Globale Psychose - Peter Matthias Wehmeier - E-Book

Globale Psychose E-Book

Peter Matthias Wehmeier

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Beschreibung

Wir leben in einer chaotischen Welt, die uns verrückt zu machen droht. Angesichts der großen Stressbelastung der heutigen Zeit wird gute Selbstsorge immer wichtiger. Unter Stress verändert sich unser Denken und Empfinden, sodass es dem Denken und Empfinden in einer Psychose ähnelt. Diesen Realitätsverlust können wir durch Selbstsorge kompensieren. Selbstsorge bedeutet, dass wir uns selbst verstehen, offen für andere sind, unsere Bedürfnisse äußern, Verantwortung für uns und für andere übernehmen und am Ende ins Handeln kommen, um Veränderungen anzustoßen. Dieses Buch gibt eine psychiatrisch-psychotherapeutisch fundierte, lesenswerte Antwort auf die Frage, wie es uns gelingt, in der heutigen Welt verantwortungsvoll für uns selbst und für andere zu sorgen.

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Contents

Cover

Titelei

Prolog

1 Eine chaotische Welt

1.1 Was ist eine Psychose?

1.1.1 Nostalghia

1.1.2 Denken und Empfinden in der Psychose

1.1.3 Die abweichende Mehrheit

1.2 Gesellschaft der Extreme

1.2.1 Europäische Zentralbank gegen Alte Seilerei

1.2.2 Alchemie der Worte

1.3 Gestörtes Denken und Empfinden

2 Die Krise des Einzelnen

2.1 Wie soll ich das alles aushalten?

2.2 Einen anderen Weg einschlagen

3 Für sich sorgen

3.1 Veränderung als Aufgabe

3.2 Zu sich selbst kommen

4 Für andere sorgen

4.1 Ich bin nicht allein auf der Welt

4.2 Offen für den anderen sein

5 Zu viele Möglichkeiten

5.1 Eine Vielfalt an Optionen

5.2 Welchen Weg soll ich gehen?

5.3 Sich für das Richtige entscheiden

6 Hier und heute handeln

6.1 Verantwortung für sich und andere übernehmen

6.2 Was treibt mich an?

6.3 Sich von Vergangenem verabschieden

6.3.1 Ein teures Bier

7 Zuversichtlich leben

7.1 Sein Leben führen

7.2 Entspannt und gelassen sein

7.3 Glück

Literatur

Sachwortverzeichnis

Anhang

Selbstmanagement-Selbsttest (SMST)

Der Autor

Privatdozent Dr. med. Peter Matthias Wehmeier ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in einer nervenärztlichen Praxis in Frankfurt am Main und war jahrelang stellvertretender Direktor einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Taunus. Er lehrt an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg.

Peter Matthias Wehmeier

Globale Psychose

Wie es uns gelingt, in einer verrückten Welt für uns und andere zu sorgen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043982-5

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-043983-2epub:ISBN 978-3-17-043984-9

Prolog

Es gibt kein vollkommenes Leben. Es gibt nur Fragmente. Wir kommen auf die Welt, um nichts zu besitzen, um alles durch unsere Hände rinnen zu sehen [...]

James Salter, Lichtjahre, S. 46

Faust:Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, die Gegenwart allein –

Helena:ist unser Glück.

Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Zweiter Teil, Dritter Akt, S. 283

Wir sind aus der Zeit geflogen.Wir halten einen Kurs, und wenn er wegfliegt, fliegen wir hinterher.Wie geht das?Wir haben tausend Einzelteile und ein lautes Lachen.Wir sind da und möglich.

Heike Geißler, Die Woche, S. 307

Auf einer Bergwanderung in Griechenland erzählte mir ein befreundeter Psychiater und Psychoanalytiker von einem seiner Patienten, der an einer Psychose litt und zu der Zeit ein Buch des Philosophen Michel Foucault las. Dort sei der Patient auf einen Begriff gestoßen, der ihm dabei geholfen habe, sich psychisch zu stabilisieren: epiméleia heautoû, was auf Griechisch so viel wie »Selbstsorge« oder »Sorge um sich« oder »Kultur seiner selbst« bedeutet. Diese Haltung hat mich in der folgenden Zeit immer wieder beschäftigt und mich zum Nachdenken darüber angeregt, was »Selbstsorge« für unser Leben eigentlich heißt.

