANNICK HELFEN! DAS HABEN SIE GESAGT: KANNICK HELFEN! GENAU SO: KANNICK HELFEN! ODER NICHT?!« brach es aus ihm heraus.
»Ja schon, aber …«
»ICH DACHTE, SIE WOLLTEN HELFEN!!«
»Nun warten Sie doch mal …
H.R. packte die Grabgabel etwas fester, hielt sie noch etwas höher und schob sie etwas weiter vor.
»DA HAT MAN EINMAL EINE BITTE, UND WAS PASSIERT? GAR NICHTS! WENIGER ALS GAR NICHTS! DUMME SPRÜCHE UND DAS WAR’s DANN! MIR REICHT’s, ICH KANN NICHT MEHR, ICH HAB KEINE LUST MEHR, JETZT IST MIR ALLES EGAL, ICH WILL NICHT MEHR, IHR WERDET SCHON SEHEN, WAS IHR …«
»40, 53 oder 62 Kubik?«
»Was Kubik?«
»Kubikzentimeter. Hubraum. Von der Kettensäge. Das muss ich wissen, dann bring ich eine: 40, 53 oder 62?«
»Bringen Sie ruhig alle drei«, sagte H.R., der sich wieder beruhigte. »Ich such mir dann eine aus!«
Erwin fiepte unwillkürlich, als sich die Klinke bewegte. Dieses Fiepen rutschte ihm in letzter Zeit öfter raus. »Du klingst wie ein Hundebaby«, sagte Helga dann immer und es war Erwin nicht klar, ob sie das nun niedlich oder erbärmlich fand; seit sie schwanger war, blickte Erwin bei Helga nicht mehr durch, vor allem nicht, wenn das Wort Baby im Spiel war. Die Tür ging auf und Frank Lehmann kam herein. Er hielt eine Zange in der Hand.
»Kerle, kannst du nicht anklopfen?«
»Erwin«, sagte Karl, »reiß dich zusammen! Er hat doch geklopft. Hallo Frankie!«
»Frank«, sagte Frank Lehmann und drückte ohne hinzusehen auf einen schwarz angemalten Lichtschalter neben der Tür. An der Flurdecke entflammte eine nackte Glühbirne, die dort von einem Kabel herunterhing. »Immer schön Frank. Nicht Frankie.« Er schleppte zwei Farbeimer über die Schwelle. Hinter ihm drängelte Chrissie nach, sie trug eine Rolle Tapete auf der Schulter.
»Puh«, sagte sie, »kann mir die mal einer abnehmen?«
»Stell sie doch einfach hin!« sagte Erwin.
Chrissie ließ die Tapetenrolle fallen und sah sich um. »Das wird noch viel Arbeit. Wo ist eigentlich H.R.? Der war doch eben noch da?«
»War der überhaupt im Auto?« fragte Erwin.
»Wieso fragst du?« sagte Karl. »Du warst doch dabei. Du bist doch gefahren, Erwin!«
Erwin wurde wütend. »Genau, und ich habe hinten keine Augen, ich weiß nur, dass Chrissie neben mir saß und den Zigarettenanzünder fallen gelassen hat, Loch im Autositz, vielen Dank dafür, Chrissie, und dass ihr im Auto geraucht habt, obwohl ich euch gesagt hatte, dass Helga …«
»Wo ist denn nun H.R.?« unterbrach ihn Chrissie.
Erwin hob die Hände. »Frag nicht mich, Chrissie. Frag die anderen. Hat er auf der Rückbank gesessen?«
»Irgendwie nicht«, sagte Karl. »Jetzt, wo du fragst … – als wir hingefahren sind, hat er noch auf der Rückbank gesessen, aber bei der Rückfahrt nicht.«
Frank Lehmann trug weitere Sachen in die Wohnung, er hatte wohl im Vorfeld schon einiges im Treppenhaus aufgestapelt, wahrscheinlich das ganze Auto schon leergeräumt, umso besser, dachte Erwin, dann nehme ich ihm den Autoschlüssel ab und das war’s dann.
»He, Frankie«, sagte Karl, »H.R. hat nicht bei uns hinten gesessen, oder?«
»Frank, bitte! Den haben wir im Baumarkt gelassen, hatte mich noch gewundert, dass wir einfach so ohne ihn losfahren.«
»Und warum hast du nichts gesagt, Kerle?!«
»Ich bin neu hier, ich dachte, das ist irgendwie abgesprochen.«
H.R. entschloss sich, die Grabgabel sofort mitzunehmen, sie hatte sich ja jetzt schon bezahlt gemacht, sie gehörte jetzt zu ihm, sie hatten zusammen schon etwas erlebt, da konnte er sie unmöglich wieder zurücklegen. Prüfend wog er sie in der Hand, als der Baumarktverkäufer mit einem großen Karton um die Ecke kam und ihn vor ihm abstellte.
