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Glück E-Book

Jackie Thomae

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Beschreibung

Kann man nur als Mutter oder auch anders glücklich werden?   »Jackie Thomaes Kunst liegt darin, große Kunst zu schaffen, ohne dass die sich groß anfühlt, einen Roman mit Anspruch, der den Anspruch nicht vor sich herträgt.« Der Spiegel Marie-Claire, kurz MC, bekannt als die gut gelaunte Stimme aus dem Radio, bekommt mit knapp vierzig von ihrer Frauenärztin diesen Satz zu hören: Sie hatten ein Vierteljahrhundert Zeit. Und jetzt ist es zu spät oder so gut wie. Die wichtigste Deadline des Lebens: verpasst. Den im Grunde einzigen Daseinszweck: verfehlt. Oder noch nicht? Denn als MC am nächsten Morgen aufwacht, ist sie zu ihrer eigenen Überraschung das erste Mal wirklich glücklich. Anahita ist eine wandelnde Erfolgsgeschichte: Senatorin mit nicht einmal vierzig, Medienprofi, in ein paar Jahren könnte sie in Brüssel sitzen. Doch etwas fehlt, auch wenn sich das niemand zu sagen traut. Eine Politikerin muss kompetent sein, und ist Mutterschaft nicht immer noch die wichtigste Kompetenz einer Frau? Glück ist ein Roman über Frauen unter Druck, über die Phase im Leben, in der sie zu alt sind, um noch länger warten zu können, und zu jung, um es hinter sich zu haben. Doch was wäre, wenn diese Phase sich künstlich verlängern ließe? Wenn die Frauen, wie die Männer schon immer, einfach noch Zeit hätten?

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Glück

JACKIE THOMAE ist Schriftstellerin und Journalistin. Nach zwei erfolgreichen Sachbüchern erschien 2015 ihr Debütroman Momente der Klarheit. Mit ihrem zweiten Roman Brüder stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 und wurde mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.

»Marie-Claire war Mitte dreißig, als sie anfing, in Metaphern zu sprechen. Ich sehe einen Zug davonfahren, sagte sie. Ich sehe die Rücklichter. Und ich hasse es, zu rennen. Ich sehe eine Tür, die sich langsam schließt, und ich bleibe allein in einem dunklen Zimmer zurück. Ich sehe eine Sanduhr, durch die die Zeit rieselt, die mir noch bleibt.«Glück ist ein Roman aus dem Krisengebiet Kinderwunsch, über die Suche nach Erfüllung, über Frauen, deren Leben nach Plan verlaufen. Oder doch nicht? Sie sind Töchter, Schwestern, Freundinnen und vielleicht wollen sie noch etwas anderes sein: Mütter.

Jackie Thomae

Glück

Roman

Ullstein

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München Umschlagmotiv: © Rita Guglielmi / Alamy Stock, Piero della Francesca (Maler): »Madonna del parto«Alle Rechte vorbehaltenDie automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.Autorenfoto: © Urban ZintelE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3231-4

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Erster Teil

Verlangen

Schmach

Reue

Leere

Last

Nähe

Hingabe

Ohnmacht

Zweiter Teil

Demut

Freiheit

Zweifel

Glück

Epilog

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Erster Teil

Widmung

Für meine Freundinnen

Erster Teil

Neununddreißig

Verlangen

Als Marie-Claire Sturm eines Morgens aus wilden Träumen erwachte, betrachtete sie ihr langes Bein, das unter der Bettdecke hervorragte, ihre großen Füße mit den ziegelrot lackierten Nägeln, ihre Brüste, die auseinanderfielen, denn sie lag nackt auf dem Rücken, ihre Unterarme, die sie im Gegensatz zu ihren Beinen nicht mit Wachs enthaarte, wobei sie sich seit Jahren fragte, ob sie es tun sollte, und ihre lange, schlanke Hand, die nach dem Telefon griff, und war zum ersten Mal in ihrem Leben als Frau glücklich mit ihrem Körper. Mehr als glücklich, sie fand ihn perfekt, so wie er war. Und sie war ihm dankbar, dass er sich schmerzfrei bewegte, dass in ihm alles floss, arbeitete, Signale sendete, Hormone und Botenstoffe ausschüttete, so wie es sein sollte, und dass er dieses Wunder jeden Tag ohne Hilfe von außen vollbrachte. Obwohl sie ihm Dinge zugemutet hatte, die keine Hilfe gewesen waren. Obwohl sie nicht jung war, zumindest nicht im medizinischen Sinn. Obwohl beides, Lebensstil und Alter, sowieso keine Garantie für irgendetwas waren. Sie hatte schlicht Glück gehabt mit diesem Körper, und sie hatte tausendmal gehört, wie dankbar man dafür zu sein hatte, was sie verstanden und pflichtschuldig versucht hatte, doch erst jetzt, an diesem Morgen, konnte sie diese Dankbarkeit zum ersten Mal empfinden.

Die Sonne schien ihr ins Gesicht, ließ die Wände und die Bettwäsche erstrahlen wie frischen Schnee und verstärkte den Kontrast zu ihren braunen Beinen, die angewinkelt aussahen, als würde sie an einem Strand liegen. Das einzige nicht perfekte Detail waren die Fensterscheiben, die dringend geputzt gehörten. Sie umfasste ihr Telefon, beobachtete bewusst die routinierten Bewegungen ihrer Finger und erfreute sich an ihnen. War das die totgefeierte Achtsamkeit? 11:27 stand auf dem Display, sie stellte das Telefon zurück in den Flugmodus, es war Samstag.

Sie sank auf den Rücken. Der Zustand hielt an. Ihr Herzschlag war spürbar, vielleicht leicht beschleunigt. Ihr Solarplexus schien zu pulsieren. Wie bei Angst. Es war ihr nie aufgefallen, dass die körperlichen Symptome für Angst und Euphorie dieselben waren. Vielleicht war das hier ja eine Panikattacke, missdeutet als Hochgefühl?

Sie schloss die Augen, tauchte in das Orange hinter ihren Lidern, hatte das Gefühl, sie würde schweben, und fragte sich, ob nicht doch etwas vorgefallen war, was sie gerade vergessen hatte. Es war einiges vorgefallen, ja. Aber nichts davon hatte das hier ausgelöst. Unbegründetes Glück. Vollständige Zufriedenheit. Tiefe Dankbarkeit. Es war fast beängstigend. So überwältigend, dass es sich anfühlte wie ein Erweckungserlebnis, was nicht zu Marie-Claire passte, schon gar nicht am Morgen.

Normalerweise wachte sie auf, als hätte man direkt neben ihrem Kopf einen Gong geschlagen. Ich habe kein Kind. Das war ihr erster Gedanke, klar, deutlich, wahr und jedes Mal so schockierend, dass sie Herzrasen bekam. Sie hatte von Trauernden gelesen, die sich vor dem Aufwachen fürchteten, weil es sich anfühlte, als würden sie jeden Morgen aufs Neue erfahren, dass der geliebte Mensch nicht mehr da war. So war es bei ihr auch. Was, während sie tagsüber ihr Leben lebte, mehr oder weniger laut ein Hintergrundrauschen bildete, wurde ihr morgens als Ohrfeige serviert. Dann stand sie auf. Und funktionierte.

Das Verlangen hatte spät eingesetzt. Marie-Claire, the late bloomer.

Sie hatten fünfundzwanzig Jahre Zeit, Mutter zu werden, sehen Sie’s mal so. Das ist ein Vierteljahrhundert.

Das hatte Dr. Nonnenmacher, ihre Frauenärztin, gestern Nachmittag zu ihr gesagt und dabei die Augen so begeistert aufgerissen, als hätte sie ihr eine Lösung präsentiert. Hatte sie nicht. Dafür hatte sie Marie-Claire einen neuen Satz geliefert, mit dem sie sich selbst terrorisieren konnte, neben diesen: Ich habe versagt. Ich habe mich verzockt. Ich habe es verpennt, verpeilt, verkackt. Das Einzige, wozu ich hier auf dieser Welt bin, habe ich nicht gebacken gekriegt. Ich habe meine Lebenszeit verplempert. Warum ist mir nicht früher aufgefallen, dass ich unter Zeitdruck stehe? Dass ich die einzige wichtige Deadline meines Lebens im Blick hätte haben müssen? Was habe ich die ganzen letzten Jahre über gemacht? Bin ich dümmer als andere? Werde ich jetzt dafür bestraft? Und, jetzt neu, mit herzlichem Dank an Frau Dr. Nonnenmacher: Ich hatte ein Vierteljahrhundert Zeit. Sogar noch mehr, denn ich habe meine Tage mit zwölf bekommen.