Der Begriff »Selbstsorge« ist bereits bei Platon in einem Dialog zwischen Sokrates und dem angehenden Lokalpolitiker Alkibiades überliefert. Die Philosophen Epikur, Epiktet, Seneca und Marc Aurel haben ihn aufgegriffen und – wie einen vielversprechenden Wein – zur Lebensmaxime ausgebaut. Die Philosophen Pierre Hadot und Michel Foucault haben den Begriff wiederbelebt und die Idee der Selbstsorge auf die heutige Zeit bezogen (Hadot 2011a; Foucault 1989). Nichts anderes hat der Essayist Michel de Montaigne bewerkstelligt, indem er die Zeit auf seinem Landsitz bei Bordeaux lesend und schreibend verbracht hat, um uns völlig unverstellte Einblicke in sein Leben und Denken zu geben. Damit hat er uns auf eindrucksvolle Art und Weise ein Beispiel für gelungene Selbstsorge vor Augen geführt (Montaigne 1953).

Ein sehr viel aktiveres Vorgehen schlägt der Philosoph Peter Sloterdijk vor. Er nimmt den Dichter Rainer Maria Rilke beim Wort und macht sich den – von Rilke in einem Moment existenzieller Erschütterung tief empfundenen – Imperativ »Du mußt dein Leben ändern« zu eigen (Sloterdijk 2009). Sloterdijk betrachtet den Menschen als übendes Wesen, das sich verschiedener »Anthropotechniken« bedient, um sich in Form zu bringen und sich auf den langen und oft entbehrungsreichen Weg nach oben zu begeben. Ein ähnlicher Imperativ scheint dem unverhohlen pädagogisch geprägten Motto meiner britischen Schule zugrunde zu liegen: »Strive For The Heights!« Insofern kann man auch in Bezug auf die Selbstsorge von einer »Anthropotechnik« sprechen, die über beträchtliche Zeiträume hinweg ihre Wirkung entfaltet und dem Menschen seine atemberaubende Entwicklung in eine vertikale Richtung ermöglicht hat.

Mit diesem Essay zur Selbstsorge in einer verrückten Welt möchte ich keine weitere Analyse zum Zustand dieser Welt vorlegen – davon gibt es genug. Auch möchte ich keinen Beitrag zu irgendeiner Lebensphilosophie leisten, denn ich bin kein Philosoph. Meine Absicht ist es vielmehr, einen Anstoß zu größerer Selbstsorge zu geben und zum Nachdenken darüber anzuregen, wie mehr Gelassenheit im eigenen Leben zum Tragen kommen kann. Dabei geht es mir um einen engen Realitätsbezug, die Reflexion zwischenmenschlicher Beziehungen, Zukunftsorientierung, individuelle Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit. Diese Themen sind unser täglich Brot als Psychiater und Psychotherapeuten. Nicht die Dichter haben wir beerbt, aber die Priester und die Philosophen, zumindest was die Vermittlung der praktischen Selbstsorge und damit der Arbeit an sich selbst anbelangt (Schmid 1991; Sloterdijk 2009). Daher möchte ich eine psychiatrisch-psychotherapeutische Position beziehen und mögliche Wege zu größerer Selbstverantwortung und Selbstsorge aufzeigen, um Menschen bei der Heranbildung oder Formung und Transformation ihrer selbst zu begleiten.

