Glück ist nichts für Feiglinge - Nicola Förg - E-Book
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Glück ist nichts für Feiglinge E-Book

Nicola Förg

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Beschreibung

Sonja ist eher der ängstliche Typ. Im Job überfordert, von den Männern enttäuscht, in ihrem Siedlungshäuschen von der Welt vergessen. Ihr ein und alles ist Lady Goggo, eine Katze. Eine ziemlich selbstständige Katze, die sehr neugierig ist und sich dauernd irgendwo einsperren lässt. Sonja verpasst ihr eine Cat-Cam, eine kleine Kamera, die ihr die Kontrolle über Lady Goggos Streunereien verschafft. Nur eines schönen Tages filmt die Katze, wie Nachbar Sven in seinem Haus eine Frau stranguliert! Hat Lady Goggo einen Mord gefilmt? Am Tag drauf verschwindet die Katze. Offenbar ist sie in Svens Bus gestiegen und mit ihm nach Island gefahren. Sonjas geliebte Lady Goggo unterwegs mit einem Frauenmörder?! Todesmutig reist Sonja nach Island. Wo sie sich an Svens Fersen heftet. Und am Ende etwas findet, wonach sie gar nicht gesucht hat ...

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www.piper.de

Für die Schnudel.

ISBN 978-3-492-96947-5 März 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 Covergestaltung: Favoritbüro, München Covermotiv: MOPIC/Shutterstock Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

God knows what is hiding, In this world of little consequence. Behind the tears, inside the lies, A thousand slowly dying sunsets.

Birdy, People Help the People, 2011

Da saß sie nun also wieder in dem Auto, einer Art Kreuzung aus Möbelwagen und Mülleimer. Die Frau neben ihr fuhr wie Sebastian Vettel auf Drogen. Noch immer hörte sie ihr zu, obwohl sie unmöglich war, sie ständig beleidigte. Der Frau gelang es, die Finger so spitz in alle Wunden zu bohren, dass ihr die Luft wegblieb.

Noch immer schepperte der Wagen über diese Insel, auf der ein einziger Tag alle Wetter kannte. Sonne, Regen, Sturm, Wolkengebäude wie Hochhäuser, Regenbogen zum Heulen schön. Eine Insel, auf der Menschen und Tiere Verbündete des Wassers und des Eises sein mussten. Wo Gedanken mit dem Wind fliegen konnten.

Sie hatte Dinge getan, die so weit außerhalb ihres bisherigen Lebens lagen, dass ihr die Luft weggeblieben war. Sie hatte allen Ernstes mit Elfen geredet oder besser: Sie hatte sie beschimpft. Sie hatte sich in einer Talkshow zum Affen gemacht. Sie hatte eine Menge seltsamer Menschen kennengelernt. Eine Frau in einer historischen französischen Schwesterntracht. Einen Mann, der im Sommer mit dem Skidoo himmelhohe Sprünge wagte. Und dann war da dieser Wikinger, der ihre Gefühle durcheinanderwirbelte wie der Sturm die losen Flechten – ein starker Bodybuilder, geschickter Glímakämpfer, sensibler Pferdezüchter und filigraner Künstler zugleich.

All diese Menschen kreisten wie Satelliten um die unmögliche Frau. Dennoch war sie auf dieser seltsamen Insel geblieben, die so gewaltig und gewalttätig war. Das alles war nur passiert, weil sie so neugierig und verzweifelt gewesen war. Und natürlich wegen Lady Goggo…

Mering, Bayerisch-Schwaben

Vorsichtig nahm Sonja die Speicherkarte aus dem Aufnahmegerät und steckte sie in ihren Laptop. Dann kochte sie sich einen Tee und setzte sich. Inzwischen war es ihr zur lieb gewonnenen Gewohnheit geworden, sich jeden Abend ihre ganz persönliche Soap anzuschauen – so wie andere ihre Vorabendserien sahen und in die Leben der TV-Helden eintauchten, als wäre es ihr eigenes. Nicht jede Folge war gleichermaßen spannend, doch das konnte man von TV-Serien auch nicht behaupten. Im Gegensatz zum Fernsehen war Sonjas Reality-Soap aber nie vorhersagbar.

