Globale Bewegungsfreiheit. - Andreas Cassee - E-Book

Globale Bewegungsfreiheit. E-Book

Andreas Cassee

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Beschreibung

Jeder Mensch sollte frei entscheiden können, in welchem Land er leben will, Einwanderungsbeschränkungen sind nur in Ausnahmesituationen zulässig. Diese kontroverse These vertritt der Philosoph Andreas Cassee in seinem luziden Buch. Er gibt einen fundierten Überblick über die migrationsethische Debatte der letzten 30 Jahre und bezieht zugleich Stellung für eine Position, die die individuelle Selbstbestimmung über den eigenen Aufenthaltsort ins Zentrum stellt. Ein ebenso aktuelles wie wichtiges Werk.

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2Jeder Mensch sollte frei entscheiden können, in welchem Land er leben will, Einwanderungsbeschränkungen sind nur in Ausnahmesituationen zulässig. Diese kontroverse These vertritt der Philosoph Andreas Cassee in seinem luziden Buch. Er gibt einen fundierten Überblick über die migrationsethische Debatte der letzten 30 Jahre und bezieht zugleich Stellung für eine Position, die die individuelle Selbstbestimmung über den eigenen Aufenthaltsort ins Zentrum stellt. Ein ebenso aktuelles wie wichtiges Werk.

Andreas Cassee ist Visiting Fellow der Kolleg-Forschergruppe »Justitia Amplificata«. Er ist zurzeit an der Freien Universität Berlin tätig.

3Andreas Cassee

Globale Bewegungsfreiheit

Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen

Suhrkamp

4Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2014 auf Antrag von Prof. Dr. Peter Schaber und Prof. Dr. Francis Cheneval als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2202

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-518-74862-6

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

Teil I Argumente für ein Recht auf Ausschluss

2. Die Standardansicht

2.1 Das Recht auf Ausschluss: Ein Recht worauf?

2.2 Staatlicher Zwang und moralische Rechtfertigung

2.3 Kulturelle und institutionalistische Argumentationsstrategien

3. Staaten als Clubs? Wellman über Vereinigungsfreiheit

3.1 Wellmans Argument

3.2 Wenn Staaten wie Clubs wären

3.2.1 Die Aufnahmepolitik von Clubs als moralfreie Zone?

3.2.2 Ein Recht, bisherige Mitglieder und ihre Nachkommen auszuschließen?

3.2.3 Politischer und territorialer Ausschluss

3.2.4 Zwischenfazit

3.3 Weshalb Staaten nicht wie Clubs sind

3.3.1 Partikuläre Projekte vs. gerechter Rahmen

3.3.2 Kollektive Ausschlussrechte und individuelle Outside-Optionen

3.3.3 Territorialstaaten als Container-Assoziationen

3.4 Die Roten und die Blauen

4. »Das ist unser Land!« Pevnick über kollektive Eigentumsrechte

4.1 Pevnicks Argument

4.2 Vier Probleme für Pevnick

4.2.1 Aneignungstheoretische Prämissen

4.2.2 Historisches Unrecht

4.2.3 Territorialität

4.2.4 Unfreiwilligkeit und die Asymmetrie zwischen Einwanderern und neuen Generationen

4.3 Eigentum und Exklusion

5. Ein Recht auf kulturelle Eigenständigkeit? Walzers Kommunitarismus

5.1 Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus

5.2 Walzer über Mitgliedschaft

5.3 Vom Kulturrelativismus zur »gemeinschaftlichen Eigenständigkeit«?

5.3.1 Deskriptiver und metaethischer moralischer Relativismus

5.3.2 Wessen gemeinschaftliche Verständnisse?

5.4 Ohne Kulturrelativismus zur »gemeinschaftlichen Eigenständigkeit«?

5.4.1 Die Analogie zur Familie

5.4.2 Der Wert kultureller Diversität

5.5 Ein Korrektiv, aber keine Alternative

6. Liberaler Nationalismus? Die Argumente von Miller und Kymlicka

6.1 Miller über grundlegende Rechte und den intrinsischen Wert der Nation

6.1.1 Das negative Argument: Grundlegende Rechte und bloße Freiheiten

6.1.2 Eine Pattsituation?

6.1.3 Ein Argument über Anreize?

6.1.4 Spezielle Verpflichtungen und der intrinsische Wert der Nation

6.1.5 Territoriale Rechte

6.1.6 Kritik

6.2 Kymlicka über nationale Zugehörigkeit und individuelle Freiheit

6.2.1 Individuelle Freiheit und der kulturelle Wahlkontext

6.2.2 Kulturelles Material oder eine nationale Kultur?

6.2.3 Kulturelle Kontinuität oder der Erhalt von Kulturgrenzen?

6.3 Kulturelle Homogenität als Voraussetzung gerechter Institutionen?

6.3.1 Eine empirische Frage?

6.3.2 Motivationale Stabilität in der idealen Theorie

6.3.3 Nichtideale Theorie: Einwanderungsbeschränkung als kleineres Übel?

6.4 Fazit

Teil II Individuelle Selbstbestimmung und internationale Mobilität

7. Drei Einwände gegen die Standardansicht

7.1 Individuelle Freiheit

7.1.1 Libertäre und vertragstheoretische Argumente

7.1.2 Analogieargumente

7.2 Globale Verteilungsgerechtigkeit

7.2.1 Ist Migration ein geeignetes Mittel zur Reduktion globaler Ungleichheit?

7.2.2 Ist Migration das richtige Mittel?

7.2.3 Ist globale Verteilungsgerechtigkeit überhaupt gefordert?

7.3 Demokratie

7.3.1 Einwanderungsbeschränkung als Zwang?

7.3.2 Demokratische Legitimität und moralische Rechtfertigung

8. Ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit

8.1 Worauf ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit (k)ein Recht wäre

8.2 Innerstaatliche und zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit

8.2.1 Bewegungsfreiheit und individuelle Autonomie

8.2.2 Genügend Auslauf vs. freie Bewegung

8.2.3 Bewegungsfreiheit als Schutzmechanismus gegen politische Ungleichheit und Unterdrückung?

8.3 Selbstbestimmte Migration als falsche Idealisierung?

8.4 Fazit

9. Das vertragstheoretische Argument

9.1 Einstufige oder zweistufige Vertragstheorie?

9.1.1 Toleranz gegenüber nichtliberalen Gesellschaften

9.1.2 Getrennte Grundstrukturen

9.1.3 Einzelstaatliche Eigenverantwortung

9.1.4 Eine realistische Utopie

9.2 Migration im globalen Urzustand

9.2.1 Hintergrundannahmen: Ideale und nichtideale Theorie

9.2.2 Die Wahl eines Systems territorialer Rechte

9.2.3 Die Grundlagen der Bewegungsfreiheit

9.3 Einschränkungen

9.3.1 Die Restriktion der öffentlichen Ordnung

9.3.2 Grade der innerstaatlichen Gerechtigkeit

9.3.3 Vorrang der Freiheit?

9.3.4 Vorrang der innerstaatlichen Gerechtigkeitsverwirklichung?

9.3.5 Kulturelle Kontinuität

9.4 Fazit

10. Schluss: Ein Paradigmenwechsel

9Vorwort

Immer wieder erreichen uns Nachrichten über Menschen, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa aufbrechen und unterwegs den Tod finden. Eine von Journalistinnen[1] betriebene Datenbank verzeichnet mehr als 30000 Männer, Frauen und Kinder, die seit dem Jahrtausendwechsel beim Versuch, nach Europa einzuwandern, ums Leben gekommen sind.[2] Viele von ihnen sind im Mittelmeer ertrunken, andere sind auf hoher See verdurstet oder eingepfercht in Schiffscontainern oder Lastwagen erstickt. Fast alle dürften sie für ihre tödliche Reise mehr bezahlt haben, als ein Ticket für eine sichere Überfahrt mit der Passagierfähre oder eine Flugreise gekostet hätte, hätte ihnen eine legale Einreise offengestanden.

Diese Tatsachen werfen eine ganze Reihe von drängenden ethischen Fragen auf. Sollte das internationale Asylregime legale Kanäle für die Einreise von politischen Flüchtlingen schaffen? Ist die kategorische Unterscheidung zwischen »richtigen« politischen Flüchtlingen und »falschen« Wirtschaftsflüchtlingen aus ethischer Perspektive überhaupt haltbar? Und sollten wir der Verhinderung vermeidbarer Todesfälle nicht ohnehin den Vorrang einräumen gegenüber anderen Politikzielen, so legitim diese ansonsten auch sein mögen?