Viele Menschen teilen die Sichtweise, dass unsere heutige Welt eine Welt ist, die krank ist und krank macht (Bauer 2013, Bender et al. 2021). Totalitäre Ideologien machen sich (erneut) breit und führen immer wieder zu bedenklichen Realitätsverlusten (Arendt 2023, S. 1008). Ein 86 Jahre alter Herr aus der ostfriesischen Provinz saß mir neulich gegenüber und sagte angesichts der aktuellen Ereignisse: »Die ganze Welt ist total durcheinander!« In der Tat scheint die globalisierte Welt verrücktzuspielen und die Menschen verrückt zu machen. So spiegelt sich das Kleine im Großen und das Große im Kleinen (Ciompi 2005, S. 166). Wenn aber Lösungen im Großen auf sich warten lassen, müssen wir Lösungen im Kleinen suchen. Dabei tut jeder gut daran, bei sich selbst anzufangen. Diesen Anfang vom Ende her zu denken ist Sinn und Zweck meiner Ausführungen.

Unsere Zeit ist begrenzt und so ermutigt uns der Dichter Horaz mit seiner Aufforderung »carpe diem« eindringlich, den Tag zu »pflücken« und damit die Gelegenheiten, die sich uns bieten, auch zu ergreifen (Horaz 1992, S. 28).

Im Laufe meiner Tätigkeit als Psychiater und Psychotherapeut hatte ich die Möglichkeit, Einblicke in das Seelenleben vieler Menschen zu bekommen, die sich in mehr oder weniger tiefen Krisen befanden und dabei waren, einen möglichst selbstbestimmten Weg aus der Krise zu suchen und auch zu finden. Manchmal kam ich mir wie ein Vergil vor, der mit Dante in die Hölle hinabsteigt, dort nicht von seiner Seite weicht und ihn schließlich wieder hinaufbegleitet. Doch dabei war ich nie der Hauptakteur, denn meine Möglichkeiten als Psychiater und Psychotherapeut sind sehr begrenzt. Daran erinnert mich immer wieder eine Postkarte, die ich 2007 auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association (APA) in San Diego in einem Schaukasten gesehen habe. Auf der Karte ist zu lesen: »I can't solve your problems but I can help you enjoy them«. Man mag diese Aussage zynisch finden, aber ich denke, dass in ihr ein wahrer Kern steckt. Denn auf die wichtigsten Fragen meiner Patienten habe ich keine Antwort. Die Antworten, auf die es letztendlich ankommt, liegen in uns selbst. Diese Antworten zu finden und ans Licht zu fördern ist die gemeinsame Herausforderung. Ziel ist es dabei, wieder selbst zu denken und seine Urteilsfähigkeit zurückzugewinnen. Die therapeutische Aufgabe liegt darin, die Betroffenen auf dem Weg zu mehr Selbstsorge zu begleiten – sofern Begleitung überhaupt gewünscht wird. In diesem Fall wirken die Betroffenen auf sich ein, indem sie dem Therapeuten erlauben, auf sie einzuwirken (Sloterdijk 2009, S. 593). Dieser Vorgang lässt sich als »Teilhabe an Fremdkompetenz« beschreiben (Sloterdijk 2009, S. 594). Wenn schon fremd, dann hoffentlich kompetent!

Dieser Essay soll die Veränderung des Einzelnen in Richtung besserer Selbstsorge unterstützen. Veränderung bedeutet, kleine Schritte zu gehen, um individuelle Lösungen zu erreichen. Manchmal lässt sich Veränderung messen, auch wenn sich die Veränderung bloß in unserer subjektiven Wahrnehmung abspielt. Das betrifft auch die Fähigkeit zur Selbstsorge, die man nach neuerer Terminologie auch als Selbstmanagementkompetenz bezeichnen könnte. Als Selbsteinschätzungsskala stellt der Selbstmanagement-Selbsttest (SMST) ein Messinstrument dar, mit dem sich die Fähigkeit zur Selbstsorge erfassen lässt. Der SMST ist ein wissenschaftlich validierter Fragebogen, der Auskunft gibt über die eigene Selbstmanagementkompetenz (Wehmeier et al. 2020). Diese ist nichts anderes als die Fähigkeit, für sich und andere zu sorgen. Der SMST umfasst fünf Fragen, die sich auf jeweils einen Aspekt der Selbstsorge beziehen. Wie gut gelingt es mir, auf meine innere Befindlichkeit und die äußere Wirklichkeit zu achten? Wie gut komme ich mit meinen zwischenmenschlichen Beziehungen und sozialen Kontakten zurecht? Wie gut gelingt es mir, Prioritäten zu setzen und meine Zukunft zu planen? Wie gut gelingt es mir, zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen und Entscheidungen zu treffen? Wie gut gelingt es mir, das Machbare umzusetzen und effektiv zu handeln? Das sind die Aspekte, um die es bei der Selbstsorge geht. Der SMST kann uns dabei helfen, über diese Aspekte nachzudenken. Der Fragebogen findet sich im ▸ Anhang.

