Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein - Marcel Krings - E-Book

Goethe, Flaubert, Kafka und der schöne Schein E-Book

Marcel Krings

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Beschreibung

Alle Literatur arbeitet mit begrifflich vermitteltem Schein, der Sachverhalte bildhaft vor Augen stellt. Keineswegs muss er dabei wahrheitsgetreu verfahren: Gerade der schöne Schein kann auch für Strategien des make believe nutzbar gemacht werden. In Goethes "Lehrjahren", Flauberts "Education sentimentale" und Kafkas "Verschollenem" weist die Studie erstmals das Verfahren einer doppelten Buchführung nach, die dem exoterischen Schein der Textoberfläche nicht glaubt, ihn durchstreicht und auf ein esoterisch Gemeintes durchsichtig macht. Indem die Texte, deren Verfasser sich als literarische Vorbilder begriffen, dabei in ihrer Filiation betrachtet werden, schließt die Arbeit zugleich eine Forschungslücke und belegt zum Einen, dass die bilderkritische Negativität der Weimarer Klassik noch die Prosa der Moderne grundiert. Zum Anderen bietet die Studie eine neue Deutung der Romane, die zeigt, in welchem Maße der schöne Schein bisherige Lesarten bestimmte und welche Thematik sich eigentlich hinter ihm und seinen Bildern verbirgt.

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Seitenzahl: 1605

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Marcel Krings

Der schöne Schein

Zur Kritik der Literatursprache in Goethes Lehrjahren, Flauberts Education sentimentale und Kafkas Verschollenem

A. Francke Verlag Tübingen

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb/dnb.de abrufbar.

 

Titelbild: René Magritte: La lunette d'approche © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

 

Die vorliegende Studie wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Juli 2015 als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet.

 

 

 

© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

Inhalt

WidmungDank1. Einleitung2. »Hokuspokus« und »Mystifikationen«. Zur Kritik der ästhetischen Bilder in Goethes Lehrjahren2.1 Forschungslage2.1.1 Exoterik2.1.2 Esoterik2.2 Goethes Poetologie der Bilder2.3 Kunstkritik in den Lehrjahren2.3.1 Tasso2.3.2 Das Gemälde vom kranken Königssohn, Natalie und das Romanende2.3.3 Die Verleihung des Lehrbriefs und die Pragmapoetik des Turms2.3.4 Mignon und der Harfner2.4 Erziehung und Turmpädagogik2.5 Kunst2.6 Ökonomie, Gesellschaft und Familie2.7 Die Pragmatik des Romans und Friedrichs Schlussworte3. »En haine du réalisme«. Die zwei Seiten des style in Flauberts Education sentimentale3.1 Flaubert und die Forschung3.1.1 Flaubert, der Realist3.1.2 Flaubert, poète de la forme3.2 Flaubert und die Selbsterfassung3.3 Askese und Negativität: »Romps avec l’extérieur«3.4 Die Genese des style: Exoterik und Esoterik3.5 Sprachkritik und Poetik des Zitats3.6 Flaubert, »continuateur de Goethe«3.6.1 Die Psychologie eines Verhältnisses3.6.2 Ästhetischer Transfer3.7 Die Lehrjahre und die Education-Romane3.7.1 Bildung und Schwärmerei3.7.2 Wilhelm und Frédéric: der Typus des irreflexiven jungen Mannes3.7.3 (K)ein Ende der Kunst3.8 Flauberts stilistisches Verfahren4. »Mißverstehe die Sachlage nicht.« Doppelte Buchführung und ›neues Judentum‹ in Kafkas Verschollenem4.1 Einleitung: Ein deutbarer Kafka4.2 Forschungsstand: Exoterik versus Esoterik4.3 Genese und Textgestalt des Verschollenen4.4 Parabel, Allegorie und ›Doppelte Buchführung‹4.5 Religion und Humor4.6 Kafka als Leser Goethes und Flauberts4.7 Der ›conte moral‹ von Karl Roßmann: Das Scheitern des Irreflexiven4.8 Ein jüdischer Verschollener4.8.1 Der Heizer: Gericht über die Zukunft des Judentums4.8.2 Der Onkel: Karls Erziehung4.8.3 Ein Landhaus bei New York: Hinauswürfe4.8.4 Der Marsch nach Ramses: Die Reise nach Ägypten4.8.5 Im Hotel occidental und Der Fall Robinson: Im jüdischen Tempel4.8.6 Es musste wohl eine entlegene und »Auf! Auf!« rief Robinson: Bei Brunelda in der Stiftshütte4.8.7 Ausreise Bruneldas: Das Gesetz wandert aus4.8.8 Karl sah an einer Straßenecke und Sie fuhren zwei Tage: Roßmanns Untergang4.9 Kafkas ›Neues Judentum‹5. SchlussbetrachtungSiglen und AbkürzungenBibliographie1. Primärwerke1.1 Goethe1.2 Flaubert1.3 Kafka2. Verwendete LiteraturRegister

Für Marit und Sophie

Dank

Eine Habilitation ist nahezu immer ein unabsehbares Unterfangen. Sogar Mephisto weiß: »Gewöhnlich geht’s am Ende scharf«, und er hätte nur hinzufügen müssen, dass es auch unterwegs manche Klippe zu umschiffen gilt. Dass die Abfassung dieser Arbeit schließlich gelang, habe ich nicht zuletzt der Unterstützung zu verdanken, die mir von vielen Seiten zuteil geworden ist. An erster Stelle möchte ich mich bei meinem akademischen Lehrer Dr. habil. Peter PfaffPfaff, Peter bedanken, der für mich über die Jahre ein ebenso selbstloser wie kompetenter Gesprächspartner und pointiert-kritischer Berater gewesen ist. Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter BorchmeyerBorchmeyer, Dieter und Prof. Dr. Helmuth KieselKiesel, Helmuth haben mich nicht nur im universitären Alltag begleitet, sondern mir über Semester hinweg auch die Gelegenheit gegeben, in gemeinsamen Lehrveranstaltungen bzw. in Kolloquien einige der hier versammelten Thesen vorzustellen und zu diskutieren. Dafür gebührt ihnen mein herzlicher Dank. Eine Gastdozentur an der Universität Paul Valéry (Montpellier) bot mir im Jahre 2010 die Möglichkeit, die französische Flaubertforschung in besonderem Maße zur Kenntnis nehmen zu können. Allen Beteiligten gilt dafür mein Dank, ebenso Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter BorchmeyerBorchmeyer, Dieter, Prof. Dr. Oliver Jahraus und Prof. Dr. Christof Weiand für ihre Gutachten über die Arbeit. Für Anregungen und Kritik bin ich daneben Dr. Daniela Mantovan-Kromer, Dr. Wolfgang Kelsch und Irina Dünnwald-Jabotinsky, besonders aber Dr. Michael Weber zu Dank verpflichtet. Für ihre vielfältige, unverzichtbare Hilfe bei Korrektur, Satz und Recherche sei Stefan Makrutzki, Caroline Eckrich, Sören Herbst, Telse Sundermann und Eva Wombacher gedankt. Dem Lektor des Francke-Verlags, Tillmann Bub, danke ich für seine umsichtige Betreuung und für die Aufnahme der Arbeit ins Verlagsprogramm.

Darüber hinaus wäre diese Arbeit ohne die interessierte und vielfältige Unterstützung, die ich von der leider schon 2013 verstorbenen Marlies Hellwig, von Bernd Hellwig sowie von meiner Mutter, Christel KringsKrings, Marcel, erfahren habe, ohne die Langmut, mit der vor allem meine Frau mir zur Seite stand und ebenso wie meine beiden Kinder meine Rückzüge ins Arbeitszimmer ertragen hat, wohl nicht leicht entstanden. Nicht zuletzt dafür möchte ich mich herzlich bedanken.

 

Heidelberg, im Juli 2016Marcel KringsKrings, Marcel

1.Einleitung

Was aber schön ist, selig

scheint es in ihm selbst.

(Eduard Mörike: Auf eine Lampe)