Dazu kamen die Metaphern. Sie war Mitte dreißig gewesen, als sie anfing, die Welt anders zu sehen. Als sie anfing, zu sich selbst in Metaphern zu sprechen und auch zu einigen auserwählten anderen, denen das nicht aufzufallen schien, was wohl hieß, dass ihre Metaphern nicht besonders originell waren. Oder dass die anderen ihr nicht wirklich zuhörten.

Ich sehe einen Zug davonfahren, sagte MC. Ich sehe die Rücklichter. Und ich hasse es, zu rennen. Ich sehe eine Tür, die sich langsam schließt, ich bleibe allein in einem dunklen Zimmer zurück. Ich sehe eine Sanduhr, durch die rieselt die Zeit, die mir noch bleibt. Ich sehe mich selbst bei der Reise nach Jerusalem. Heißt dieses Spiel noch so? Jedenfalls sehe ich mich herumtanzen und keinen freien Stuhl finden. Ich sehe mich selbst auf einem Wühltisch. Gehöre ich auf einen Wühltisch? Gibt’s mich jetzt im Ausverkauf? Und auch ich selbst wühle auf einem Wühltisch herum und suche nach Ladenhütern. Die Guten sind weg. Ich bin zu spät.

Wie viel Zeit bleibt mir denn noch?

Das hatte sie gestern ihre Frauenärztin gefragt, und es hatte sich angehört, als ginge es um ihre Lebenszeit. Und Dr. Nonnenmacher, deren Nachname nichts Gutes verhieß, wenn man ein Kind wollte, wie Marie-Claire erst jetzt auffiel, hatte den Blick von ihrem Bildschirm gelöst und sie angelächelt.

Einen exakten Zeitpunkt kann ich Ihnen leider nicht nennen, aber wie gesagt, Sie sind nicht zu alt. Ihre Werte sind okay. Und es gibt Möglichkeiten.

Diese Möglichkeiten zählte sie dann auf: IVF, ICSI, IUI und GIFT, was man mittlerweile kaum noch anwendete, Marie-Claire hatte sich das alles erlesen, die Petrischalen und Spritzen vor sich gesehen, Zuchtstuten vor sich gesehen, die mit unterarmgroßen Kanülen besamt wurden, denn daran erinnerten sie diese Methoden und Begriffe wie intrauterine Insemination. Sie hatte Paare vor sich gesehen: traurige Paare, bestehend aus Mann und Frau, bei denen einer nicht performte; entschlossene Paare, die aus zwei Männern oder zwei Frauen bestanden, die vielleicht beide performten, aber nicht an einer Zeugung durch Heterosex interessiert waren. Marie-Claire hatte zwei dieser Paare in ihrem Freundeskreis, sie hatten sich nach sorgfältiger Abwägung und Planung zu diesem Schritt entschlossen, und sie beneidete sie um ihren Pragmatismus – darum, dass sie nicht an das Märchen vom richtigen Partner zum Kinderzeugen und Kindergroßziehen glaubten, der dann auch noch zum richtigen Zeitpunkt im Leben aufzutauchen und anschließend zu bleiben hatte.

Es war schön, dass all diesen Leuten jetzt geholfen werden konnte, aber: thanks, but no, thanks.

Es ist nun aber so, sagte Marie-Claire, dass ich weder unfruchtbar bin noch ein Kind ohne Partner will.

Gut. Wenn Sie auf den richtigen Partner warten möchten, dann ist das ebenfalls in Ordnung, sagte die Ärztin und schaute wieder auf ihren Bildschirm, als stünde dort etwas Wichtiges, vielleicht noch eine Methode, vielleicht eine lustige Privatsache. Schlechter Stil, dachte Marie-Claire.

Die gute Nachricht bei diesem Arztbesuch, der angestanden hatte, um sie nach Jahren der Ignoranz auf den aktuellen Stand ihrer Reproduktionsfähigkeit zu bringen, war die Gewissheit, dass sie intakt war. Die Worte warten und richtiger Partner trieben Marie-Claire trotzdem aus ihrem Stuhl. Das Angebot, Frau Dr. Nonnenmachers Therapiegruppe für Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch beizutreten, nickte sie eilig weg, während sie ihre Handtasche und ihre Jacke nahm.

Bei Ihnen ist es natürlich noch nicht endgültig, aber es könnte hilfreich sein, zu hören, was Frauen in einer ähnlichen Situation sagen. Ich biete auch Einzelsitzungen an, wie Sie ja vielleicht wissen, bin ich auch ausgebildete Psychotherapeutin.

Nein, das hatte Marie-Claire nicht gewusst. Es wunderte sie jedoch nicht, dass Dr. N. eine Zusatzqualifikation hatte, vermutlich hatte sie auch mehrere Kinder, ein Haus, ein Auto und ein Pferd – und einen perfekten Mann, ebenfalls Arzt, vielleicht auch Unternehmensberater. Es war auf jeden Fall nicht zu übersehen, dass es bei ihr lief, sie hatte die Aura und das Aussehen einer Frau, die ihr gesamtes Abstraktionsvermögen brauchte, um sich in eine Versager-Biografie wie die von Marie-Claire hineinzuversetzen, und da hatte sie sich wohl gedacht, dass es nicht schaden könnte, dieses Herz für Verliererinnen auch noch zum Zusatzberuf zu machen.

Danke, ich denke darüber nach, murmelte Marie-Claire entkräftet, unabsichtlich gedemütigt von der Fachärztin, deren letzte Sätze sie nur noch in Schlagworten registrierte: Therapie, Voraussetzung, Teilnahme, in Kooperation mit der Uniklinik, neue Methode. Sie wollte keine neue Methode. Sie wollte nichts einfrieren, entnehmen, injizieren lassen. Sie wollte eines Morgens aufwachen, feststellen, dass ihre Regel ausgeblieben war, auf einen Schwangerschaftstest pinkeln, zwei Streifen sehen und jubeln.

Sie kannte die Situation, zwei Mal hatte sie nicht gejubelt. Beim ersten Mal hatte sie geheult und geschrien, es dann ihrer Mutter gebeichtet, die erstaunlicherweise weder schockiert war noch schimpfte, sondern sofort alles in die Wege leitete, wie sie es nannte. Es schien keinen Gedanken an eine Alternative zu geben, das hatte Marie-Claire gewundert. Es trotzdem zu versuchen, es entstehen und leben zu lassen, schien nicht infrage zu kommen. Daran dachte sie in letzter Zeit öfter. Diese beiden Male, jahrelang erfolgreich verdrängt, trieben jetzt an die Oberfläche wie Wasserleichen. Verfolgten sie, flüsterten ihr zu, dass sie dafür bestraft wurde, das Leben nicht zugelassen zu haben.

Sie war siebzehn gewesen. Jahr fünf in der Zeitrechnung von Dr. Nonnenmacher, und viel zu jung. Da waren die Gesellschaft, in der sie lebte, ihre Familie und sie selbst sich ausnahmsweise einig.

Du willst dir doch nicht dein Leben versauen, bevor es überhaupt angefangen hat, sagte Vroni, ihre Mutter, und dann, etwas weicher, das konnte Vroni nur im Nachsatz: Du hast noch alle Zeit der Welt. Du verschiebst das auf später, aber jetzt musst du aufhören zu heulen bitte und deinen Hintern bewegen, denn die Zeit arbeitet gegen dich.

Elfriede, ihre Großmutter, war ebenfalls dafür beziehungsweise dagegen, Katholizismus hin oder her, der passte nun mal nicht in jeder Lebenslage, das hieß nicht, dass man ein schlechter Mensch war, das hieß nur, dass man seine Fehltritte anderswo auszubügeln hatte, da fand sich immer eine Gelegenheit, zur Beichte gehen war auf jeden Fall ein Anfang. Elfriede hatte vieles in ihrem Leben gesehen, Engelmacherinnen gehörten dazu, und da war es doch ein Segen, dass man heute nur noch ein Gespräch mit der Dame von Pro Familia führen musste, die in diesem Fall eine Entscheidung contra familia abzusegnen hatte, und sich anschließend in professionelle ärztliche Hände begeben konnte. Schön war das alles weiß Gott nicht, aber Frau zu sein bedeutete nun mal, dass man sich in ständiger Gefahr befand und am Schluss die Suppe allein auslöffelte, egal für welchen Weg man sich entschied. Und, fügte Elfriede hinzu, mit einem Kind kriegst du ja gleich gar keinen ab. Das gleich gar wies auf Marie-Claires per se schon schlechte Karten auf dem Heiratsmarkt hin. Die Elfriede ihr schon gelegt hatte, als sie in die Pubertät kam und sich herausstellte, dass sie größer als eins achtzig werden würde. Ach komm, Mutter, lass halt gut sein, hatte Vroni daraufhin gesagt, während Marie-Claire weiter weinte und sich fragte, ob sie den Trainerassistenten des Basketballvereins – den Vater, was für ein Wort – einweihen sollte oder nicht.