Aber die grundlegendste philosophische Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist sicher die, mit welchem Recht Staaten überhaupt den Anspruch erheben, darüber zu verfügen, wer in ihr Staatsgebiet einreisen und sich dort niederlassen darf und wer nicht. Lässt sich ein staatliches Recht auf Ausschluss gegenüber Einwanderungswilligen mit guten Gründen rechtfertigen? Oder sollten wir langfristig eine Welt anstreben, in der jeder Mensch frei darüber entscheiden kann, auf welchem Fleck der Erdoberfläche er sich aufhalten möchte, ohne den jeweiligen Staat um Erlaubnis 10bitten zu müssen? Das ist die zentrale Fragestellung dieses Buches. Es ist wie die meisten Bücher nicht das Produkt eines einsamen Denkprozesses, sondern das Ergebnis eines Gedankenaustauschs mit zahlreichen Menschen innerhalb und außerhalb der akademischen Philosophie, denen ich für ihre Anregungen, Hinweise und Einwände dankbar bin.

Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater Peter Schaber, als dessen Assistent ich eine wohl einmalige Kombination aus Freiheit und konstruktivem Feedback genießen durfte. Seine Skepsis gegenüber Einwanderungsbeschränkungen war seltsamerweise immer mit einer großen Faszination für Grenzen verbunden, die mich an derjenigen zwischen Uganda und Ruanda einige Nerven gekostet hat, was er durch seine kundige Einführung in die lokalen Gegebenheiten allerdings mehr als wettgemacht hat. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Francis Cheneval, der diese Arbeit als Zweitgutachter betreut hat.

Den intensivsten Austausch über migrationsethische Themen hatte ich darüber hinaus mit Anna Goppel und Jan Brezger. Viele meiner Argumente haben auf dem Balkon des Büros von Anna Goppel im Ethik-Zentrum der Universität Zürich ihren ersten Plausibilitätstest erfahren (das gilt auch für manche Überlegung, die den Test nicht bestanden hat und in diesem Buch aus gutem Grund nicht enthalten ist). Darüber hinaus hat sie in Ujué einen Gesprächskreis ins Leben gerufen, von dem ich während der Arbeit an diesem Buch mehrfach profitieren durfte. Jan Brezger hat mich auf zahlreiche Ungenauigkeiten in früheren Versionen einzelner Kapitel aufmerksam gemacht, und da ich parallel zur Überarbeitung dieses Buches mit ihm an einem gemeinsamen Artikel zu verwandten Themen geschrieben habe,[3] befürchte ich, nicht immer den Überblick behalten zu haben, welche Gedanken ich ursprünglich ihm verdanke.

Für wertvolle Hinweise und Gespräche möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen am Ethik-Zentrum der Universität Zürich und an der Freien Universität Berlin sowie bei den Teilnehmenden von Workshops und Konferenzen in Berlin, Bern, Dubrovnik, Karlsruhe, Kassel, Oberdorf, Ujué, Saarbrücken und 11Zürich bedanken. Holger Baumann, Barbara Bleisch, Susanne Boshammer, Georg Brun, Tom Cassee, Stefan Gosepath, Sabine Hohl, Bernd Ladwig und Michael Schefczyk haben mich in verschiedenen Phasen auf je unterschiedliche Weise besonders unterstützt und gefördert. Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser vom Suhrkamp Verlag danke ich für das sorgfältige Lektorat und die umsichtige Betreuung dieses Buchprojekts. Für finanzielle Unterstützung bin ich dem Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich und dem Schweizerischen Nationalfonds dankbar. Und schließlich gilt mein Dank den Flüchtlingen und Sans-Papiers, die im Dezember 2008 die Predigerkirche in Zürich besetzt haben. Ohne sie hätte ich dieses Buch wohl nie zu schreiben begonnen.

121. Einleitung

Wird in der breiteren Öffentlichkeit über Migrationspolitik diskutiert, so steht meist die Frage im Vordergrund, wie viel Zuwanderung – und welche Zuwanderung – dem aufgeklärten Eigeninteresse der Bürgerinnen des jeweiligen Landes dient. Die Asyldebatte mag diesbezüglich ein Stück weit eine Ausnahme sein. Aber jedenfalls wenn es um die Einwanderung von Menschen geht, die keine Flüchtlinge im Sinne des geltenden Rechts sind, dreht sich die Diskussion fast immer darum, welche Politik für diejenigen Menschen gut und nützlich ist, die bereits Angehörige des jeweiligen Staates sind: Wäre ein liberaleres Einwanderungsregime im wirtschaftlichen Interesse des Landes? Oder sind eher zusätzliche Restriktionen angebracht, um Arbeitslosigkeit und Lohndruck auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu bekämpfen? Bedroht »Einwanderung in die Sozialsysteme« den Wohlfahrtsstaat? Oder leistet die Immigration umgekehrt einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung sozialstaatlicher Institutionen angesichts einer zunehmenden »Überalterung« der Bevölkerung? Stellt die Anwesenheit von Migranten aus Sicht der bisherigen Bürgerinnen eine kulturelle Belastung dar? Oder ist sie im Großen und Ganzen doch eher eine Bereicherung?

Ich werde nicht versuchen, diese Fragen hier zu beantworten. Stattdessen möchte ich die normativen Hintergrundannahmen untersuchen, von denen beide Seiten der erwähnten Kontroversen normalerweise ausgehen, wenn sie solche Nützlichkeitserwägungen anstellen. Dass es an den Bürgern der einzelnen Staaten (beziehungsweise an ihren politischen Repräsentantinnen) ist, darüber zu entscheiden, wem sie die Einwanderung in ihr Staatsgebiet erlauben wollen, und dass sie dies nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen und Interessen entscheiden dürfen, wird im politischen Diskurs meist stillschweigend vorausgesetzt. Die Debatte dreht sich darum, wie von einem staatlichen »Recht auf Ausschluss« klugerweise Gebrauch zu machen ist – dass es ein solches Recht gibt, gilt als unkontrovers und unproblematisch.[1]

13Man könnte das vorherrschende Paradigma also dahingehend beschreiben, dass Einwanderungsbegehren etwa wie Heiratsanträge behandelt werden. Ein Einwanderungswilliger kann zwar darlegen, dass er eine »gute Partie« wäre. Einen Anspruch, dass seinem Antrag stattgegeben wird, hat er jedoch nicht. Und genau wie die Empfängerin eines Heiratsantrags nicht unparteiisch zwischen ihren eigenen Wünschen und denjenigen ihres heiratswilligen Gegenübers abzuwägen braucht, wird typischerweise angenommen, dass auch Staaten nicht dazu verpflichtet seien, den Interessen von Einwanderungswilligen bei ihrer Entscheidung das gleiche Gewicht beizumessen wie den Interessen ihrer bisherigen Bürger.

Was ist von dieser Ansicht zu halten? Nimmt man das geltende Völkerrecht zum Maßstab, so ist nichts dagegen einzuwenden. Es gibt zwar ein anerkanntes Menschenrecht auf Auswanderung und eines auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb eines gegebenen nationalstaatlichen Territoriums.[2] Ein Recht auf Einwanderung beziehungsweise auf grenzüberschreitende Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit sieht das Völkerrecht hingegen nicht vor. Es steht den einzelnen Staaten grundsätzlich frei, Restriktionen für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländerinnen zu erlassen.

Die wichtigste Ausnahme von diesem Grundsatz ist das Prinzip des non-refoulement im internationalen Flüchtlingsrecht: Niemand darf in ein Land abgeschoben werden, in dem »sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde«.[3] Doch 14dabei handelt es sich in doppelter Hinsicht nur um eine beschränkte Ausnahme. Erstens gelten längst nicht alle Menschen, die aufgrund menschenrechtlich erheblicher Notlagen auf der Flucht sind, als Flüchtlinge im Sinne des internationalen Rechts. Wer etwa den Folgen einer Naturkatastrophe oder bitterer Armut zu entkommen sucht, genießt nicht den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention. Und zweitens bietet das Prinzip des non-refoulement nur jenen Flüchtlingen Schutz, die sich bereits im Hoheitsgebiet oder unter der hoheitlichen Kontrolle eines sicheren Staates befinden. Ein Recht, in ein sicheres Land der eigenen Wahl einzureisen, haben im rechtlichen Status quo also selbst politisch Verfolgte nicht.[4] Und alle anderen mehr oder weniger freiwilligen Migrantinnen[5] haben grundsätzlich gar keinen Anspruch, in einem Land aufgenommen zu werden, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht bereits besitzen.

Das heißt nicht, dass Staaten typischerweise versuchen würden, ihre Grenzen völlig zu schließen – 244 Millionen Menschen oder rund 3,3 Prozent der Weltbevölkerung lebten 2015 in einem anderen Land, als sie geboren wurden, davon 76 Millionen in Europa.[6] Auch gelingt es den Staaten nur bedingt, ihre Einreise- und Aufenthaltsrestriktionen tatsächlich durchzusetzen – man denke an die rund 1,9 bis 3,8 Millionen irregulären Migranten, die in einer Situation weitgehender faktischer Rechtlosigkeit auf dem Territorium der Europäischen Union leben.[7] Aber die Staaten erachten es doch 15als ihr gutes Recht, solche Restriktionen zu erlassen und zumindest den Versuch zu unternehmen, sie durchzusetzen. Kein wohlhabender Staat lässt freie Einwanderung aus allen Weltgegenden zu. Und es gibt im geltenden Völkerrecht nichts, was die Staaten dazu verpflichten würde, diese Praxis zu ändern.

