Glück gehabt! - Siegfried Busche - E-Book

Glück gehabt! E-Book

Siegfried Busche

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Beschreibung

Als der 1924 geborene Siegfried Busche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seine Heimatstadt Berlin zurückkehrt, liegt diese in Trümmern. Zeit, die grausamen Bilder des Erlebten zu verarbeiten, gibt es keine. Es gilt, das Leben in der neuen Freiheit zu meistern und sich im Chaos der Nachkriegsjahre zurechtzufinden. In seiner Autobiografie zeichnet Siegfried Busche ein lebhaftes Bild seines fast hundertjährigen Lebens, verbindet die einzelnen Stationen des persönlich Erlebten mit den geschichtlichen Entwicklungen Deutschlands und erschafft damit ein wertvolles Zeitzeugnis. Was konnte man in den turbulenten Nachkriegsjahren auf dem Schwarzmarkt in Berlin alles besorgen? Wie schaffte man es 1946, an einen Studienplatz zu kommen? Und wie gestaltete sich das Leben in den Wirtschaftswunderjahren? Anschauliche Antworten auf diese und viele andere Fragen verbindet der Autor in seinen Memoiren mit Anekdoten aus seinem Privatleben.

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INHALT

Prolog

Meine Kindheit

Meine Jugend

Unbeschwerte Schulzeit

Russlandfeldzug

Im Kampfeinsatz

Auf dem Rückzug

Kriegsalltag an der Front

Offiziersausbildung

Die Nachkriegszeit

Das Studium

Arbeit und Beruf

Meine Ehejahre

Spandau

Freizeitaktivitäten

Reisen

Epilog

PROLOG

Als ich den übermächtigen grausamen Krieg endlich überlebt hatte, war ich bemüht, diese Zeit auch gedanklich so schnell wie möglich vergessen zu lassen. Das Tausendjährige Reich schien mir 1000 Jahre lang gewesen zu sein. In nächtlichen Träumen verarbeitete mein Gehirn das Geschehen. Mir erging es wie vielen anderen, wir waren nicht gewillt und in der Lage, über unsere Erlebnisse zu sprechen, und dabei blieb es. In den weiteren Jahren war ich mit dem Aufbau eines normalen Lebens in Freiheit beschäftigt und hatte für vergangene Zeiten keine Gedanken parat. In letzter Zeit jedoch fragte der eine oder andere mich nach Geschichten aus jener Zeit und regte an, doch einmal etwas darüber zu schreiben. Nach vielem Zureden meiner Freunde entschloss ich mich, den Schreibstift in die Hand zu nehmen und über mein Leben zu berichten, zumal ich coronabedingt viel Zeit zu Hause verbrachte. Ich hatte weder ein Tagebuch noch irgendwelche Aufzeichnungen zur Verfügung, sondern konnte nur versuchen, in meinem Gedächtnis herum zu kramen. Erstaunlicherweise war es noch einigermaßen intakt, es produzierte sogar noch eine unglaubliche Menge, die ich nicht alle zu Papier bringen konnte. Ich beschränkte mich daher auf einzelne Ereignisse.

Dabei werden sofort Assoziationen an meine Schulzeit geweckt. Es war, glaube ich, in der Untersekunda, da mussten wir einen Klassenaufsatz über irgendeine Person schreiben. Ich wählte hierfür meine Erinnerungen an einen Jungen, den ich während der Ferien kennengelernt hatte, wusste aber mit dem Stoff überhaupt nichts anzufangen. Nach drei Zeilen war bei mir Pause. Die Zeit verrann, Schweiß trat mir auf die Stirn; es blieb bei den drei Zeilen, als die Klingel das Ende der Stunde verkündete. Bei der Rückgabe der Aufsätze reichte mir dann unser damaliger Deutschlehrer, Studienrat Kirschstein, genannt „Ki“, mit spitzen Fingern das verpatzte Produkt kommentarlos zurück. Natürlich schmückte eine dicke Sechs das Werk.

Heute, bereits gereift, nunmehr 98 Jahre alt, schon ein wenig weise, stehe ich vor einer ähnlich schwierigen Aufgabe, hoffend, diesmal mit etwas mehr Glück eine bessere Note zu bekommen. Pegasus möge helfend zur Seite stehen. Unser alter Ki wird dies vom Himmel aus sicher schmunzelnd zur Kenntnis nehmen.

MEINE KINDHEIT

Alt-Moabit

Man sagte mir, ich sei am 29. April 1924 geboren worden. Persönlich weiß ich das nicht, denn damals hatte ich noch keine Erinnerung. Man zeigte mir ein Foto von einem winzigen, klitzekleinen Knaben, splitternackt auf einem Eisbärfell liegend. Das sollte ich sein! Das erste Ereignis, an das ich mich erinnern kann, war ein Bettgestell, aus dem ich wegen der Holzstäbe nicht rausklettern konnte. Dieses Bett stand in einem Zimmer, in dem meine Mutter und meine Oma immer schliefen. Es befand sich im Bezirk Tiergarten in der Straße Alt-Moabit 119, im Hochparterre. Mein Vater war nicht dabei, denn er verstand sich nicht mit seiner Schwiegermutter und umgekehrt sie auch nicht mit ihm, eine typische Situation, die immer eintritt, wenn eine dominante Person in einer Familie das Sagen hat. So verbrachte ich also meine Jugend mit zwei Frauen, verstand es aber glanzvoll, mich bei ihnen durchzusetzen. Mein Vater stammte aus Käfertal bei Mannheim und war dort mit 13 (!) Geschwistern aufgewachsen. Von dieser übergroßen Familie lernte ich so gut wie niemanden persönlich kennen, selbst nicht in späteren Jahren.