Veronika und Elfriede fragten erst gar nicht nach ihm. Er spielte keine Rolle. Marie-Claire entstammte einer langen mütterlichen Linie von Verwitweten, Verlassenen und Enttäuschten. Von Frauen, die allein zurechtkamen, mit dem Schlimmsten rechneten und sich dann im Schlimmsten einrichteten. Dort wollte sie nicht hin. Doch schon mit siebzehn sah es so aus, als wäre ihre schwerste Aufgabe, ihr kleines Boot gegen diesen starken Strom zu steuern und einen anderen Flusslauf zu finden. Vielleicht war das auch einer ihrer Gründe gewesen, dieses Kind nicht zu bekommen, dachte Marie-Claire später, denn das hätte bedeutet, auf unbestimmte Zeit bei ihrer Mutter festzusitzen. So wie auch Vroni immer wieder bei ihrer Mutter gelandet war, überfordert und müde und allein, erst mit einem Kind, dann mit zweien.

Sie selbst hätte jetzt auch zwei. Sie wären gesund. Da war sie sich sicher.

Sie verließ Dr. Nonnenmachers Praxis zusammen mit einer hochschwangeren Frau, der der sogenannte Glow komplett fehlte, deren Knöchel über die Riemen ihrer Birkenstocks quollen und die sich wie eine kurzatmige Robbe in den Fahrstuhl schleppte. Marie-Claire, die in einem schönheitsfanatischen Frauenhaushalt aufgewachsen war, musste daran denken, wie lange sie geglaubt hatte, nur schöne Frauen würden Kinder bekommen, länger als an den Weihnachtsmann, womöglich länger als an Gott. Verrückt.

Alles Gute, sagte sie zu der schnaufenden Frau, als sie gemeinsam das Haus verließen, und meinte es ernst.

Die gute Nachricht ist, dass ich funktioniere, dachte Marie-Claire, als sie das Knöllchen vom Scheibenwischer fischte – zwanzig Euro, scheißegal, ist nur Geld, ich bin gesund – und in ihr Auto stieg. Selbstredend befand sich Dr. Nonnenmachers Praxis in einem prächtigen Gründerzeitstraßenzug ohne jede Nachkriegslückenbebauung, ohne ein einziges Geschäft, das einer Kette angehörte oder einen ästhetischen Makel darstellen könnte. Man konnte hier Fliesen aus Marokko und Portugal kaufen, griechisches Olivenöl direkt von den sympathischen Erzeugern, rahmengenähte Lederschuhe vom eigenen Leisten bestellen, einen Aperitivo bei einem Italiener trinken, wo die Mamma noch selbst kochte, seine hochwertige Kleidung in eine Spezialreinigung für hochwertige Kleidung bringen und für diese Behandlung mehr bezahlen als für einen Fetzen von einer Fastfashionkette. Man konnte seine Sammlung schöner Teppiche und Kelims erweitern oder die vorhandenen von Profihand der jährlichen Pflege unterziehen lassen, und falls man zusammen mit der ehemals flippigen Boutiquenbesitzerin gealtert war, konnte man sich nach wie vor seine Klamotten bei ihr kaufen, denn sie fuhr weiterhin nach Paris und Mailand für die Einzelstücke für ihre Stammkunden, sie machte sich keine Sorgen um die großen Flagshipstores und vulgären Malls, sie hatte einen Mietvertrag von schätzungsweise 1979. Dieser friedliche und verdiente Wohlstand, die alteingesessenen Geschäftsinhaber und deren werte Kundschaft – das alles machte Marie-Claire, die zu spät geboren und hierhergekommen war, um daran teilnehmen zu können, nicht neidisch und schon gar nicht sozialneidisch, dazu war es zu weit weg. Und auch zu sympathisch. Es weckte eher den Wunsch in ihr, auf Fast Forward zu drücken. Sie, deren größte Angst ihr vierzigster Geburtstag war, wünschte sich beim Anblick dieses Friedens, ihre momentane Lebensphase einfach überspringen zu können. Die K-Frage wäre geklärt, und sie wäre eine glückliche alte Frau unter anderen ihrer Peergroup, ob nun mit oder ohne Kinder, spielte keine Rolle, denn die Kinder wären schon aus dem Haus. Wie man hier auch sehen konnte in diesem überalterten Paradies. Die Kinder, die vielleicht auch die Enkel waren, waren um die zwanzig und saßen mit ihren gut erhaltenen Eltern und Großeltern an den Tischen vor den netten Italienern, Griechen und Franzosen. Die Jeunesse dorée speiste mit der Familie zu Abend, um später noch in schmutzigere Bezirke aufzubrechen, wo sie auch wohnte, weil es hier dann doch zu beschaulich geworden war. Ja, es war fast wie in der Schweiz, leider ohne Alpenblick, aber die Stimmung, besonders in diesem bernsteinfarbenen Abendlicht, durch das Marie-Claire fuhr, war so frei von jeder Art von Reibung und Chaos, dass man als Mensch unter dreißig selbstverständlich das Weite zu suchen hatte. Es wäre schön, wenn sie Kind Nummer eins nach einem Abendessen in eine wilde Nacht entlassen könnte, dachte Marie-Claire und verbot sich sofort, ihre beiden traurigen Erfahrungen Kind zu nennen. Wie kam sie dazu, sich ständig selbst neue Wunden zu reißen? Der Schmerz war jederzeit abrufbar und machte offenbar süchtig, das wusste sie aus Erfahrung und von ihrer Freundin Maren, die sich aus dem Mediabusiness, wie sie es auf ihrer Website nannte, zurückgezogen hatte und nun spirituelle Lebensberaterin und Coach war. Dank ihres Vorlebens als freiberufliche Cutterin hatte Maren ein sicheres Gefühl für Tagessätze und deren Verhandlung entwickelt und war praktisch über Nacht zu einer sehr preisintensiven Coach avanciert.

Die Leute investieren in sich, das sollten sie lernen, das ist praktisch mein Grundkurs, bevor ich mit meiner eigentlichen Arbeit überhaupt angefangen habe, sagte sie, und: Die Leute müssen das Gefühl haben, dass sie es sich wert sind.

Das ist von L’Oréal, sagte Marie-Claire.

Fragwürdige Firma, guter Claim, sagte Maren, der gehört der Allgemeinheit. Verstehst du, was ich meine? Wenn das, was ich tue, die Leute nichts kostet, wenn sie nichts dafür tun müssen, also in diesem Fall bezahlen, wertschätzen sie es nicht.

Maren war überzeugend, die geborene Guru. Und kinderlos. Und Maren hatte sie, glücklicherweise honorarfrei, darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich mit ihrer Angst, ihrem Schmerz und ihrer Wut in einem Suchtkreislauf befand.

Resentment, sagte Maren, Englisch für Groll, vom Lateinischen re-sentire, wieder fühlen. Du fühlst es wieder und wieder, du rufst es immer wieder ab, weil es dir, so schmerzhaft es auch ist, eine Art Befriedigung verschafft. Weil du es kennst.

Aha, hatte MC gedacht, auf dem Heimweg aus dem japanischen Restaurant, in dem sie den ganzen Abend Matcha-Tee getrunken hatten, der Marens einziges Genussmittel war. Und jetzt?

Die Grübelei musste aufhören, dafür hätte sie Maren nicht gebraucht, nur ihre eigene Reflexionsfähigkeit, die sehr wohl vorhanden war. Der Gedanke, dass sie sich im Kreis drehte, war ebenfalls nicht neu, wie auch die Feststellung, dass sie sehr viel Zeit auf diese Spiralen verwendete, dass sie ihre Lebenszeit verschwendete. Die Aussage, dass es sich dabei um eine Sucht handelte, war typisch für Maren, die sich als Ex-Süchtige und Suchtexpertin bezeichnete, aber insofern erhellend, als Marie-Claire nun darauf achtete, wie oft sie diese Gedanken abspulte und wie freiwillig dieser Vorgang war. Und auch, ob diese Gedanken, die immer eine Selbstfolter darstellten, nicht durch andere ersetzbar wären.