Dieser Essay wäre ohne die Unterstützung, Hilfe und Ermutigung vieler Personen nicht in Form eines Buches entstanden. Mein Dank richtet sich zunächst an Thomas Rolf für den stets anregenden Diskurs zu den Themen Lebensphilosophie und globaler Wandel sowie an Dorothée Schubert für ihre theologische Perspektive auf die Welt und das Leben. Matthias Bender danke ich für den jahrelangen fachlichen und freundschaftlichen Austausch zu den verschiedensten Aspekten des Daseins und des Soseins. Hans-Peter Unger danke ich für den Diskurs zu den Themen Stress und Arbeit über beträchtliche zeitliche und räumliche Distanzen hinweg. Mein Dank richtet sich auch an Franz Bossong, Anette Härtling, Heidi Hoyck, Maike Hoyck, Sarah Junghans, Volker Kleine-Tebbe und Dirk Schmoll für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Karola Wehmeier danke ich ganz herzlich für die sorgfältige Korrektur der Druckfahnen. Verbleibende Fehler habe ich allein zu verantworten – die Frage ist nicht, ob der Text noch Fehler enthält, sondern wer den ersten Fehler findet. Schließlich danke ich Anita Brutler, Julius Jansen und Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag für die hervorragende Zusammenarbeit bei der Realisierung dieses Buchprojekts.

Peter Matthias Wehmeier

1 Eine chaotische Welt

Ein junger Mann sieht sich mit einer immer chaotischer werdenden Welt konfrontiert. Er kann seinen Augen kaum trauen, aber er spürt die Veränderung ganz deutlich am eigenen Leib. Alles dreht sich, er fühlt sich wie in einem außer Kontrolle geratenen Karussell. Alles dreht sich, alles dreht sich immer schneller. Irgendwann macht ihm die Fahrt im Karussell keinen Spaß mehr. Ihm wird übel, er möchte so schnell wie möglich aussteigen, aber er sitzt im Karussell fest, das sich wie in einem Alptraum endlos weiterdreht. Er möchte aussteigen, findet aber die Notbremse nicht. Für den Absprung ist es viel zu spät. Wo ist die Notbremse? Er ruft um Hilfe, aber seine Rufe verhallen ungehört im leeren Raum. Der junge Mann hat inzwischen den Kontakt zur Welt und zu sich selbst verloren. Mit zunehmendem Entsetzen schaut er dem Geschehen zu. Er versteht nicht, was mit ihm passiert. Er glaubt, dass er gerade dabei ist, verrückt zu werden.

Wir leben in einer Zeit des globalen Wandels. Die Welt ist chaotisch geworden und wird augenscheinlich von Tag zu Tag chaotischer. Räumliche und zeitliche Grenzen lösen sich auf (Assmann 2013). Alles ist durchlässig, alles geht. Man könnte einen Gedanken des Philosophen Heraklit aufgreifen und von einer »fluiden« Epoche sprechen. Gesellschaftliche Verwerfungen, Polarisierung und Extremismus, Hunger und Kriege machen die Welt unsicherer, das Leben riskanter. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Umweltverschmutzung, Zunahme der Weltbevölkerung und der weiter steigende Energieverbrauch tun ein Übriges (Eisenstein 2012; Hein 2023). Angesichts solcher Destruktivität scheint die ganze Welt kurz vor dem Kollaps zu stehen (Diamond 2005; Frankopan 2023).