Meine Großmutter hatte während des Krieges in der Potsdamer Garnison das Offizierscasino geleitet. Das war der Grund, dass beide Frauen nach dem Krieg in Berlin eine Pension aufmachten. Es herrschte Wohnungsknappheit im großen Berlin, Mieten waren teuer. Daher war es üblich, Zimmer einzeln zu vermieten. Meine Oma hatte eine Siebenzimmerwohnung als Pension eingerichtet und vermietete davon sechs möblierte Zimmer an Dauermieter. Heute gibt es ja Ähnliches, es heißt dann WG. An vielen Haustüren hingen damals sehr oft Schilder mit dem Hinweis „Möbliertes Zimmer zu vermieten“. Bei uns war es also eine Pension. Meine Oma war für die Küche zuständig. Sie war eine gute Köchin und kochte auf Wunsch immer für die Mieter, aber auch für auswärtige Gäste. Meine Mutter war dagegen für die Sauberkeit und Reinigung der Räume zuständig. Üblicherweise gab es in den Zimmern Wasserkannen mit einer Waschschüssel und einem Entsorgungseimer für das Abwasser etc., denn in der gesamten Wohnung stand nur ein einziges Badezimmer mit Toilette zur Verfügung, das von allen gemeinsam genutzt wurde. Auf Wunsch wurde der Badeofen beheizt und die Wanne mit warmem Wasser versorgt. Meine Aufgabe bestand darin, immer für genügend Klopapier aus zugeschnittenen Zeitungsblättern zu sorgen und die benötigten Briketts aus dem Keller raufzuholen. Auf diese Weise entstand eine vielschichtige Wohngemeinschaft, die sich untereinander gut verstand. Das gemeinschaftliche Leben spielte sich hauptsächlich in der Küche ab. Dort wohnte auch mein Kanarienvogel Hansi. Sein Käfig stand auf einem Absatz des Herdes. Wenn ich zu Hause war, durfte er frei herumfliegen. Ich hatte ihm einige Kunststücke beigebracht und liebte ihn über alles. Ich profitierte immer von dem Essen, das meine Oma für die Mieter auf einem Kohleherd zubereitete. Gegessen wurde in der Veranda, die sich neben dem großen Mittelzimmer befand.

Die Küche war der Wohnungsmittelpunkt, beherrscht vom Kochherd. Beheizt wurde er mit Kleinholz und Briketts, die säuberlich gestapelt am Ende des langen Flures lagerten. Gusseiserne Töpfe und Pfannen standen meiner Oma als Werkzeug zahlreich zur Verfügung. Sie beherrschte ihr Handwerk perfekt zum Nutzen der Wohngemeinschaft. Fast immer dampfte, brutzelte und roch es verführerisch und so schmeckte es dann auch. In Erinnerung sind mir die vielen schmackhaften Gerichte, die sie auf den Tisch zauberte, alles in der Art altdeutscher Küche. Königsberger Klopse, Hering mit Pellkartoffeln, Sauerkraut mit Bratwurst, Gulasch oder auch Milchreis mit Zucker und Zimt. Beliebt waren ihre Kartoffelpuffer mit Apfelmus, sie wurden stets knusprig-frisch auf dem Teller serviert. Hierbei wurde ich tatkräftig eingesetzt, ich musste die rohen Kartoffeln mit der Reibe zu Brei verarbeiten. Der Freitag war, christlicher Tradition folgend, Fischtag. Meistens gab es Kochfisch vom Kabeljau oder Rotbarsch. Der Donnerstag war hingegen grün, mit durchgedrehtem Spinat und Spiegelei. Den Sonnabend beherrschten Suppen jeglicher Art aus Erbsen, Bohnen, Linsen oder Gemüse. Fleischgerichte waren dem Sonntag vorbehalten, dazu dann Blumenkohl, Rotkohl oder gemischtes Gemüse. Mein Lieblingsessen war Schmorbraten. Besonders die schmackhafte Soße hatte es mir angetan, die aß ich mit zerquetschten Kartoffeln leidenschaftlich gerne und leckte danach den Teller ab. Am Nachmittag wurde das Waffeleisen hervorgeholt und frische Waffeln gebacken. Manchmal kamen auch Apfelbeignets auf den Tisch, die ich ganz besonders mochte. Dazu tranken wir Gerstenkaffee, der mit Zichorie verfeinert war, den sogenannten Muckefuck, denn richtigen Bohnenkaffee konnten wir uns nicht leisten, den gab es nur zu besonderen, festlichen Anlässen. Meinen Durst stillte ich grundsätzlich am Wasserhahn, indem ich den Wasserstrahl direkt in den geöffneten Mund laufen ließ. Zum Abend bekam ich natürlich Stulle, einfach belegt als Klappstulle. Manchmal durfte ich mir auch ein Salamibrot wünschen, mit Tomate und Gurke. Ich taufte es „illustriertes Brot“.