Die traurige Antwort lautete: Nein. Die Selbsterkenntnis hatte etwas Befreiendes, Erleichterndes, für das sie im Zweifel auch bezahlt hätte, das Problem aber blieb. Und Teil des Problems war es, dass sie jahrelang seine Dringlichkeit übersehen hatte. Das hieß, dass sie jetzt eben nicht so tun konnte, als würde es nicht existieren.

Dafür war es zu real. Es handelte sich nicht um eine diffuse Fragestellung, die formuliert und anschließend eingekreist werden musste: Wer bin ich? Wohin will ich? Wo liegen meine Stärken? Sie befand sich in einem klar abgesteckten Krisengebiet. Sie stand an einem Startblock, der täglich um ein paar Millimeter verschoben wurde, mal nach vorn, mal nach hinten, das Ziel war ein Kind. Die Hürde war ihr Körper, Mutter Natur, die Biologie. Die war nicht aus dem Weg zu räumen, sie war da, machte sie gleichzeitig demütig und klein und mächtig, weil gebärfähig, und sie würde ihr das Ende diktieren. Denn, so war Marie-Claire bei ihrer Gynäkologin klar geworden, sie würde diese Methoden nicht wählen, jedenfalls nicht, bevor sie sich selbst eine letzte Chance gegeben hatte. Wie also sollte sie nicht daran denken? Es war eine Jetzt-oder-nie-Situation, wie es sie sonst kaum gab. Sie könnte ihren Studienabschluss nachholen (kein Interesse, aber möglich), sie könnte auswandern, sie könnte ein Mann werden. Aber das hier, das hatte einfach zu passieren.

Während sie fuhr, überkam sie das Gefühl, alle anderen würden sie aufhalten, ihr wertvolle Zeit rauben. Der Verkehr fühlte sich an wie ein Spiel, bei dem sie jede Runde knapp verlor. Die Vierteljahrhundertansage der Frauenärztin hatte sie in ein Schlangennest aus Zahlen geworfen. Sie hatte siebenundzwanzig Jahre Zeit gehabt. Demografisch zählte man die Frauen einer Bevölkerung bis fünfzig als gebärfähig. Fünfzig, das waren Ausnahmen und mehr und mehr Prominente. Blieb man bei den Frauen, die einfach so schwanger wurden, sank die Wahrscheinlichkeit ab fünfunddreißig, während zugleich der Wunsch, jedenfalls zu dieser Zeit und in diesem Teil der Welt, rasant anstieg. Dieses eigenartig kleine Zeitfenster, das die Frauen sich aussuchten, dachte Marie-Claire, die ihre Deadline mittlerweile bis zur dreiundvierzig verschoben hatte, das gab ihr noch vier Jahre. Sie trommelte auf ihrem Lenkrad herum, während sie sich durch die Namen bekannter Mütter über vierzig in ihrem Kopf scrollte. Ständig kamen neue hinzu.

Marie-Claire, die sich sicher war, nach einer Frauenzeitschrift benannt worden zu sein, auch wenn Vroni das abstritt, und die ihren Berufseinstieg als Volontärin bei einer großen Frauenzeitschrift absolviert hatte, konnte nicht anders, als sich an prominenten Frauen zu orientieren. Auch wenn sie ihre Großmutter belächelte, die von Prominenten redete, als wären sie ihre Bekannten: Die Dings von Dings hat es auch nicht leicht. Der Dings von Bums wünsche ich von Herzen alles Gute. Tatsächlich war sie an einem Punkt angelangt, an dem sie die Leben fremder Frauen mehr auf ihr eigenes bezog als eine alte Frau, die bunte Blättchen las. In ihrem Kopf sah es aus wie an der Pinnwand eines manischen Detektivs. Auf der einen Seite hingen die Kinderlosen und dienten ihr als Trost. Kein Kind, kein Kind, kein Kind. Kein Mann und kein Kind. Mann und kein Kind. Frau und kein Kind. Sie bewiesen, dass es möglich war, weiterzuleben, sehr gut sogar, sollte man dieses eine Tor nicht schießen. Wieso Tor? Und wer sagte, dass sie je darauf abgezielt hatten? Die Verwendung von Metaphern war genauso zwanghaft geworden wie das Errechnen des Alters jeder Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes. Sie hingen auf der anderen Seite ihrer geistigen Wand: die späten und sehr späten Mütter, Mitte vierzig bis Mitte fünfzig. Fast wöchentlich wechselte eine von ihnen die Seite. Vom Vorbild für einen Ausweg zum noch größeren Druck. Leihmutterschaften galten nicht. Adoptionen ebenfalls nicht. Auch wenn es anständig und naheliegend war. Schließlich gab es genug Menschen auf der Welt. Es gab auch genug Babys, deren Situation sich erheblich verbesserte, wenn eine privilegierte Frau ihre Mutter sein wollte. Was hat diese Adoptiererei eigentlich zu bedeuten, hatte MCs Lieblingsjournalistin anlässlich der malawischen Kinder eines Popstars gefragt und war zu dem bissigen Schluss gekommen: Schwarz macht schlank! Das war böse und dabei so gut, dass MC sich den Artikel aufgehoben hatte, damals, als die K-Frage zwar schon auf sie zurollte, sich aber noch nicht zur einzigen Frage aufgebläht hatte. Abgesehen von den strengen Adoptionsauflagen in Deutschland musste Marie-Claire sich eingestehen, dass es ihr nicht in erster Linie um das Zusammensein mit einem Kind ging, sondern um die Weitergabe ihres Erbguts. Was sich nicht egoistisch anhörte, solange man sich diesen Wunsch zur richtigen Zeit erfüllte. Jetzt aber musste sie sich rechtfertigen, was dazu führte, dass sie sich immer öfter vor sich selbst rechtfertigte.

Ich bin gesund, ich bin topfit, warum sollte ich nicht einfach so schwanger werden, dachte sie, als sie nach einer endlosen Rotphase endlich wieder freie Fahrt hatte. Wie die und die und die. Wenn sie vom sogenannten Babyglück dieser Frauen erfuhr, fühlte sie sich verraten und angestachelt zugleich: Wie alt ist sie, achtundvierzig? Scheiße beziehungsweise wow! Es war so dumm, dass sie sich schämte. Und sie war so machtlos dagegen, dass sie sich verzieh. Auch wenn es lachhaft war, dass Leute, die sie nur aus den Medien kannte, ihr so zusetzen konnten. Nicht einmal als Teenager war es möglich gewesen, ihre Gefühle derart zu steuern. Und jedes Kind dieser Frauen, die alles hatten, war ein weiterer Beweis für Marie-Claire, dass sie sich nichts vormachte. Dass es das war, wofür man lebte, was eine Frau zur Frau machte. Es war schrecklich, und es gab Gegenargumente, aber Marie-Claire wollte es zu dieser Zeit so sehen.

Sie verspürte eine leichte Stop-and-go-Übelkeit plus Brainfreeze, verursacht durch einen Schokomilkshake, für dessen Kauf sie fast einen zweiten Strafzettel kassiert hätte, als neben ihr eine tiefe Basswelle erklang: Cause I’m a motherfuckin P.I.M.P.

Marie-Claire, die sich MC nannte, seitdem sie eine Weile für einen Black-Music-Sender gearbeitet hatte, nickte zu den Beats, dankbar für die Ablenkung. Sie brauchte den Kopf nicht zu drehen, es reichte der Seitenblick, um zu sehen, dass dort drüben alles so war, wie man es sich vorstellte: SUV, mattschwarz, drinnen drei Typen, zwei vorn, einer hinten, die durch die Gegend kurvten, um zu zeigen, was sie hatten. Panzer, Soundsystem und barbershopgepflegte Vollbärte zu Spiegelbrillen. Luftlinie zwei Kilometer nach den bestsituierten Senioren diese Dudes, MC gab Gas, kurz verliebt in ihre Stadt. Die Typen verfolgten sie, ihre Flirttaktik bestand darin, ihr erst fast hintendrauf zu fahren und dann auf Wettrennen zu schalten. Sie ließ sich nicht darauf ein, hielt sich strikt an die Regeln, ließ sich aber weiterhin verfolgen. Hupen, Lachen, Übermut, der Bass wummerte noch lauter. An der nächsten Ampel riefen sie ihr etwas zu, was sie nicht verstand. Sie gab grinsend Gas in ihrem weißen Saab Turbo, der älter war als die Typen, die ihn sicher als Schrottkarre betrachteten, vielleicht waren sie aber auch Aficionados. An der dritten Ampel fingen sie an zu rufen und zu gestikulieren.