Die Bilder von heute waren besonders wacklig. Sattes Grün flog vorbei, es wurde dunkel, dann wieder hell. Dann kehrte Ruhe ein. Die Kamerafrau saß wahrscheinlich gerade unter einem Busch. Vieles war aus einer Perspektive zwanzig Zentimeter über dem Boden aufgenommen. In Blickrichtung der Kamera war eine Gestalt auszumachen, die im Bikini auf einem Badehandtuch im Gras lag. Sonjas Nachbarin Lorelai Münzinger. Wie konnte man sich in diesem Alter nur Lorelai nennen?, fragte sich Sonja. Lore wäre passender gewesen. Die Erklärung lautete, dass die Nachbarin ein großer Fan der »Gilmore Girls« war. Lorelai Münzinger hatte ursprünglich Ursula geheißen. Den neuen Namen hatte sie allen Ernstes offiziell eintragen lassen. Wenn Post mit dem Namen Ursula Münzinger kam, schickte sie diese als unzustellbar retour.

Das alles wusste Sonja von Max' und Idas Mutter. Die Zwillinge besuchten die Hortgruppe, in der Sonja bisweilen aushelfen durfte. Die Mutter von Max und Ida war eine ganz normale Schwäbin und fand Kinder, die Kevin (»kein Name, sondern eine Diagnose«) oder Chayenne hießen (»ist das nicht ein Pfeffer?«), ganz grauenvoll. Sonja auch, aber damit musste sie in ihrem Job natürlich hinterm Berg halten. Außer Max und Ida trug in der Pumuckl-Gruppe nur Franziska einen eher klassischen Namen. Ansonsten gab es drei Amelies, eine Alissa und eine Elisa. Bei den Jungen häuften sich die Namen auf L: Louis, Luca, Leon und Leo.

Bei den Hortkindern, die nach der Schule kamen und gegen fünf abgeholt wurden, half Sonja aber wie gesagt nur aus. Eigentlich war sie im Gebrüder-Grimm-Haus eingesetzt, wo es jedoch alles andere als märchenhaft zuging. Die Bezeichnung »Heilpädagogisches Kinderheim« war wohl auch ironisch gemeint. Ihre Chefin war eine Hexe aus dem ehemaligen Osten, mehr Gefängniswärterin denn Pädagogin. Und Heim? Erziehungsanstalt traf es viel eher.

Immer wenn Sonja zur Arbeit fuhr, nahmen ihre Magenschmerzen proportional zur Fahrstrecke zu. Aber kündigen? Dann hätten die armen Kinder ja gar niemanden mehr gehabt. Die kleine Elena zum Beispiel, deren montenegrinische Mutter ihr als Baby Wodka in die Flasche gegeben hatte, damit sie endlich einschlief. Es hatte lange gedauert, bis das Jugendamt eingeschritten war. Erst als die Kleine bei scharfen Minusgraden nur mit einem Hemdchen bekleidet barfuß durchs Dorf geirrt war und die Polizei die Kleine aufgegriffen und ins Krankenhaus gebracht hatte – erst da war im Amt jemand aufgewacht. Elena war ins Heim gekommen. Die Mutter lebte inzwischen die meiste Zeit wieder in Montenegro, der russische Kindsvater in Österreich. Elena war ein stilles Mädchen, das Vertrauen zu Sonja gefasst hatte. Sonja war auch die Einzige, mit der sie ganze Sätze sprach.

Das Bild flackerte. Wieder war verwackeltes Grün und Grau zu sehen, es folgte ein kurzer Blick in den blauen Himmel. Dann hörte die Bewegung auf. Vermutlich lag die Kamerafrau gut versteckt unter einem anderen Busch. Die Nachbarin drehte ihren dünnen Körper von der Bauchlage auf den Rücken. Dabei sprangen die Brüste wie zwei Plastikbälle nach oben. Da musste einiges an Silikon verbaut worden sein.