»Hier, Chefchen, dit ist die beste, brauchick die anderen beiden jané zu bringen sa’ck ma!« Sein Berlinern wurde wieder stärker, bekam dabei aber einen komischen Drall, eine weichere Gangart.
»Warum nicht?«
»Wollnse denn mit die kleenen Dinger?! Bringt ja nüscht. Wenn schon, denn schon, sa’ck imma, die hier hat 63 Kubik und 4,8 kW, die sägt Ihnen alles, was Sie wollen.«
»Allet!«, verbesserte H.R. ihn milde gestimmt. »Allet! Was muss ich denn dabei beachten?«
»Immer schön die Kette ölen. Und issn Zweitakter, muss man Jemisch reintanken, 1:25, so sieht dit aus!«
»Kann man das hier kaufen?«
»Nee. Wir sind ja keene Tankstelle, sa ick ma!«
»Dann nehm ich die!«
»Jute Wahl. Wenn schon, denn schon! Kost aber ne Kleinigkeit.«
»Das macht nichts!«
»So so, na dann …« Der Baumarktverkäufer kratzte sich am Kopf. »Wer hat, der hat, sa ick ma!«
Eins musste Erwin Frank Lehmann lassen: Fleißig war er. Er schleppte den ganzen Scheiß alleine in die Wohnung, während Chrissie und Karl immer weiter sinnlos die Frage erörterten, wo denn H.R. nun wahrscheinlich war und was er wohl gerade anstellte und ob man nun froh sein konnte, dass er nicht mitgekommen war oder sich ärgern oder gar Sorgen machen sollte, sie laberten und laberten, da war Frank Lehmann aus anderem, fleißigerem Holz geschnitzt und mitdenken tat er auch, kaum war er fertig, schon griff er in die Hosentasche, zog den Autoschlüssel raus und hielt ihn Erwin hin, das rührte Erwin, er erkannte ein Talent, wenn er eins sah und er sagte: »Danke, Kerle«, worüber er sich gleich wieder ärgerte, man sollte es nicht übertreiben, dachte er, jetzt bin ich schon so weit, dass ich mich für den Schlüssel von meinem eigenen Auto bedanke.
»Nichts zu danken, im Gegenteil«, sagte Frank Lehmann, und jetzt wurde er Erwin langsam unheimlich.
Noch unheimlicher aber war, dass hinter ihm Marko auftauchte, der Nachbar.
»Und nun?« fragte Chrissie.
»Nun was?«
»Wie geht das denn jetzt weiter?!«
»Das könnt ihr unter euch ausmachen«, sagte Erwin. »Ich bin nur der, an den ihr am Monatsende die Miete bezahlen müsst.«
»Klopfklopf«, sagte Marko, der Nachbar.
»Ich geh mal«, sagte Erwin. Als er an Marko vorbeilief, holte der tief Luft, und im Treppenhaus hörte Erwin noch seine ersten Sätze: »Kann ich helfen? Oh Mann, wie sieht das hier denn aus? Und ihr wohnt jetzt hier? Alle oder was? Oder nicht? Schon irjndwie alle, jetzt weeß ick wieda, ick wohn jedenfalls alleene, WG ha’ck früher oma, aba …«
Karl Schmidt rief: »Warte Erwin, warte mal!« und Erwin beschleunigte seine Schritte. Auf der Flucht, dachte er. Auf der Flucht vor dem eigenen Leben. Auf der Wiener Straße angekommen, ging er schnell in das Juweliergeschäft neben dem Café Einfall, wo er sich hoffte herumdrücken zu können bis Karl Schmidt, der ihn wahrscheinlich nur wieder anpumpen wollte, im Café Einfall verschwunden war.
An Kasse Nr. 3 vom Baumarkt war nichts los, deshalb ging H.R. da hin und der Baumarktverkäufer kam mit der Kettensäge hinterher, allerdings war der Kettensägenkarton für das Transportband der Kasse zu breit, deshalb blieb H.R.s neuer Freund bei ihm stehen und sie warteten gemeinsam darauf, dass die Kassiererin mit der Arbeit begann, aber die hatte anderes zu tun, ihre Geldschublade war offen und sie rollte Münzen in Papier und verstaute die Rollen dann in dem Fach, in dem die Zwanzigmarkscheine lagen. H.R. beobachtete das neugierig und fragte sich, was das sollte. Der Baumarktverkäufer wurde unruhig.