Ey! Tss! Fahr mal die Scheibe runter, Baby!

Sie fuhr davon, grinsend. Sie sollte öfter flirten, dachte sie, wahlloser dabei sein, sich sehen lassen, sich Komplimente machen lassen, sich durch die Stadt bewegen, aus ihrer Blase heraus, andere Leben und Leute sehen, wenn auch nicht unbedingt zwanzigjährige Vollbärte, die in gemieteten SUVs herumfuhren, aber dennoch: das Leben wieder etwas leichter nehmen. An der nächsten Kreuzung ließ sie sich dazu herab, die Scheibe herunterzulassen. Hallo, riefen die Typen. Na? Alles klar? Cooler Wagen, guter Fahrstil. Und, eine Frage bitte!

Ich höre.

Haben Sie vielleicht eine Tochter, mit der wir mal ausgehen könnten?

Marie-Claire fuhr lachend nach Hause. Die Frage nach der Tochter war eine gezielte Frechheit gewesen. Sie lachte, hatte auch die Typen angelacht und sah trotzdem weniger zufrieden in den Rückspiegel als zuvor, sah an sich hinunter, sah ihre Brüste im engen T-Shirt, ihren Bauch, ihre Schenkel, breitbeinig und in Jeans auf dem roten Ledersitz. Nicht blutjung, nicht alt, nicht einmal älter, wenn auch älter als diese Bürschchen in ihrer Zuhälterkarre. Nein, sie war noch nicht im MILF-Stadium angekommen, und das war ihnen auch klar gewesen. Oder? Auch wenn sie einen Sohn haben könnte, der jetzt durch die Stadt fuhr, mit wenig im Kopf außer PS und Sex. MC wischte den Gedanken fort, es ging nicht, dass jede Begegnung sie wieder darauf zurückwarf. Doch der Gedanke ließ sich nicht vertreiben, die Leichtigkeit war verflogen. Als sie in ihre Gegend kam und schon einen halben Kilometer vorher anfing, nach einem Parkplatz zu suchen, drehte sie sich schon wieder im Kreis. Jeder Proll in seiner Prollkarre, jeder dahergelaufene Passant, jeder dahergefahrene andere Verkehrsteilnehmer hatte die Macht, Marie-Claire in Schwermut zu versetzen. Jedes dahingesagte Wort konnte sich wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen. Selbst das Wörtchen wir konnte ihr schon den Abend versauen, was sie jetzt, am Nachmittag, allerdings noch nicht wissen konnte.

Sie war zu einem Essen bei Bekannten eingeladen, und man hatte sie schlecht platziert. Männer und Frauen saßen im Wechsel und Paare getrennt, MC zwischen zwei liierten Männern, von denen sie einen vom Sehen kannte, den anderen gar nicht. Sie war eigentlich froh, dass man sie nicht neben irgendwelche anderen Singles setzte, denn sie suchte sich gern selbst aus, wer sie interessierte, allerdings saß ihnen gegenüber die Frau des einen Mannes, die das regelmäßig verdeutlichte, indem sie über den Tisch hinweg seine Hände ergriff. Alarmiert vom Territoriumsgehabe der ersten Frau, stand die zweite Frau zwischen jedem Gang auf, um die Schultern ihres Mannes zu kneten und MC in der Wir-Form darauf hinzuweisen, dass sie sich auf besetztem Gebiet befand: Wir fliegen nächste Woche nach Sizilien. Ohne die Kinder, herrlich! Wir pflanzen Tomaten. Wir lieben diese eine Serie, wie heißt die noch, Schatz?

MC kaute nickend auf ihrem Essen herum. Die Angst um diese Männer war bedenklich und hob sie auf Sockel, auf denen sie sich nicht einmal wohlzufühlen schienen. Die Verunsicherung, die ihre eigene Anwesenheit offenbar auslöste, gab MC ebenfalls zu denken, denn eigentlich hatte sie sich nie als Bedrohung für andere Frauen betrachtet, was sie lange an sich selbst geschätzt hatte und mittlerweile naiv und dumm fand. Was hatte es ihr gebracht, ungefährlich und nett zu sein? Wen interessierte es, was sie nicht getan hatte? Mann ausgespannt oder Mann geschnappt durch Kind anhängen, so Sachen. Nein, so etwas hatte sie nicht gemacht, auch weil sie immer gedacht hatte, dass es gar nicht möglich war, dass es sich dabei um bösartige Unterstellungen handelte, frauenfeindlich sowieso, männerverachtend noch dazu. Und natürlich überholt. Wieso natürlich? Wieso überholt? Die Ansichten ihrer Großmutter zum zentralen Lebensthema Mann wirkten hier an diesem Tisch überhaupt nicht gestrig, im Gegenteil, sie schienen von zeitloser Aktualität zu sein. Es hat sich nichts geändert, dachte MC, während sie zwischen diesen beiden sogenannten Powerpaaren saß, bei denen die Power nicht besonders gleichmäßig verteilt zu sein schien. Was sie noch nicht einmal kaschierten – fast spürte MC so etwas wie Respekt vor der Konsequenz dieser Leute, die sie hoffentlich nie wieder sehen musste.

Die naheliegendste und realistischste Möglichkeit für eine Frau, auf der sozialen Leiter nach oben zu steigen, lag nach wie vor nicht im Beruf, sondern in der Heirat. In einer, wie man früher sagte, guten Partie.

Das hätte Marie-Claire, die jeden Morgen zwei Stunden mit dem Lesen aller relevanten Zeitungen verbrachte, zum Tischgespräch beitragen können, denn sie war nicht nur eine gut informierte Journalistin, sondern auch eine unterhaltsame Tischdame. Was die Männer dieser Paare aus einem anderen Jahrhundert sicher erfrischend gefunden hätten, hätten ihre Frauen sie gelassen. Tischdame. Ebenfalls ein Wort aus einem anderen Jahrhundert, das hier an diesem Tisch hochgehalten wurde. Es war zurückgeholt und geschmackvoll restauriert worden, so wie die Wohnungen, in denen man sich traf. Ja, hier fand Werterhaltung statt, das galt für die Bausubstanz genauso wie für den Wunsch nach einer Ehe und nach Kindern, die so hießen wie die Bewohner dieser Häuser, als sie gerade gebaut worden waren.

Die Ehefrauen ihrer Tischherren hatten irgendwann dafür gesorgt, dass ein stabiles Vierecksgespräch entstanden war, Frau redete mit Frau, Mann mit Mann. Fest verknotet und geschützt vor Marie-Claires störendem Einfluss. Die Tischordnung, die sicher nett gemeint war, denn die Gastgeber waren nett, hatte sich aufgelöst, sodass sie sich auf den Balkon stellte, wo man sich heiter rauchend über Intervallfasten und Bergwandern unterhielt. MC stand fröstelnd daneben. Ohne Zugang und verbindendes Element Zigarette. Als ein gähnender Mann sagte: Ich pack’s dann mal, nutzte sie die Gelegenheit, um sich ebenfalls zu verabschieden.

Wie war noch mal dein Name, fragte eine der Ehefrauen leutselig, jetzt, wo die Gefahr sich verzog.

Marie-Claire.

Kennst du etwa nicht MC Storm?, fragte ihr Mann.

Was? Oh! Wir lieben deinen Podcast!

Danke, schönen Abend noch.

Die Gastgeber, beide Galeristen, lehnten an ihrer Kücheninsel, zufrieden mit ihrem Abend, und machten keine Anstalten, sie aufzuhalten. Marie-Claire hatte Jahre ihres Lebens zum harten Kern gehört, der blieb, bis alles ausgetrunken war, immer und überall, und sah jetzt, wie leicht es gewesen wäre, einfach zu gehen.

Ciao, war so schön, dass du da warst.

Fand ich auch.

Im Taxi roch es nach ungewaschener Jeans, und der gähnende Mann, der behauptet hatte, denselben Weg zu haben, war ein zäher Gesprächspartner, der noch nie von dem Film Die Frauen von Stepford gehört hatte.

Muss man den kennen?

Ist jedenfalls ein Klassiker. Von 1975. Remake Anfang des Jahrtausends.

Aha. Und worum geht’s da?

Um berufstätige Frauen, die in Hausfrauenroboter verwandelt werden.

Ist ja gruselig.

Ja. Das ist die Idee eines Horrorfilms. Können Sie mich dort vorne an der Ecke rauslassen, bitte?