Alle Literatur bedient sich des ästhetischen Scheins. Der rhetorische Begriff der evidentia, wie CiceroCicero das griechische enárgeia (›von Glanz umgeben‹, ›aus sich selbst leuchtend‹) latinisierte, ist von e-videri, ›herausscheinen, hervorscheinen‹ abgeleitet. Er bezeichnet dasjenige, »was ein-leuchtet, weil es gleichsam aus sich herausstrahlt«1 und was in der Rede mit »offenkundige[r] Präsenz« und der »unmittelbare[n] Gewißheit des anschaulich Eingesehenen« so lebhaft vor Augen gestellt wird, dass es als »unzweifelhaft wahr«2 erscheint. Das Verfahren des sub oculos subiecto oder des ante oculos esse ist in der Literatur über begrifflich generierte Bilder geregelt. In der schon früh kanonisierten Ars poeticaHorazArs poetica des HorazHoraz wird bereits zu Anfang darauf hingewiesen, dass Schriftsteller – wie Maler – species, also Bilder, erdichten und vor Augen führen (»fingentur species«3), woraus im Fortgang des Textes der berühmte Grundsatz ut pictura poiesis4 folgt. Dass in Texten über Verfahren der Bildlichkeit oder Anschaulichkeit5 Gegenstände »hinterlegt, konditioniert, virtuell ermöglicht«6 werden, ist heute eine ebenso triviale Beobachtung wie die dadurch ermöglichte »Erfahrung dieser Gegenständlichkeit«7. Dienen die Techniken sprachlicher Visualisierung also der Illusionsbildung,8 gehorchen sie dabei traditionell dem Prinzip der Mimesis, das nicht etwa krude imitatio der Natur bedeutet, sondern – wie besonders die Kapitel neun und dreizehn der PoetikAristotelesPoetik des AristotelesAristoteles ausführen – poietische Gestaltung nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit mit der Absicht, bestimmte Wirkungen zu erreichen.9 Zeichnet sich mimetische Literatur also je schon durch ein Ineinander von Nähe und Distanz, imitatio und modern verstandener inventio, zur Realität aus, so kann der literarische Schein auch gezielt als make believe eingesetzt werden. Ein solches, vom Autor intendiertes »Induzieren von Vorstellungen«10, bei dem das als wahrscheinlich Geschilderte keineswegs ›wahr‹ oder der eigentlich vorliegenden Wirklichkeit entsprechen muss, stellt den Status des ästhetischen Scheins infrage und verunsichert die Interpretation. Das Verfahren lässt sich treffend als Inkongruenz zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Textebene beschreiben, die Heinz SchlafferSchlaffer, Heinz am Beispiel GoethesGoethe wie folgt dargestellt hat:11 Exoterik meint den »ersten Anschein« (214) eines Textes, die von ihm »als Oberfläche dargestellte Oberflächlichkeit« (ebd.), den »offene[n] […] Sinn« (215), der zumeist »die jeweils herrschenden zeitgenössischen Ideen: Freiheit, Bildung, Sittlichkeit, Fortschritt« (225) zu bestätigen scheint. Demgegenüber ist Esoterik nicht etwa eine wie auch immer geartete Geheimlehre, sondern ein funktionaler Begriff, der »versteckte […] Sinn« (215), die »letzte […] Bedeutung« (214) eines Textes, die in ästhetischer »Negativität« (225f.) enthüllt, wie den Ideen der Zeit »die Negation innewohnt« (225). GoetheGoethe, so Schlaffers These, arbeite also mit einer »Verdopplung der Intentionen« (215), die erst durch eine »doppelte Lesart, die exoterische und esoterische« (225), erschlossen werden könne. Indem die ästhetische Bildlichkeit geradezu durchgestrichen wird, findet sich Schönheit dann aber als verführerische Blendung gekennzeichnet, vor der man sich, einem Goetheschen Aphorismus zufolge, hüten müsse: »Schönheit und Geist muß man entfernen, wenn man nicht ihr Knecht werden will.«12 Dass man in einer schönen Sprache unbemerkt noch das Prosaischste erzählen könne, hatte NovalisNovalis in seiner späten LehrjahreGoetheWilhelm Meisters Lehrjahre-Kritik bemerkt, und auch SchillerSchiller, Friedrich war die Technik schließlich als ›Vertilgung des Inhalts durch die Form‹ auffällig geworden. Denn eigentlich formulieren die LehrjahreGoetheWilhelm Meisters Lehrjahre eine esoterische Kritik der Literatursprache oder -ästhetik, deren Reserve gegen Mythologie und ästhetischen Schein die Einbildungskraft des Protagonisten wie des Lesers davor bewahren möchte, Faktisches über den Verführungen des Schönen nicht zur Kenntnis zu nehmen: Im Roman wird Wilhelm Meister als Prototyp eines ästhetischen Träumers berufen, der bis zuletzt nicht begreift, was die Turmgesellschaft von ihm fordert und der vor der von ihm verlangten Bildung versagt: Wie sein alter ego, der Zauberlehrling, hat er nicht gelernt, seine Phantasie zu zügeln und das Handwerk des Denkens zu lernen. Die Lehrjahre berufen also die Gattung des Bildungsromans nur, um ihn negativ aufzuheben – und geben dem Leser zu verstehen, dass mit der Romanform nicht zuletzt SchillersSchiller, Friedrich Gedanke einer ästhetischen Erziehung kassiert werden soll. Damit bereitet der Roman einer negativen Kunsttheorie den Boden, die zwischen Modus und Sinn des Dargestellten unterscheidet.

Solch doppelte Buchführung, bei der die exoterische Bildlichkeit der Textoberfläche (die ›Form‹), von der esoterischen, nicht explizit genannten Sinnsphäre des Textes (dem ›Inhalt‹) unterschieden wird, ist für die vorliegende Arbeit erkenntnisleitend. Als prominente Vertreter solch negativer Literatur betrachtet sie GoethesGoetheLehrjahre, FlaubertsFlaubertEducation sentimentaleFlaubertEducation sentimentale (1869) und KafkasKafkaVerschollenenKafkaDer Verschollene und fragt zugleich danach, was zu einer bilderkritischen Lektüre berechtigt und was aus ihr für die Deutung folgt. Weder die Reihe der Autoren noch die Auswahl ihrer Werke sind dabei willkürlich. Erst kürzlich hat man erneut auf die immense stilistische Bedeutung Goethes für Flaubert hingewiesen – von Flaubert à l’Ecole de Goethe hat man gar gesprochen –, in dessen Briefen kein Name häufiger geradezu rühmende Erwähnung findet als der des Deutschen.13 Und schon die Zeitgenossen hatten Flaubert auf die Nähe der ersten EducationFlaubertEducation 1843 (1843–45) zu Goethes LehrjahrenGoetheWilhelm Meisters Lehrjahre hingewiesen. Schon seit langem weiß man ebenfalls, dass KafkaKafka sich im Kontext seines literarischen Durchbruchs um 1912 intensiv sowohl mit Goethes als auch Flauberts Vorgängertexten beschäftigte und Goethe dabei ebenso bewunderte, wie er sich als »geistiges Kind« Flauberts bezeichnete. Ein Dreifaches ist vor diesem Hintergrund dann aber erstaunlich. Erstens fehlt bislang eine vergeichende Studie zu den drei Romanen. Zweitens gehört der VerscholleneKafkaDer Verschollene in jeder, komparatistischer wie germanistischer, Hinsicht zu den Stiefkindern der Forschung – ein Versäumnis, das zwar nicht unerklärlich, aber doch betrüblich ist. Und drittens sind die Konsequenzen für eine Theorie der Moderne und ihres Stils aus der angedeuteten deutsch-französischen Filiation noch nicht gezogen worden.

Davon aber, wie mächtig sich die Magie des schönen Scheins erweist, legt die lange Rezeptionsgeschichte der drei Texte ein beredtes Zeugnis ab. Bis heute liest die communis opinio die Romane exoterisch. GoetheGoethe habe einen Bildungsroman vorgelegt, hört man, FlaubertFlaubert die historische Bilanz der gescheiterten Revolutionen von 1830 und 1848 und KafkaKafka verurteile in seinem amerikanischen Roman die kapitalistische Ausbeutung im Land des modernen Profitstrebens. Gegen den Primat der Textoberfläche protestierten nur wenige. Ihre esoterische Lesart fand freilich kaum Gehör – oder führte zu einem unversöhnlichen Forschungsstreit. Die vorliegende Arbeit schlägt demgegenüber vor, den herrschenden Dissens in der Goethe-, Flaubert- und Kafka-Forschung durch eine Reflexion auf den Status der schönen Bilder aufzulösen. Denn darüber, dass nicht nur die LehrjahreGoetheWilhelm Meisters Lehrjahre, sondern auch die EducationFlaubertEducation sentimentale und der VerscholleneKafkaDer Verschollene als bilderkritische und eigentlich antimimetische Literatur angelegt sind, kann kein Zweifel bestehen. Die Romane betrachten nicht nur die von Schwärmern bemühten Mythologica, sondern in einem umfassenden, radikaleren Sinne alle exoterische Bildlichkeit nur als wertlose »Hülse« um das eigentlich angestrebte »Eine« (KafkaKafka), dessen Unbedingtheit sich aller notwendig durch Semantik, Logik und Grammatik bedingten Begrifflichkeit entziehe. Visiert solche Literatur also das Absolute (Kafka) oder das livre sur rien (Flaubert) an, musste sie die negativ-esoterische Auflösung aller Bilder ebenso fordern wie die Lösung von Irdischem und der Materialität des Zeichens – und schon darum sind jene Lektüren im Unrecht, die FlaubertFlaubert und Kafka allein auf Reales zurückführen und nur auf der exoterischen Textebene lesen. Aus dem Ungenügen an einer mimetischen Literatur, ihren epigonal-klischierten Abbildungen von Wirklichkeit sowie vor allem an ihrer Bindung ans Faktische folgte also, wie man weiß, in der modernen Literatur der Weg in die Abstraktion.14 Soll Flauberts esoterische Arbeit nach der »Vergleichgültigung der Ge genstände«15 und Zeichen zum »leeren Weltbuch«16 führen, differenziert KafkaKafka seine Durchstreichung der Bilder zu einer judaistischen Esoterik aus: Unbemerkt von der Forschung, ist der VerscholleneKafkaDer Verschollene ein jüdischer Antibildungsroman, der mit der Darstellung jüdischer Assimilation seiner Sorge über den Fortbestand des Jüdischen in der Moderne Ausdruck gibt. Unter diesen Bedingungen erfährt aber der alte exoterisch-mimetische Schein eine Entwertung. Er fungiert nur noch als zwar notwendiges, aber verächtliches »tremplin« (Trampolin) für den Sprung in die Negativität, und sein ›Hervorleuchten‹, das vormals das »sinnliche Scheinen der Idee« (HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich) verbürgte, ist nicht länger ein lucet, sondern ein videtur. Das bedeutet umgekehrt, dass der im emphatischen Sinne schöne Schein der Literatur nun in die Absenz verlegt ist. Negative Kunst produziert nur den Vor-Schein eines Nichtrepräsentierbaren, das sie deshalb nicht einholen kann, weil sie durch die »Erdenschwere« (KafkaKafka) von Zeichen, Empirie und Signifikanz beständig zurück in die Bedingtheit verwiesen wird. Was einerseits die Bedingung der Möglichkeit allen Verstehens darstellt und damit die Unverzichtbarkeit der Exoterik begründet, heißt andererseits, dass der Traum vom absoluten, leeren Buch zum nie einholbaren, infiniten Zyklus gerät: »Wie ein Weg im Herbst: kaum ist er rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Blättern« (Kafka).