Aus rechtlicher Sicht sind Einwanderungsbeschränkungen also legal. Doch lässt sich dieser rechtliche Status quo auch mit guten Gründen rechtfertigen? Haben Staaten (beziehungsweise ihre Bürgerinnen) ein moralisches Recht, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu beschränken? Sind Staaten unter moralischen Gesichtspunkten mit privaten Vereinen vergleichbar, deren Mitglieder frei darüber entscheiden dürfen, wen sie als neues Mitglied aufnehmen wollen und wen nicht?[8] Oder gibt es überzeugende Argumente dafür, dass Staaten eher wie Schweizer Kantone oder wie deutsche Bundesländer aussehen sollten, die normalerweise keine Kontrolle über den Zuzug von Menschen aus anderen Kantonen respektive Bundesländern haben?[9] Das ist die Fragestellung, der dieses Buch nachgeht.

Es greift damit eine philosophische Debatte auf, die im englischen Sprachraum seit rund dreißig Jahren kontrovers geführt wird. Ein wichtiger Ausgangspunkt sind dabei die beiden gegensätzlichen Positionen, die Michael Walzer und Joseph Carens in den 1980er Jahren formuliert haben. Walzer spricht sich in seiner Monographie Sphären der Gerechtigkeit für ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht politischer Gemeinschaften über die Aufnahme von Einwanderern aus.[10] Ohne ein Recht auf Ausschluss gäbe es 16Walzer zufolge »keine spezifischen Gemeinschaften, keine historisch stabilen Vereinigungen von Menschen, die einander in einer speziellen Weise verbunden und verpflichtet sind und die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben«.[11]

Eine diametral entgegengesetzte Auffassung verteidigt Carens in seinem Aufsatz »Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten«.[12] Er behauptet, dass Einwanderungsbeschränkungen, wie wir sie heute kennen, mit dem liberalen[13] Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen unvereinbar seien. Die Staatsbürgerschaft in einem wohlhabenden Land sei angesichts der bestehenden Mobilitätsschranken mit einem feudalen Privileg vergleichbar, da sie einer bestimmten Gruppe von Menschen von Geburt an massiv bessere Lebensaussichten garantiere. Und wer das Bekenntnis zur individuellen Freiheit ernst nehme, komme nicht umhin, ein allgemeines Recht auf internationale Bewegungsfreiheit zu akzeptieren.

In den letzten Jahren hat die migrationsethische Debatte erheblich an Intensität gewonnen und zahlreiche Differenzierungen erfahren. Die von Carens geäußerte Kritik, dass ein Recht auf Ausschluss gegen Prinzipien der globalen Chancengleichheit und der individuellen Freiheit verstoße, wurde um einen dritten, demokratietheoretischen Einwand ergänzt: Unilateral beschlossenen Einwanderungsbeschränkungen mangle es an demokratischer Legitimität, weil sie unter Androhung und Ausübung von Zwang gegen Menschen durchgesetzt werden, die ihrerseits keine Mitbestimmungsrechte bei der Festlegung der entsprechenden Gesetze haben.[14] Auf der Gegenseite wurden Walzers Argumente von »li17beralen Nationalisten« aufgegriffen, die – anders als Walzer, dessen kommunitaristische Gerechtigkeitskonzeption gerade als Kritik am »liberalen Mainstream« gedacht ist – die Vereinbarkeit eines kulturell begründeten Selbstbestimmungsrechts nationaler Gemeinschaften mit dem Universalismus und Individualismus liberaler Gerechtigkeitstheorien zu belegen versuchen.[15] Und in jüngerer Zeit werden vermehrt auch Argumente für ein Recht auf Ausschluss diskutiert, die gar nicht auf die kulturelle Dimension des Nationalstaates Bezug nehmen und sich stattdessen auf die Vereinigungsfreiheit[16] oder auf Eigentumsrechte an staatlichen Institutionen[17] berufen.

Diese verschiedenen Stränge der migrationsethischen Debatte sollen im Verlauf dieses Buches genauer dargestellt und kritisch beleuchtet werden. Dabei werde ich eine negative und eine positive Hauptthese vertreten. Meine negative These lautet, dass die »Standardansicht«, der zufolge Staaten die Einwanderung nach Maßgabe der Interessen und Vorlieben ihrer Bürger unilateral beschränken dürfen, moralisch unhaltbar ist. Um diese These zu begründen, werde ich im ersten Teil des Buches die in der Debatte gängigen Argumente für ein Recht auf Ausschluss untersuchen und darlegen, weshalb sie mich allesamt nicht überzeugen. Im zweiten Kapitel wird zunächst etwas genauer rekonstruiert, worauf ein Recht auf Ausschluss eigentlich ein Recht wäre. Anschließend werden vier Ansätze zur Begründung dieses Rechts dargestellt und kritisiert. Das dritte Kapitel ist der Argumentation von Christopher H. Wellman gewidmet, der sich auf die Vereinigungsfreiheit beruft und eine Analogie zwischen Staaten und Clubs geltend macht. Das vierte Kapitel beleuchtet Ryan Pevnicks Position, die das Recht auf Ausschluss mit kollektiven Eigentumsrechten an staatlichen 18Institutionen begründet. Das fünfte Kapitel behandelt Walzers kommunitaristische Position, und im sechsten Kapitel kommen die liberal-nationalistischen Ansätze von David Miller und Will Kymlicka zur Sprache.

Im zweiten Teil des Buches werden dann die Argumente gegen ein Recht auf Ausschluss in den Blick genommen. Das siebte Kapitel gibt einen Überblick über drei zentrale Einwände gegen Einwanderungsbeschränkungen, die sich auf Prinzipien der individuellen (Bewegungs-)Freiheit, der globalen Verteilungsgerechtigkeit und der demokratischen Partizipation stützen. Der erstgenannte Einwand liegt meiner positiven Hauptthese zugrunde. Ich werde die Ansicht vertreten, dass alle Menschen ein moralisches Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit haben, das zwar nicht absolut gilt, aber doch eine erheblich offenere Einwanderungspolitik erfordert, als sie heute in Europa oder Nordamerika betrieben wird. Im achten Kapitel verteidige ich die Ansicht, dass dieselben Gründe, die dem weithin anerkannten Recht auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb eines Staates zugrunde liegen, auch für ein Recht auf zwischenstaatliche Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit sprechen. Im neunten Kapitel versuche ich dann, meine These im Rahmen eines kosmopolitischen Kontraktualismus näher zu begründen und eine Antwort auf die Frage zu geben, inwieweit eine gewisse Beschränkung der globalen Bewegungsfreiheit unter besonderen Umständen doch zulässig sein könnte. Das zehnte und letzte Kapitel fasst die wichtigsten Ergebnisse kurz zusammen.

19Teil I Argumente für ein Recht auf Ausschluss

212. Die Standardansicht

Die Mehrheitsmeinung geht zweifellos dahin, dass Staaten nicht nur aus Sicht des geltenden Rechts, sondern auch aus moralischer Perspektive dazu berechtigt sind, Einwanderungswilligen die Einreise oder die längerfristige Niederlassung im Staatsgebiet zu untersagen. Ich werde diese Position deshalb als »Standardansicht« bezeichnen.

Im Folgenden möchte ich zunächst etwas genauer herausarbeiten, worin das »Recht auf Ausschluss«, das Staaten der Standardansicht zufolge genießen, genau besteht (Abschnitt 2.1). Anschließend mache ich einige Bemerkungen zum Rechtfertigungsbedarf, der mit Blick auf dieses Recht besteht (Abschnitt 2.2), bevor ich einen Überblick über die Ansätze gebe, die in der philosophischen Debatte zu seiner Rechtfertigung herangezogen werden (Abschnitt 2.3).