MC hatte entschieden, in eine Bar zu gehen, in der sie seit Ewigkeiten nicht gewesen war. Ob er noch auf einen Drink mit hineinkommen könne, fragte der gähnende Mann, nun wieder etwas munterer. Nein, sagte MC, sie sei dort verabredet. Sie hatte keine Lust auf ein Überbleibsel dieses unschönen Abends, den sie sich jetzt schöntrinken würde.

Das war gestern gewesen. Nichts hatte darauf hingewiesen, dass sie sich am Tag danach so unverhofft wohlfühlen würde. Dass sie ihren Körper feiern würde, diese Hochleistungsmaschine, die sie heute nicht nur als Wunder der Funktionalität, sondern auch als ästhetisches Meisterwerk empfand.

Sie ließ ihren Bademantel fallen und betastete ihre Brüste, was gestern schon zwei Menschen getan hatten, ihre Frauenärztin und ein Fremder. Sie hielt kurz die Luft an, fort mit dem Gedanken. Beim Morgenritual hatte keiner zu stören. Das gnadenlose Sonnenlicht war weiterhin gut, sie brauchte keine Gnade, auch nicht nackt vor dem Spiegel. Was sie wieder zur Frage führte, was anders war als an den Tagen zuvor. Maren hatte ihr irgendwann ein T-Shirt geschenkt, auf dem Shift happens stand. Vielleicht hatte diese Verschiebung heute Nacht stattgefunden, ohne einen besonderen Anlass oder Auslöser? Wurde sie belohnt für ihre kleinen Lebensstilveränderungen, ihre morgendlichen Meditationsversuche, ihre sporadischen Joggingrunden? Hatte sie geträumt, alles wäre gut? Oder so schlimm, dass sie Erleichterung verspürte, noch am Leben zu sein? Vielleicht war es doch Dr. Nonnenmachers Nachricht, die über Nacht in ihr System gesickert war. Sie sind nicht zu alt. Ihre Werte sind okay.

Sie begutachtete ihre Zähne, ebenfalls okay, dann schrubbte sie sich das Bakterienfestival der Nacht aus dem Mund und fragte sich, ob ihre neue Zuversicht sich von ihrem Körper auf ihren Geist übertrug oder umgekehrt. Egal. Jedenfalls schien er das zu sein, dieser Zustand, der einem in ihrer Situation ständig empfohlen wurde: Du musst dich entspannen. Wenn du verzweifelt bist, spüren das die anderen. Welche anderen? Die Männer. Über die man in der Frauenmythologie gern sprach, als wären sie scheue Fabelwesen. Die man behutsam anlocken und denen man dann vorspielen musste, alles wäre super, besonders natürlich sie selbst, die Männer. Wieso war eigentlich jedes ungeschriebene Gesetz im Leben einer Frau eine Lüge? Sei schlau, stell dich dumm. Bist du alt, stell dich jung. Bist du schwach, spiel stark. Bist du bedürftig, mach auf autark.

Sie spuckte ins Waschbecken und sah sich an. Es schien, als hätte ihr Wachzustand ihre verträumte Selbstliebe niedergetrampelt. Es gab kein Entkommen, wenn man von sich selbst verfolgt wurde. Ja, sie fand an ihrem Gesicht nichts auszusetzen, trotz langer Nacht, und das war gut. Doch nein, sie hatte nicht das Talent, sich selbst vorzuspielen, sie sei entspannt. Es von außen so aussehen zu lassen war genug Aufwand.

Sie stellte sich unter die Dusche. Ließ die Strahlen von hinten auf ihre Nackenwirbel prasseln, genoss das Wasser, knapp an der Grenze zur Verbrühung. Sie schaute an sich hinunter und dachte an die These, nach der die Skulpturen der Ur-Frauen nicht von männlichen Künstlern, sondern von den Frauen selbst erschaffen worden waren. Von Frauen, die beeindruckt waren von ihren Körpern, die sich schön fanden, andernfalls hätten sie sich anders abgebildet. Nackte, adipöse Frau, ein Gesicht fehlt, hieß es in der Beschreibung der Venus von Willendorf, der elf Zentimeter kleinen, über zwanzigtausend Jahre alten Österreicherin. Offenbar ging man nicht davon aus, dass sie schwanger war, sondern die Möglichkeit hatte, sehr viel zu essen, und das in der Bronzezeit. Es war auch möglich, dass keine lebende Frau Modell gestanden hatte, sondern dass dies ein Idealbild war. So würde ich gern aussehen, oder: So eine hätte ich gern. MC hatte im Naturhistorischen Museum in Wien lange vor der kleinen Frau gestanden. Sie selbst war anders proportioniert als diese Skulptur, aber als sie jetzt unter der Dusche an sich hinabschaute, kam ihr die Idee, dass sie selbst eine Fruchtbarkeitsgöttin war. Weil jeder, wirklich jeder Mann, mit dem sie in den letzten Jahren geschlafen hatte, kurz darauf Vater geworden war. Wenn sie einen von ihnen sah, wechselte sie nach Möglichkeit die Straßenseite – nicht weil man sich nicht im Guten getrennt hatte, sondern weil es keinen Spaß machte, diesen Männern in ihren neuen Leben zu begegnen.

Oh hallo? Na, Mensch! Das hier ist übrigens Amalia-Sophie. Die bald eine kleine Schwester bekommt. Und? Bei dir so?

Marie-Claire stellte die Dusche auf eiskalt und unterbrach damit alles, ihre Gedanken und, so kam es ihr vor, das gemächliche Fließen ihres Blutes. Es gab Tage, an denen dieser Temperaturwechsel die einzige Herausforderung darstellte, der sie sich stellte. Es gab Tage, an denen dieses Ritual ihre Stimmung komplett drehte. Von trübsinnig auf optimistisch. Von dumpf auf fokussiert. Von zaudernd auf überzeugt. Sie verteilte Öl auf ihrem Körper, klopfte Tagescreme in ihre Gesichtshaut und zog ihren Bademantel an. Im Flur sah sie sich im großen Spiegel auf sich selbst zukommen und war weiterhin zufrieden. Jetzt auch mit ihrer Wohnung, die irgendwann eine Wohngemeinschaft gewesen war, so lange, bis nur MC übrig blieb, mit einer zu hohen Miete, was sie so lange ausgesessen hatte, bis die Wohnung zum sagenhaften Schnäppchen geworden war, das alles hatte, was man wollte, sofern man keine Oligarchenansprüche stellte. Drei große Zimmer, Parkett, Flügeltüren, Balkon, Licht, begehrte Lage. In schlechten Momenten haderte sie mit der Lage, dann hatte sie das Gefühl, im Brutkasten der Stadt zu leben, während alle anderen Lebensmodelle sich in anderen Bezirken abspielten. Zur falschen Zeit am falschen, ja falschestmöglichen Ort zu sein. Heute jedoch nicht.

Sie drückte die angelehnte Küchentür auf und trat ins gleißende Licht. Der Mann an ihrem Küchentisch schaute von seinem Telefon auf.

Guten Morgen, sagte er, ich habe mal Kaffee gemacht.

MC, jahrelang die Stimme der Morningshow im Radio, sagte privat nie Guten Morgen, wie sie auch nie Mahlzeit sagte, sie sagte Hallo und setzte sich dem Mann gegenüber, vor dem ihr Leben ausgebreitet lag. Aufgerissene Post, Krankenkasse, Finanzamt, Strafzettel. Daneben, weil sie einen Flug gebucht hatte, ihre Kreditkarte und ihr Personalausweis, mit einem Gangsterpassbild und ihrem Geburtsdatum, das sie immer gemocht hatte, seit Neustem aber verheimlichte, weil die Jahreszahl niemanden mehr etwas anging. Besonders nicht Leute, die sie aufgelesen hatte. Das hatte sie, sie hatte diesen Mann aufgelesen, was noch vor kurzer Zeit als wild und selbstbestimmt gegolten hätte und was sie bei anderen Leuten nach wie vor als wild und selbstbestimmt bewerten würde. Sie hatte an der Bar gestanden, sich ansprechen lassen, zurückgesprochen, sich gefühlt, als hätte sie nach einer komplett misslungenen Reise wieder Heimaterde unter den Füßen, hatte die Barkeeper behandelt, als wäre sie ein Stammgast, und es hatte sofort funktioniert, sie hatte diesen Mann mit ihrem glänzenden Trivialwissen in einen Sofortbrand versetzt, sodass er sich bei seinen Freunden verabschiedete und das Ende der Nacht kaum erwarten konnte. Es war dunkel gewesen. Jetzt war es hell. Der Mann sah nicht aus, als würde ihr Anblick bei Tageslicht ihn enttäuschen. Und es war eine Schande, dass sie überhaupt darüber nachdachte, womöglich die Dunkelheit zu brauchen, um attraktiv zu sein. So weit war es gekommen, so sehr hatten die letzten Jahre sie vergiftet und geschwächt.