Die Negativität der Texte unterläuft ebenfalls eine wie auch immer geartete Teilhabe der drei Protagonisten am dargestellten sozialen Leben. Wilhelm Meister, Frédéric Moreau und Karl Roßmann sind Brüder im Scheitern, und es scheint, dass eben diese literarische Verwandtschaft eher von Schriftstellern konzipiert als von einer größtenteils bildungs- und bildergläubigen Germanistik bemerkt wurde. Schon aus Wilhelm Meister wird nichts. Weder zum Dichter, noch zum Gutsherrn, Vater oder Ökonomen taugt er, und völlig zutreffend gibt er zu, dass er »keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln« besitzt. Damit aktualisiert er den Typus des ahnungslosen jungen Mannes, dem die Verpflichtungen und Zusammenhänge des Faktischen bis zuletzt ein Rätsel bleiben. Frédéric Moreau kommt ihm darin gleich. Die ökonomischen Gegebenheiten des sich industrialisierenden Frankreich, die politischen Umwälzungen, aber auch die meisten Vorgänge in seinem Umfeld missinterpretiert er oder begreift er einfach nicht: »Frédéric ne comprenait pas.« Und auch Karl Roßmann durchschaut trotz der Aufforderung seines Onkels, die »Sachlage nicht misszuverstehen«, bis zur letzten Seite des Romans weder die amerikanischen Verhältnisse, noch erkennt er, dass man ihn aufgrund eines Verstoßes gegen das jüdische Gesetz nach Amerika schickte. Waren die Zeiten für Wilhelm Meister trotz seines Scheiterns nicht schlecht, so ist der soziale Abstieg bei FlaubertFlaubert und KafkaKafka unverkennbar. Frédéric Moreau fristet am Ende als ärmlicher Kleinrentner sein Dasein, und Karl Roßmann, so scheint es, beschließt sein Leben als unterster und überdies unbezahlter Arbeiter in einem Zirkus. Insofern alle drei soziale Außenseiter sind oder werden und ihren Platz in der Gesellschaft nicht finden – keine Rede kann davon sein, dass sie, wie es der klassische Bildungsroman fordert, die »Poesie des Herzens« gegen die »Prosa der Verhältnisse« (HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich) eintauschen und sich produktiv und zum Wohl aller ins Sozialgefüge eingliedern –, erinnern sie an den Typus des ›überflüssigen Menschen‹ (лишний человек), der sich in der Nachfolge ByronsByron, George Gordon (Lord) vor allem in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts herausbildete. Von PuschkinsPuschkin, Alexander Eugen Onegin über LermontowsLermontow, Michail Petschorin, TurgenjewsTurgenjew, Iwan Rudin und Basarow, GontscharowsGontscharow, Iwan Oblomow bis zu DostojewskijsDostojewskij, Fjodor Raskolnikow handelt es sich dabei um durchaus begabte Personen, die allesamt in der prosaischen Moderne nicht ankommen. Ihre Erziehung und Lebensweise wie auch die sozialen Verhältnisse hindern sie daran, ihre »hohen Ideale […] in die Tat umzusetzen«, woraufhin sie »der Resignation oder dem parasitären Müßiggang«17 verfallen. Lässt sich daraus eine Kontinuität bis zum Dandy und Flaneur der englischen und französischen Literatur des fin de siècle ableiten – hier wäre an BaudelairesBaudelaire, CharlesA une passanteBaudelaire, CharlesA une passante,18WildesWilde, OscarDorian GrayWilde, OscarDorian Gray oder noch BretonsBreton, AndréNadjaBreton, AndréNadja zu erinnern –, sind Meister, Roßmann und Moreau durch ihren Mangel an Zynismus und Bewusstheit von der angedeuteten Traditionslinie unterschieden. Sie verkörpern in ihrer Begriffsstutzigkeit eher den Typ des reinen Toren, wie er in der deutschen Literatur seit dem Parzival und Simplicissimus vorlag und etwa im Märchen vom Hans im Glück, in KleistsKleist, Heinrich von Käthchen oder in EichendorffsEichendorff, Joseph von Taugenichts seine Aktualisierung fand. Mag damit zum Teil eine Eloge des romantischen Unbewussten oder des natürlichen Urzustands des Menschen sowie eine Kritik an der Logik der Ökonomie formuliert sein, besteht bei GoetheGoethe und KafkaKafka hingegen kein Zweifel daran, dass Meister und Roßmann die ihnen gestellten Aufgaben durchaus zu ihrem Nachteil und aus eigenem Verschulden nicht bewältigen. So ergreifen sie weder die sich bietenden Chancen noch lösen sie jene Erwartungen ein, zu denen Herkunft und privilegierte Erziehung sie doch eigentlich berechtigten. Die hartnäckige Bewusst-losigkeit der Protagonisten, ihre Defizienz an Ratio sowie ihre mangelnde Einsicht, die sie nicht einmal aus Schaden klug werden lässt, sind als literarische Gegenentwürfe zu einer Philosophie des Bewusstseins gestaltet, die seit KantKant, Immanuel Welterkenntnis, Perzeption und praktisches Handeln an das regelgeleitete Funktionieren des Verstandes geknüpft hatte. Fungiert solche Arationalität damit als andere Seite der Aufklärung oder der diversen transzendental-spekulativen Selbstbewusstseinstheorien, die insbesondere die deutsche Frühromantik vorgelegt hatte,19 so lässt sie sich auch als Einrede gegen jene Konzepte der ›intentionalen‹ bzw. der immer schon ›gestimmten‹ Wahrnehmung lesen, die HusserlHusserl, Edmund und HeideggerHeidegger, Martin vorgeschlagen haben:20 Meister, Moreau und Roßmann beziehen ihre Bewusstseinsakte nicht auf definierte oder für sie definierbare Gegenstände, sondern nehmen Phänomene zumeist gewissermaßen interpretationslos wahr, und indem sie also bemerken, dass etwas ist, nicht aber, was es ist, leisten sie zwar einer Theorie der ›reinen‹ Perzeption Vorschub. Vor allem innerhalb von Sozialgefügen geraten sie aber ins Hintertreffen. Denn wo klar umrissene Grundsätze herrschen, vorausgesetzt sind und von Einsichtigen beachtet werden, können sie durch ihre vagen oder besser: vagierenden Begriffe, nirgends eingebunden sein. Dass sie also in intellektueller wie auch sozialer und geographischer Hinsicht zu Vagabunden werden, zeigen die Texte durch die Vielzahl der Schauplatzwechsel sowie durch die Ausweitung des Handlungsraums: Meister gelangt nach diversen Fahrten im südlichen Deutschland schließlich nach Italien, Moreau pendelt zwischen der französischen Provinz, Fontainebleau und mehreren Pariser Wohnorten hin und her, und Roßmann gelangt von Prag nicht nur nach New York, sondern noch weiter in die Richtung eines unbestimmt bleibenden amerikanischen Westens. Solche Heimatlosigkeit, die bei KafkaKafka zusätzlich durch die jüdische Exilerfahrung parallelisiert wird, erscheint als Überformung des Flaneurs durch den neuerdings beobachteten soziologischen Typus des Drifters,21 der ohne narrativ oder kognitiv hergestellte Einbindung in gesellschaftliche Zusammenhänge hin- und hergetrieben wird.

Neben dem Nachweis von Negativität und doppelter Buchführung aber will die Arbeit GoetheGoethe und die Weimarer Klassik als Wurzel einer Moderneströmung in Anschlag bringen, die sich über Flaubert und Kafka bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts hinein fortsetzt. Natürlich ist die Moderne dabei ein schwer zu fassendes Phänomen. In der Literatur- und Geschichtswissenschaft ebenso wie in der Philosophie hat der Begriff ein »Feld terminologischer Schwankungen«22, »semantische[r] Spaltung[en]«23 und »Bedeutungsüberlappungen«24 gezeitigt, das nahezu unüberschaubar ist. Zur Wort-, Begriffs- oder Sachgeschichte sind gewichtige Studien vorgelegt worden,25 und den Gattungen Lyrik, Drama und Roman der Moderne hat man Untersuchungen gewidmet,26 die heute den Rang von Standardwerken besitzen. Gilt die Moderne als »letzte[r] Klammerbegriff für innovative Bestrebungen der europäischen Literatur«27 und existieren also entsprechende, in die Breite der Epoche gehende Studien,28 so zielen andere Arbeiten daneben auf zeitlich begrenztere Phänomene, etwa auf die Avantgarde29, oder auf einen der sich in schneller Folge ablösenden, zahlreichen Ismen der Nationalliteraturen. Dass neben aller inhaltlichen und methodischen Vielfalt der Arbeiten diverse Begriffe der ›Moderne‹ begegnen, trägt zur Komplexität des Phänomens bei. Von den »two modernities«30 hat man gesprochen und damit die Unterscheidung zwischen einer ästhetischen und einer sozialgeschichtlich-wissenschaftlichen Modernisierung gemeint. Eine ›andere Moderne‹31 ist eingefordert worden, die die skandinavische gegenüber der anglo-amerikanischen aufwertet. Man hat die ›doppelte Ästhetik‹32 der Moderne berufen, die neben dem Schönen auch seine Revision enthalte, sowie auf das »Teilungsschicksal«33 der Moderne aufmerksam gemacht, das zur Zersplitterung in heterogene und konträre Konzepte geführt habe. Plausibel sind sie in ihren Hauptrichtungen wiederum als Ästhetizismus, Avantgarde und klassische Moderne expliziert worden,34 wenn man nicht gar fünf Geschichtsmodelle isolierte, die sich des ›Moderne‹-Begriffs bedienten.35 Auch die sich aus dieser historischen Perspektive ergebende Frage nach dem Beginn der Moderne hat dementsprechend unterschiedliche Antworten gezeitigt. Als Epochenbezeichnung36 für die Neuzeit meinte die Neubildung modernus im 6. Jahrhundert ursprünglich den Kontrastbegriff zu den klassischen Autoren des Altertums, wie er in unterschiedlichen Differenzierungen im Mittelalter verwendet wurde.37 Das Adjektiv stellt damit nicht nur »eines der letzten Vermächtnisse spätlateinischer Sprache an die neuere Welt«38 dar, sondern ist darüber hinaus Ausdruck eines Epochenzwists, der »ein konstantes Phänomen der Literaturgeschichte und Literatursoziologie«39 ist. Folgenreich wurde er durch die 1687 einsetzende Querelle des Anciens et des Modernes aktualisiert, die ein neues Epochenbewusstsein allgemein vor Augen stellte. Der Gedanke Charles PerraultsPerrault, Charles, aus der allgemeinen zivilisatorischen Perfektibilität seit der Antike müsse sich der Primat der zeitgenössisch-modernen gegenüber der ›alten‹ Literatur ableiten lassen, begründete im Kontext der deutschen Frühromantik eine geschichtsphilosophische Bestimmung speziell der ›neuen‹ deutschen Dichtung, aus der später die Verwerfung antiker Vorbilder und das Bewusstsein einer nationalen Sendung folgte. SchillerSchiller, Friedrich und Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich machten die ›sentimentalische‹ Reflexion bzw. die ›künstliche Bildung‹ zu unhintergehbaren Merkmalen der Epoche, die die spezifische Eigenart der ›Moderne‹ begründen sollten.40 Demgegenüber hat Roland BarthesBarthes, Roland den Beginn der Moderne auf die mit FlaubertFlaubert beginnende Sprachkrise und Arbeit an der Form in der französischen Literatur der 1850er Jahre datiert: »L’écriture classique a donc éclaté et la Littérature entière, de Flaubert à nos jours, est devenue une problématique de langage. […] FlaubertFlaubert […] a constitué définitivement la Littérature en objet, par l’avènement d’une valeur-travail: la forme est devenue le terme d’une ›fabrication‹«41. Kann die kritische Besinnung auf die Sprache, von RimbaudRimbaud, Arthur und MallarméMallarmé, Stéphane symbolistisch weitergeführt, die Wiener Sprachkrise eines Hofmannsthal und anderer vorwegnehmen, hat man den Beginn der literarischen Moderne ebenso mit Charles BaudelaireBaudelaire, Charles42, Heinrich HeineHeine, Heinrich43 und Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich44 in Verbindung gebracht. Auch die spezifisch jüdische Tradition der Moderne ist gesehen worden,45 wenn man nicht konkrete Daten für den Anbruch des neuen Zeitalters anführte. In seiner originellen Monographie hat Wolfgang MatzMatz, Wolfgang das Jahr 1857 als »Jahr der Moderne«46 bezeichnet, in dem die Publikation von FlaubertsFlaubertMadame BovaryFlaubertMadame Bovary, BaudelairesBaudelaire, CharlesFleurs du Mal und StiftersStifter, AdalbertNachsommerStifter, AdalbertNachsommer koinzidierten. Demgegenüber wirkt relativ spät, dass die ›Freie literarische Vereinigung‹ Durch! erst 188647 und der Literaturhistoriker Eugen WolffWolff, Eugen erst 188848 den Beginn der Moderne in Deutschland proklamierte.