Die globalisierte Welt bringt ganz erhebliche Belastungen für den Einzelnen, für die Gesellschaft und für die Umwelt mit sich. Wir leben in dieser Welt und sind zugleich Teil von ihr. Wir tragen fleißig zur ökologischen Katastrophe bei und haben zugleich Angst vor ihr (Meyer-Lindenberg 2023). Letztendlich sitzen wir zusammen in einem Boot, das gerade Schiffbruch erleidet, und schauen uns dabei selbst zu (Blumenberg 1997). »Alles wackelt, nichts steht mehr fest. Reif für die Sintflut – «, sagt der Zauberkönig in Ödön von Horváths »Geschichten aus dem Wiener Wald« (von Horváth 1994, S. 33) und lässt derweil die Puppen tanzen.

Viele verschiedene biologische, psychologische, soziale, ökonomische und ökologische Belastungen machen uns das Leben schwer. Soziale Strukturen lösen sich auf, Solidarität zwischen Menschen nimmt ab, der Einzelne ist zunehmend auf sich selbst gestellt. Das ist einerseits oft mit mehr Autonomie verbunden, doch andererseits fallen immer häufiger Strukturen weg, die bisher Halt gegeben haben. Dazu kommt die Beschleunigung in allen wichtigen Lebensbereichen. »Die Zeit stürzt fort wie eine Lawine gerade deshalb, weil sie keinen Halt mehr hat«, meint der Philosoph Byung-Chun Han (2013b, S. 12). Mit der Beschleunigung tritt eine völlig neue Erfahrungswelt auf den Plan (Rosa 2013), unser gesamtes Lebensgefühl verändert sich. »Eine allgemeine Kurzatmigkeit befällt die Welt« (Han 2013b, S. 47) und wir werden kurzatmig mit ihr. In seinem Song »Grande Finale« vergleicht der Rockmusiker Udo Lindenberg diese Welt mit einer großen Bühne, auf der wir als Statisten mitspielen und ahnungslos in einer Art Totentanz dem Ende entgegentaumeln.

An die Stelle der alten Normalität ist längst eine neue Normalität getreten (Steingart 2011), an die wir uns irgendwie anpassen oder gewöhnen müssen. Nur gibt die neue Normalität keinen Halt. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen und können uns nur mit unseren eigenen Möglichkeiten helfen. Aber was ist das für eine neue Normalität? »Wir fühlen uns verwirrt. Rationales Eigeninteresse hat unser kulturelles Wahrnehmungsvermögen übertölpelt, sodass es weder rational noch in unserem Interesse ist. Unser eigennütziges Verhalten dient nur oberflächlich dem eigenen Nutzen; in Wirklichkeit kollidiert es mit unseren wahren innersten Interessen« (Eisenstein 2012, S. 412).

Währenddessen schreitet die Ökonomisierung aller Lebensbereiche weiter voran, und das weltweit. Durch die Globalisierung »werden die bisher zerstreut lebenden Fraktionen der Menschheit, die sogenannten Kulturen, zu einem instabilen und von Ungleichheiten zerrissenen Kollektiv auf hohem Transaktions- und Kollisionsniveau synchronisiert« (Sloterdijk 2009, S. 707). Das Pendel schlägt also nicht in Richtung Deglobalisierung zurück, wie einige Globalisierungskritiker meinen. Der Wirtschaftswissenschaftler Moritz Schularick rechnet vielmehr mit einem Globalisierungsschub, so dass wir seiner Meinung nach vor weiteren großen weltwirtschaftlichen und geopolitischen Umbrüchen stehen (Schularick 2023). »Im System ist alles irre« (Deleuze & Guattari 1979, S. 485). Wir müssen uns daher auf einiges gefasst machen.