»Kollegin«, sagte er mit quengeliger und zugleich bittender Stimme, »können wir dann mal?«
»Ich arbeite, Herr Müller«, sagte die Kollegin, »das sehen Sie doch.«
»Sie arbeiten an der Kasse, gute Frau«, sagte H.R. »Das ist natürlich eine verantwortungsvolle Tätigkeit. Aber ist es dafür wirklich nötig, die Zwanzigmarkscheine mit Geldrollen zu beschweren? Was machen Sie, wenn Sie von den Zwanzigmarkscheinen mal einen brauchen? Dann müssen Sie die Geldrollen ja alle wieder rausholen oder den Schein mühsam drunter rausfummeln, das ist doch problematisch! Oder haben Sie so viele Zehnmarkscheine, dass Sie die Zwanzigmarkscheine für heute abgeschrieben haben?«
»Was ist das denn für einer?« wandte sich die Kassiererin an den Baumarktverkäufer, der irgendwelche komischen Handzeichen machte.
»Das ist nur ein Kunde«, sagte der Baumarktverkäufer. »Der will bloß was kaufen.«
»Na klar«, sagte die Baumarktverkäuferin. »Dit seh ick ooch. Aber ick hab hier zu tun, da muss er schon ein bisschen warten.«
H.R. hob die Grabgabel und holte tief Luft.
Marko war durch Erwins und Karls Abgang nicht zu erschüttern: »Also WG – auf Dauer war das Scheiße«, setzte er fröhlich neu an, »wer macht den Abwasch und so, und immer zwei gegen einen, zu dritt wohnen ist das Allerletzte, das kann ich aber sagen …« – und während er sich warmredete, baute er schon mal den Tapetentisch auf und zwar, wie Frank Lehmann fasziniert beobachtete, mit einer schlafwandlerischen Routine, während immer weiter Wörter aus seinem Munde quollen, »… ich meine, ihr seid zu viert und dann mit der Frau dabei, dit is ja irjndwie wie zu dritt mit Zusatzzahl, sa ick ma, dit wär mir nüscht, dit is ja aber sowat von heikel, dit würd ick nich ma mit der Kneifzange anfassen würdick das, also mit …«
»Ich hau ab, das ist ja gruselig hier«, sagte Chrissie und ging. Nun war Frank mit dem Nachbarn alleine, der zwinkerte ihm zu und rief der weglaufenden Chrissie ein »So war das nicht gemeint, also sorry jetzt mal!« hinterher, bevor er den Faden wieder aufnahm, »Wo war ich, ach so, jedenfalls nicht mal mit der Kneifzange anfassen, nicht mal mit der Kneifzange, wie ihr da eine zum Türenöffnen habt. Und ihr arbeitet alle unten in der Kneipe oder was? Nee? Du nicht? Und die Kleene ooch nicht?«
Frank schüttelte den Kopf. Marko hatte einen wunden Punkt erwischt. Frank hatte nicht mehr viel Geld und brauchte einen Job. Und einen in der Kneipe hätte er wirklich gerne, erst neulich war er hinterm Tresen eingesprungen, weil Karl Klaus ins Krankenhaus hatte bringen müssen, wegen einer Platzwunde, die H.R. Klaus durch den Wurf eines schweren Aschenbechers beigebracht hatte. Die Arbeit hinterm Tresen hatte Frank gefallen, aber es hatte sich nichts daraus ergeben.
»Nein, da ist gerade nichts frei«, sagte er.
Marko füllte einen leeren Eimer mit Wasser, öffnete eine Packung Tapetenkleister, streute sie hinein und schaute sich um.