Angesichts der – hier nur skizzierten – diskursiven Komplexität ist es angebracht zu systematisieren. Im Großen und Ganzen hat sich die heutige Forschung auf einen doppelten Modernebegriff verständigt. Moderne als Makroepoche bezeichnet dann »die gesamte Neuzeit seit der Renaissance«49, wobei nochmals nach der »mit der Überwindung der Regelpoetiken […], insbes. mit der Frühromantik um 1795 beginnende[n] Periode«50 differenziert werden kann. Moderne als Mikroepoche hingegen bezieht sich auf die ästhetischen Innovationen des französischen »Symbolismus um 1850«51 sowie überhaupt auf die »künstlerischen und literarischen Strömungen des ausgehenden 19. und besonders des beginnenden 20. Jahrhunderts in Europa«52. In Deutschland prägen sie sich entweder als mimetisch-naturalistische »Opposition« zur epigonalen »Kultur der Gründerzeit«53 oder aber als »dezidiert antimimetische«54, in der Nachfolge des französischen Symbolismus stehende ästhetizistische Variante aus. Der affirmierende oder negierende Umgang mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen führt also zu den heterogenen Strömungen der deutschen Moderne, die in Gestalt der vielfältigen Ismen oder als Ästhetizismus, Avantgarde und klassische Moderne ihren je verschieden bewerteten Realitätsbegriff literarisch verfechten. Für den Ästhetizismus hat man in diesem Sinne die Rezeption des l’art pour l’art mit dem Dogma der Autonomie des Kunstwerks und dem Glauben an Ich und Subjektivität hervorgehoben.55 Demgegenüber mache die Avantgarde die gesellschaftliche Referenz der Kunst stark56 und verneine die Kunstautonomie ebenso wie das Mimesisprinzip. Auf dieses greife die klassische Moderne hingegen ebenso wieder zurück wie auf die Autonomieästhetik, bewege sich aber ansonsten in den Bahnen eines ästhetischen Traditionalismus, der sich etwa in narrativer Konventionalität und einer geschlossenen Form des Kunstwerks zeige.

Ungeachtet dieser hier nur skizzierten Ergebnisse der Moderneforschung will die vorliegende Arbeit aber dazu anregen, die These kritisch zu hinterfragen, derzufolge die deutsche literarische Moderne von Frankreich her vermittelt worden sei. Die Filiation GoetheGoethe – FlaubertFlaubert – KafkaKafka kann helfen, die literarhistorische Verortung der Mikroepoche der deutschen literarischen Moderne zumindest in Teilen neu zu perspektivieren. Denn durch die Scharnierfunktion Flauberts zeigt sich, dass über einen französischen Kulturtransfer ästhetische Grundsätze der Weimarer Klassik aufgenommen, produktiv modifiziert und in die moderne deutsche Literatur eingeführt werden, die in Deutschland seit der romantischen Kritik an Goethe entweder unbemerkt geblieben waren oder als überlebt gegolten hatten. Pointiert gesagt: Flaubert übersetzt Goethe in die Moderne, oder noch anders: Die Weimarer Klassik ist die Geburtshelferin der französischen und der deutschen modernen Prosa.

Das lässt sich auch ästhetisch begründen. Dafür gilt es insbesondere, die Negativität der doppelten Buchführung als durchgehendes Kennzeichen des neuen Stils zu begreifen. Indem sie bei Kafka dem behaupteten Mimesisprinzip der klassischen Moderne esoterisch widerspricht, müsste die moderne Bilderskepsis in ihrer historischen Genese ebenso neu bedacht werden wie die ›Nachahmung der Natur‹ als nur einseitiger Marker von Modernität durchsichtig zu machen wäre. Vor allem aber verlangt eine solche ästhetische Perspektivierung eine Revision des überkommenen GoetheGoethe-Bildes. Gilt KafkaKafka als ein, wenn nicht der Inbegriff der Moderne und hat man FlaubertFlaubert den Titel des Vaters der modernen Dichtung (»père de la fiction moderne«) verliehen,57 wird Goethe zumeist mit der Vorstellung des geradezu antimodernen Olympiers und kalten Verächters alles (Früh-)Romantischen assoziiert.58 Unbestritten ist, dass sich der klassische Goethe etwa transzendentaler Spekulation und sentimentaler Weltflucht ebenso wenig anschloss wie er andererseits jene Objektivität schätzte, als deren Paradigma er die griechisch-antike Kunst ausgemacht hatte.59 Aber möglicherweise hat der Mythos des ›Klassikers‹ den Blick dafür getrübt, dass Goethe in Kunstdingen keineswegs jener rückwärtsgewandte Konservative war, für den er heute zumeist gehalten wird.60 In die Weimarer Klassik fällt nicht zuletzt SchillersSchiller, Friedrich Bestimmung des Modernen als des Sentimentalischen, und Briefe und Werke lassen ermessen, dass Goethe mit dem Dichterfreund in eine Diskussion über die sozio-ökonomische Epoche und die Zukunft des Ästhetischen eingetreten war. Vor allem die LehrjahreGoetheWilhelm Meisters Lehrjahre entwerfen in diesem Sinne das Bild einer Übergangsgesellschaft vom Feudalismus zur kapitalistischen Ökonomie, in der auch jene antike Schönheit zugrundegeht, die Goethe noch kurz zuvor in den Römischen ElegienGoetheRömische Elegien zu retten versucht hatte. Der Roman nimmt also HegelsHegel, Gottfried Wilhelm Friedrich und HeinesHeine, Heinrich Thesen vom ›Ende der Kunst‹ ebenso vorweg, wie er jenem Ende als esoterisch-nüchternes Kunstwerk Rechnung trägt.

Der ›Stil‹, den er dazu entwickelt, soll dabei als esoterische Lesbarmachung von Welt, und nicht in erster Linie als persönliche, originelle und individuelle Machart eines Textes (›Individualstil‹) verstanden sein. Denn begriffsgeschichtlich lässt sich zeigen, dass diese Bedeutung im 18. Jahrhundert in zunehmend pejorativem Sinn auf die maniera übergeht,61 und dass demgegenüber seit GoethesGoethe kurzem, vorklassischem Aufsatz Einfache Nachahmung der Natur, Manier, StylGoetheEinfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl mit dem Begriff ›Stil‹ der »höchste Grad« der Kunst bezeichnet wurde: In einer Volte gegen die Subjektivismen eines kruden Naturalismus zielte Goethe auf einen ›Stil‹ der Synthese von Subjekt und Objekt, der genug Originalität enthalten sollte, um nicht nur Nachahmung der Natur zu sein, der aber zugleich auf die Darstellung eines Idealen und Über-individuellen gemünzt war. Die »Hydra der Empirie« (Goethe) sollte durch Abstrahierung in Richtung auf ein Allgemeines besiegt werden.62 Dieser Stil besitzt damit immer schon zwei Seiten. Hinter der Exoterik scheint eine objektive Esoterik auf, die Faktisches allgemein-typologisch zu denken gibt und so etwa Wilhelm Meister als Typus des Schwärmers, Mignon als Verkörperung des Sentimentalischen oder Lothario als Vertreter des politischen Visonärs klassifiziert. Darauf hinzuweisen ist insofern nicht überflüssig, als FlaubertFlaubert Goethes ›Stil‹ zum vielberufenen Begriff des absoluten style weiterführte. Lange Zeit nur im Sinne einer inventarisierbaren Erzählmethode, also als Manier, begriffen – wovon etwa die zahllosen, immer gleichen Hinweise auf Flauberts Nullfokalisierung, seine blancs oder seinen Gebrach des passé simple zeugen –, dissoziiert der style doch die Goethesche Synthese von Subjekt und Objekt zu einem Verfahren ›reiner‹ Schau: Indem er die Darstellung gleichermaßen von der Subjektivität des Autors und von den repräsentierten Gegenständen ablöst, betreibt er jene Entreferentialisierung, die ästhetisch vermittelte Welterfassung erst verbürgen soll, und will mit seinen beiden Ebenen von Exoterik und Esoterik bereits die »manière absolue de voir les choses« (FlaubertFlaubert) sein.63 Ganz ähnlich wird auch KafkaKafka die Negativität seiner Literatur als Versuch begreifen, die Wahrheit jenes weder begrifflich noch bildlich darstellbaren Absoluten aufscheinen zu lassen, das transzendentale Kritik als reinen Geist oder jüdische Tradition als den Allerhöchsten verehrte: »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt, das Positive ist uns schon gegeben.«