Unsere Situation hat sich durch Kapitalisierung und Beschleunigung soweit destabilisiert und fragmentiert, dass sie nicht nur keine kollektive Identität mehr bietet, sondern die Identität des Einzelnen unmittelbar in Frage stellt (von Schirach 2021, S. 35). Unter diesem Druck können unsere Ich-Grenzen durchlässig werden. Damit geht die Fähigkeit verloren, zwischen den eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer zu unterscheiden. Wir können sie nicht mehr richtig einordnen und sind ihnen schutzlos ausgeliefert. Damit wird unsere Fähigkeit zur Selbstregulation kompromittiert. Selbstentfremdung bis hin zum vollständigen Selbstverlust und dem daraus erwachsenden psychotischen Erleben kann die Folge sein.

Der Philosoph Charles Eisenstein ist angesichts der Lage der Welt so tief verunsichert, dass er beschwichtigende Stimmen zu hören meint: »Trotz meines Vertrauens, dass das Leben eigentlich gedacht ist, mehr zu sein, flüstern mir leise Stimmen ins Ohr, ich sei verrückt. Nichts fehle, sagen sie; so lägen die Dinge eben. Die anschwellende Flutwelle menschlichen Elends und ökologischer Zerstörung – so alt wie die Zivilisation selbst – sei schlicht und einfach die menschliche Verfassung, ein unausweichliches Resultat menschlicher Fehler wie Selbstsucht und Faulheit. Da du es sowieso nicht ändern kannst, sei dankbar für dein Glück, dies alles zu vermeiden. Das Unglück weiter Teile des Planeten sei eine Warnung, sagen die Stimmen, mich und meine Angelegenheiten zu schützen und meine persönliche Sicherheit zu maximieren« (Eisenstein 2012, S. 13).

Zur Selbstvergewisserung stellen wir uns gelegentlich Fragen. Wer bin ich? Wer will ich sein? Diese Fragen haben den Essayisten Michel de Montaigne sein Leben lang begleitet (Montaigne 1953). In Zeiten der globalen Massengesellschaft sind solche Überlegungen weiterhin naheliegend, denn sie betreffen Fragen nach der eigenen Identität und Individualität, die in unserer Welt auf dem Spiel stehen. Ich möchte schließlich ich selbst sein und nicht ein anderer. Fragen der Identität und Individualität sind zugleich Fragen der Abgrenzung gegenüber anderen: Was unterscheidet mich von ihnen? Was macht mich als Individuum aus? Wie kann ich meine Identität gegenüber anderen Menschen bewahren (Becht-Jördens & Wehmeier 2003)?

Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von der »Immunologie« des Individuums (Sloterdijk 2009, S. 709 ff.). Man kann diesen Begriff auch weiter fassen und damit auch die Widerstandskraft des Einzelnen gegenüber den vielfältigen Widrigkeiten der Welt bezeichnen. Geht diese Widerstandskraft verloren, kann es zur Reizüberflutung und infolgedessen zur »hysterischen« Dekompensation (Anaphylaxie) oder aber zu einer völligen seelischen Abstumpfung (Desensibilisierung) kommen – um in diesem Kontext zwei immunologische Begriffe zu verwenden. Wenn das eine oder das andere eintritt, sind wir den toxischen Einflüssen unserer Welt gewissermaßen schutzlos ausgeliefert.

Inzwischen ist die Welt eine Welt der Verkennung und der Illusion geworden. Doch diese »Welt ist nicht imstande, sich zu heilen« (Montaigne 1953, S. 755). Der Schriftsteller Durs Grünbein ist überzeugt, dass diese Welt immer mehr Menschen in die Verzweiflung mitreißt (Grünbein 2022): »Je massiver die Einbrüche der Zeit in jedermanns Leben, je mehr Krisen und Katastrophen, umso desparater wird am Ende das Ganze, das ist doch klar.« Die Welt scheint verrückt zu sein und der Mensch gerät in Gefahr, mit ihr verrückt zu werden. Das Kleine findet im Großen seine Entsprechung und umgekehrt (Ciompi 2005, S. 166). Droht infolgedessen die globale Psychose?