2.1 Das Recht auf Ausschluss: Ein Recht worauf?

Worauf ist das (vermeintliche) Recht auf Ausschluss eigentlich ein Recht? Um ein geeignetes Vokabular zur Beantwortung dieser Frage zur Hand zu haben, scheint es mir sinnvoll, hier zuerst kurz die Terminologie »Hohfeld’scher Inzidenzien« einzuführen, auf die ich in dieser Arbeit noch verschiedentlich zurückgreifen werde. Genau genommen beziehe ich mich auf eine modifizierte Version der Terminologie des amerikanischen Juristen Wesley Hohfeld, die der Philosoph Leif Wenar in der Debatte über Rechte verteidigt hat.[1]

Wenar unterscheidet zwischen vier Arten von Bausteinen (incidents), aus denen komplexere Rechte zusammengesetzt sind: Anspruchsrechte (claims), Privilegien (privileges), Kompetenzen (powers) und Immunitäten (immunities). Die beiden basalen Bausteine sind Anspruchsrechte und Privilegien. Anspruchsrechte nehmen 22andere Personen der Rechtsträgerin gegenüber in die Pflicht. Ich habe ein Anspruchsrecht, dass Person P (nicht) φ-t, wenn Person P mir gegenüber verpflichtet ist, (nicht) zu φ-en. Dabei kann weiter unterschieden werden zwischen negativen Anspruchsrechten darauf, dass andere Personen uns in bestimmten Hinsichten in Ruhe lassen (wie im Fall des Rechts, nicht geschlagen zu werden), und positiven Anspruchsrechten darauf, dass andere Personen etwas für uns tun (ein Beispiel wäre hier das Recht auf Gesundheitsversorgung).

Privilegien – man könnte auch von »Erlaubnissen« sprechen – haben demgegenüber die Verpflichtungen der Rechtsträgerin selbst zum Gegenstand: Ich habe das Privileg zu φ-en, wenn ich nicht verpflichtet bin, nicht zu φ-en. Privilegien können einzeln oder gekoppelt auftreten. Im ersten Fall handelt es sich um Ausnahmen von einer Regel wie etwa beim Privileg der »Befugten«, ein Gelände zu betreten, das zu betreten Unbefugten verboten ist. Treten Privilegien gekoppelt auf – habe ich sowohl das Privileg zu φ-en als auch das Privileg nicht zu φ-en –, so bilden sie zusammen eine »Freiheit« (liberty): Es steht mir dann frei, zu φ-en oder auch nicht, ganz wie ich will.

Die beiden anderen Bausteine, Kompetenzen und Immunitäten, sind Ansprüche höherer Ordnung. Kompetenzen sind Fähigkeiten zur Veränderung von Rechten. Im einfachsten Fall handelt es sich um eine Fähigkeit, Privilegien oder Anspruchsrechte zu verleihen oder zu entziehen. Solcher Art ist etwa das Hausrecht. Wer dieses Recht hat, kann anderen das Privileg, sich in einem bestimmten Raum aufzuhalten, verleihen oder entziehen. Darüber hinaus sind aber auch höherstufige Kompetenzen möglich, also Fähigkeiten, Kompetenzen (oder Immunitäten) zu verleihen. Ein Beispiel wäre hier die Kompetenz, Richter zu ernennen, die durch die Ernennung ihrerseits bestimmte Kompetenzen erlangen. Immunitäten schließlich beschränken Kompetenzen, sie schützen uns vor einer Veränderung unserer Rechte. Das Recht auf Kündigungsschutz beispielsweise ist eine Immunität, die unter bestimmten Bedingungen vor der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber schützt.

Das Recht auf Ausschluss, um das es hier geht, lässt sich in dieser Terminologie zunächst als eine Kompetenz klassifizieren. Inhaber dieser Kompetenz sind die einzelnen Nationalstaaten (beziehungs23weise im Fall demokratischer Staaten, um den es mir im Folgenden gehen wird, letztlich deren Bürgerinnen); das Recht auf Ausschluss befähigt sie, die Rechte von Nichtbürgern zu verändern. Ihnen kann der Standardansicht zufolge die Einwanderung erlaubt oder verboten werden, wobei entsprechende Restriktionen die Einreise oder den längerfristigen Aufenthalt auf dem jeweiligen Territorium betreffen können.

Mit der Einreise- und Aufenthaltserlaubnis verleiht der Staat in erster Linie ein Privileg. Wenn ein Staat mir dieses Recht verliehen hat, bin ich nicht verpflichtet, von der Einreise abzusehen oder auszureisen. Darüber hinaus generiert die Aufenthaltsgenehmigung aber auch negative Anspruchsrechte (Dritte dürfen mich nicht daran hindern, mich im Staatsgebiet aufzuhalten) sowie positive Ansprüche darauf, von den Instanzen der Rechtsdurchsetzung in meinen negativen Anspruchsrechten geschützt zu werden. Die Frage, welche weiteren Rechte etwa auf sozialstaatliche Leistungen mit der Einwanderung einhergehen und ob Migrantinnen nach einer bestimmten Zeitspanne die Möglichkeit bekommen sollten, die vollen Bürgerrechte zu erwerben, wird uns später noch beschäftigen; für den Moment kann dies jedoch offenbleiben.

Eine wichtige Präzisierung betrifft nun die Frage, in welchem normativen System das Bestehen der hier skizzierten Ausschlusskompetenz behauptet wird. Insofern ich bereits deutlich gemacht habe, dass es in dieser Arbeit nicht um eine positiv-rechtliche Frage gehen soll, könnte man vielleicht versucht sein, die fragliche Kompetenz als eine moralische Kompetenz zu verstehen. Die These würde dann lauten, dass Nichtbürgerinnen moralisch dazu verpflichtet seien, nicht einzureisen beziehungsweise auszureisen, falls ein Staat ihnen die Einreise oder den Aufenthalt untersagt. Allerdings scheint mir diese Rekonstruktion des Rechts auf Ausschluss zu schwach zu sein, um die Standardansicht adäquat zu beschreiben. Denn die meisten Befürworter von Einwanderungsbeschränkungen wären wohl keineswegs zufrieden, Außenstehende bloß moralisch zur Nichteinreise oder Ausreise verpflichten und ihnen gegebenenfalls Vorwürfe machen zu können, wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Und umgekehrt wäre die Annahme einer moralischen Ausschlusskompetenz möglicherweise auch zu stark, denn manchmal wird durchaus auch die Ansicht vertreten, man mache irregulären Migranten zwar keine moralischen Vorwürfe, wenn sie 24versuchten, illegal einzureisen, man sei allerdings dazu berechtigt, sie aufzuhalten oder nach erfolgter Einreise wieder abzuschieben.[2]

Was die Befürworter eines Rechts auf Ausschluss im Blick haben, ist offenbar eine Form von Verpflichtung, die nötigenfalls mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann. Es scheint mir deshalb sinnvoll, die Kompetenz, um die es hier geht, als eine rechtliche Kompetenz zu beschreiben, wobei ich einfach annehmen werde, dass rechtliche Kompetenzen mit der Befugnis verbunden sind, entsprechende Regelungen (unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit) mit Zwang durchzusetzen. Die These, um die es hier gehen soll, lautet allerdings nicht, dass Staaten diese rechtliche Kompetenz aktuell haben (das haben sie ohne Zweifel), sondern dass sie eine solche Kompetenz aus moralischer Perspektive haben sollten. Der erste Bestandteil der Standardansicht, wie ich sie im Folgenden verstehen möchte, lautet deshalb:

1.These über die nationalstaatliche Entscheidungskompetenz: Nationalstaaten sollten die rechtliche Kompetenz haben, Nichtbürgerinnen die Einwanderung zu erlauben oder zu verbieten.

Das Postulat einer rechtlichen Entscheidungskompetenz auf nationalstaatlicher Ebene dürfte allerdings noch nicht genügen, um die Standardansicht angemessen zu charakterisieren. Denn mit der These über die nationalstaatliche Entscheidungskompetenz ist noch nichts darüber gesagt, welche Gebote der Gerechtigkeit oder der Moral bei der Ausübung dieser Kompetenz gegebenenfalls einschlägig sind. Im Extremfall könnte die Annahme einer nationalstaatlichen Entscheidungskompetenz gar mit der Ansicht vereinbar sein, dass staatliche Gemeinschaften ihrerseits moralisch verpflichtet sind, ein allgemeines Recht auf Einwanderung anzuerkennen. Eine solche »kompatibilistische« Position vertritt Oliviero Angeli.[3]25Seiner Ansicht nach sollten Staaten zwar die Kompetenz haben, Einwanderungswilligen eine gültige Verpflichtung zur Nichteinreise oder Ausreise aufzuerlegen. Die Staaten selbst (beziehungsweise ihre Bürgerinnen) seien aber moralisch verpflichtet, von Einwanderungsbeschränkungen (weitgehend) abzusehen. Das Recht, Einwanderungswillige abzuweisen, sei deshalb ein »Recht, Unrecht zu tun« (a right to do wrong).[4]