Vielleicht habe ich nun den Appetit des Lesers angeregt, wenngleich ich nur meiner Erinnerung Raum geben wollte. Es handelte sich um einen typischen Speiseplan, wie er in der sogenannten Weimarer Zeit allgemein üblich war.

Das Wohnhaus

Unsere Wohnung befand sich auf der dem Kriminalgericht gegenüberliegenden Straßenseite, in einer für damalige Verhältnisse guten Lage. Sie hatte einen Vordereingang und einen Hinterausgang, der zu einem großzügigen Treppenhaus führte, von dem aus die Wohnungen des Hinterhauses und des Seitenflügels abgingen. Das umfangreiche Treppenhausgeländer nutzte ich oft und gerne für Kletterübungen, entweder auf der Außenseite herunterhangelnd oder auf dem Geländer rutschend. Die vorderen drei Zimmer boten vom Hochparterre aus eine gute Sicht auf die noch wenig befahrene Hauptstraße Alt-Moabit. Die hinteren vier Zimmer befanden sich auf der Hofseite. Nur wenige Meter weiter stand das Eckhaus Nr. 120, das mit der Paulstraße direkt zum Tiergarten und zum Park Bellevue führte. Der Hof wurde von einer Mauer begrenzt, mit guter Sicht auf einen großen Park, in dem sich das Privatgebäude der Kommandantur befand. Sehnsüchtig blickte ich oft vom Schlafzimmer aus auf das Grün der Parkanlage, die für uns Normalbürger jedoch nicht verfügbar war. Im Untergeschoss des Vorderhauses war ein Restaurant angemietet, besser vielleicht als Kneipe zu bezeichnen. Sie gehörte zwei Brüdern mit Namen Caesar. Dort war ein Telefonanschluss vorhanden, den wir uns noch nicht leisten konnten. Für uns war es jedoch von Vorteil, dass meine Mutter für telefonische Mitteilungen dorthin geholt werden konnte. Diese Möglichkeit nutzte ich einmal dreist aus. Ein leicht eingebildeter Mieter hatte meine Kinderehre mit einer Backpfeife beleidigt. Rachsüchtig bat ich einen älteren Spielkameraden – von einer Telefonzelle aus –, meine Mutter an das Kneipentelefon zu rufen, mit der Nachricht an besagten Mieter, er solle zu einer Verabredung an eine fünf Kilometer entfernte Kreuzung kommen. Die listige Idee hatte den gewünschten Erfolg. Ich belauschte dann – unter dem Küchentisch hockend – die Diskussion meiner Mutter mit dem Mieter über den merkwürdig anonymen Anrufer. Wutschnaubend kam der Verulkte von dem angeblichen Treffpunkt zurück. Heimlich feixend fand ich meine kindliche Ehre nunmehr gerettet.

In der Küche wurde wöchentlich die Wäsche gewaschen. Ein blecherner Kessel stand dann mitten im Küchenraum, wurde mit Gasflamme beheizt und mit Persil gefüttert. Er war für die damalige Zeit eine Neuerung. Aus einer Vielzahl Düsen wurde die Wäsche besprüht, musste aber trotzdem noch mit dem Scheuerbrett bearbeitet werden. Mit drei Jahren hatte ich allerdings mit dem Ungetüm schlechte Erfahrungen gemacht. Ich setzte mich versehentlich auf die blubbernde Masse und hatte eine Woche lang die Folgen zu ertragen. Mit der Elektrizität stand ich ebenfalls auf Kriegsfuß. Die Verdrahtung einer Steckdose war nicht normgerecht. So bekam ich etliche Male stark kribbelnde Bekanntschaft mit Strom. Eine weitere zeitlos lange schmerzende Erinnerung leistete ich mir mit einer Tür, die ich mit einer Hand zuschlug, während die Finger der anderen Hand sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachten. So weit mein Rückblick auf schmerzvolle Erfahrungen. Die Kinderkrankheiten wie Masern, Windpocken und Ziegenpeter überlasse ich den juckenden Erinnerungen.

Für unser Haus mit den zahlreichen Mietparteien war natürlich auch ein Hausmeister zuständig, mit einer dazugehörenden Portierswohnung, die von einer Familie Roßdeutscher genutzt wurde. Sie sorgte für Sauberkeit und Ordnung und war damit von den Mietparteien als Respektperson anerkannt. Ich verstand mich sehr gut mit den Leuten und bekam von ihnen sogar einen großen Teddybären geschenkt, den ich innig liebte und lange behielt.

Auf unserem Hof herrschte stets reger Betrieb. Zweimal in der Woche sammelten Kleinbauern mit lautstarkem Klingeln Kartoffelschalen für Kleinholz. Fast täglich spielte irgendein Leierkastenmann auf der Drehorgel seine Lieder ab und bekam dafür aus einigen Fenstern in Zeitungspapier eingewickelte Münzen zugeworfen. Ein Eisverkäufer bot große Eisblöcke zur Kühlung von Lebensmitteln an, denn Kühlschränke besaß kaum jemand. Die Bollerwagen belieferten die Läden mit Milch, die Bierkutscher brachten mit ihren prächtigen Pferdewagen Bierfässer zu den Kneipen und wurden dann mit dem üblichen Schluck Bier belohnt.