1.1 Was ist eine Psychose?

Was ist eine Psychose? Der Begriff wird in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich gebraucht. Im allgemeinen klinischen Sprachgebrauch ist eine Psychose ein Zustand, in dem sich Ich-Grenzen auflösen, Wahnvorstellungen sich bemerkbar machen, Angst und Anspannung bestehen und das Denken mehr und mehr zerfahren wird (Dörner & Plog 1994). Manchmal treten optische oder akustische Halluzinationen auf (Scharfetter 1991). Dann sieht oder hört der Betroffene Geräusche oder Stimmen, die andere nicht hören, oder sieht Dinge, die andere nicht sehen. So gut wie immer beschreibt der Begriff Psychose einen Realitätsverlust, der mehr oder weniger groß ausfallen kann. So gesehen lässt sich eine Psychose als Zustand der Entfernung von der Realität verstehen, der mit einer »Verrückung« des Denkens, Fühlens und Verhaltens einhergeht (Ciompi 2005). Damit geht die »natürliche Selbstverständlichkeit« (Blankenburg 2012) des Daseins verloren, und eine tiefgreifende Veränderung des Erlebens tritt ein. Folge ist eine Lösung der Verankerung des Menschen in einer intersubjektiv konstituierten Lebenswelt mit der entsprechenden Entfernung von einer gemeinsamen Realität.

Der Titel dieses Buches lautet »Globale Psychose«. Diesem Titel liegt ein sehr weitgefasster Psychosebegriff zugrunde, um Parallelen zwischen einer »verrückten« oder »verrückt machenden« Welt einerseits und dem psychosenahen Erleben des einzelnen Menschen andererseits deutlich zu machen. Die Welt ist eine andere geworden. Viele Menschen kämpfen mit ihren alltäglichen Sorgen und Problemen und haben immer öfter das Gefühl, sie könnten an der Welt scheitern. Alte Sicherheiten gehen verloren, extreme Ideologien breiten sich aus, immer abstruser werdende Propaganda löst paranoide Ängste aus. Die Diskussionen in Politik und Gesellschaft werden zunehmend moralisch aufgeladen und immer kompromissloser geführt (Grau 2017). Selbstbezogenheit und »autistoider« Egoismus lassen wesentliche Teile der Gesellschaft in den Hintergrund treten. Allmachtsphantasien einzelner Personen wirken sich verheerend auf das Leben ganzer Bevölkerungen aus. Überdimensionierte Großprojekte werden verfolgt, ohne auf die Auswirkungen auf den Menschen zu achten. Fragliche Prestigeprojekte werden großzügig finanziert, ohne dass ihre Notwendigkeit eindeutig wäre. Vor diesem Hintergrund lassen die immer häufiger werdenden Katastrophenmeldungen unsere Stimmung in die Tiefe stürzen.

So schlägt sich das, was sich auf der Weltbühne abspielt, in der persönlichen Befindlichkeit des Einzelnen nieder. Das Große spiegelt sich im Kleinen und das Kleine spiegelt sich im Großen, so »wie in der Psychose im kleinsten schon das größte und im größten das kleinsten verborgen liegt« (Ciompi 2005, S. 166). Aus dieser Klemme herauszukommen, erweist sich als nicht so einfach. Die Entwicklung von Lösungen, die es dem Einzelnen ermöglichen, sich aus seiner Krise zu befreien, erfordert einen engen Bezug zur Realität. Sonst verliert sich der Einzelne im Labyrinth psychosenaher Vorstellungen und Befürchtungen. Dann beginnt das Denken und Empfinden im Alltag demjenigen Denken und Empfinden zu ähneln, das die Psychose kennzeichnet.