»Was nehm ich mal zum Umrühren, den Stiel da, kann man ja wieder saubermachen, wenn man den später für die Rolle benutzen will, jedenfalls glaube ich mal, ich weiß, wie sich das ergeben hat, sag Bescheid, wenn ich mich irre, also der, der den Mietvertrag hat, der Kächele, ich kenn den irgendwie, auch wenn der mich nicht kennt, jedenfalls dem gehört ja die Kneipe, und dann is auch klar, da kriegst du nur Ärger mit den Leuten, die über so ’ner Kneipe wohnen, möcht ich nicht mit tauschen mit dem Ärger, den du dann hast, da würd ich das auch mieten, glei selba mieten, aber da wohnen, na klar, da wohnen will natürlé keener, müssen wir nich drüber reden, weeßte ja ooch, soll dit hier allet mit Raufaser?«
Marko hatte schon eine Rolle Raufaser auf den Tapetentisch gelegt, zielsicher das Teppichmesser aus dem Haufen herausgefischt und damit die Klebeetikette aufgeschlitzt, die die Raufasertapete zusammenhielt. »Raufaser findick jut in diesem Fall, saick ma, die bedeckt dit Schwarz am besten, sonst kannst du dit ja …«
»IST DAS DIE ART, WIE HIER DIE KUNDEN BEHANDELT WERDEN? IST DAS DIE DIENSTLEISTUNGSGESELLSCHAFT, VON DER ALLE REDEN??!!«
H.R. hielt die Gabel auf Brusthöhe und bedauerte nur eins: dass er in der anderen Hand nicht die Axt hatte, die er eigentlich auch noch hatte kaufen wollen, gleich neben den Grabgabeln hatten sie ein paar schöne Äxte gehabt und er wäre gerne noch einmal zurückgegangen, aber dafür war es jetzt zu spät, das hätte ihm die ganze Performance versaut.
»ICH KANN NICHT MEHR. ICH WILL NICHT MEHR!« rief er und schüttelte dazu die Grabgabel.
Der Baumarktverkäufer mischte sich ein: »Machen Sie einfach schnell diesen Kunden fertig«, sagte er zur Kassiererin und zwinkerte dabei mit beiden Augen. »Ist besser. Ich hab das auch gemacht!«
»UND HAT’s IHNEN GESCHADET? SAGEN SIE SELBST: HAT’s IHNEN GESCHADET?!«
»Nich doch, Chefchen, allet schnafte!«
»Sag ich doch. Also die hier«, H.R. hob die Gabel, »und die Kettensäge hier!« wandte er sich an die Kassiererin. Die war ganz unbeeindruckt. »Soll ich die Polizei rufen?« fragte sie ihren Kollegen. »Geht ganz schnell. Die sind ruckzuck hier!«
»Nein«, sagte der Baumarktverkäufer verzweifelt. »Nun kassieren Sie doch einfach. Einfach kassieren. Sind doch nur zwei Sachen!«
»Ich ruf die Polizei!«
»Dit lohnt doch nich!« wechselte der Baumarktverkäufer das Idiom. »Hörnse doch ma uff. Was wollen Sie denn mit der Polizei, was meinen Sie, wie lange die brauchen, bis die hier sind, der hat ne Grabgabel! Ne Grabgabel!«
»Der hat jarnüscht. Die Gabel ist von uns. Die muss er erstmal bezahlen, bis dahin gehört die uns.«
Im Juweliergeschäft war es etwas schummrig und sehr warm, Erwin öffnete beim Betreten gleich seine Jacke. In der Idiotenwohnung, wie er sie jetzt schon in Gedanken nannte, war es natürlich kalt wie Otter gewesen, da waren nur Kachelöfen, die schon ewig keiner mehr angemacht hatte, aber hier, beim Juwelier, war es schön warm, wahrscheinlich wegen der Omas, die sicher die Hauptkundschaft stellten, der Laden hatte etwas unübersehbar Gestriges. Als Erwin die Tür schloss, klingelte sie ein zweites Mal auf diese hübsche, altmodische Weise, oben war ein Glöckchen angebracht, das beim Öffnen und beim Schließen gegen einen Metallarm dengelte, das gefiel Erwin, das erinnerte ihn an seine Kindheit. Ein großer, dünner Mann mit müdem Gesicht kam nach vorne. Auf seiner Stirn haftete eine Kopfbandlupe wie ein drittes Auge.
»Sie wollen sich sicher bloß mal umsehen«, sagte er.
»Äh …«, sagte Erwin, der nicht wusste, was er dazu sagen sollte.
»Sie wollen bloß mal gucken, nehme ich an.«
»Ja, äh … – also mal die Uhren gucken.«
»Und Sie wollen sicher irgendwas Billiges!«
»Ja, äh, nein …«
»Und natürlich mit Quarz, das wollen jetzt ja alle, nicht wahr?!«
»Das habe ich eigentlich …«
»Das ist ja jetzt der neueste Schrei, immer Quarz, Quarz, Quarz …«
»Nein, also …«
»Mechanisch und verlässlich und gut ist ja nicht mehr gut genug, es muss jetzt ja alles immer elektronisch sein!«
»Das ist …«
»Bitte, haben wir auch, Seiko-Quarzuhren, wollen Sie die sehen? Davon reden doch immer alle. Wir haben die jetzt auch. Kann man aber kaum noch richtig reparieren!«
»Ich komm nochmal wieder«, sagte Erwin und machte, dass er rauskam.