Sie schob den Papierhaufen zusammen, legte ihn in die leere Obstschale, ging an den Kühlschrank, holte sich eine Packung Kokosnusswasser, setzte sich wieder und streckte die Beine auf dem freien Stuhl neben sich aus.

Hast du gut geschlafen?, fragte der Mann.

Ja, danke, bestens.

Ich geh dann mal ins Bad, wenn das okay ist.

Be my guest, sagte MC und streckte sich.

Nein, es gab nichts zu schämen oder zu bereuen, zumindest nicht von ihrer Seite. Sie trank einen halben Liter Kokoswasser auf ex. Sie war hier zu Hause. In ihrer schönen Wohnung, in ihrem duftenden Körper. Dessen Wohlgefühl nichts mit diesem Mann und der Fortführung der Nacht zu tun hatte, das würde sie wissen. Dann hätte sie ihn anders angeschaut, hätte sich mehr Gedanken um ihr Aussehen und seine Meinung gemacht. Dann hätte sie nicht weitergeschlafen, sondern wäre vor ihm aufgestanden, um alles unter Kontrolle zu haben. Dann würde sie hier nicht sitzen, bereit, ihn freundlich rauszuschmeißen, dann würde sie sich mit den Eigenschaften dieses Mannes befassen und sie mit ihren Vorstellungen abgleichen. Denn MCs Ansprüche waren ständig gestiegen, ins Unermessliche, das hatten das Warten und die wachsende Wut mit sich gebracht, eine Liste an Anforderungen, die vermutlich niemand mehr erfüllen konnte. Weil es niemanden gab, der im richtigen Alter war und dabei ein unbeschriebenes Blatt, der ihr nicht mit seinen Altlasten ins Konzept pfuschen würde, mit einer Ex-Frau und Kindern, die ihm dann wichtiger wären als die Kinder, die er mit ihr hätte. Der dann auch noch Versorgerqualitäten hätte und trotzdem die Pflichten mit ihr teilen würde. Einer, der nicht langweilig wäre und dabei zuverlässig, der sie nicht aus ihrem sozialen Kontext reißen würde, weil er zu dies oder jenes war, unpassend eben. War das realistisch? Nein. Denn in Wirklichkeit war sie jetzt im Sale zu haben, für jeden Deppen, für einen Bruchteil des Ursprungspreises, aufgrund des Verfallsdatums. Da waren sie wieder, ihre Metaphern, und diese sagte sie sich ganz besonders oft.

Die Artikel, in denen es um Frauen wie sie ging, bestätigten das. Das Problem dieser Frauen, sagten die Soziologinnen, sei das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen gut ausgebildeten Frauen und passenden Männern. Diese nämlich wurden irgendwann zu guten Männern, einfach nur weil sie hatten, was die Frauen auch hatten, ein bestimmtes Alter und bestimmte Berufe. Und diese jetzt guten Männer schauten sich dort um, wo sie es wiederum gut fanden, nämlich bei den Frauen, die jünger waren als sie selbst, während die Frauen ihrer eigenen Alters- und Einkommensklasse weiterhin im nun leergefischten Teich herumangelten. Gar nicht klug von diesen Frauen beziehungsweise sinnlos. Es hätte ihnen eher auffallen können, dass ihr Kurs fällt, stetig, mit jedem Jahr. Die Lösung für Frauen wie MC war deshalb, sich von ihren unrealistischen Ansprüchen zu verabschieden, so die Artikel, die mindestens so häufig geklickt wurden wie die Artikel, die endlich und endgültig den Mythos des weiblichen Orgasmus entschlüsselten. Gebildete Frauen müssten sich aufgrund dieser Lage, die nicht besonders schön ist, im Weltdurchschnitt der Probleme aber lachhaft klein plus lösbar, bei der Partnerwahl nach unten orientieren. Dort schauen sie nicht gern hin, die Frauen mit Niveau und ohne Mann. Man weiß es, weil man das Suchverhalten auf den Partnerbörsen ausgewertet hat. Das Bild, das so entsteht, ist noch sozialdarwinistischer als die Wirklichkeit. Männer klicken nicht gern auf die Alten, Frauen nicht gern auf die Armen. Sollten sie aber, so der Rat der Experten, denn in diesen Gefilden wird es wieder luftiger. Nicht bei den Erfolgreichen, die die Akademikerinnen um die vierzig fälschlicherweise für die Passenden halten, sondern bei den Männern, die ebenfalls nicht mehr weggehen wie geschnitten Brot, egal wie selbstbewusst und optimistisch sie irgendwann einmal in dieses Leben, dieses Wettrennen gestartet sind. Die Männer ohne Job, die Männer ohne Qualifikation, die Männer, die sie bisher auf jeden Fall übersehen hätten. MC hatte diese Empfehlungen in Variationen immer wieder gelesen und war jedes Mal wieder beeindruckt von ihrer Unverblümtheit. Die Frauen sollten von ihrem hohen Prinzessinnenross heruntersteigen, sich einen armen Mann suchen und endlich ihre große Klappe halten. Denn das war das Happy End. Ein anderes gab es nicht.

MC war dadurch klar geworden, dass sie nicht zu einer Gruppe gehörte, der das Mitgefühl der anderen galt. Im Gegenteil. Sie gehörte zu einem Personenkreis, der ein Resultat des Feminismus war, und sie hatte sich dementsprechend verhalten, nämlich gemacht, was sie wollte, bis sie in einem Alter war, in dem ihre Großmutter schon als alte Jungfer gegolten hätte. Und sie musste feststellen, dass sie sich trotz ihres Berufs, ihres Jahrgangs und ihres Selbstbilds hätte benehmen müssen wie eine verarmte Adlige aus einem Jane-Austen-Roman. Die aber den Vorteil gehabt hatte, dass sie wusste, was ihr blühte, würde sie diese einzige Aufgabe in ihrem Leben verpennen. Warum hat mir das niemand gesagt, fragte MC sich und beantwortete die Frage gleich selbst, denn man hatte es ihr gesagt. Ihre Großmutter hatte es ihr gesagt, jede Rom-Com, die sie gesehen hatte, und die sogenannte Frauenliteratur, die sie ab und zu zur Entspannung las, hatten es ihr gesagt, diese ernüchternden Artikel hatten es ihr mit Zahlen bestätigt, und sie selbst hatte es immer gewusst.

Wir sind keinen Schritt weiter, zu diesem Schluss kam sie immer wieder, auch an jenem besonders hoffnungslosen Abend mit Maren beim Japaner: Wir haben uns selbst ins Knie geschossen mit unseren Berufen, denn damit haben wir nicht uns, sondern den Männern die Auswahl noch vergrößert und verschönert; wir haben dafür gesorgt, dass sie nun eine Hausfrau und eine Verdienerin haben können, bravo, fein gemacht. Während wir unsere Unabhängigkeit völlig fehlinterpretiert haben, wir hatten sie nie, nein, sie ist noch kleiner geworden, weil wir nämlich jetzt nicht nur die Schönsten sein müssen, sondern auch die Qualifiziertesten. Während wir weiterhin die verdammte Uhr ticken hören, bevor wir uns kurz darauf anhören müssen, dass wir zu alt sind. Was bedeutet, dass wir uns nicht nur ins Knie geschossen haben, nein, wir haben unsere Strümpfe ausgezogen, ein Maschinengewehr genommen und uns das komplette Bein zu Matsch geballert.

MC hätte sich nicht gewundert, wenn ihr Atem nach Schwefel gerochen hätte während dieser Tirade, aber das musste raus, und die Einzige, die sie von dieser Seite sehen durfte, war Maren.

Das ist sehr negativ, Marie-Claire, aber vielleicht ist diese radikale Sicht ja auch reinigend, sagte Maren und blies nachdenklich in ihren Tee.

Kaffee?

Der Mann, den sie nicht besser kannte als vor zwölf Stunden, roch nach ihrem Duschgel und schien sich als ihr Gastgeber zu fühlen.