Natürlich lassen sich bei der Umsetzung des Stils jeweils technische Verfahren isolieren. So kehrt etwa GoethesGoethe Absage an eine zweckgebundene Kunst in FlaubertsFlaubert spezifischer Anverwandlung des l’art pour l’art und in KafkasKafka ›autonomen‹ Kunstwerken wieder. Goethes quasi-naturwissenschaftliche Objektivität und seine Hinwendung zur niederen sozialen Wirklichkeit stehen bei Flauberts Zentralbegriffen impassibilité, impersonnalité und impartialité und – über den Franzosen – bei Kafkas sachlich-neutraler Pragmatik Pate und helfen, eine Poetik des sozial sowie ästhetisch Abseitigen mitzubefördern. Noch die Infragestellung von Handlung, Charakteren und Erzählen, die man als Charakteristika des modernen Romans ausgemacht hat,64 erweist sich in dieser Perspektive als alles andere als neu. Schon die letzten beiden Bücher der LehrjahreGoetheWilhelm Meisters Lehrjahre brechen mit der Kausalität des plot ebenso wie mit der Informationspflicht eines Erzählers und der ausgeführten Psychologie der Handelnden und finden in Flauberts Technik der akausalen Situationsfolge ebenso ihren Reflex wie noch in Kafkas augenscheinlicher Verrätselung des Geschehens. Vor allem aber Goethes Kritik der Literatursprache erweist sich für FlaubertFlaubert und KafkaKafka als bedeutsam. Aus der Weimarer Skepsis gegen das literarisch-bildhaft Dargestellte leiten zuerst Flaubert, dann über ihn auch Kafka ihre negative Kunst ab. Dabei werden die zwei Textebenen freilich umgewertet. Denn anders als GoetheGoethe, der die Exoterik als Konstrukt der Einbildungskraft markiert und esoterisch ›zu den Sachen‹ drängt, fungiert Exoterik bei Flaubert und Kafka als zunächst durchaus realistische Repräsentation von Welt, die esoterisch und in einem zweiten Schritt in eine Bildlichkeit ohne Bilder oder eine Sprache ohne Sprache aufgelöst werden soll. Mit anderen Worten: Sowohl GoetheGoethe als auch FlaubertFlaubert und KafkaKafka streichen die Textexoterik durch, wobei Goethe aber das Ziel verfolgt, das dahinter real Anliegende vor Augen zu stellen, während Flaubert und Kafka das Reale im ästhetischen Nihilismus des vielzitierten livre sur rien oder des Traums von einer reinen Schrift gerade aufzuheben suchen. Dass Literatur mit solcher Entsemantisierung oder besser: mit dem Projekt der Vernichtung aller Signifikanz an ihr Ende gekommen sei, ist dabei ebenso wenig zutreffend wie die lange Zeit stark gemachte These, sie sei durch die (Auto-)Destruktion ihrer selbst sowie durch die Integration des Hässlichen nicht länger schön zu nennen.65 Zwar glaubt negative Literatur den Bildern nicht länger, mit denen sie doch – notgedrungen – arbeitet, zwar halten Sonderlinge und allerlei Abjektes Einzug, zwar lässt sich auch jener »Verfall […] der Relevanz der Kunst«66 beobachten, den HegelsHegel, Gottfried Wilhelm FriedrichÄsthetikHegel, Gottfried Wilhelm FriedrichÄsthetik ebenso wie bereits die ästhetische Indifferenz der Turmgesellschaft in den Lehrjahren und die Spätstufe des ubiquitären Kitsches in der Education sentimentaleFlaubertEducation sentimentale beschreiben.67 Zu den folgerichtigen Paradoxien negativer Kunst gehört aber, dass die Klage über den Tod des Schönen selbst wieder ästhetisch formuliert, dass also das Ende der Kunst wieder zum Gegenstand eines Kunstwerks wird. Noch der »allerelendste Stoff« (GoetheGoethe), »le médiocre« (FlaubertFlaubert) oder KafkasKafka heruntergekommene Kleinbürger und zerlumpte Landstreicher lassen sich dazu verwenden. Das »Hinausgehen der Kunst über sich selbst«68 hat damit nur eine »Entschränkung des Kunstfähigen«69 befördert, nicht das Ende der Kunst, sondern das Ende einer bestimmten, normativen – bei HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich: klassischen – Idee von Kunst und Schönheit, von der sich zeit- oder epochenspezifische Historisierungen absetzen.70 Die Kunst besitzt im klassisch-kanonischen Sinne nicht länger schöne Inhalte, aber sie ästhetisiert weiterhin ihre Gegenstände, obgleich sie an den schönen Schein nicht mehr glaubt.

Im Folgenden wird die vorliegende Studie diesen, hier nur skizzenhaft ausgeführten, Überlegungen in ausführlichen close readings der drei Romane nachgehen. Dabei wird sie die in chronologischer Reihenfolge behandelten Texte in erster Linie auf die Techniken der Exoterik und Esoterik und auf den ontologischen Status der Bildlichkeit hin untersuchen. Daraus ergeben sich nicht nur weitere historische, stilistische und motivische Perspektivierungen für die Genese einer Strömung der klassischen Moderne, sondern im Falle GoethesGoethe auch die Begründung einer mit allen Mythologica brechenden Romandeutung, im Falle FlaubertsFlaubert eine Explikation des style und im Falle KafkasKafka eine neue jüdische Lesart des Verschollenen. Dass die Arbeit dabei – wenn auch mit guten Gründen – vielen gewichtigen Ergebnissen der Forschung widerspricht, ist ihr bewusst. Sie tut es aus der Absicht heraus, die Romane ebenso wie die Geschichte ihrer Auslegung auf die Wirkung dessen zurückzuführen, was ihr titelgebend war: den schönen Schein der Literatur.

2.»Hokuspokus« und »Mystifikationen«. Zur Kritik der ästhetischen Bilder in Goethes Lehrjahren

Avanturiers, Comoedianten, Maitressen, Krämer und ­Philister sind die Bestandtheile des Romans. Wer ihn recht zu Herzen nimmt, ließt keinen Roman mehr.

(Novalis)

 

Es ist aber ein Märchen, eine poetische ­Fiktion.

(Aurelie in den Lehrjahren)

2.1Forschungslage

Goethes Lehrjahre gehören bis heute zu den am häufigsten behandelten Texten der Weimarer Klassik und überhaupt der deutschen Literatur. Wer sich mit ihnen beschäftigen will, sieht sich einer nahezu unüberschaubaren Masse an Sekundärliteratur gegenüber, die heterogenste und widersprüchlichste Lesarten bereithält und besonders in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten den Zugang zum ohnehin schwierigen Text durch modische und modischste Methoden verkompliziert hat. So will scheinen, dass in der Forschung kaum eine Methode, geschweige denn eine These, unbestritten geblieben wäre. Sicher begreift die communis opinio den Roman schon seit mehr als zwei Jahrhunderten als Paradigma des Bildungsromans. Doch daneben hat die Forschung seit geraumer Zeit immer wieder Zweifel am Progress zu schöner Bildung geäußert, und in diesem Zusammenhang wurde ihr auch ein überkommenes Goethe-Bild fragwürdig, das den Dichter als universalsymbolischen Harmonisierer von Lebenswirklichkeiten vorstellte. So hat den Autor und seinen Roman ein Deutungsstreit erfasst, der sich an der Frage der Gesamtauslegung ebenso ausweisen ließe wie etwa an Personen wie Mignon, Natalie, Lothario oder Wilhelm. Was aber einerseits für Produktivität und stetigen Fortschritt der Germanistik als Wissenschaft zu sprechen scheint, ist andererseits dann ein Problem, wenn in der Summe eine Aussage die andere aufhebt, und man muss nicht von der sprichwörtlichen »Wut des Verstehens«1 ergriffen sein, um derlei drohende Suspendierung von Sinn unbefriedigend zu finden.

Neue Interpretationen können vor diesem Hintergrund kaum den Dissens fortsetzen oder die strittigen Fragen durch die schiere Mehrheit des Geschriebenen entscheiden wollen. Die Probleme der Forschung sind aber nur dann zu lösen, wenn sie zunächst in ihren Prämissen verstanden und in ihrer historischen Genese angeschaut sind. Dazu ist ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Romans notwendig. Goethe selbst sah deren verschlungene Wege voraus. Gegenüber Kanzler von MüllerMüller, Kanzler Friedrich von befand er noch 1821, dass »[d]ie guten Deutschen […] immer gehörige Zeit [bräuchten], bis sie ein vom Gewöhnlichen abweichendes Werk verdaut, sich zurecht geschoben, genüglich reflektiert hätten.«2 Er sollte Recht behalten. Forschung und Kritik seit 1800 zeigen eine solche Diversität der Argumente und Themen, dass es die Aufgabe eines Forschungsberichts nicht sein kann, sie lückenlos zu erfassen. Es ist aber in systematischer Perspektive nicht ohne Belang, dass sich aus der Polyphonie der Meinungen schon von Anfang an ein fundamentales Problem der Deutung isolieren lässt, das man als die Frage nach der Pragmatik des Romans bezeichnen könnte. Damit ist nicht in erster Linie die generelle Schwierigkeit aufgeworfen, wie ein objektiver, sich also jeden Urteils zumindest auf den ersten Blick enthaltender Roman auf eine Formel gebracht werden könne oder ob er gar die Meinung des Autors erkennen lasse. Es geht vor allem um den Status der Bilder, derer der Text sich zur Schilderung von Welt bedient. Dass mimetische Literatur wie Malerei sein, Techniken der descriptio und ekphrasis anwenden und auf diese Weise den spezifisch ästhetisch-schönen Schein generieren solle, ist dabei ebenso vorausgesetzt, wie es die Lehrjahre – etwa mit dem immer wiederkehrenden Gemälde des kranken Königssohns – sinnfällig vor Augen führen. Schon die Zeitgenossen glaubten aber im Roman eine Diskrepanz zwischen Form und Stoff, schönem Schein und nüchternem Inhalt oder Poesie und Prosa zu bemerken, die der Erwartung widersprach, es müsse sich das Bild mit seinem Gegenstand decken. Avancierte der Roman einerseits auch dank dieser Beobachtung zur hochgelobten Summe seiner Epoche – bekannt ist Friedrich SchlegelsSchlegel, Friedrich später freilich relativierte These, die »Französische Revoluzion, Fichte’s Wissenschaftslehre, und Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters«3 –, so wurde andererseits die Deutung beträchtlich verunsichert. Denn unklar wurde, ob die Bilder oder der Stoff das letzte Wort haben sollten, ob den Bildern also zu trauen war oder ob sie das eigentlich geschilderte Reale nur schön – und trügerisch – verklärten. Die Objektivität des Romans bot beide Varianten der Deutung ebenso an, wie sie keine zu privilegieren schien, und so las eine bildergläubige, zumeist bürgerliche Forschungsrichtung die Lehrjahre bald als poetischen Bildungsroman, während eine andere, zumeist antibürgerliche, im Text eher die Heraufkunft nüchterner Ökonomie und das Ende des Schönen zu erblicken glaubte. Es ist daher nicht übertrieben zu sagen, dass die Auslegung der Lehrjahre wie bei kaum einem anderen Roman von der plausiblen Auflösung dieses fundamentalen Deutungsgegensatzes abhängt. Erst so ließe sich eine Erhellung der Textpragmatik ebenso gewinnen wie eine entsprechende Verortung der aus ihr resultierenden Interpretationsaspekte.