Sonja schätzte Lorelai Münzinger auf weit über fünfzig. Früher war sie mal mausbraun oder aschblond gewesen, nun trug sie glänzendes Lorelai-Brünett. Dazu gab es neuerdings Schlauchbootlippen, und außerdem hatte man ihr das Gesicht nach hinten getackert. In einer dieser Absaugekliniken hatte sie mindestens zwei Kleidergrößen verloren und konnte mittlerweile in der Kinderabteilung einkaufen. Dafür waren ihre Möpse überdimensional geworden. Wenn man sie von hinten auf ihren hohen Stiefeln daherstöckeln sah, hätte man sie für einen heißen Feger halten können. Was ein paar Bauarbeitern kürzlich auch passiert war. Sie hatten ihr aufs Heftigste hinterhergepfiffen und sich dann, als Frau Lorelai ihnen ihre Vorderfront präsentiert hatte, ganz schnell auf den Mund geschlagen.

Nun – wegen Sonja pfiff sowieso keiner, das wusste sie. Dafür hatte sie den Jungs immer Kaffee gemacht, die hatten sich wirklich gefreut. Immerhin.

Sonja traf ihre Nachbarin ab und zu beim Einkaufen im nahen Supermarkt. Lorelai hatte immer nur Gemüse, Sojadrinks und Prosecco auf dem Band, während Sonja sich Käse mit fünfzig Prozent Fettanteil aufwärts und Kekse auflud. Und Teebeutel. Alkohol trank sie nämlich nicht. Zu viele der traumatisierten Kinder im Heim hatten Eltern, die Alkoholiker waren.

Immer wenn sich Lorelai zu ihr umdrehte und grüßte, hätte Sonja sich am liebsten unter das Band zu den Plastiktüten verkrochen. Wie konnte eine Frau ihr Gesicht so verunstalten? Sonja wusste, dass Lorelai früher, als sie noch Ursula hieß, gemodelt hatte. War man gefährdeter, wenn man aus einer Welt kam, in der nur die Schönheit regierte?

Für Sonja war das alles so weit weg wie Timbuktu. Sie hatte als kleines Mädchen nie den Wunsch gehegt, Model oder Schauspielerin zu werden. Stattdessen hatte sie Reitlehrerin werden wollen. Jetzt war sie Erzieherin, immerhin. In die Welt der Schönheit würde sie auch nie Eingang finden – zu viele Kekse, zu viel Kuchenbacken mit den Kindern. Sie war zu dick zum Modeln und hatte dünne Haare. Zu klein war sie außerdem.

Warum konnte diese Ursula-Lorelai sich nicht einfach über ihren früheren Modelerfolg freuen und einer geruhsamen Rentenzeit entgegensehen? Einmal hätte Sonja sie beinahe gefragt, warum sie denn unbedingt jung bleiben wolle. Aber das war an einem Tag gewesen, als sie sich offenbar gerade die kleinen Fältchen um die Lippen hatte wegspritzen lassen. Anscheinend hatte sie allergisch reagiert, denn sie hatte lauter kleine rote Pünktchen rund um den Mund gehabt. Kleine fiese Pusteln waren das gewesen. Natürlich hatte Sonja doch nicht nachgefragt und im Supermarkt nur ganz schnell zur Begrüßung genickt. Dann war sie zum Marmeladenregal gegangen und hatte so getan, als studiere sie die Etiketten.

Zweimal hatte sie bei Lorelai angeklingelt, als sie mal wieder auf der Suche nach ihrer Katze gewesen war. Sie hatte ihre Nachbarin gebeten, mal im Keller und im Gartenhaus nachzusehen. Lorelai hatte es ihr versprochen, hereingelassen hatte sie Sonja jedoch nicht. Dabei hätte sie viel lieber selbst nachgesehen. Aber voranpreschend war sie noch nie gewesen.

Das Bild wackelte, bevor es wieder zum Stillstand kam. Sonja brauchte einige Sekunden, um das einzuordnen, was sie da vor sich sah. Lorelai hatte ihr winziges Bikinihöschen ausgezogen und rasierte sich. Untenrum. Sonja sah weg und dann wieder hin. Wieder weg, wieder hin. Schließlich wandte sie den Blick ab und griff hastig nach ihrer Teetasse. Als sie wieder hinsah, war die Ansicht völlig verschwommen. Lorelais Bikinizone war verschwunden. Dafür gab es ein Getümmel. Federn flogen durchs Bild. Die Kamerafrau hatte einen Vogel gefangen.