Nun halte ich diese Position zwar inhaltlich nicht unbedingt für überzeugend,[5] aber wir sollten sie nicht von vornherein ausschließen. Um die Standardansicht angemessen zu beschreiben, müssen wir der These über die nationalstaatliche Entscheidungskompetenz deshalb Annahmen über den Spielraum zur Seite stellen, den Staaten bei der Ausübung ihrer einwanderungspolitischen Entscheidungskompetenz (angeblich) genießen. Eine sehr weitreichende Annahme könnte an dieser Stelle lauten, dass es Staaten (oder ihren Bürgerinnen) moralisch völlig freisteht, wie sie von ihrer einwanderungspolitischen Entscheidungskompetenz Gebrauch machen wollen. Die These würde dann lauten, dass staatliche Gemeinschaften ein gekoppeltes moralisches Privileg beziehungsweise eine moralische Freiheit mit Blick auf die Ausübung ihrer rechtlichen Ausschlusskompetenz genießen. Doch diese Annahme ginge wohl zu weit. Denn auch die Befürworter eines einigermaßen robusten Rechts auf Ausschluss behaupten typischerweise nicht, dass einwanderungspolitische Entscheidungen überhaupt keinen moralischen Einschränkungen unterliegen. So wird oft zugestanden, dass spezifische Personengruppen wie politische oder auch wirtschaft26liche Flüchtlinge einen Anspruch auf Aufnahme geltend machen können[6] oder dass bestimmte Auswahlkriterien (etwa solche, die offen rassistisch sind) moralisch unzulässig wären.[7]

Statt mich auf eine positive Umschreibung des moralischen Spielraums festzulegen, den staatliche Gemeinschaften bei der Festlegung ihrer Einwanderungspolitik der Standardansicht zufolge genießen, möchte ich es hier bei zwei negativen Thesen bewenden lassen. Ähnlich breite Zustimmung wie die These über die nationalstaatliche Entscheidungskompetenz dürfte zunächst die Annahme finden, dass Individuen im Allgemeinen kein moralisches Recht auf Einwanderung haben:

2.Negation eines Rechts auf Einwanderung: Es gibt kein allgemeines negatives moralisches Anspruchsrecht, in ein Land der eigenen Wahl einzuwandern.

Ein solches Recht auf Einwanderung wäre ein allgemeines Recht in dem Sinn, dass jede Person es genießen würde. Und es wäre ein negatives Recht, weil es uns nicht in die Pflicht nähme, Einwanderungswilligen bei der Einreise oder Niederlassung behilflich zu 27sein, sondern uns nur verböte, sie mit Zwangsmitteln an der Einwanderung zu hindern.[8] Das Recht auf Einwanderung müsste auch kein absolutes Recht sein. Aber wenn es ein solches Recht gäbe, so würde doch gelten, dass ein Staat jeden einzelnen Einwanderungswilligen aufnehmen muss, sofern nicht gezeigt werden kann, dass andere moralische Ansprüche von größerem Gewicht das Recht auf Einwanderung im konkreten Einzelfall überwiegen. Die Sache verhielte sich also ungefähr so wie beim Recht auf Versammlungsfreiheit: Es mag zwar kein absolutes Recht geben, sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt an jedem beliebigen Ort zu versammeln. Aber der Grundsatz lautet doch, dass Menschen frei entscheiden dürfen, wann sie sich wo mit wem versammeln wollen, und jede Ausnahme von diesem Grundsatz bedarf einer Rechtfertigung. Dass Analoges für das Ausstellen von Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen gilt, würden die Befürworter eines Rechts auf Ausschluss aber zweifellos bestreiten.

Über die Annahme hinaus, dass Einwanderungswillige kein individuelles Recht auf Einwanderung haben, wird schließlich typischerweise auch angenommen, dass Staaten nicht verpflichtet sind, die Interessen ihrer Bürger (beispielsweise nach Maßgabe eines utilitaristischen Nutzenkalküls) unparteiisch gegen die Interessen von Einwanderungswilligen abzuwägen. Es gilt gemeinhin als unproblematisch, wenn sich die Einwanderungspolitik eines Landes in erster Linie an den Interessen derer orientiert, die bereits seine Bürger sind:

3.These über die gerechtfertigte Parteilichkeit: Bei der Ausübung ihrer einwanderungspolitischen Entscheidungskompetenz dürfen Staaten zugunsten ihrer eigenen Bürger parteiisch sein.

Die Charakterisierung der Standardansicht über die Thesen 1.-3. ist natürlich hochgradig präzisierungsbedürftig. Zahlreiche Autoren, welche der Standardansicht im Großen und Ganzen zustimmen, sehen Ausnahmen für bestimmte Personengruppen oder für besondere Umstände vor (zum Beispiel wenn ein Nationalstaat einen übermäßig großen Teil der Erdoberfläche als sein Territorium 28beansprucht[9]). Um diese Spezialfälle für den Moment ausblenden zu können, werde ich im Folgenden als Vertreterin der Standardansicht bezeichnen, wer den Thesen 1.-3. für Einwanderungswillige ohne bestehende Beziehung zum Zielland und für Bedingungen, wie sie in Europa mehrheitlich erfüllt sind, zustimmt.

So gefasst, deckt die Standardansicht immer noch ein beträchtliches Spektrum an unterschiedlichen Positionen ab. So lässt die Formulierung der drei Thesen offen, zu welchem Zeitpunkt Staaten Einwanderungswillige abweisen dürfen. Sowohl die Ansicht, dass Staaten Nichtbürgern die Einreise untersagen dürfen (ihnen aber möglicherweise nach einer gewissen Aufenthaltsdauer die vollen Bürgerrechte verleihen müssen und sie dann nicht mehr abschieben dürfen[10]), als auch die Ansicht, dass Staaten bereits eingereisten Personen die längerfristige Niederlassung untersagen dürfen (aber möglicherweise Zutrittsrechte für kurzfristige Besuche gewähren müssen[11]), sind demnach Varianten der Standardansicht.

Auch die These über die gerechtfertigte Parteilichkeit lässt erheblichen Interpretationsspielraum zu. Erstens lässt die Formulierung offen, ob es bloß erlaubt ist, parteiisch zu entscheiden, oder ob es aufgrund spezieller Verpflichtungen gegenüber unseren Mitbürgerinnen gar gefordert ist, dies zu tun. Und zweitens ist die Standardansicht mit unterschiedlichen Formen von Parteilichkeit vereinbar. Die Möglichkeiten reichen von »extremer Parteilichkeit« (nur die Interessen der Bürger zählen) bis zu einer »humanitären« Position, der zufolge wir zwar gegenüber Nichtbürgerinnen nicht unparteiisch zu sein brauchen, es aber doch unmenschlich wäre, ihre Interessen überhaupt nicht zu berücksichtigen. Irgendwo in diesem Spektrum positionieren sich die meisten politischen Akteure und zahlreiche philosophische Autorinnen und Autoren. Wenn ich all diese Positionen dennoch in einen Topf werfe, dann vor allem deshalb, weil ich glaube, dass sämtliche Versionen der Standardansicht erheblichen Einwänden ausgesetzt sind.

292.2 Staatlicher Zwang und moralische Rechtfertigung

»Grenzen haben Wächter, und die Wächter sind bewaffnet.«[12] Mit diesen Worten beginnt Joseph Carens’ Kritik an einem Recht auf Ausschluss, die mit den Anstoß für die neuere philosophische Debatte über Einwanderungsbeschränkungen gegeben hat. Staatliche Grenzen sind keine natürlichen Mobilitätsschranken, sondern von Menschenhand gezogene Demarkationslinien, die unter Androhung (und in erheblichem Ausmaß auch unter tatsächlichem Einsatz) von physischem Zwang kontrolliert werden. Und wenn wir einander für irgendetwas eine Rechtfertigung schuldig sind, dann zweifellos für die Ausübung von Zwang.[13] An diesem Rechtfertigungsbedarf vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass die Durchsetzung von Einwanderungsbeschränkungen zunehmend an externe Akteure ausgelagert wird, etwa indem Fluggesellschaften mit Sanktionen bedroht werden, sollten sie irreguläre Migrantinnen ins Land bringen.[14]

Diese Problembeschreibung macht bereits deutlich, weshalb es voreilig sein könnte, die Einwanderungsfrage von vornherein als eine Frage nach unseren Hilfspflichten gegenüber Flüchtlingen (im engen Sinn des geltenden Rechts oder auch in einem weiteren Sinn) zu verstehen. Denn Hilfspflichten sind Pflichten, unsere Ressourcen einzusetzen, um die Not von Dritten zu lindern. Strittig ist mit Blick auf die Einwanderungsfrage aber bereits, mit welchem Recht eine Gruppe von Menschen überhaupt für sich beanspruchen kann, dass ein bestimmter Teil der Erdoberfläche im relevanten Sinn ihr Territorium sei. Weshalb sollten die Bürgerinnen eines 30Landes überhaupt ein Recht haben, Außenstehende (ob notleidend oder nicht) unter Zwangsandrohung von einem bestimmten Gebiet fernzuhalten?