Meine Familie

Ein schmaler Flur führte zum Hinterausgang unserer Wohnung. Dort stand eine Wäscherolle für die Bettwäsche der Mieter. Mehrmals täglich klingelte es an der Tür. Ich war für das Öffnen zuständig und meldete meiner Oma die Besucher an. Fast immer waren es Bettler, die um Unterstützung baten. Es war eine Zeit, in der große Armut herrschte und es viele Arbeitslose gab. Meine Großmutter war sehr sozial eingestellt. Jeder Bettler bekam bei uns eine Butterstulle oder, sofern gerade vorhanden, einen Teller Suppe zu essen. Nur selten wurde dem einen oder anderen auch mal ein Geldstück zugesteckt. Die Bettler durften auf dem Flur an der Wäscherolle essen. Ich glaube, dass sich das herumgesprochen hatte, denn einige kamen häufiger. Einer gehörte fast schon zur Familie. Er durfte in unserem Schlafzimmer mit mir spielen und brachte mir ein paar Zauberkunststücke bei. Meine Oma hatte keine Bedenken, dass jemand von ihnen uns bestehlen könnte, und sie behielt recht mit ihrer positiven Einstellung. Als sich meine Oma den Arm brach und ins Krankenhaus musste, kam ihre Schwester Hulda aus Bad Freienwalde als treu sorgende Hilfe zu uns.

Jeden Sonntag war Kirchgang angesagt, da ging meine Oma mit meiner Mutter zum Gottesdienst in die Johanneskirche, die – unserer Wohnung nahe – in der Straße Alt-Moabit lag. Seltener besuchten sie die etwas entferntere Heilandskirche, die sich im kleinen Tiergarten befand. Beide waren christlich gläubig. Ich begleitete sie sehr oft und fand Gefallen daran. Also beschloss ich, doch einmal den Kindergottesdienst zu besuchen, der – etwas abseits vom Hauptkirchenschiff gelegen – gleichzeitig stattfand. Ich bat meine Mutter, mich anzumelden, und machte unter der Leitung unseres Gemeindepfarrers bald alle Treffen und Veranstaltungen mit. Ich hatte meinen Spaß daran, lernte fleißig die Kirchenlieder auswendig und war bald firm im Katechismus und bei den christlichen Geboten. Unsere Gemeinde gehörte zur evangelischen Johanneskirche, ein prächtiger Bau, entworfen von Schinkel, mit der Eigenart, dass der Glockenturm selbstständig und abseits vom Kirchenschiff errichtet war. Der Zufall wollte es, dass ich nach dem Krieg ein Gutachten über die Standfestigkeit des teilzerstörten Kirchenschiffes erstellen musste. Neben den üblichen Gottesdiensten fanden des Öfteren auch Veranstaltungen der Gemeinde statt. Ich erinnere mich dabei noch lebhaft an eine kirchliche Feier. Wir fuhren geschlossen mit der Straßenbahn nach Spandau zum Johannesstift. Unserer Kirche war diesem Stift-Areal angegliedert, einem Komplex mit zahlreichen diakonischen Einrichtungen. Dort, im nahen Stadtforst, dem Stiftsgelände gegenüber gelegen, wurde dann ein Gottesdienst abgehalten und fröhlich Kirchenlieder gesungen. Anschließend gab es Kaffee und Kuchen. Es war für mich als kleiner Junge ein eindrucksvolles Gemeinschaftserlebnis.

Im Alter von vier oder auch fünf Jahren war ich schon aufgeklärt, das heißt, ich glaubte nicht mehr an den Weihnachtsmann; dafür hatten die Jungs gesorgt, mit denen ich auf der Straße spielte. Natürlich gab es auch keinen Osterhasen. Aber zu Ostern ging mein Vater mit mir in den großen Tiergarten zum Ostereiersuchen. Ich fand immer alle möglichen Sorten von bunt verpackten Eiern im Gras oder unter Gebüschen verborgen und war partout der Meinung, dass die gute Parkverwaltung sie für die Kinder versteckt hätte. Natürlich hatte mein Vater sie unauffällig an den einzelnen Verstecken fallen lassen, ohne dass ich es merkte.

Da meine Eltern geschieden waren, setzte das Jugendamt einen Vormund für mich ein, der sich um mich kümmern und von meinem Vater Unterhaltsgeld eintreiben sollte. Der Mann war aus meiner Sicht ein totaler Reinfall. Er besuchte uns einmal im Monat, beachtete mich mit Ausnahme einer kurzen Begrüßung kaum, ließ sich von meiner Oma jedoch ausgiebig bewirten. Er redete viel, erzählte nur dummes Zeug, soweit ich das als kleiner Junge beurteilen konnte. Von meinem Vater bekam er zwar kein Geld, ergaunerte sich aber stattdessen sogar noch Trinkgeld von uns. Meine Großmutter fand das merkwürdigerweise völlig in Ordnung, bestimmt, weil sie meinen Vater nicht leiden konnte und ihm übel mitspielte. Meine Mutter, eigentlich besonders betroffen, verhielt sich still, weil sie ihrer Mutter, meiner dominanten Oma, nicht zu widersprechen wagte. Sie hatte nämlich das Handicap, als uneheliches Kind geboren zu sein, ein in damaliger Zeit diffamierender Zustand, unter dem sie stark zu leiden hatte. Mir wurde das allerdings erst in späteren Jahren klar.