Seit ihre Katze diese Catcam um den Hals hatte, konnte sie nicht auch noch ein Glöckchen tragen, dabei wäre das durchaus sinnvoll gewesen. Die Katze war eine begnadete Jägerin. Sie schleppte nicht nur Vögel an, sondern auch andere Lebewesen wie Frösche, Eidechsen und Blindschleichen. Kürzlich hatte sie mal eine ganze Lyoner durch die Katzenklappe gezerrt. Vermutlich hatte sie die irgendwo geklaut. Dass die Katze eines Tages zur Killerin mutieren würde, hatte sich so gar nicht angedeutet, als sie im zarten Alter von zwölf Wochen zu Sonja gekommen war.

Das erste halbe Jahr hatte sie die Katze im Haus gehalten und das drollige kleine Wesen mit einer Katzenangel und Bällchen bespaßt. Das waren herrliche Zeiten gewesen, und die Katze hatte auch nie Anstalten gemacht, sich für eine Welt außerhalb der Haustür zu interessieren. Doch eines schönen Tages war Sonja nachts von gar schauerlichen Geräuschen geweckt worden. Die Katze wand sich, rubbelte mit ihrem Po über den Boden und wehklagte. Immer wieder fiel sie dramatisch zur Seite. Sie musste ungeheure Schmerzen haben. Die Stunden, bis die Praxis der Tierärztin um acht öffnete, waren kaum auszuhalten.

Sonja hatte mit der Katze im Transportkorb schon eine Weile vor der Tür gestanden, als Nicole, die Tierarzthelferin, die mit Sonja eine Weile in der Grundschule gewesen war, endlich den Türsummer betätigte. Nicole und ihre Chefin waren wirklich sehr rücksichtsvoll und gaben sich größte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. Die Katze sei rollig, erklärte die Tierärztin. Und zwar so was von rollig. Die reinste Hormonexplosion. Und sie gehöre bald mal kastriert.

Nach drei Tagen wurde aus dem Tier wieder die nette, eher zurückhaltende Katze, und wenig später wurde der OP-Termin anberaumt. Sonja war am Tag des Eingriffs völlig durch den Wind, und als nachmittags der Anruf kam, sie könne die Katze doch erst morgen abholen, stand ihr die schlimmste Nacht ihres Lebens bevor. Sie musste drei Packungen Schokocrossies essen und diese auch bald wieder von sich geben. Bestimmt war die Katze verstorben.

Zum Glück war es nicht so. Sonja verstand nicht ganz, was ihr in der Praxis über Komplikationen und verdrehte Eierstöcke erzählt wurde. Die Katze sah zickig aus, sie hätte sicher Besseres zu tun gehabt, als die Nacht bei der Tierärztin zu verbringen. Kaum war sie wieder zu Hause, zog sie sich alle OP-Fäden selbst. Sonja stürmte wieder die Praxis, wo die Katze Klammern in die Naht bekam und einen Bauchverband. Doch kaum war die erste Wicklung angelegt, fiel das Tier zur Seite. Die Ärztin wickelte weiter und richtete die Katzendame auf dem Untersuchungstisch wieder auf. Sie stürzte erneut. Nicole runzelte die Stirn und probierte, die Katze auf den Boden zu setzen. Doch auch dort fiel sie wieder um. Sie hatte eindeutig eine Hinterhandlähmung. Hochdramatisch stürzte sie unter den Heizkörper. Doch kaum hatte die Tierärztin den Verband wieder abgewickelt, konnte die Katze wieder laufen. Sofort probierte sie, die Klammern herauszuoperieren. Also ein neuer Verband – und die Show ging wieder los. Drama pur! Dazu diese Augen! Oscarreif.

Die Katze musste noch eine Nacht in der Praxis bleiben. Am nächsten Morgen konnte sie trotz des neuen Verbands nun doch wieder laufen. Sie hatte wohl eingesehen, dass ihre Show nicht zum gewünschten Ergebnis geführt hatte.