Dieses Problem scheint auch Kant im Blick zu haben, wenn er in Zum ewigen Frieden schreibt, dass die Menschen sich als Bewohner der Oberfläche einer Kugel »nicht ins Unendliche zerstreuen können«, sondern »sich doch neben einander dulden müssen«, und gleichzeitig betont, dass »ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der Andere«.[15]

Gibt es ein überzeugendes Argument, das von diesem ursprünglich gleichen Anspruch aller Individuen, sich an einem Ort aufzuhalten, zu der Konklusion führt, dass die Bürger eines Landes letztlich doch das Recht haben, die Einwanderung in ihr Staatsgebiet zu beschränken? Kant selbst scheint dies zu glauben, auch wenn an dieser Stelle nicht abschließend deutlich wird, worin das Argument bestehen könnte. Vom »gemeinschaftlichen Besitz der Oberfläche der Erde« bleibt bei ihm am Ende nur ein Besuchs- oder »Hospitalitätsrecht« bestehen, das ein Recht einschließt, sich in einem fremden Land »zur Gesellschaft anzubieten«. Dieses Angebot eines »Fremdlings« dürfe aber abgelehnt werden, »wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann«.[16]

Klar scheint mir jedoch, dass an dieser Stelle irgendein Argument vonnöten ist. Wer an der Standardansicht festhalten will, muss etwas dazu sagen, auf welcher Rechtfertigungsgrundlage eine Gruppe von Menschen den Anspruch erheben kann, andere Menschen unter Zwang von einem Teil der Oberfläche unseres Planeten auszuschließen.

Wie könnte eine solche Rechtfertigung aussehen? Wie könnte die Standardansicht gegen die dreifache Alternative verteidigt werden, dass die einwanderungspolitische Entscheidungskompetenz erstens nicht bei den Einzelstaaten, sondern bei einem globalen demos angesiedelt sein sollte, dass die Entscheidungsträger (wer auch 31immer sie sein mögen) zweitens die Interessen derer »drinnen« und derer »draußen« unparteiisch gegeneinander abwägen sollten und dass Staaten drittens ein individuelles Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit respektieren sollten?[17]

2.3 Kulturelle und institutionalistische Argumentationsstrategien

Um etwas Ordnung in die Debatte zu bringen, scheint es mir hilfreich, an dieser Stelle zwei Unterscheidungen einzuführen: die zwischen Schutzargumenten und Kontrollargumenten und die zwischen kulturellen und institutionalistischen Ansätzen.

»Schutzargumente« behaupten, dass Einwanderungsbeschränkungen gerechtfertigt sind, weil (und wenn) sie notwendig sind, um irgendein wertvolles Gut wie beispielsweise die öffentliche Ordnung, ein gewisses Lohnniveau auf dem heimischen Arbeitsmarkt oder eine bestimmte Sprache oder Kultur zu schützen. Argumente dieser Art gehen in einer Hinsicht weiter als die Standardansicht, wie ich sie in Abschnitt 2.1 rekonstruiert habe. Wenn ein solches Argument durchkommt, folgt daraus wohl nicht nur, dass Staaten die Einwanderung beschränken dürfen, sondern auch, dass sie dies tun sollten. In einer anderen Hinsicht gehen Schutzargumente aber wesentlich weniger weit als die Standardansicht. Sie lassen kaum den Schluss zu, dass Staaten ein allgemeines Recht auf Ausschluss haben, sondern begründen nur die bescheidenere These, dass die Einwanderung unter bestimmten kontingenten Umständen und in dem Maß beschränkt werden darf, in dem dies tatsächlich notwendig ist, um das fragliche Gut zu schützen. Um die Standardansicht zu rechtfertigen, ist deshalb eine andere Art von Argument notwendig: ein Argument dafür, dass die Einwanderungspolitik unter der mehr oder weniger freien Verfügung nationalstaatlicher Gemeinschaften stehen sollte (Kieran Oberman nennt solche Argumente »Kontrollargumente«).[18]

32Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Souveränität der Nationalstaaten verwiesen. Die Kontrolle über die Einwanderung sei ein integraler Bestandteil dessen, was es bedeute, Nationalstaaten als »souverän« zu verstehen.[19] Dieses Argument ist allerdings aus zwei Gründen unbefriedigend. Erstens ist die begriffliche Diagnose, die ihm zugrunde liegt, keineswegs unanfechtbar.[20] So gewährte die französische Verfassung von 1791 jedem Menschen die Freiheit, »zu gehen, zu bleiben, zu reisen, ohne verhaftet oder gefangengehalten zu werden […]«.[21] Dennoch war der Verfassungsgeber wahrscheinlich nicht der Ansicht, damit die Souveränität Frankreichs aufzugeben. Doch selbst wenn die Diagnose richtig wäre, dass die Befugnis zur Einwanderungskontrolle zum Kerngehalt des Souveränitätsbegriffs zählt, würde sich zweitens immer noch die Frage stellen, weshalb es »souveräne« Nationalstaaten in diesem Sinn aus normativer Sicht überhaupt geben sollte – wobei als Alternative nicht nur ein Weltstaat oder eine Situation allgemeiner Anarchie in Betracht kommt, sondern eben auch eine Welt mit einer Vielzahl von Einzelstaaten, die bloß in der einen Hinsicht nicht »souverän« sind, als sie Einwanderungswillige nicht nach Gutdünken abweisen dürfen.

Was wäre problematisch daran, Staaten dieses eine Recht, ob es nun ein untrennbarer Bestandteil des Souveränitätsbegriffs ist oder nicht, zu entziehen? Die philosophischen Befürworter eines Rechts auf Ausschluss beantworten diese Frage typischerweise im Rückgriff auf einen irgendwie gearteten Anspruch auf kollektive Selbstbestimmung. Die bisherigen Mitglieder einer nationalstaatlichen Gemeinschaft haben ein Recht auf Selbstbestimmung, und dieses Recht schließt einen Anspruch ein, über die Zuwanderung und 33damit verbundene Veränderungen des »Selbst« zu bestimmen, so die Grundform des Arguments.[22] Diesem Argument werden in der Debatte nun verschiedene Deutungen gegeben, die den Anspruch auf nationalstaatliche Selbstbestimmung je unterschiedlich verstehen und begründen. Dabei kann grob zwischen zwei Kategorien von Ansätzen unterschieden werden.

Traditionelle »kulturelle« oder »nationalistische« Ansätze verstehen das einschlägige Recht auf kollektive Selbstbestimmung als ein Recht, das zunächst Nationen als kulturellen Gemeinschaften zukommt. Staaten haben ein solches Recht nur deshalb (und nur dann?), weil (und wenn?) ihre Grenzen zumindest grob mit den Grenzen zwischen nationalen Kulturen zusammenfallen. Der relevante Unterschied zwischen Nationalstaaten, die ein Recht auf Ausschluss besitzen, und subnationalen politischen Einheiten wie Kommunen, Kantonen oder Bundesländern, die kein solches Recht haben, besteht diesen Ansätzen zufolge darin, dass wir es bei der innerstaatlichen Wanderung normalerweise mit co-nationals oder »unseresgleichen« zu tun haben, wohingegen es im internationalen Fall um die Aufnahme von »Fremden« geht. Im Hintergrund steht dabei die Annahme, dass sich Menschen in der internationalen Arena in moralisch erheblicher Hinsicht nicht (nur) als Individuen, sondern (auch) als Angehörige verschiedener kultureller Gemeinschaften oder Nationen begegnen.

Die wohl erste breit angelegte Verteidigung der Standardansicht auf kulturellen Prämissen stammt vom kommunitaristischen Philosophen Michael Walzer.[23] Die Grundlage seines Arguments bildet eine partikularistische Gütertheorie, der zufolge die Bedeutung, die einem Gut in einer bestimmten Kultur zugeschrieben wird, die Quelle aller moralischen Prinzipien für die Verteilung dieses Guts ist. Auch die Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft sei ein Gut, das verteilt werde, und wie bei anderen Gütern könne das Verteilungskriterium nur dem gemeinschaftlichen Verständnis derer entspringen, die es ersonnen haben. Sofern sich eine Gemeinschaft als demokratisch verstehe, müsse sie Migrantinnen, die auf dem Territorium aufgenommen werden, zumindest perspektivisch als volle Mitglieder ansehen. Gerade weil die interne Exklusion von Menschen, die auf dem Territorium leben, moralisch unhaltbar sei, 34müssten politisch-kulturelle Gemeinschaften aber ein Recht auf externe Exklusion an den Außengrenzen haben.