Freilich ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, dass die Forschung – wie es scheint – eine zufriedenstellende Lösung des Problems bis heute nicht vorgelegt hat. Weiß man auch, dass in Goethes Texten eine »Exoterik« der Bilder vorherrscht, die das nach Maßgabe der »Esoterik«4 Gemeinte nicht leicht erkennen lässt, so blieb doch offen, ob die Lehrjahre eine »Wiederkehr des Mythos«5 betreiben oder ob sie die Relevanz von Mythologica ›esoterisch‹ bestreiten. Damit ist aber im Grunde nur ein ungelöster Dissens aktu alisiert, der schon Goethes Zeitgenossen umtrieb.6 Schon SchillerSchiller, Friedrich, bekanntlich der erste Leser der Lehrjahre, fasste den Text als einen in formaler Hinsicht zweifelhaften Bildungsroman auf. Zwar werde Wilhelm »von einem leeren und unbestimmten Ideal in ein bestimmtes tätiges Leben«7 geführt, aber diesem exoterischen Eindruck der Bilder widerspreche die »schlechterdings nicht poetisch[e]« Form des Romans, die »es dem Verstande immer recht machen« wolle. So entstehe ein »sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung«, bei dem unentschieden bleibe, ob dem »poetischen Geiste« oder der »Nüchternheit« das letzte Wort gehöre.8 In ähnlicher Weise bemerkte auch Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich den Hiat zwischen nüchternem Stoff und schöner Form. Seine bekannte Romanrezension Über Goethes MeisterSchlegel, FriedrichÜber Goethes Meister (1798) erhebt den Text aber zu einem Beispiel progressiver Universalpoesie, die den nüchternen, unbedeutenden Inhalt durch »Dichtergeist« so darstelle, dass »diese wunderbare Prosa […] Prosa und doch Poesie«9 sei und als schöne Synthese und »Harmonie von Dissonanzen«10 verstanden werden müsse. Dem Primat des Poetischen widersprach freilich NovalisNovalis, der wie SchlegelSchlegel, Friedrich und SchillerSchiller, Friedrich im Roman die Dissonanz zwischen der »Anmuth des Sprechens«11 und den dargestellten, bloß »gewöhnlichen menschlichen Dingen«12 festgestellt hatte. Nachdem er die Lehrjahre zunächst als »romantisch[e]«13 Poetisierung des Faktischen gerühmt und Goethe als »Statthalter des poetischen Geistes auf Erden«14 gefeiert hatte, stellte sich bald Ernüchterung ein. Die Schriften ab 1799 revidieren die frühere Begeisterung und geben der Überzeugung Ausdruck, dass Goethes Roman die Poesie nicht feiere, sondern sie im Gegenteil aufhebe. Die Lehrjahre seien »durchaus prosaisch – und modern«, in ihnen gehe »[d]as Romantische […] zu Grunde«, und übrig bleibe am Ende nur die »Oeconomie«15. Die Entdeckung des NovalisNovalis war, dass der Roman, »so poetisch auch die Darstellung« erscheine, »eigentlich ein Candide [sei], gegen die Poesie gerichtet«16. Der Roman müsse also bilderkritisch – d.h. gegen den exoterischen schönen Schein – gelesen werden, damit die Sicht auf das esoterisch Gemeinte freigegeben werde, und das falle eben den Lesern, die wie Novalis selbst zunächst von der »Magie des Vortrags« und der »Schmeicheley einer glatten, gefälligen […] Sprache«17 geblendet würden, nicht leicht. Damit war SchillersSchiller, Friedrich Schwanken zwischen Poesie und Prosa je zugunsten einer Seite entschieden und auf eine wirkungsmächtige Formel gebracht. Mit Schlegel konnte man hinfort den Akzent auf die Kraft der poetischen Bilder setzen, mit Novalis hingegen auf die Nüchternheit der ›unpoetischen‹ Ökonomie. Der folgende Blick auf Stationen der Rezeptionsgeschichte zeigt, dass die Mehrheit der Leser freilich an Bildern und ästhetischem Schein festzuhalten geneigt war.

2.1.1Exoterik

Dass die Lehrjahre als Bildungsroman gelesen werden konnten, war zunächst durch SchillersSchiller, Friedrich Wort von Wilhelm Meisters Eintritt in ein »bestimmtes tätiges Leben« vorbereitet worden. Christian Gottfried KörnersKörner, Christian Gottfried Aufsatz »Über Wilhelm Meisters Lehrjahre«, 1796 in den HorenSchiller, FriedrichDie Horen veröffentlicht, bestimmte im Sinne von SchillersSchiller, Friedrich anthropologischem Ideal der ›schönen Seele‹ als Thema des Romans die »Darstellung einer schönen menschlichen Natur, die sich durch die Zusammenwirkung ihrer innern Anlagen und äußern Verhältnisse allmählich ausbildet« und zum Ziel ein »vollendetes Gleichgewicht – Harmonie mit Freiheit«1 habe. Damit war die Richtung der Romanrezeption folgenreich bestimmt. Die Idee fortschreitender persönlicher Vervollkommnung griff 1819 der Dorpater Universitätsprofessor Karl MorgensternMorgenstern, Karl auf und erhob Goethes Roman zum Paradigma dessen, was er als ›Bildungsroman‹ explizierte:

Bildungsroman wird er heißen dürfen, erstens und vorzüglich wegen seines Stoffs, weil er des Helden Bildung in ihrem Anfang und Fortgang bis zu einer gewissen Stufe der Vollendung darstellt; zweitens aber auch, weil er gerade durch diese Darstellung des Lesers Bildung, in weiterem Umfange als jede andere Art des Romans, fördert.2

Dürfte Morgernsterns Bemühung um Typisierung und begriffliche Erfassung zunächst wenig bis kaum rezipiert worden sein, fand hingegen die Definition der »modernen bürgerlichen Epopöe«3 ungleich größere Beachtung, die HegelsHegel, Gottfried Wilhelm Friedrich zwischen 1820 und 1829 gehaltene Vorlesungen über die ÄsthetikHegel, Gottfried Wilhelm FriedrichÄsthetik anboten. Indem sie zugleich den Begriff der Bildung im Begriff einer Dialektik von Subjekt und Welt konkretisierten, hielten sie fest, im modernen Roman gehe es um den

Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse […]: ein Zwiespalt, der sich entweder tragisch oder komisch löst oder seine Erledigung darin findet, daß einerseits die der gewöhnlichen Weltordnung zunächst widerstrebenden Charaktere das Echte und Substantielle in ihr anerkennen lernen, mit ihren Verhältnissen sich aussöhnen und wirksam in dieselben eintreten, andererseits aber von dem, was sie wirken und vollbringen, die prosaische Gestalt abstreifen und dadurch eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen.4

Die Tendenz zur Poetisierung des Faktischen ließ sich im Folgenden ebenso als Votum für die Exoterik der schönen Bilder verstehen, wie der von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich geschilderte Prozess der tätigen Integration in die Welt zum wesentlichen Merkmal des Bildungsromans avancierte. Wilhelm DiltheyDilthey, Wilhelm unterstrich für die Gattung die Bedeutung der Reifung zur Produktivität und zeichnete in seinem Buch Das Erlebnis und die DichtungDilthey, WilhelmDas Erlebnis und die Dichtung (1905) Goethes Roman als paradigmatischen Vertreter ebenso aus wie als Begründer der Gattung in Deutschland, der mit HölderlinsHölderlin, FriedrichHyperionHölderlin, FriedrichHyperion, TiecksTieck, LudwigSternbaldTieck, LudwigFranz Sternbalds Wanderungen, NovalisNovalis’ OfterdingenNovalisHeinrich von Ofterdingen oder Jean PaulsJean PaulTitanJean PaulTitan eine bedeutende Reihe von literarischen Nachfolgern gezeitigt habe:

Von dem Wilhelm Meister […] ab stellen sie alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird. Die Aufgabe Goethes war die Geschichte eines sich zur Tätigkeit bildenden Menschen […].5