»Na, ich sage dir, ich würde echt gerne in der Kneipe arbeiten, auf jeden Fall besser als wie Taxifahren, sage ich mal, alles ist besser als wie Taxifahren …« Marko redete und redete, aber er handelte auch, er hatte schon viele Tapetenbahnen zugeschnitten – »dreimetervierzig, dit weeß ick noch, ha ick bei mir ooch jehabt, is ja selbe Deckenhöhe, dit merkt man sich, sowas!« – und kleisterte sie jetzt ein – »immer schön einsuppen und dann liejnlassn, weil die sich dann immer noch ein bisschen dehnen und dann erst kleben, immer zweie, dreie auf Vorrat und dann …« – so ging es munter voran, wobei er redetechnisch wieder auf sein Lieblingsthema, nämlich Kneipe und dass er da gerne arbeiten würde, einschwenkte – »… alles, alles ist besser als wie Taxifahren und Kneipe, da kenn ick mir aus, haste ja gesehen, jetzt muss man dit hier oben ankleben …« – Marko stieg mit einer zusammengefalteten, eingekleisterten Tapetenbahn auf die Leiter – »also bloß überstreichen nützt bei der Farbe jarnüscht, wenn dit erstmal schwarz is, dann jeht nur noch tapezieren und dann …«
Im Baumarkt kam es zu einem Moment des Innehaltens. H.R. und die Kassiererin schauten sich in die Augen und schwiegen. Schließlich sagte H.R., als ihm das zu langweilig wurde: »Mir gefällt die Wendung nicht, die dieses Gespräch nimmt!«
»Mir auch nicht«, sagte der Baumarktverkäufer.
»Mir ooch nich«, verbesserte ihn H.R.
»Weeß ick doch, Chefchen. Jeht mir ja jenauso!«
Die Kassiererin sah zwischen den beiden hin und her und schüttelte den Kopf. »Vielleicht solltet ihr beiden heiraten«, sagte sie. »Ihr seid ja ein Herz und ein Sparkassenbuch!«
»Meinetwegen, aber ich würde gerne zuerst mal diese Sachen bezahlen«, sagte H.R.
»Ich lasse mich nicht bedrohen.«
»Ich habe Sie nicht bedroht. Aber wenn Sie jetzt nicht kassieren«, sagte H.R., der sich fest vornahm, nichts zu vergessen; alles, was hier passierte und gesagt wurde, würde er noch gebrauchen können, das spürte er ganz genau, das war alles Gold wert, »dann muss ich allerdings darauf bestehen, dass Sie die Polizei rufen, denn dann zeig ich Sie an.«
»Soso«, sagte die Kassiererin höhnisch. »Und weswejn wollnse mir anzeigen? Da binnick aber jespannt!«
»Von Ihrer Kollegin«, sagte H.R. zum Baumarktverkäufer, »können Sie noch viel lernen. Auch was die Sprache betrifft.« Und zur Baumarktverkäuferin sagte er: »Behinderung nach Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung, Diebstahl von Lebenszeit und Verweigerung der Grabgabelherausgabe, ist doch logisch!« Er lächelte die Frau an. Er hatte jetzt richtig Spaß.
Auf der Wiener Straße wurde es schon dunkel, vor allem aber war es nass und unter dem Herbstlaub, das die jetzt völlig kahlen Straßenbäume hatten fallen lassen, verbarg sich tückisch die Hundescheiße. Erwin, der schnell und unbeobachtet am Café Einfall vorbei zu seinem Auto laufen wollte, trat in einen Haufen und rutschte fast aus, er konnte sich gerade noch an einem Motorrad festhalten, das auf dem Bürgersteig vor dem Café Einfall parkte und dabei bedrohlich schwankte, so bedrohlich, dass er schon Bilder von sich selbst sah, wie er unter einem umgefallenen Motorrad auf dem Rücken lag, die Beine eingeklemmt und mit den Armen rudernd, im Nacken die Hundescheiße, und er schrie erschrocken auf und da stand auch schon Karl Schmidt vor dem Einfall und rief:
»Mensch Erwin, was machst du denn da?!«
»Wonach sieht es denn aus, Kerle? Ich halte mich fest, damit ich nicht in die Hundekacke falle, du Säggel.«
Bei Karl tauchte nun auch noch Chrissie auf. »Onkel Erwin, soll ich dir helfen?« Dann war sie bei ihm und stützte ihn. »Nicht am Motorrad festhalten, wenn das umfällt, dann zerquetscht dich das«, sagte sie.