Entlang der Analogien des Clubs und der Familie entwickelt Walzer eine migrationsethische Position, der zufolge es den einzelnen Gemeinschaften weitgehend freisteht, Fremde aufzunehmen oder abzuweisen. Wie bei Clubs seien es bei Staaten die bisherigen Mitglieder, die zu entscheiden haben, wen sie als neues Mitglied aufnehmen wollen. Und wie bei Familien bestünden besondere Pflichten gegenüber »nationalen Verwandten«. Die Interessen von »Fremden« spielen in Walzers Theorie hingegen eine untergeordnete Rolle. Zwar sieht er ein minimales Prinzip der gegenseitigen Hilfe vor, auf das sich politisch Verfolgte berufen können, auch wenn keine ethnische oder kulturelle Affinität zwischen ihnen und der möglichen Aufnahmegesellschaft besteht. Doch das Gebot der gegenseitigen Hilfe stoße schnell an seine Grenzen, wenn die Zahl der Flüchtlinge groß werde – dieses externe Prinzip könne »die Aufnahmepolitik, die ihre Basis im jeweiligen Spezialverständnis der Gemeinschaft von sich selbst hat, nur modifizieren, nicht aber von Grund auf umgestalten«.[24]

Eine zweite Position (oder eher Familie von Positionen), die sich ebenfalls auf die normative Relevanz der kulturellen Zugehörigkeit beruft, wird von ihren Vertretern als »liberaler Nationalismus« bezeichnet. Die Gründe, die liberale Nationalisten für Einwanderungsbeschränkungen anführen, sind sehr ähnlich wie diejenigen, die Walzer geltend macht. Ein zentraler Unterschied zum Kommunitarismus besteht jedoch in den liberalen Anteilen des liberalen Nationalismus. So legt etwa David Miller Wert darauf, die moralische Bedeutsamkeit der nationalen Zugehörigkeit verteidigen zu können, ohne einen (schwachen) »moralischen Kosmopolitismus« aufgeben zu müssen.[25]

Um die Verschmelzung von liberalen und nationalistischen Theorieelementen zu verteidigen, greifen liberale Nationalisten auf eine Kombination aus negativen und positiven Argumentationsstrategien zurück. Sie versuchen einerseits zu zeigen, dass ihre nationalistischen Thesen liberalen Prinzipien nicht widersprechen, und sie formulieren andererseits positive (dem Anspruch nach liberale) 35Argumente für die moralische Relevanz der nationalen Zugehörigkeit. In den ersten Bereich fällt Millers minimalistisches Verständnis des Rechts auf Bewegungsfreiheit als Recht auf eine angemessene Auswahl an Optionen in wichtigen Lebensbereichen. Es soll deutlich machen, dass man die innerstaatliche Bewegungsfreiheit ernst nehmen kann, ohne zugleich ein Recht auf zwischenstaatliche Bewegungsfreiheit zu akzeptieren.[26] Darüber hinaus argumentiert Miller positiv, die Angehörigen nationaler Gruppen seien dazu berechtigt, Einwanderungswillige abzuweisen, weil unter ihnen spezielle Verpflichtungen bestehen, die er mit dem intrinsischen Wert nationaler Bindungen begründet.[27]

Ein weiteres, genuin liberales Argument für die Bedeutsamkeit der nationalen Zugehörigkeit hat Will Kymlicka in die Debatte eingebracht. Kymlickas Bezugspunkt ist – ganz im Einklang mit der liberalen Tradition – die individuelle Freiheit beziehungsweise Autonomie. Diese setze allerdings einen kulturellen »Wahlkontext« (context of choice) voraus. Der Zugang zu einer »gesellschaftlichen Kultur« sei eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Individuen in ihrer Lebensgestaltung zwischen sinnvollen Optionen wählen können. Das Bekenntnis zur individuellen Freiheit impliziere deshalb keineswegs ein Bekenntnis zu offenen Grenzen. Freie Einwanderung gäbe den Menschen zwar mehr Optionen, doch diese Optionen würden ihrer Bedeutung beraubt, weil die Stabilität des kulturellen Bezugsrahmens in Gefahr geriete, durch den Menschen erst in die Lage versetzt würden, eine sinnvolle Wahl zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen zu treffen.[28]

Ein drittes liberal-nationalistisches Argument beruft sich schließlich auf die Rolle kultureller Faktoren bei der Realisierung gerechter Institutionen. Die nationale Identität sei eine wichtige Quelle des Vertrauens unter den Bürgerinnen eines Nationalstaats, und dieses Vertrauen sei eine unabdingbare Voraussetzung für die 36Möglichkeit, sozialstaatliche Institutionen aufrechtzuerhalten und deliberative Formen der Demokratie zu praktizieren.[29]

Haben wir gegenüber co-nationals stärkere Verpflichtungen als gegenüber Fremden? Besteht die Menschheit in moralisch erheblicher Hinsicht aus Angehörigen verschiedener »Völker« oder »Nationen«? Oder sind individuelle Ansprüche und Interessen der richtige Bezugspunkt für eine normative Theorie der internationalen Beziehungen? Entlang dieser Fragen verliefen lange die Fronten in der migrationsethischen Debatte.

In jüngerer Zeit werden jedoch vermehrt auch »institutionalistische« Ansätze zur Rechtfertigung eines Rechts auf Ausschluss herangezogen, die ohne Bezugnahme auf die identitäre oder kulturelle Dimension des Nationalstaates auskommen. Diesen Ansätzen zufolge haben die bisherigen Bürgerinnen alleine aufgrund ihrer institutionellen Zugehörigkeit zum jeweiligen Staat das Recht, über dessen zukünftige Einwohnerschaft zu entscheiden. Und sie haben dieses Recht selbst dann, wenn zwischen bisherigen Bürgerinnen und Einwanderungswilligen keinerlei kulturelle Unterschiede bestehen.

Der wohl prominenteste Vertreter eines solchen Ansatzes ist Christopher H. Wellman.[30] Er nimmt Walzers Analogie zwischen Staaten und Clubs wörtlich und beruft sich auf die Vereinigungsfreiheit. Genau wie private Vereine haben Wellman zufolge auch legitime Staaten ein Recht auf freie Vereinigung. Und genau wie die Vereinigungsfreiheit einem privaten Verein das Recht gebe, Beitrittswilligen die Aufnahme zu verweigern, schließe auch die staatliche Vereinigungsfreiheit ein Recht ein, Einwanderungswillige abzuweisen.

Ein weiteres institutionalistisches Argument für ein Recht auf Ausschluss formuliert Ryan Pevnick.[31] Im Zentrum seiner Überlegungen stehen die Beiträge, welche die Bürgerinnen eines Landes 37zum Bestehen staatlicher Institutionen leisten. Sie bilden Pevnick zufolge die Grundlage für einen eigentumsrechtlichen Anspruch auf diese Institutionen, der einen Anspruch einschließe, darüber zu entscheiden, wer in Zukunft zu diesen Institutionen beitragen und von ihnen profitieren darf. Zwar sei das Territorium selbst nicht von Menschen geschaffen, wohl aber die meisten Dinge, die Einwanderungswillige an einem Land schätzten. Und da diese Güter erst durch die kollektiven Bemühungen der Bürgerinnen in die Welt kämen, seien diese dazu berechtigt, über die Zugangsregeln zu bestimmen.

Die vier hier erst holzschnittartig wiedergegebenen Ansätze zur Begründung der Standardansicht sollen in den folgenden Kapiteln nun eingehend dargestellt und kritisch hinterfragt werden. Ich beginne (entgegen dem historischen Verlauf der Debatte) mit den voraussetzungsärmeren institutionalistischen Positionen von Wellman (drittes Kapitel) und Pevnick (viertes Kapitel). Anschließend diskutiere ich Walzers Kommunitarismus (fünftes Kapitel) und die liberal-nationalistischen Ansätze von Miller und Kymlicka (sechstes Kapitel).

383. Staaten als Clubs? Wellman über Vereinigungsfreiheit[1]

Staaten sind wie Clubs: Es ist an den bisherigen Mitgliedern, zu entscheiden, wen sie als neues Mitglied in ihre Gemeinschaft aufnehmen wollen. – So lautet eine verbreitete Intuition zur Einwanderungsfrage. Die Analogie zwischen Staaten und privaten Vereinen wurde maßgeblich von Michael Walzer in die philosophische Debatte über Einwanderungsbeschränkungen eingeführt:

Welche Art von Gemeinschaft wollen die Bürger schaffen? Mit welchen anderen Männern und Frauen wollen sie ihre sozialen Güter teilen und austauschen?