Mit diesem Bildungsziel war die Kanonisierung der Lehrjahre als Bildungsroman auf den Weg gebracht. Georg LukácsLukács, Georg’ Studie Theorie des RomansLukács, GeorgTheorie des Romans (1920) griff sie mit der Formel von der »Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit«6 ebenso auf, wie sie in den Arbeiten von Melitta GerhardGerhard, Melitta7, Fritz MartiniMartini, Fritz8 und Rolf SelbmannSelbmann, Rolf9 noch bis in die heutige Zeit Bestand hat.10 Im Grunde wurde auf diese Weise aber nur jene Integration des Romans »in das bürgerliche Zeitalter«11 fortgesetzt, die schon das 19. Jahrhundert betrieben hatte. Adolf SchöllsSchöll, Adolf Aufsatz »Goethe als Staats- und Geschäftsmann« (1862/63) etwa lobt das Ethos praktischer Entsagung, das aus den Lehrjahren spreche. Denn Goethes eigene »Lossagung von politischen Einbildungs-Idealen«12 korrespondiere Wilhelms Hinwendung zu »natureinstimmig praktische[r] Tüchtigkeit«13 im »sozialen System der Mitwelt«14, und mit diesen ökonomischen Realtugenden konnte sich das nachrevolutionäre Bürgertum ebenso identifizieren, wie Wilhelms allmählicher Bildungsgang zu »Klarheit und Tat«15 in Albert BielschowskysBielschowsky, AlbertGoethe-Monographie noch 1896 dem gründerzeitlichen Kaiserreich als Projektionsfläche des »Entwicklungsganges des deutschen Volkes selbst«16 diente. Die Nachkriegsgermanistik betrachtete die Lehrjahre insgesamt als überzeitliches Kunstwerk und vermied politische Aktualisierung, griff die Würdigung bürgerlicher Entsagung aber dennoch auf. Erich TrunzTrunz, Erich, der Herausgeber der ›Hamburger Ausgabe‹, urteilte im Nachwort zu den 1950 darin erschienenen Lehrjahren, dem Roman gehe es darum, den »bürgerlichen Alltag von höchsten Ansprüchen her«17 zu erfassen. Darunter sei der Prozess zu »innere[r] Reife«18 zu verstehen, die Wilhelm durch »pflichtmäßige […]«19 und »gemeinsame […] Tätigkeit«20 das »Positive einer Begrenzung«21 einsehen lasse. Auch Emil StaigersStaiger, Emil großangelegte Goethe-Monographie der Jahre 1952/56 liest die Lehrjahre – freilich unter Ausblendung alles sozialen Gehalts – als Weg zur »Vollendung des Menschlichen«22 oder der »Entelechie, die Wilhelm Meister heißt«23. Wilhelms Entwicklung bestehe in der Absage an die »Ausschreitungen der Phantasie«24, zugleich aber in der Anerkennung gewisser Gebote der vom Turm vertretenen Vernunft. So stelle Goethe ein zwar »bewußt begrenztes«25, aber eben darum idealmögliches Leben im »Gleichgewicht«26 zwischen Natur und Vernunft dar. Die Lehrjahre-Interpretation von Hans-Egon HassHass, Hans-Egon (1963) macht für den Roman eine »ironische Komposition«27 geltend, die Wilhelms verwickelten Entwicklungsgang »mit zart relativierendem Spott«28 begleite. Sie zeige sich auch darin, dass das am Ende realisierte Bildungsziel, »in einer Gemeinschaft Auserwählter vorbildhaft und zum Wohl der größeren Menschengemeinschaft tätig zu sein«29, gerade nicht durch vernünftige Planung, sondern durch glückhaftes Schicksal erreicht worden sei. Dieter BorchmeyersBorchmeyer, Dieter kultursoziologische Monographie Höfische Gesellschaft und Französische Revolution bei Goethe (1977) argumentiert, dass Wilhelms Bildungsideee einem obsoleten aristokratischen Ideal folgt, das im Sinne einer bürgerlichen Entsagungslehre zu überwinden sei.30 Auch Per ØhrgaardsØhrgaard, Per Studie Die Genesung des Narcissus (1978) sieht Wilhelm glücklich am Ziel der »Sozialität«31 ankommen und versteht Bildung als »Weg zu einem wertvollen Zusammenleben mit anderen«, auf dem der Protagonist vom »Nur-Privaten befreit«32 werde. Hannelore SchlafferSchlaffer, Heinz hingegen legt in ihrem vieldiskutierten Wilhelm Meister-Buch (1980) den Akzent auf das ästhetische Bildmaterial der Romane. Zwar komme es in der »rationalen Welt der Turmgesellschaft […] auf Verstand, auf Organisation und ökonomische Effektivität«33 an. Dennoch unterliefen die Lehrjahre solche Dominanz des Prosaischen durch die »Technik der Diaphanie«34, also durch das »Durchscheinen mythologischer Hintergründe durch den oberflächlichen Sachverhalt einer fiktionalen Realität«35. Durch diese ›Wiederkehr des Mythos‹ führe der Roman vor Augen, dass in den »versteckten mythischen Bildern […] endlich doch die Poesie über die Prosa«36 siege. Jochen HörischsHörisch, Jochen an Lacan und Derrida geschulte Romandeutung »Glück und Lücke in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹« (1983) geht dem Begriff des Glücks nach, das Wilhelm am Ende des Romans erlange und das bereits die Forschung der 1960er Jahre beleuchtet hatte. HörischHörisch, Jochen urteilt, dass Wilhelm auf dem Weg einer »Logik der Liebe«37 einer todverfallenen »Sphäre opak intensiver Glückserfahrung« entrate und in den Turmbereich eintrete, in dem »Glück zum ›methodischen‹ Resultat sinnvoller Organisationsformen« zwar »entwertet«38, aber gerade deshalb als »erfüllte […] Lücke«39 zum Preis oktroyierter Entsagung real möglich sei. Helmut KoopmannsKoopmann, HelmutLehrjahre-Deutung aus dem Jahr 1985 sieht Wilhelms Bildungsweg zwar als nichtlinearen Vorgang, bewertet ihn aber dennoch als »Heilungsprozeß«40. Er zeige Wilhelms Herauslösung aus den Gefahren einer »solipsistische[n] Daseinsform« und erweise, dass es nicht darum gehe, »den Menschen in der Totalität seiner Möglichkeiten auszubilden, sondern vielmehr darum, ihm eine soziale Bildung zu vermitteln.«41 Aus diesem Grund sei der Roman als »Bildungsgeschichte des Bürgertums schlechthin«42 ebenso zu lesen wie als Goethes »Abrechnung mit falsch verstandenen Sozialbeziehungen«43. Besonders aber hat ab den 1980er Jahren Hans-Jürgen SchingsSchings, Hans-Jürgen eine Reihe von Aufsätzen vorgelegt, die der Lehrjahre-Forschung mit der Substituierung des Bildungsbegriffs durch den Begriff der Heilung neue Impulse gegeben haben. SchingsSchings, Hans-Jürgen’ Artikel »Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman« (1984) konstruiert moderne Subjektivität als allmählichen Prozess der Gesundung von »falsche[r] Tendenz, pathetische[r] Sentimentalität, endlose[m] Schmachten«44 und macht die Lehrjahre zum »klassischen Zeugnis wider die Hypochondrie in allen ihren Spielarten.«45 In einem ganz ähnlichen Sinne, als glückliche Heilungsgeschichte eines Melancholikers, nimmt SchingsSchings, Hans-Jürgen in seinem Aufsatz »Wilhelm Meisters schöne Amazone« (1985) vor allem die Kunstreminiszenzen des Romans in den Blick. So spiegele sich in der ästhetischen Überlieferung – TassoTasso, Torquato, kranker Königssohn, HamletShakespeare, WilliamHamlet – die hypochondrische Gefährdung des Protagonisten wider, deren »Täuschungen der Einbildungskraft«46 Wilhelm erst bei seiner Integration in die Turmgesellschaft überwinde. Wilhelms Wendung zum Gesunden geht SchingsSchings, Hans-Jürgen’ Aufsatz »Natalie und die Lehre des †††« nach, der die Turmmaxime tätig-erfüllter Lebensführung auf SpinozasSpinoza, Baruch de Lebenskunst der EthikSpinoza, Baruch deEthik zurückführt,47 und für solchen Erziehungsprozess zum neuen Menschen sieht SchingsSchings, Hans-Jürgen in den Lehrjahren schließlich Anleihen beim Geheimorden der Illuminaten.48 Den umfassendsten Versuch einer bilderästhetischen Lektüre hat Hellmut AmmerlahnAmmerlahn, Helmut seit den 1970er Jahren in leichter Variation bis in die heutige Zeit vorgelegt. In Studien wie »Goethe und Wilhelm Meister« (1978)49 oder Imagination und Wahrheit (2003)50 werden die Lehrjahre als Künstlerroman gelesen, der Wilhelms Ausbildung zum Dichter zeige und ihn zum Erwerb von Sinnlichkeit und Vernunft, der Goetheschen »Ganzheit«51, heranreifen lasse. Seinen Ausdruck finde das gelungene Künstlertum im allegorischen Gemälde vom kranken Königssohn, auf dem Seleukos (ShakespeareShakespeare, William) seine Braut Stratonike (Natalie und die vollendete Natur) an Antiochus (den Dichter Wilhelm/William) übergebe.52 Gegenüber solch kaum mehr am Text nachweisbarer Auslegung hat Franziska SchößlersSchößler, Franziska Monographie Goethes Lehr- und WanderjahreGoetheWilhelm Meisters Wanderjahre (2002) eine stärker kultur- und vor allem medizingeschichtliche Deutung vorgeschlagen. Die Lehrjahre zeigten insbesondere ökonomische »Transformationsprozesse«53, denen sich Privates und Ästhetisches unterzuordnen hätten und die das aufklärerische Bildungskonzept verabschiedeten: Ihre Forderung nach »Entsagung«54 und einer »medizinisch-diätetische[n] Vorsorge«55 gegen abgründige Emotionalität nötige zur Aufhebung des alten Subjekts. Zwar werde Wilhelm am Ende in den Turm integriert, aber die Beziehung zur Sozietät bleibe spannungsreich und fragwürdig. Wie bei SchößlerSchößler, Franziska wird die Vorstellung von Wilhelms geglückter Sozialintegration auch in neueren Arbeiten zum subjekttheoretischen Hintergrund der Lehrjahre zwar nicht aufgegeben, aber zunehmend kritisch gelesen. Julia SchöllsSchöll, Julia Aufsatz »Bekenntnisse des Ich« (2008) stellt in Bezug auf die Bildungsgeschichte des Protagonisten fest, dass seine Eingliederung »in die Gesellschaft nicht als vollauf geglückt gelten«56 könne und seine Subjektivität in wechselvoller Ambivalenz zwischen »Innen und Außen«, den »Bedürfnissen des Subjekts und den Ansprüchen der Gesellschaft«57, befangen bleibe.