Zu Hause behielt sie tatsächlich zwei lange Tage den Verband an. Nicht zuletzt weil sie eine Halskrause tragen musste, der sie aussehen ließ wie eine Außerirdische. Sie blieb am Türrahmen hängen, heulte vor dem Futternapf, über den sie diese dumme Tüte einfach nicht stülpen konnte. Sonja litt unendlich. Am vierten Tag durften Verband und Krause endlich weichen.

Nun stand fest: Sonja hatte sich eine Nachwuchsdiva ins Haus geholt, die schon bald in die große weite Welt hinauswollte. Zwei Seelen schlugen in Sonjas Brust und lieferten sich große Gefechte. Eine Katze muss hinaus, das Haus allein ist nicht artgerecht, flüsterte die eine Stimme. Aber das Haus ist doch groß genug, andere Katzen leben in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, während dieses Tier ein ganzes Haus zur Verfügung hat!, wisperte die andere Stimme. Und draußen wird sie überfahren … Die Waagschalen schwankten hin und her, dass Sonja ganz schwindlig wurde. Schließlich entschied die Katze den Seelenkampf auf ihre Weise: Sie entwich über den Balkon und einen Baum. Nun war sie eine Freigängerin – ein Freigeist war sie wohl immer schon gewesen.

Die Katze war seinerzeit auf Umwegen zu Sonja gekommen. Bei der Tierärztin hatte ein Zettel gehangen, den Sonja eher zufällig gelesen hatte, als sie mit ihren beiden Kaninchen Bommelmann und Nasenbär zum Krallenschneiden gewesen war. Sonja hätte das auch selbst machen können, aber sie hatte Bommelmann einmal die Krallen so kurz geschnitten, dass es geblutet hatte. Seitdem traute sie sich nicht mehr, selbst Hand anzulegen. Deshalb war sie in die Praxis gegangen, wo sie auf den Zettel und das Bild an der Pinnwand gestoßen war.

»Kleine Katze, weiblich, scheu, circa 12Wochen, geimpft, entwurmt, sucht liebevolles Zuhause.«

Die Katze hatte eine sonderbare Farbe. Schildpatt nannte man das wohl, die Farben verliefen ineinander, und mitten im Gesicht saß ein rosa Näschen. Dazu diese riesigen Kulleraugen. Während sich die beiden Karnickelmänner widerwillig von Tierarzthelferin Nicole die Krallen kürzen ließen, erkundigte sich Sonja zögernd nach der kleinen Katze. Und Nicole, die schon in der Schule für ihre phantasievollen Geschichten bekannt gewesen war, erzählte voll gestenreicher Dramatik die traurige Geschichte von den drei Kätzchen Heureka, Paul und der namenlosen Kleinen.

»Zwei mussten eingeschläfert werden. Aber die Kleine hat überlebt. Ich wünsche ihr wirklich einen guten Platz. Auf dem Bauernhof, wo die Katzen so traurig dahinvegetiert sind, gab es in der Tenne, wo die Katzen eingesperrt waren, ein altes Auto, ein Goggomobil. Die Katzenmutter hat sie auf dem zerrissenen Sitz geboren. Traurig, wenn Tiere so leben müssen, oder?«

Die Blicke von Sonja und Nicole trafen sich.

»Könntest du sie denn nicht nehmen? Du hast doch das kleine Häuschen in der verkehrsberuhigten Straße. Du hast Zeit für so ein Viecherl. Deine komischen Dienstzeiten und Nachtschichten sind kein Problem für die Katze. Dafür bist du viel zu Hause. Und du hast keinen Mann, keine Kinder. Und mit den Hasen gibt's kein Problem. Die arrangieren sich. Schau dir die Kleine doch mal an. Sie sitzt in der Katzenstation der Tierhilfe.«