»Was soll ich denn sonst machen? In die Scheiße fallen?«
»Das wäre immerhin ein Anfang«, sagte Karl Schmidt. »Warum sollst du es besser haben als wir, Erwin? Schau dir das mal an!« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter in die Kneipe hinein. »Das sieht da aus wie Sau. Diese Frauke war eben da, die hier putzt, sie macht das nicht mehr, hat sie gesagt, sie hat die Schnauze voll.«
Erwin war jetzt alles egal, er stützte sich auf Chrissie, die voll einen auf Krankenschwester machte: »Komm, Onkel Erwin, jetzt gehen wir erstmal rein und setzen uns hin.«
»Nix«, sagte Karl. »Mit der Hundescheiße am Schuh kommst du hier nicht rein, Erwin, ehrlich mal, das muss ich dir ja wohl nicht erklären.«
»Das ist meine Kneipe!«
»Aber meine Schicht. Die Sauerei hier ist schon schlimm genug.«
»Ich muss doch bloß aufs Klo, da kann ich das abbürsten.«
»Aber auf Socken! Und viel Spaß dabei. Das Klo ist am allerschlimmsten!«
Marko tapezierte wie der Teufel. Frank versuchte zu helfen, aber es war kein Durchkommen, er schaffte es nicht einmal, seine Hilfe überhaupt nur anzubieten, weil Marko auch redetechnisch nicht zu stoppen war. Gerade klatschte er seine fünfte Raufaserbahn an die Flurwände und langsam wurde es hell in der Wohnung, das war schon mal gut. Aber Frank langweilte sich und das Geschwätz von Marko war dabei keine Hilfe.
»Und dann müsst ihr bei ihm raus, weil seine Freundin schwanger ist?« fragte er jetzt und nahm so einen Faden wieder auf, den er kurz zuvor zugunsten eines Exkurses zum Thema Schrippenkaufen in der Wiener Straße fallengelassen hatte.
»Ja«, sagte Frank.
»Schwanger, das ist hart, wenn meine Freundin schwanger wäre, also im Augenblick hab ich ja keine, aber wenn meine Freundin schwanger wäre, weißt du, was ich der sagen würde?«
»Nein.«
»Ick würde ihr sagen: Wat soll’n ditte? Von wem is dit denn? Von mir? Na nüscht aber, da gloob ick doch keen Wort!« Marko schnaufte und kleisterte eine neue Bahn ein. Einen Moment lang hörte man nur das Schmatzen des Kleisterquastes, dann ging es wieder los: »Jedenfalls würde ich gerne mal in der Kneipe arbeiten, meinst du, da geht was, da werden doch immer Leute gebraucht, oder nicht? Ich fahr ja Taxi und so. Meinst du, da könnte man …«
»Ich frage gleich mal nach«, sagte Frank und legte einen Spachtel, den er seit einiger Zeit sinnlos in der Hand hielt, auf den Tapetentisch und ging zur Tür.
»Das wäre nett. Aber schwanger, das ist hart, aber andererseits muss man das auch verstehen, wenn der euch dann aus der Wohnung, da hat der jetzt die Freundin und wenn die sagt, dass die schwanger ist, dann kann der ooch nüscht machen, sa’ck ma, und ansonsten …«
Frank machte leise die Tür von außen zu.
Die Kassiererin lächelte zurück. »Dass ich nicht lache!«, sagte sie. »Dit will ick sehen!«
»Kein Problem«, sagte H.R. »Holen Sie einen Schutzmann und los geht’s!«
»Ick tu dit mal hier hin und dann ist juti, ja?« sagte der Baumarktmann und stellte den Karton mit der Kettensäge ab. Er wartete kurz, ob H.R. oder seine Kollegin ein Problem damit hatte, aber die hatten genug damit zu tun, sich weiter anzustarren. »Ich bin weg!« sagte er und ging.
Die Kassiererin seufzte, schloss die Schublade ihrer Kasse und tippte die Preise von Grabgabel und Kettensäge ein.
»Können Sie die Preise auswendig?« fragte H.R.