In stressbedingten Krisen kann die Realität verzerrt erscheinen. Manchmal löst die Wahrnehmung sich ganz von ihr. Diese Entfernung von der Realität ist mit dem Begriff Psychose gemeint. Ein derart weit gefasster Psychosebegriff beinhaltet die vielen verschiedenen Äußerungsformen eines sich lösenden beziehungsweise eines bereits gelösten Realitätsbezugs. Die Kennzeichen verzerrten Denkens und Empfindens lassen sich wiederum in psychopathologische Kategorien fassen (Scharfetter 1991). So kann der Realitätsbezug beispielsweise durch einen Wahn beeinträchtigt sein, etwa einen Größenwahn, der durch Allmachtsphantasien geprägt ist. Die Beziehung zu anderen Menschen kann durch ausgeprägte Selbstbezogenheit oder Autismus gestört sein. Ein gestörter Selbstbezug kann sich durch unbeantwortete Fragen nach der eigenen Identität bemerkbar machen. Ambivalenzen können Entscheidungen sehr erschweren oder ganz unmöglich machen. Emotionale Begleiterscheinungen wie etwa Niedergeschlagenheit oder fehlender Mut können die Zuversicht hinsichtlich der Zukunft unterminieren.

Wenn sich Grenzen zwischen mir und meiner Umgebung auflösen und ich durchlässig werde für meine Gedanken oder die Gedanken anderer, kann ich zu der Überzeugung kommen, dass sich Gedanken verselbständigen und vom einen zum anderen übertragen werden können und damit meine Ich-Grenzen durchlässig sind. Eine solche Entfernung von der gemeinsamen Realität löst bei an einer Psychose Erkrankten sehr oft innere Unruhe, Anspannung und Angst aus, also Gefühle, die viele Menschen aus alltäglichen Überlastungssituationen kennen, ohne dass sie notwendigerweise an einer Psychose erkrankt sind. Aus solchen Situationen der Bedrängnis ist es nur ein kleiner Schritt hin zu der Überzeugung, man sei gerade im Begriff, verrückt zu werden. Die Grenzen sind fließend, niemand ist grundsätzlich immun. Das macht das manchmal Unheimliche an psychosenahem Denken und Empfinden aus, das uns in Grenzbereiche unseres Erlebens führen kann.

1.1.1 Nostalghia

Dass ein Realitätsverlust große Angst auslösen kann, habe ich selbst erfahren. Nach einem Urlaub in der Toskana waren meine Freundin und ich mit dem Auto unterwegs nach Hause. Es wurde dunkel, und wir suchten eine Unterkunft für die Nacht. In jedem Ort, durch den wir fuhren, hielten wir Ausschau nach einer Bleibe. Doch es war nichts zu machen, wir wurden einfach nicht fündig. Regen setzte ein und erschwerte unsere Suche. Bei Dunkelheit und Regen fuhren wir durch die hügelige Landschaft. Unsere Hoffnung, doch noch eine Unterkunft zu finden, wurde immer kleiner, unsere Laune immer schlechter. Schließlich sah ich im Vorbeifahren einen alten Wegweiser, der auf einen Ort namens Bagno Vignoni hinwies. Fast hätte ich das Schild übersehen. Schnell gewendet, fuhren wir die kurvige Straße hinauf, bis wir den Ort erreichten. Im Zentrum des kleinen Ortes trafen wir auf eine dreistöckige Villa mit Fensterläden, die sich als Hotel entpuppte. Froh und dankbar für das große Zimmer, das uns zugewiesen wurde, aßen wir zu Abend und gingen früh zu Bett.

Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster hinaus und sah vor dem Hotel den Dorfplatz liegen, der fast vollständig von einem großen, in Stein gefassten Schwimmbecken eingenommen war. Es war ein Thermalbad aus römischer Zeit, an einer Seite von einer offenen Wandelhalle begrenzt. Dampf stieg von dem warmen Wasser auf, aber niemand befand sich im Schwimmbecken. Nach dem Frühstück ging ich hinaus und sah mir das Thermalbad aus der Nähe an. Ein kurzer Spaziergang führte mich an den Ortsrand, wo weitere Relikte aus der Antike zu sehen waren. Schließlich brachten wir unsere Taschen zum Auto und setzten unsere Heimreise bei wunderbarem Wetter fort.