Sonja schluckte. Ja, sie hatte häufig Nachtschichten und Wochenenddienste, die von Freitag um vierzehn Uhr bis Samstag um sechzehn Uhr dauerten, wo sie alleine war mit ihrer bohrenden Angst zu versagen. Außerdem hatte sie immer dann Dienst, wenn es darum ging, eine Weihnachtsfeier oder eine Grillparty vorzubereiten. Sie stand auf den Leitern und dekorierte. Sie kaufte ein, denn ihre Chefin hatte Besseres zu tun. Genau wie die Kollegen. Das Argument war immer dasselbe. Alle anderen hatten Familie. Sie hingegen hatte tatsächlich weder Mann noch Kinder. Dabei ging sie schon auf die dreißig zu. Die biologische Uhr tickte. Sie würde vielleicht nicht gerade als alte Jungfer enden, aber sie würde allein sein. Obwohl man bei Kindern ja auch keine Garantie hatte, dass die einen einmal pflegen würden.

Dafür hatte Sonja ein Häuschen. Sie hatte es von der Oma geerbt. Eigentlich hatte sie es verkaufen wollen, denn ursprünglich hatte sie gar nicht vorgehabt, selbst dort einzuziehen. Aber damals hatte sie noch ihren Freund Marc gehabt. Marc war Polizist und ein anbetungswürdiger Typ. Sonja hatte ihn auch tatsächlich angebetet und ihm jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Sie war dankbar gewesen, dass so ein Typ ausgerechnet sie erwählt hatte – sie, das hässliche langweilige Entlein. Nach eineinhalb Jahren hatte Sonja angefangen, darüber nachzudenken, ob sie nicht lieber kündigen und das Terrorregime ihrer Chefin hinter sich lassen sollte. Es kämen ja eigene Kinder, die Sonja brauchen würden. Das familienfreundliche und schuldenfreie Häuschen mit Garten wäre ideal für eine mehrköpfige Familie. Ein guter Plan, hatte Sonja gefunden. Nur leider hatte Marc ganz andere Pläne verfolgt. Er hatte ziemlich Knall auf Fall – und ohne das je mit Sonja abzusprechen – seinen Job gekündigt und war nach Australien abgehauen. Um sich zu finden, hatte er gesagt. Seine Selbstfindung hieß Laura und wollte in Byron Bay in einer Surfschule anheuern. Inzwischen war Laura längst out, genau wie Byron Bay. Marc war zum Studieren in Bochum gelandet. Und Sonja saß in ihrem Häuschen mit fünf kleinen Zimmern und einem riesigen Grundstück. Eigentlich ein Katzenparadies.

Weil Sonja beim Einkaufen in der Nähe der Katzenauffangstation vorbeigekommen war, hatte sie angeklingelt. Sie wurde von einer resoluten älteren Frau empfangen, die ihr die Vorzüge von Katzengesellschaft nahegebracht hatte. »Katzen sind Männern immer vorzuziehen«, hatte sie gesagt. »Man ist nie allein. Katzen behalten im Gegensatz zu Männern ihr üppiges Haar. Katzen mutieren bei einem kleinen Schnupfen nicht gleich zu Totalinvaliden. Katzen sehen sehr gerne Tiersendungen und Soaps. Und Katzen werfen keine verschwitzten T-Shirts auf den Badezimmerboden.« Sonja war sich nicht ganz sicher, ob das witzig sein sollte.

Ganz oben auf dem Kratzbaum saß die kleine Katze, die sie ja schon vom Foto kannte. Sie war winzig. Viel zu klein für drei Monate. Und sie sah nachdenklich aus. Es wäre gelogen, dass die kleine Katze sich Sonja als Frauchen ausgesucht hätte. Dagegen attackierten zwei kleine Kater Sonjas Schnürbänder, einer schnurrte sie begeistert an. Jede andere hätte einen der Kater genommen. Die kleine Katze mit der rosa Nase hingegen schaute nur. Sie sah Sonja in die Augen. Und mitten ins Herz. Sie zeigte keine emotionalen Ausbrüche. Sie vollführte keinen Affentanz und schnurrte kein Bewerbungsschnurren. Sie saß einfach nur da, still, konzentriert und nachdenklich. Sie war wie Sonja selbst. Und wurde Lady Goggo getauft.