Die Frau drückte auf den Summenknopf, dass es krachte. »Junger Mann, ich mach das hier seit fünfundzwanzig Jahren«, sagte sie im schönsten Hochdeutsch. »Seit 1955. Ich habe hier schon ganz andere Leute erlebt. Und ich bin immer noch hier. Die anderen nicht! Und jetzt dürfen Sie bezahlen.«
Mit den Schuhen in der rechten Hand tänzelte Erwin auf Zehenspitzen ins Café Einfall hinein, Karl Schmidt hatte ja recht, das musste er zugeben, auch wenn es Angst machte; Karl Schmidt recht zu geben ist wie dem Fehlläuten der Nachtglocke zu folgen, dachte Erwin, der sich viel auf sein Germanistikstudium, das doch schon so lange zurücklag, zugutehielt, aber der Anblick des völlig verdreckten Cafés Einfall verhinderte jede Genugtuung über diesen schönen Kafkaverweis, es war eine Riesensauerei, was er da sah, es war ja nicht nur alles voller Novemberstraßendreck, das wäre ja noch gegangen, auch die Kippen und Zigarettenschachteln waren normaler Alltag, ebenso die verklebten Stellen, wo Bier ausgeschüttet worden war, alles okay, auch die Servietten, wiewohl er doch schon seit Ewigkeiten predigte, dass sie keine Servietten mehr auf den Tresen legen sollten, es gab ja schon lange nichts mehr zu essen im Café Einfall, nur die Servietten waren noch da, er hatte damals in der Metro eine viel zu große Packung gekauft, Millionen von Servietten waren das, und irgendwer legte immer noch und immer wieder einen Packen davon auf den Tresen, wahrscheinlich Heidi, die blöde Nuss, aber egal, was ihn wirklich nervte, waren die vielen zerdrückten Bierdosen! Da kamen die Leute in seinen Laden und brachten sich das Bier selber mit, kauften die scheiß Dosen wahrscheinlich für eine Mark beim Türken die Straße runter, statt anständig bei ihm zwei Mark fünfzig für eine Flasche Beck’s zu zahlen, das hasste Erwin, die ganze Punkrockscheiße war ihm von Anfang an auf die Nerven gegangen, tranken die Bier vom Türken in seinem Laden und hauten dann wieder ab und was war eigentlich mit den Leuten, die für ihn arbeiteten, warum taten die nichts dagegen? Und nicht nur, dass man keinen Umsatz mit den Pennern machte, nein, man musste auch noch jemanden bezahlen, der den Scheiß zusammenfegte und wegwarf, man sollte die Dosen beim Türken reinwerfen, dachte Erwin.
»Wer putzt denn nun?« sagte Karl Schmidt, der hinterm Tresen herumräumte, die Kühlschubladen checkte und was nicht alles. »Es ist halb sechs, irgendwer muss putzen, das ist ja eklig.«
Chrissie nahm einen Hocker vom Tresen und setzte sich drauf. »Kann man wohl sagen«, sagte sie.
»Hattest du nicht gesagt, dass du einen Job brauchst?« sagte Erwin zu Chrissie.
»Ja, aber doch nicht als Putze.«
»Und wie willst du die Miete bezahlen, wenn du nichts verdienst?«
»Ich will ja was verdienen, aber doch nicht als Putze. Du bist mein Onkel. Du musst mir einen Job hinterm Tresen geben.«
»Pass auf, Chrissie!« sagte Erwin deutlich und laut. Es war Zeit, die Stimme zu erheben! Wenn sie hier einen auf Nichte und Onkel machte, dann sollte sie einen Onkel bekommen, aber einen von der fiesen Sorte, ihm langte es jetzt, und auch wenn seine Nichte einen halben Kopf größer war als er, wie ja überhaupt fast jeder Mensch auf der Welt einen halben Kopf größer war als er, so hatte er, das war mal sicher, keine Angst vor ihr! »Pass gut auf, Chrissie!« Er fuchtelte mit seinen Scheißeschuhen vor ihr herum, dass sie mitsamt dem Hocker über den Boden schubbernd zurückwich. »Ich gehe jetzt runter ins Klo und mache diese Schuhe sauber. Und wenn ich wieder hochkomme, dann frage ich dich noch einmal! Bis dahin überlegst du dir das! Ich frage nur noch einmal! Wenn ich wiederkomme! Überleg’s dir!«
Und dann tänzelte er auf Zehenspitzen die Treppe zum Klo hinunter.