Mir war untersagt worden, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen. Mit einigen Tricks schaffte ich es ab und an aber dennoch. Er wohnte in der Pritzwalker Straße bei der Familie eines Chemikers namens Ihrke zur Untermiete. Er nahm mich des Öfteren dorthin mit. In der Wohnung gab es noch kein elektrisches Licht, sondern nur Gaslampenbeleuchtung. Wir saßen dann lange und gerne bei gemütlichem Schummerlicht, bis die Gasflammen angezündet wurden. Den Abend verbrachte die Familie mit Unterhaltungen, die mich langweilten, oder aber mit Gesellschaftsspielen, bei denen ich dann mitmachen durfte. Anschließend brachte mein Vater mich wieder nach Hause.

Das Leben in Kindertagen

In unserem Mittelzimmer, einem damals wohnungsüblichen sogenannten „Berliner Zimmer“, stand ein Klavier, an dem ich immer herumklimperte. Da im Hinterhaus ein ehemaliger Kapellmeister wohnte, der sich als Klavierlehrer betätigte, schickte mich meine Mutter zu ihm. Ich sollte bei ihm schließlich das Klavierspielen lernen. Er unterrichtete mich im Notenlesen und Erkennen der verschiedenen Notenzeichen. Mit meinen Notenblättern unter dem Arm besuchte ich ihn oft und gerne. Es machte mir Spaß, dem Möbelstück mit verbogenen Fingern Töne zu entlocken, die manches Mal sogar melodisch klangen. Mit dem Fuß sollte ich auf ein unten vorhandenes Pedal drücken, was ich allerdings überhaupt nicht verstand. Nach beachtlichen Anfangserfolgen, als fleißiger Schüler gelobt, vernachlässigte ich meine häuslichen Übungen immer öfter. Statt schöner Lieder und klangvoller Musikstücke sollte ich ständig die mir langweilig erscheinenden Etüden üben. Das gefiel mir nun gar nicht und ich gab diese nützliche Betätigung schließlich auf. Heute sage ich: „Schade drum, hättest du mal weiter geübt!“ Doch alle Reue kommt zu spät, denn jetzt bewundere ich alle Standhaften, die es mit ständigem Üben zu gekonnten Klavierspielern geschafft haben.

Den Weihnachtsbaum besorgte uns immer einer unserer Mieter. Ich durfte beim Aussuchen „fachkundig“ dabei sein und beim Baumschmücken helfen. Heiligabend stand dann bei uns ein großer, mit Lametta und bunten Kugeln geschmückter Weihnachtsbaum auf einem Ecktisch vor dem Fenster. Echte Kerzen, mühevoll mit Kerzenhaltern an einzelnen Zweigen befestigt, wurden mit Streichhölzern sorgsam angezündet, sodass anheimelndes Licht für eine stimmungsvolle Atmosphäre sorgte. Meine Mutter spielte auf dem Klavier die bekannten Weihnachtslieder, zu denen einige Strophen sogar auswendig gesungen wurden. Ich hörte beschämt ihrem Spiel zu, denn sie hatte im Gegensatz zu mir ja richtig Klavier spielen gelernt. Geschenke gab es nur wenige; stattdessen stand ein großer bunter Teller mit Pfefferkuchen auf dem Tisch. Ich bekam neben Süßigkeiten ein Paar Schlittschuhe geschenkt, die mit einem Steckschlüssel an meine hohe Straßenschuhe anzuschrauben waren.

Mit meinem Vater, später dann auch allein, ging ich zum Schlittschuhlaufen in den Tiergarten zum „Neuen See“, der von einer Firma vom Schnee geräumt wurde und gegen geringes Entgelt genutzt werden konnte. Das Schlittschuhlaufen erlernte ich schnell, aber für Pirouetten blieb es beim Versuch. Die Winter waren teilweise dermaßen kalt, dass ich total durchgefroren nach Hause kam und meine eisigen Füße so schnell wie möglich am beheizten Kachelofen aufwärmte. Wir Jungs trugen fast alle die üblichen kurzen Hosen. Dazu hatten wir Kniestrümpfe an, die im Winter durch selbst gestrickte lange Wollstrümpfe ersetzt wurden, um die Kälte abzuhalten. Sie wurden von uns gehasst. Lange Hosen hatten wir jedoch nicht, sie waren noch nicht so in Mode.