2.1.2Esoterik

Entgegen solchen Befunden, die eine vorschnelle Harmonisierung verweigern, aber das Rätsel Lehrjahre zuletzt nur desto plastischer hervortreten lassen, hat eine Lektüre, die in der Nachfolge des NovalisNovalis Bilderkritik und Ökonomie profilierte, den Begriff allseitiger Bildung oder das Glück der Integration zumeist eindeutig bestritten. Entsprechende Deutungen setzen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Sie blieben gegenüber den exoterischen Interpretationen zahlenmäßig unterlegen, standen zum Teil unter dem Eindruck von Goethes zuerst 1821, dann 1829 neu erschienenen WanderjahrenGoetheWilhelm Meisters Wanderjahre oder waren zunächst Ausdruck eines durch den zeitgenössischen Aufschwung von Hegelianismus und Frühsozialismus begeisterten Blicks für gesellschaftliche Zusammenhänge. Karl RosenkranzRosenkranz, Karl, Philosoph und Hegel-Schüler, subsumierte die Lehr- und WanderjahreGoetheWilhelm Meisters Wanderjahre in seinem Buch Goethe und seine Werke (1847) unter dem Begriff des ›Sozialromans‹, dessen Thema – der ökonomische Folgen zeitigende »Übergang der bürgerlichen Gesellschaft in die höhere Form des Vernunftstaates«1 – sich nur dann erschließe, wenn der Leser an den Texten nicht nur den »historischen Stoff«2 zur Kenntnis nehme oder die »Anmut der Sprache«3 schätze, sondern über beide hinaus zum »Begriff des Gehaltes«4 vordringe. Auch der Kulturhistoriker Ferdinand GregoroviusGregorovius, Ferdinand hielt die Meister-Romane in seinem Werk Goethes Wilhelm Meister in seinen sozialistischen Elementen entwickelt (1849) für »soziale […] Dichtung[en]«5. In ihnen verkläre Goethe »den harten Knechtsdienst des Menschen, das traurige Loos des Proletariats, und heb[e] es in die schönere Menschlichkeit poetisch empor«6. Auf diese Weise wirke er an der Aufhebung aller Standesunterschiede mit, die für den Arbeiter bereits die Lehrjahre durch die Idee einer emanzipatorischen Bildung auf den Weg gebracht hätten. Ähnlich marxistisch befindet Georg LukacsLukacs, Georg in seinem 1936 verfassten Essay Wilhelm Meisters LehrjahreLukács, GeorgWilhelm Meisters Lehrjahre, Goethe schildere mit der Turmgesellschaft eine Gruppe »hervorragender Menschen«7, die die »humanistischen Ideale«8 der Revolution gerade in der bürgerlichen Gesellschaft umzusetzen versuchten und auf diese Weise eine Synthese von Ökonomie und Kultur anstrebten. Nüchterner urteilte der Jurist und Politiker Gustav RadbruchRadbruch, Gustav in seinem zwischen 1916 und 1944 immer wieder überarbeiteten Aufsatz Wilhelm Meisters sozialistische Sendung (1944). Die Lehrjahre schilderten ein sozioökonomisches Reformprojekt, das mit dem Weltbundplan selbst aus »wirtschaftliche[n] Notwendigkeiten«9 hervorgehe. Es führe nicht zuletzt dazu, dass die Idee einer allseitigen Bildung des Individuums »dem heraufziehenden Zeitalter der Technik«10 und der Ökonomie geopfert werde, und dass sich der Einzelne nur noch als »dienendes Glied […] in dem Organismus eines sozialen Ganzen«11 begreife. Die wirkungsmächtige Studie des Nietzscheherausgebers und Philosophen Karl SchlechtaSchlechta, Karl, Goethes Wilhelm Meister (1953), zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass sie den Roman nicht als Plädoyer für ein bestimmtes Sozialmodell, sondern »nur als Dichtung«12 begreift und damit im »Bereich des Ästhetischen bleiben« möchte. Der die bisherige Forschung gegen den Strich lesende Befund, die Lehrjahre erzählten von der Errichtung einer arbeitsteiligen Gesellschaft, macht mit dem Hinweis auf soziale Kälte und hartherzige Erziehung auf den Preis aufmerksam, den die neue Zeit fordert. Daneben profiliert SchlechtaSchlechta, Karl den Text aber als Goethes Absage an den Bildungsroman. Damit wendet er sich ebenso gegen SchillersSchiller, Friedrich These, Wilhelm Meister trete in ein ›tätiges Leben‹ ein,13 wie gegen eine mehr oder minder sozialistisch inspirierte Forschung, die den anscheinend im Sozialgefüge des Turms aufgehenden Wilhelm durchaus als Paradigma einer Gesellschaftsutopie begriffen hatte. SchlechtaSchlechta, Karl insistiert demgegenüber darauf, dass Meister kein positives Bildungsziel erfülle, immer wieder in »Sackgassen« gerate und am Ende »nirgends angekommen«14 sei. Im Folgenden sind diese Thesen von einer Forschung vielfach aufgegriffen und variiert worden, die Ausdruck der Gesellschaftskritik der späten 1960er wie der 1970er Jahre war. Giuliano BaionisBaioni, Giuliano Studie Classicismo e Rivoluzione (1969) urteilt, dass Meister im »antihumanistische[n] Wesen einer von der freien Konkurrenz beherrschten Gesellschaft«15 nur deshalb seine »Harmonie der Persönlichkeit« bewahren könne, weil er »am Ende seiner Lehrjahre zu nichts fähig«16 sei. Eine erste explizit polit-ökonomische Deutung stellt im Folgenden Stefan BlessinsBlessin, Stefan Studie »Die radikal-liberale Konzeption von ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹« (1975) dar. Sie liest den Roman als Entwicklung zu einer »voll ausgebildeten liberal-bürgerlichen Gesellschaft«17 im Gefolge Adam SmithsSmith, Adam, bei der die »Marktgesellschaft […] in ihre uneingeschränkten Rechte eingesetzt«18 werde. Heinz SchlaffersSchlaffer, Heinz1978 erschienener Aufsatz »Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen«19 geht demgegenüber auf die Art und Weise der Darstellung ein. Gezeigt wird, dass die Lehrjahre »an den Figuren die falsche Interpretation ihrer eigenen Verhältnisse«20 vorführten. Durch seine Exoterik scheine der Text »die jeweils zeitgenössischen Ideen: Freiheit, Bildung, Sittlichkeit, Fortschritt«21 zu bestätigen. Doch dem aufmerksamen Interpreten enthülle er »esoterisch […], wie im Komplex der Zeit diesen zur Ideologie entstellten Ideen die Negation innewohnt: Illusion, Entleerung, Naturverfallenheit, Tod«22 sowie »instrumentelle[r] Utilitarismus«23. Als Skandalon der Goethe-Forschung und Zeichen ihrer »Fühllosigkeit und Blindheit«24 begreift SchlafferSchlaffer, Heinz daher, dass »im gewöhnlichen Verständnis der Turm als Ort der vollendeten Harmonie, als philosophisches Ideal, als Utopie der Humanität«25 fungiere. Wilhelm VoßkampVoßkamp, Wilhelm setzt die kritische Perspektive fort und liest in seinem Aufsatz »Utopie und Utopiekritik« (1982) die Turmgesellschaft der Lehrjahre als »Sozialutopie« des »modernen«, »zweckrationalen und politisch klugen Verhaltens«26. In einem spezifisch polit-ökonomischen Sinne sind die Lehrjahre danach ab der Jahrtausendwende wieder in den Blick gerückt worden. Hatte die Forschung schon seit den 1980er Jahren auf Goethes umfangreiche ökonomische Kenntnisse verwiesen,27 betrachtet Joseph VoglsVogl, Joseph Studie Kalkül und Leidenschaft (2002) die Lehrjahre als Dokument eines historischen Diskurszusammenhangs über die Herstellung des ökonomischen Menschen. Es zeige, wie gleichsam die ›unsichtbare Hand‹ (Adam SmithSmith, Adam) des Turms die Zusammenfassung individueller Einzelwillen zur Staatspersönlichkeit leiste und die Gesellschaft »auf providentielle Bahnen«28 lenke. Arne EppersEppers, Arne’ kulturwissenschaftlich orientiertes Buch Miteinander im Nebeneinander (2003) geht dem gesellschaftlichen »Modernisierungsprozeß« der Aufklärungszeit in seiner Dialektik von »Fortschritt und […] Verlust gemeinschaftlicher Lebens- und Kommunikationsformen«29 nach. Sei in den Lehrjahren das Interesse des Turms auf eine gesellschaftliche Neuordnung gerichtet, die ein »Gemeinschaftsbedürfnis nicht wirklich zu befriedigen«30 vermöge, so stehe Wilhelm Meister demgegenüber »auf der Seite der Gemeinschaft« und sei Parteigänger eines »modernen Kommunitarismus«31. André LottmannLottmann, André greift schließlich in seinem Buch Arbeitsverhältnisse (2011) den Ansatz Joseph Vogls auf und betrachtet die Wissensgeschichte der politischen Ökonomie, als deren bedeutenden literarischen Reflex er die Meister-Romane versteht. Die Turmgesellschaft wird dabei ausführlich gelesen als Sozietät mit dem Ziel, den »Erhalt von ›politischer‹ Souveränität durch den Gewinn von ›ökonomischer‹ Souveränität«32 zu ge- währleisten, wozu sie sich durch »Praktiken einer »(wissenstechnischen) Vermessung und (polizeilich-intervenierenden) Ordnung des Bevölkerungsraums« einer »polit-ökonomischen Spielart des Kameralismus«33 bediene.

 

Macht der Blick auf die Rezeptionsgeschichte auch die Genese der gegensätzlichen Forschungspositionen deutlich – denen noch mannigfaltige Differenzierungen und Abschattungen hinzuzufügen wären –, so zeigt er andererseits, dass für die Romandeutung noch nicht viel gewonnen ist. Natürlich hängt das Textverständnis entscheidend davon ab, ob es an exoterische oder esoterische Zusammenhänge geknüpft wird. Die Rezeptionsgeschichte aber demonstriert, dass in Forschungsbeiträgen allem Deutungsscharfsinn zum Trotz die Gründe für die Privilegierung einer Perspektive zumeist stillschweigend vorausgesetzt sind. Der infinite Regress der Argumente wäre also wohl nur durch eine Reflexion auf die Prämissen stillzustellen. Dazu gibt es in der Lehrjahre-Forschung, wie gesehen, gerade in neuerer Zeit einige Ansätze. Sie problematisieren in ihrer Mehrzahl eine exoterische Lesart, die in den Lehrjahren