   Dies sind genau die Fragen, die auch Vereinsmitglieder zu beantworten haben, wenn sie über Vereinsmitgliedschaften entscheiden, wenn es sich hier in aller Regel auch um eine minder große Gemeinschaft und eine schmälere Bandbreite von Sozialgütern handelt.[2]

Walzer macht an dieser Stelle nur eine eher oberflächliche rechtliche Parallele zwischen Staaten und Clubs geltend und neigt letztlich doch mehr der Familien-Analogie zu.[3] Christopher H. Wellman hingegen, mit dessen Position ich mich in diesem Kapitel auseinandersetzen möchte, nimmt die Club-Analogie wörtlich. Seiner Ansicht nach haben Staaten und private Vereine nicht nur gleichermaßen ein Recht auf Ausschluss; sie haben dieses Recht auch aus demselben Grund, nämlich auf Basis der Vereinigungsfreiheit.[4]

39Die Attraktivität von Wellmans Vorschlag besteht darin, dass er eine dezidiert universalistische Rechtfertigung für Einwanderungsbeschränkungen verspricht, die völlig ohne problematische Annahmen über die deskriptive oder normative Bedeutung kultureller Unterschiede zwischen nationalstaatlichen Gemeinschaften auskommt. Die Mitglieder eines Golfclubs haben das Recht, keine neuen Mitglieder in ihre Vereinigung aufzunehmen. Sie brauchen dafür nicht zu zeigen, dass potenzielle Neumitglieder ihnen fremd sind oder dass die bisherigen Mitglieder einander kulturell besonders nahestehen. Die bisherigen Mitglieder haben das Recht, Anwärter auf die Mitgliedschaft abzuweisen, ganz einfach deshalb, weil es ihr Club ist. Und ebenso verhält es sich Wellman zufolge bei staatlichen Gemeinschaften. Die bisherigen Bürgerinnen haben ein Recht auf Ausschluss gegenüber Einwanderungswilligen, und zwar völlig unabhängig davon, ob sie eine gemeinsame Kultur pflegen, die sie von Ausländern unterscheidet. Die Bürgerinnen kulturell homogener Staaten mögen zwar besondere Gründe haben, vom Recht auf Ausschluss Gebrauch zu machen. Dieses Recht selbst wird aber – anders als bei kommunitaristischen oder liberal-nationalistischen Ansätzen – ohne Rückgriff auf kulturelle Prämissen begründet.[5]

Im Folgenden werde ich Wellmans Argument für ein Recht auf Ausschluss zunächst etwas genauer darstellen (Abschnitt 3.1). Anschließend diskutiere ich die Frage, welche praktischen Konklusionen aus dem Argument folgen würden, wenn es denn überzeugend wäre (Abschnitt 3.2). Vor diesem Hintergrund gehe ich dann auf die Gründe ein, aus denen wir Staaten meines Erachtens nicht dieselben Ausschlussrechte zugestehen sollten wie privaten Vereinen (Abschnitt 3.3), und ziehe ein kurzes Fazit anhand einer Analogie (Abschnitt 3.4).

403.1 Wellmans Argument

Der Hauptstrang von Wellmans Argument lässt sich wie folgt zusammenfassen:

P1. Legitime Staaten haben ein Recht auf politische Selbstbestimmung.

P2. Das Recht auf politische Selbstbestimmung beinhaltet ein Recht auf Vereinigungsfreiheit.

P3. Das Recht auf Vereinigungsfreiheit schließt ein Recht ein, eine Vereinigung mit einem assoziationswilligen Gegenüber nicht einzugehen beziehungsweise Außenstehenden die Aufnahme in eine bestehende Gruppe zu verweigern.

K. Also haben legitime Staaten das Recht, Außenstehenden die Aufnahme zu verweigern.[6]

Die erste Prämisse seines Arguments plausibilisiert Wellman anhand des folgenden Beispiels: Angenommen, in Norwegen würden Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr nur sehr lax durchgesetzt und es käme in der Folge zu einer Häufung tödlicher Verkehrsunfälle – dürfte die schwedische Regierung dann eingreifen und Temposünder in Norwegen bestrafen? Wie Wellman zu Recht feststellt, geht der Common Sense dahin, dass ein solcher Eingriff in die internen Angelegenheiten Norwegens zu verurteilen wäre. Und um dieses Urteil zu stützen, müssen wir Wellman zufolge annehmen, dass der norwegische Staat ein Recht auf politische Selbstbestimmung hat; er genießt eine »privilegierte Position der moralischen Hoheit« über seine internen Angelegenheiten (self-regarding affairs).[7]

Im Unterschied zur klassischen Souveränitätslehre schreibt Wellman dieses Recht auf politische Selbstbestimmung nur legitimen Staaten zu. So begingen beispielsweise die Alliierten seiner Ansicht nach kein Unrecht, als sie in den Nürnberger Prozessen über Taten richteten, die von Deutschen auf deutschem Territorium gegen andere Deutsche verübt worden waren. Aufgrund der Menschenrechtsverletzungen unter den Nazis hatte der deutsche Staat seine 41Legitimität verloren; er hatte deshalb kein Selbstbestimmungsrecht, das die Alliierten hätten verletzen können. Doch ein Staat wie Norwegen, der die Menschenrechte seiner Bürger (und aller anderen Personen auf seinem Territorium) insgesamt in vernünftigem Maß schütze, habe ein Recht auf Selbstbestimmung selbst dann, wenn seine Institutionen in gewissen Bereichen (etwa mit Blick auf die Vermeidung von Verkehrstoten) suboptimal seien.[8]

Dass legitime Staaten gewisse Selbstbestimmungsrechte haben, dürfte einigermaßen unstrittig sein. Weniger klar ist allerdings der Umfang dieses Rechts auf politische Selbstbestimmung. Schließt es ein Recht auf Vereinigungsfreiheit (P2.) einschließlich eines Rechts auf Ausschluss gegenüber individuellen Beitrittswilligen (P3.) ein? Um diese Annahmen zu verteidigen, betont Wellman zunächst die Bedeutung der Vereinigungsfreiheit für die individuelle Selbstbestimmung:

In der Vergangenheit wurde es für angebracht gehalten, dass der Vater entscheidet, wen man heiratet, oder der Staat darüber bestimmt, welche Religion man praktiziert, aber diese Zeiten sind glücklicherweise (weitgehend) vorbei. Heute sind sich fast alle einig, dass wir einen Anspruch auf eheliche und religiöse Vereinigungsfreiheit haben; wir sehen es als selbstverständlich an, dass jeder und jede Einzelne das Recht hat, selbst zu wählen, mit wem er oder sie eine Ehe eingehen oder seine oder ihre Religion praktizieren möchte.[9]

Mit wem jemand den Bund der Ehe eingehen oder eine Religion praktizieren möchte, gehöre zu den self-regarding affairs, über die jede Person selbst entscheiden können sollte. Und um im vollen Genuss der Vereinigungsfreiheit zu sein, müsse eine Person auch das Recht haben, eine Assoziation nicht einzugehen, also beispielsweise keiner Religionsgemeinschaft beizutreten oder unverheiratet zu bleiben.[10]

So weit, so unstrittig. Die eigentliche Krux von Wellmans Argument besteht in der Übertragung dieser Annahmen über das Recht auf individuelle Selbstbestimmung auf das kollektive Selbstbestimmungsrecht legitimer Staaten:

42Genau wie eine Einzelperson das Recht hat zu entscheiden, wen (falls überhaupt jemanden) sie heiraten möchte, hat eine Gruppe von Landsleuten das Recht zu entscheiden, wen (falls überhaupt jemanden) sie in ihre politische Gemeinschaft einladen möchte. Und genau wie die Vereinigungsfreiheit ein Individuum dazu berechtigt, Single zu bleiben, berechtigt die Vereinigungsfreiheit eines Staates diesen dazu, alle Ausländer von der politischen Gemeinschaft auszuschließen.[11]

Den Einwand, dass Staaten nicht dieselben Assoziationsrechte haben wie private Vereine, weil Individuen normalerweise nicht durch ihre freie Entscheidung zu Mitgliedern einer staatlichen Gemeinschaft werden, versucht Wellman mit einer reductio ad absurdum zu entkräften. Wer Staaten keine Vereinigungsfreiheit zuschreibe, könne nicht begründen, weshalb es falsch wäre, einen Staat zur Mitgliedschaft in Organisationen wie der NAFTA oder der EU zu zwingen. Wer die Annahme teile, dass es Staaten grundsätzlich freistehe, solchen Vereinigungen beizutreten oder auch nicht, sei damit bereits auf die Ansicht festgelegt, dass die Freiheit der Vereinigung auch für Staaten gelte.[12]

Auch den Einwand, dass Staaten im Gegensatz zu Ehen keine intimen Vereinigungen sind und deshalb nicht denselben moralischen Prinzipien unterliegen, lässt Wellman nur sehr beschränkt gelten. Zwar sei die Vereinigungsfreiheit bei intimen Assoziationen besonders bedeutsam. Doch grundsätzlich gelte sie auch für Vereinigungen, welche diese Eigenschaft nicht haben. So könne man sich zwar darüber streiten, ob die amerikanischen Pfadfinder das Recht haben sollten, Homosexuelle und Atheisten auszuschließen, oder ob der exklusive Augusta National Golf Club dazu berechtigt sei, Frauen die Mitgliedschaft zu verweigern. Doch selbst wer in solchen Fällen für staatliche Intervention plädiere, gestehe normalerweise zu, dass wir es mit einer Güterabwägung zwischen Diskriminierungsschutz und Vereinigungsfreiheit zu tun haben. Das bedeute aber, dass auch bei solchen Vereinigungen eine gewisse Präsumtion für die Vereinigungsfreiheit bestehe.[13]

Selbst bei vergleichsweise unwichtigen und kaum als »intim« zu 43