Die wärmeren Jahreszeiten verbrachte ich überwiegend mit einigen anderen Jungen auf der Straße. Da waren Karl-Heinz Zülsdorf, Max Rauscher, Stani Gurk, meine Straßenfreunde aus dem Haus, ein paar fremde Jungs kamen fast immer noch hinzu. Zu unserer Gruppe gehörte auch ein großer Junge, einige Jahre älter als wir, der in der dritten Etage bei seinen Adoptiveltern lebte. Er war Jude, was uns so ziemlich egal war, hieß Salomon und war ein guter Kumpel, der zu uns passte. Wir wunderten uns nur, dass er eines Tages nicht mehr kam. Wir nahmen es als Kinder jedoch ohne weitere Nachforschungen zur Kenntnis, waren vielmehr der Meinung, dass er umgezogen sei.

In meiner Frühzeit, ich glaube im Alter von etwa vier Jahren, versuchte ich mich im Murmelspielen, später waren es die teureren Glasbugger, die man zielsicher in eine Mulde befördern musste. Ich nahm mutig das Spiel mit anderen Jungen auf und war immer todtraurig, wenn ich alle Kugeln verspielt hatte. Deshalb beschäftigte ich mich fortan lieber mit „Trieseln“, also Kreiseln, peitschte ein pyramidenförmiges Etwas stundenlang die Straße entlang oder hüpfte mit anderen Kindern über aufgemalte Kreidevierecke, auch „Hopse“ genannt. Später kamen kleine, metallene Formel-1-Rennwagen, die „Silberpfeile“, in Mode und die Straße wurde nach Avus-Vorbild zur Rennstrecke.

Im Gegensatz zu vielen anderen Jungs hatte ich kein Interesse am Spielen mit elektrischen Eisenbahnen. Ich beschäftigte mich viel lieber mit meinem Stabil-Baukasten und schraubte Türme, Häuser und Fahrzeuge zusammen. Ich las viel und begierig die Karl-May-Bände und verfolgte gespannt die Abenteuer von Winnetou, Old Shatterhand und Hadschi Halef Omar. Fast jeden Sonntag gingen wir Kinder ins Kino. Die Jugendvorstellung begann um 14.00 Uhr und kostete 50 Pfennig. Am liebsten sahen wir Wildwestfilme und fieberten laut brüllend mit, wenn Trapper oder wild reitende Indianer die Bösewichte jagten. Zufrieden verließen wir dann die Vorstellung. Schließlich hatte die Gerechtigkeit gesiegt und die Verbrecher hatten ihre Strafe erhalten. Für Räuber-und-Gendarm-Spiele nutzten wir die Hinterhöfe unseres Kiezes. Erste Fußball-Begeisterung wurde auf dem Bolzplatz im Tiergarten geweckt. Richtige Fußballspiele waren das nicht, sondern mehr oder weniger ein Rumgefummel mit dem Ball. Einige kindliche Streiche ließen wir uns auch einfallen. Mehrmals an fremden Haustüren zu klingeln und dann wegzurennen, machte uns einen Heidenspaß. Wir füllten auch leidenschaftlich gerne Wasser prallvoll in einen Luftballon und spritzten damit vom oberen Fenster aus auf vorbeigehende Passanten, mussten uns dann immer rasch verstecken, um nicht entdeckt zu werden. Es klappte meistens ganz gut. Im Telefonbuch suchten wir uns auch einige Male Namen wie „Donner“ aus, riefen dort an, meldeten uns mit: „Hier ist Blitz, wollen wir mal zusammen ein Gewitter machen?“ Mit Schadenfreude erwarteten wir die Schimpfausbrüche der Angerufenen. Derartiges bereitete uns herrlich kindliche Freude.

An unserer nächsten Straßenecke, der Spenerstraße, gab es eine Eisdiele, dort kauften wir uns dann für 10 Pfennig eine dicke Eiswaffel und lutschten sie genüsslich. Auf der Straße kabbelten oder rauften wir uns gerne untereinander oder mit anderen. Es war mehr ein freundschaftliches Toben als eine Straßenschlacht. Wenn dann in der Ferne ein Polizist warnend seinen Zeigefinger erhob, folgten wir gehorsam seiner Anordnung, denn ein Polizist war für uns eine Respektperson.

Mit etwa drei oder vier Jahren wurde ich in einen Kindergarten gebracht, der sich in der Nähe befand. Dort versuchte ich vergeblich, mit den anderen Kindern zu spielen. Es gefiel mir nicht besonders und so beschloss ich eines Mittags einfach, selbstständig nach Hause zu laufen. Mit erstaunten Gesichtern wurde ich in Empfang genommen, und das sogar ohne einen Vorwurf, denn die Straße war belebt und der Autoverkehr gering.

Im Alter von sechs Jahren wurde ich eingeschult. Mit einer großen Schultüte kam ich zur Volksschule und erlernte bei einem Fräulein Dittberner erste Schreibversuche auf einer Schiefertafel. Mit einem Griffel übte ich fleißig kratzend das Abc. Ein knappes Jahr später wurden wir mit einer anderen Klasse zusammengelegt. Lehrer Kreide bändigte seine nunmehr 40 Schüler mit Strenge und Rohrstock. Es blieb nicht aus, dass auch ich in gebückter Haltung Schläge auf mein Hinterteil in Kauf nehmen musste. Nunmehr mit Schreibfeder und Tintenfass ausgestattet, erlernte ich bald die deutsche Schrift und eine umfangreiche deutsche Grammatik. Trotz einer großen Schülerzahl in der Klasse brachte uns Lehrer Kreide immerhin noch eine ganze Menge bei, weil er mit interessanten Erzählungen und Durchsetzungsvermögen unsere Aufmerksamkeit wecken konnte. Mit zehn Jahren verkündete ich meiner Mutter, dass ich nun auf das Gymnasium gehen wolle, obwohl dort jeden Monat 25 Reichsmark Schulgeld die knappe Haushaltskasse belasten würde. Ich setzte mich jedoch nach einigen kurzen Familienberatungen durch und konnte meine weitere Ausbildung fortan im Staatlichen Luisengymnasium fortsetzen.