Vor einiger Zeit war Sonja beim Zappen in einer Tiersendung hängen geblieben, wo es um eine Katze in den USA gegangen war, die allen Ernstes nachts in den Nachbargärten Handtücher und Badehosen geklaut hatte. Die Nachbarn hatten lange Zeit die Katzenbesitzerin verdächtigt. Um sich zu rehabilitieren, hatte das Frauchen für die Katze eine Kamera gekauft, die nun minuziös aufzeichnete, wie die Katze ihre Beutestücke durch die Hecken zerrte.

Sonja war sofort fasziniert gewesen und hatte im Internet recherchiert. Dabei fand sie einen Anbieter, der sie erst mal fragte, ob sie womöglich ihren Ehemann ausspionieren wolle. Er riet ihr zu einem CatTraQ, einem kleinen Gerät, das Signale verschiedener GPS-Satelliten empfing und damit die aktuelle Position aufzeichnete. Es funktioniere sogar im Wald oder in Häuserschluchten, und nach der Rückkehr würden die aufgezeichneten Positionsdaten über USB-Schnittstelle auf den PC übertragen, erklärte er. Dabei ließ er offen, wo am Ehemann das Gerät angebracht werden solle, bei der Katze sitze es jedenfalls im Nacken, erzählte er.

Aber Sonja wollte nichts dermaßen Kompliziertes. Sie wollte eine Kamera. Auch die gab es. Voller Begeisterung schilderte der Mann eine kleine Digitalkamera, ein wahres Wunderwerk, das am Halsband der Katze angebracht werde. Sie verfüge über eine benutzerprogrammierbare Zeitfunktion. Basierend auf der eingestellten Intervallzeit würden automatisch Bilder oder Filme aufgenommen. Das Gerät sei natürlich gegen Stöße, Schmutz und Feuchtigkeit geschützt. Man kenne ja den Lebensstil von Katzen! Sobald die Mieze von ihrem Streifzug zurückgekehrt sei, könne man sich die Aufzeichnungen über eine SD-Karte im heimischen PC ansehen. Sonja ließ sich überzeugen und kaufte ihrer Katze eine solche Catcam. Eigentlich half sie ihr wenig bei ihrem Kontrollwahn, denn ohne die Katze kam die Kamera logischerweise nicht zu ihr zurück.

Der Verkäufer erklärte Sonja, dass er auch schon an einer Livecam arbeite. Seinen Ausführungen zu Antennen und Satelliten konnte Sonja nicht folgen. Was sie verstand, war, dass auch das Live-System noch nicht zuverlässig sei. Und teuer. Sonja bestellte sich nach ein wenig Bedenkzeit eine Catcam. Abends holte sie die Speicherkarte aus der Kamera und steckte sie in ihren Laptop. Irgendwie beruhigte es sie zu wissen, wo Lady Goggo sich tagsüber aufhielt und was sie so alles erlebte.

Und so durfte auch Sonja wohl oder übel an Lorelais Intimrasur teilhaben…

Mering, Bayerisch-Schwaben

Dank der Catcam erfuhr Sonja, dass Lady Goggo von einer anderen Nachbarin mit Leberwurst gefüttert wurde. Deshalb also war sie so gut genährt, obwohl sie bei Sonja wirklich wenig fraß. Nur bestimmte Beutelchen, und das auch nur an Tagen, an denen die Katzendame gnädig gestimmt war. Klar, wenn man alternativ fette Leberwurst schnabulieren konnte. Aber wie sollte Sonja der alten Habersetzer denn klarmachen, dass sie die Katze nicht füttern dürfe, weil das ungesund für ihre Katze sei. Schließlich konnte sie ihr gegenüber wohl kaum erwähnen, dass Lady Goggo ihre Snackbesuche im Hause Habersetzer filmte! Und leider konnte sie auch nicht damit kontern, dass Frau Habersetzers eigene Gewohnheiten ebenfalls sehr ungesund seien: Die Dame bewahrte nämlich Drei-Liter-Weinpacks im Kühlschrank auf. Dank ihrer filmenden Spionin wusste Sonja, wie oft die alte Dame vorbeischlurfte und aus dem kleinen Hahn etwas in ein Marmeladenglas laufen ließ, das sie sofort austrank.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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