H.R. lief mit der Grabgabel in der einen und mit der Kettensäge, die er aus ihrem Karton genommen hatte, weil sie so leichter und auch stilvoller transportiert werden konnte, in der anderen Hand den Kottbusser Damm hinunter und dachte darüber nach, welchen Weg er nehmen sollte, während die Leute, die ihm auf dem Kottbusser Damm entgegenkamen, hastig nach links und rechts auswichen, sobald sie in der Dämmerung erkennen konnten, was er da in den Händen hielt. Schade, dass er für die Kettensäge kein Benzin hatte, es wäre noch besser, dachte er, wenn die jetzt im Leerlauf vor sich hin ratterte, das würde den Schissern zu denken geben!
Allerdings gab es auch Leute, die keine Angst vor ihm hatten, das waren die Kinder, mittlerweile schon fünf Stück, die ihm an den Fersen klebten und »Darf ich mal die Kettensäge anfassen?« und »Was ist das denn für eine große Gabel« riefen und die sich keinesfalls eines möglichen Ernstes ihrer Lage bewusst waren, das war ein bisschen lästig, noch ein paar mehr von den kleinen Nervtüten und er würde nur noch rüberkommen wie ein Lehrer, der mit ein paar Kindern von der Arbeit im Schulgarten kommt, das bedrückte ihn, so kann man keinen Horror machen, dachte er und wechselte, obwohl er eigentlich durch die Bürknerstraße und über die Ohlauer Brücke zur Wiener Straße gehen wollte, auf der Höhe des Zickenplatzes, der eigentlich Hohenstaufenplatz hieß, wie Erwin ihn neulich zurechtgewiesen hatte und wieso eigentlich? jedenfalls wechselte er auf der Höhe des Zickenplatzes von der Neuköllner auf die Kreuzberger Seite des Kottbusser Damms, um die Kinder abzuschütteln, und tatsächlich blieben sie auf ihrer Straßenseite, es sah so aus, als hätten sie feste Reviere, deren Grenzen sie nicht überschreiten durften, gut, dass man kein Kind mehr war!
Erwin fegte den Fußboden und dicht hinter ihm stellte Karl die Stühle runter. »Hör auf zu drängeln«, sagte Erwin. »Mach das doch, wenn ich fertig bin.« Er sah, wie Frank Lehmann durch die Tür kam. Der hat mir gerade noch gefehlt, dachte er, noch einer, der sieht, wie ich mich hier als Putze demütige!
»Willst du danach auch noch durchwischen? Wäre besser«, sagte Karl Schmidt und machte einfach weiter mit seinem bescheuerten Stühlerunterstellen. Erwin wollte es nicht glauben! Jetzt wird man schon von den eigenen Leuten gescheucht und mit guten Ratschlägen bedacht, dachte er, bloß weil man ein bisschen durchfegt, bloß weil es die faule Nichte nicht machen will, dachte er, kaum hat man einen Besen in der Hand, schon glauben alle, sie können einen herumschubsen! »Wischen? Ich glaub, ich spinne! Und die Klos mach ich auch nicht, sag ich gleich«, sagte er, aber es klang in seinen Ohren unangenehm defensiv, wie er das sagte, der Job macht den Menschen, dachte er, diese Putzjobs stellen etwas mit einem an, sie machen einen klein und machtlos, vielleicht sollte ich Karl Schmidt einfach feuern und Chrissie einstellen, dachte er, nur um zu zeigen, wer hier das Sagen hat! Obwohl, dachte er, das wäre dann wohl ökonomischer Selbstmord.
»Ist doch eklig, wie die aussehen«, sagte Chrissie, »voll scheiße, die Klos!«
»Herrgottnochmal, ich bin der Arbeitgeber«, sagte Erwin. »Wofür bezahl ich denn meine Leute, wenn ich dann noch selber das Klo putze?!«
»Ich werde aber nicht fürs Putzen bezahlt«, sagte Karl und ging hinter den Tresen und öffnete ein Bier.
»Und ich werde überhaupt nicht bezahlt«, sagte Chrissie. »Musst dich dann auch nicht wundern, Onkel Erwin, wenn ich die Miete für deine Wohnung nicht aufbringen kann. Ich will auch so einen Job«, fügte sie hinzu und zeigte auf Karl, der gerade seine Bierflasche an die Lippen setzte.
»Einen, wo du Bier trinkst?« fragte Karl spöttisch.
»Nein, Blödmann, natürlich hinterm Tresen.«
»Du? Hinterm Tresen?« rief Erwin. »Mit Geld? Mit Kasse? Dann kann ich den Laden ja gleich zumachen. Mir reicht schon der da«, er zeigte auf Karl, »seit wann wird hier eigentlich bei der Arbeit getrunken?«