Die Schulferien

Fast alle meine Ferien verbrachte ich bei unseren Verwandten auf dem Bauernhof. Er befand sich in Karlsdorf, einem kleinen Ort im Land Brandenburg. Er bestand aus nur zwölf Bauernhöfen und lag in der Nähe von Neuhardenberg. Dort lebte Tante Minna, die Schwester meiner Oma. Ihr Sohn Otto bewirtschaftete den Hof gemeinsam mit Enkelsohn Herbert. Zwei Enkeltöchter, Hilde und Erna, vervollkommneten die Bauernfamilie. Außerdem lebten auf dem 50 Morgen großen Hof noch ein Pferd, vier Kühe, Schweine, Gänse, Hühner und Tauben. Sie alle sorgten für einen großen Misthaufen mit einer stinkenden Jauchegrube, in die ich natürlich prompt reinfiel, um ebenso zu stinken.

Das Gehöft bestand aus dem Wohnhaus, einem Viehstall, einer Scheune, einem Tabakschuppen und einem Klohäuschen. Wasser wurde aus einem Tiefbrunnen von einer Plumpe mit einem Schwengel nach oben befördert und mit Eimern ins Haus geholt. Eine Wasserleitung gab es nicht. Wir wuschen uns in der Küche aus einer Waschschüssel. Einmal wöchentlich wurde für die Mannschaft kräftiges Bauernbrot gebacken. Dazu wurde der Backofen mit trockenen Zweigen beheizt. Zum Frühstück gab es Stulle mit Sirup. Im Herbst wurde ein Schwein geschlachtet, das mit seinem Fleisch, mit Schinken und Wurst den Hunger ein Jahr lang stillte. Geflügel, geerntetes Gemüse und Obst vervollständigten die Nahrung. Da es noch keine Stromversorgung gab, sorgten Petroleumlampen für schummrige Abendbeleuchtung.

Zum ersten Mal brachte mich meine Oma im Alter von knapp drei Jahren nach Karlsdorf. Das war für mich eine Katastrophe, denn mein Essbesteck war nicht dabei. Unter Protest bockte ich so lange, bis dieser Aufenthalt abgebrochen wurde. Selbstverständlich wurde ich in späterem Alter doch wieder auf den Bauernhof gebracht und blieb von da an immer sehr gerne dort. Anfangs wurde ich noch von dem 15 Kilometer entfernten Bahnhof Trebnitz abgeholt, später fuhr ich dann mit meinem Fahrrad, das ich für 20 Reichsmark erstanden hatte, nach Karlsdorf. Meistens benutzte ich die S-Bahn bis Strausberg und fuhr von dort aus die 30 Kilometer mit dem Rad über die Dörfer ans Ziel. Manchmal fuhr ich jedoch auch die gesamte 70 Kilometer lange Strecke von Berlin aus nach Karlsdorf.

Aus der Schwedter Verwandtschaft meiner Großmutter kamen meistens noch zwei oder drei Jungs als Feriengäste hinzu. So waren wir fünf bis sechs Jugendliche, die sich untereinander gut verstanden und die Ferien dort gemeinsam verbrachten. Wir wurden, wie auf einem Bauernhof üblich, bei allen Arbeiten als Helfer fest eingeplant und eingesetzt, im Frühjahr bei den Saatarbeiten, im Sommer bei der Tabak- und Getreideernte, im Herbst beim Kartoffelbuddeln. Am schönsten war es in den Sommerferien, wenn die Kornfelder von Vater und Sohn mit der Sense gemäht wurden und wir die Garben binden und zu Mandeln aufstellen mussten. Die Vesperbrote schmeckten dann besonders gut. Hoch auf dem Erntewagen sitzend ging es auf den Hof zurück. Die Fuhre, vom einzigen Pferd mühsam gezogen, wurde anschließend von uns in der Scheune abgeladen. Beim Dreschen des Getreides machten wir ebenfalls tatkräftig mit. Mit dem Leiterwagen holten wir abends frisch gemähtes Gras für das Vieh von der Wiese.

Für uns Jugendliche blieb aber immer noch genügend Freizeit für alle möglichen gemeinsamen Spiele. Bei der Pilzsuche wetteiferten wir, wer die meisten Pfifferlinge entdeckte. Zum Blaubeerensammeln ging es in den Wald. Jeder bekam eine kleine Blechbüchse, in die er seine Ausbeute einsammelte. Ein großer Blaubeerhaufen kam auf diese Weise zusammen, der für eine gute Blaubeersuppe, angereichert mit Mehlklieben, für ein paar Mahlzeiten reichte. Jeden Abend badeten wir im nahen Lettinsee und schwammen auch gerne mal zum gegenüberliegenden Ufer. Ein selbst gebauter, hölzerner Laufsteg eignete sich perfekt für unsere Sprungübungen. Ich habe seit meinem sechsten Lebensjahr immer auf dem Bauernhof mitgeholfen. Es hat all die Jahre viel Spaß gemacht, es waren stets meine geliebten Ferien.