Gern, sagte sie, freundlich lächelnd. Sie hatte keine Lust auf einen emotionalen Hangover. Alles war okay. Er war okay. Es war schließlich nicht seine Schuld, dass sie gestern Abend jemanden wie ihn gebraucht hatte. Vielleicht zum letzten Mal, denn MC spürte nicht nur täglich, dass ihr Reservoir an Eizellen zu Ende ging, sondern auch, dass es Zeit wurde, ein Leben zu leben, in dem Fremde nicht mehr stattfinden würden. Es würde noch einen Fremden geben, der ihr so gut passte, dass er kein Fremder bleiben würde, und von da an würde sie sich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte ausruhen vom Kennenlernen. Und sie hoffte, dass dieser letzte Fremde in greifbarer Nähe war, der hier war es jedenfalls nicht. Es war egal, was er falsch gemacht hatte, was er gesagt oder getan hatte, um in der Schublade mit der Aufschrift ausgeschlossen zu landen. Ihr fiel wieder ein, dass er versonnen an die Decke gesehen und von seiner gerade zu Ende gegangenen Beziehung gesprochen hatte. Ein Brechmittel für MC, das ihr immer wieder gern verabreicht wurde. Es wurde sogar eingesetzt, als wäre es ein Lockmittel. Schau her, so sensibel und verletzbar bin ich. Und glaub bloß nicht, weil du nackt neben mir liegst, bist du die einzige Frau auf der Welt. Bevor sie einschlief, fragte sie sich, warum dieses Verhalten noch nicht öffentlich beklagt worden war. Vielleicht, weil es nur ihr passierte? Sollte er ihr erzählt haben, was er beruflich machte, dann hatte sie es vergessen, was nicht für seinen Beruf sprach. Sein Aussehen spielte keine große Rolle. Sie sagte sich, dass es reichte, wenn sie sich gefiel. Sie sah täglich Hunderte von Männern, die aussahen wie die Väter ihrer Freundinnen in ihrer Kindheit. Bart, Brille, Bauch. So sah man jetzt aus.

Sie schaute den Mann an, der sich an ihrer Espressomaschine zu schaffen machte. Der vermutlich ein paar Jahre jünger war als sie, aber älter aussah. Der irgendetwas Nettes und Charmantes gesagt oder getan haben musste, andernfalls wäre sie allein nach Hause gefahren, der sie aber bereits gestern Nacht, nachdem er sich anerkennend in ihrer Wohnung umgeschaut hatte, gefragt hatte, ob sie hier allein wohne, was sich nicht angehört hatte, als hätte er Angst vor einem schlafenden Partner oder Kind, sondern so, als hätte er ein Wohnungsproblem und wäre nun auf eine mögliche Lösung gestoßen. Er hatte ihre Plattensammlung bestaunt. So viel Vinyl würde man sonst eher bei Männern sehen. Tatsächlich? Oder bei alten Leuten. Danke. Er war ein Stiesel, aber er war nicht hier, um ihr Seelenverwandter zu werden. MC hatte nichts gefühlt außer der Vorfreude, ihren Körper zu spüren. Seine Zunge im Mund, fragte sie sich, ob sie sich tatsächlich verhielt wie ein Mann. Oder wie eine Frau, die sich nahm, was sie wollte, also eine Feministin? Nichts zu fühlen ist nichts, was man auch noch politisieren sollte, dachte sie dann, ein Mann würde sich niemals so blöde Fragen stellen, nicht in dieser Situation. Es war eine große mentale Leistung gewesen, irgendwann abzuschalten. Es half, sich auf den Mann zu stürzen, als hätte sie ihr ganzes Leben auf ihn gewartet. Es half, dass sie sich sagte, dass dies eine einmalige Angelegenheit sein würde.

MC betrachtete ihr Spiegelbild in den Scheiben des Apothekerschranks und befand, dass sie keine Prinzessin war, sondern eine Königin. Und eine Königin ist generös, weshalb sie ihre Gunst auf ein Frühstück ausweitete. Ihr Omelett, das perfekte Omelett, für dessen Rezept sie einen Hotelkoch in Sri Lanka zwei Wochen lang gestalkt hatte. Nach dem Omelett würde sie wieder allein sein und es genießen.

Während sie aßen, stellte sie sich vor, so wäre es immer, sie würde jeden Tag mit jemandem frühstücken. Es kam keinerlei Sehnsucht in ihr auf, was auch daran liegen konnte, dass dieser dankbar kauende Mann sie minütlich weniger interessierte.

Ich habe heute Nachmittag eine Aufzeichnung, sagte sie, und es hörte sich an, als wären sie ein Paar, das seinen Tag bespricht, dabei sollte es die Einleitung zur Verabschiedung sein. Er trank mit vollem Mund.

Mhm? Wer kommt denn?

Anahita Martini.

Oh! Die ist heiß. Sofern man bei Politikerinnen von heiß sprechen kann.

Wieso nicht?, fragte sie lauernd, weil sie beides unangebracht fand: Politikerinnen sollten nicht heiß sein müssen, sie sollten aber auch nicht per se als nicht heiß abgebucht sein. Was auch immer heiß hieß. Sie verdrehte innerlich die Augen. Es war Zeit, dass er ging.

Ich nenne das die relative Attraktivitätstheorie. Wenn du dich in einem Umfeld bewegst, in dem es unterdurchschnittlich wenige attraktive Frauen gibt, steigt deine eigene Attraktivität.

Ach? Und in welchem Umfeld ist das zum Beispiel so?

In der Politik auf jeden Fall. In der Wissenschaft bestimmt auch.

Er überlegte kurz, Kaffee schlürfend, und MC fragte sich, wie ein Mann sein müsste, damit sie es Jahrzehnte mit ihm aushielt.

Und natürlich auch in einigen Sportarten. Und früher auch bei der Polizei.

Und da ist es jetzt nicht mehr so?

Ist dir mal aufgefallen, wie viele gut aussehende Polizistinnen es mittlerweile gibt? Die sehen aus, als würden sie nach ihrem Aussehen gecastet. Wie früher Stewardessen – er lachte nachdenklich –, die ja heute aussehen dürfen, wie sie wollen.

Und deine Theorie, die relative Attraktivitätstheorie, gilt nur für Frauen?

Also, sagen wir mal so: Ich habe sie bisher nur bei Frauen angewendet.

Weil Attraktivität bei Männern keine Rolle spielt?

Na ja, so würde ich das jetzt nicht sagen.

Sie waren sehr weit auseinandergedriftet, es war kaum noch vorstellbar, dass sie sich vor ein paar Stunden schwitzend ineinander verkeilt hatten. Es war nicht eklig, es war nicht traurig, es war absurd.

Ich muss mich jetzt auf die Sendung vorbereiten, sagte MC.

Oh. Ja klar. Warum bist du eigentlich beim Radio, nicht beim Fernsehen?

Weil ich nicht nach meinem Aussehen gecastet werden wollte.

Du hast eine fantastische Stimme, falls dir das noch niemand gesagt hat. Irre. Total sexy.

MC stand auf, nahm seinen Teller und seine Tasse und stellte sie in die Spülmaschine.

Also nicht dass ich jetzt sagen will, dass du nicht gut aussiehst oder so.

Nee, nee, schon klar.

Sie brachte ihn zur Tür, den langen Flur entlang, ging dabei so dicht hinter ihm, als würde sie ihn abführen, als gehörte sie zur neuen Generation der heißen Polizistinnen. Überhörte seine Fragen, was sie heute Abend vorhatte, ob man sich wiedersehen würde, ob man Nummern getauscht hatte oder ob man anderweitig in Kontakt bliebe, über Instagram oder Facebook oder Felix zum Beispiel. Welcher Felix, fragte sie sich, hatte aber keine Lust, zurück an die Bar zu denken, in der sie wohl gemeinsame Bekannte gehabt hatten. Man würde sich nicht wiedersehen, jedenfalls nicht gezielt. Doch sie konnte davon ausgehen, dass sie ihm früher oder später mit einem Kinderwagen oder einem Kindersitz am Fahrrad begegnen würde. Sie könnte ihm zum Abschied voraussagen, dass er bald Vater werden würde, jetzt, nachdem er mit der Fruchtbarkeitsgöttin geschlafen hatte. Er würde es nicht verstehen, schien jetzt aber verstanden zu haben, dass es keine Wiederholung geben würde und auch keine Berührung mehr zum Abschied. Er sagte: Also dann. Sie öffnete die Tür und sagte: Ciao. Er ging hinaus und sah verloren aus. Das Ciao hing in der Luft, und MC brauchte ihre gesamte Kraft, es nicht noch auszuschmücken, eine Nettigkeit hinterherzuschicken, nein, sie hatte keine Lust mehr, sie schuldete diesem Mann gar nichts.

Als er sich auf dem Treppenabsatz umdrehte, schloss sie die Tür.