In Berlin bin ich im Sommer nach Schulschluss gerne ins nahe Poststadion gegangen. Dort gab es ein Schwimmbad mit einem großen Becken und einem Sprungturm mit einem Ein-, Drei- und Fünfmeterbrett. Ein Bademeister passte bei den Sprüngen auf und sorgte für Ordnung. Meistens gingen wir in kleinen Gruppen zum Schwimmen. Gegen fünf Uhr beendete stets (!) ein Gewitter den Schwimmbadbesuch. Anschließend freute ich mich immer auf eine Büchse mit Ölsardinen, die schmeckte mir danach besonders gut. Natürlich stimmt das mit dem „stets“ nicht so ganz. Aber so trügt nun mal oft die Erinnerung …

Anfänge der NS-Zeit

Die Küche war der Mittelpunkt unserer Wohngemeinschaft. Dort wurde diskutiert und politisiert. Es waren unruhige Zeiten. Die unterschiedlichen Meinungen unserer Mieter spiegelten die Vielfalt der Parteienlandschaft wider. Ich betätigte mich zwangsweise als unbedarfter, stiller Zuhörer und bekam erste Eindrücke vom politischen Geschehen. Zeitweilig wohnte auch ein SA-Mensch bei uns, in brauner Uniform mit Schaftstiefeln und Schirmmütze. Er besaß einen großen Schäferhund und versammelte seine Parteifreunde um sich, oft sogar in der Absicht, abends auf die Straße zu ziehen, um dort die Kommunisten zu provozieren und Randale zu veranstalten. Das wurde im Allgemeinen sogar als Normalität empfunden und ohne weiteres Aufsehen hingenommen. Mehrmals in der Woche zogen in der Straße Alt-Moabit-Demonstrationskolonnen an unserem Haus vorbei. Die Nazis in ihren braunen SA-Uniformen, im Gleichschritt, mit Fanfarenklängen und Trommelwirbel; die Kommunisten mit roten Fahnen, geballten Fäusten und Schalmeienmusik. Die einen sangen das Horst-Wessel-Lied, die anderen die Internationale. Die Sozis waren nicht ganz so aktiv. Überall hingen aus den Fenstern der Häuser Fahnen, meist rote, mit Hammer und Sichel oder mit Hakenkreuz, dazu auch einige Reichskriegsflaggen und schwarz-weiß-rote. In meiner Erinnerung hatten sich die Straßen in ein Fahnenmeer verwandelt. Sogar die Hinterhöfe waren nicht verschont geblieben. Die Bewohner waren bestrebt, auf diese Weise ihre politische Meinung kundzutun.

Als Folge des „Schwarzen Freitags“ an der New Yorker Börse verschlimmerte sich die Wirtschaftslage in Deutschland dramatisch. Die Arbeitslosenzahl stieg auf sechs Millionen. Armut und Hunger waren an der Tagesordnung. Mein Vater arbeitete als kaufmännischer Angestellter in der Verwaltung und wurde ebenfalls arbeitslos. Wie viele andere in den Anfängen der Dreißigerjahre trat auch er in die Nazipartei ein, war also ein sogenannter „Alter Kämpfer“. Er bekam sehr bald ein Amt als Kassierer seiner SA-Abteilung. Wenn er die Mitgliedsbeiträge bei seinen Parteigenossen einkassierte, nahm er mich meistens mit. Er traf dabei verschiedentlich Kriegsteilnehmer und tauschte dann gerne mit ihnen Kriegserlebnisse aus. Oft lebten die Familien in Kellerwohnungen. Wir wurden stets freundlich aufgenommen. Während die Männer sich unterhielten, wurde ich mit Kuchen verwöhnt und mit allen möglichen, mir noch unbekannten Spielen beschäftigt. Es machte mir sehr viel Spaß.

Im Hinterhaus wohnte eine Kommunistenfamilie. Ich spielte immer gerne mit deren Sohn. Seine Mutter nähte uns Matrosenhosen aus Bettlaken, die wir stolz trugen. Nach der Machtübernahme hatten sie es eilig zu erklären, dass auch sie nun Nazis seien, und das mit dem Kommunismus wäre nicht richtig gewesen. Im Seitenflügel wohnte ein für mich merkwürdiger Mensch mit langen, zerzausten Haaren. Er lief barfuß und ernährte sich von rohen Zwiebeln. Meine Oma unterhielt sich oft mit ihm und erklärte mir, dass er eigentlich ein kluger Mann wäre, der trotz seines Aussehens vernünftige Ansichten hätte. Er schimpfte auf die Nazis und war eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

So weit meine Erinnerungen an die frühe Kindheit in einer turbulenten Zeit. Nun begannen die Erlebnisse meiner Jugend …

MEINE JUGEND

Die Rathenower Straße