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Zeugen Jehovas kennen die meisten von uns nur aus der Fußgängerzone oder als lästigen Besuch an der Tür – häufig etwas bieder, vor allem aber harmlos. Misha Anouk weiß, wie es auf der anderen Seite aussieht. Er wuchs in einer Zeugen-Jehovas-Familie auf und lief im Predigtdienst von Haustür zu Haustür – stets hoffend, keine Mitschüler zu treffen. Mit erfrischendem Humor erzählt er von einer Kindheit ohne Weihnachten, aber mit Geistern, von ersten Zweifeln und Weltuntergängen, die auf sich warten lassen. In seinem mitreißenden Insiderbericht analysiert Misha Anouk die emotionale Verführung der Zeugen Jehovas, beschreibt Organisation und Struktur der Wachtturm-Gesellschaft und erzählt, weshalb er schließlich eine Sünde beging, um die bekannteste Sekte der Welt zu verlassen.
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Seitenzahl: 563
Misha Anouk
Goodbye, Jehova!
Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ
Ihr Verlagsname
Zeugen Jehovas kennen die meisten von uns nur aus der Fußgängerzone oder als lästigen Besuch an der Tür – häufig etwas bieder, vor allem aber harmlos. Misha Anouk weiß, wie es auf der anderen Seite aussieht. Er wuchs in einer Zeugen-Jehovas-Familie auf und lief im Predigtdienst von Haustür zu Haustür – stets hoffend, keine Mitschüler zu treffen. Mit erfrischendem Humor erzählt er von einer Kindheit ohne Weihnachten, aber mit Geistern, von ersten Zweifeln und Weltuntergängen, die auf sich warten lassen. In seinem mitreißenden Insiderbericht analysiert Misha Anouk die emotionale Verführung der Zeugen Jehovas, beschreibt Organisation und Struktur der Wachtturm-Gesellschaft und erzählt, weshalb er schließlich eine Sünde beging, um die bekannteste Sekte der Welt zu verlassen.
Misha Anouk, geboren 1981 auf Gibraltar, ist freier Autor und widmet sich als Redner und in der täglichen Arbeit der Aufklärung über Bewusstseinskontrolle, Verschwörungstheorien, politische und gesellschaftliche Entwicklungen, Social-Media-Phänomene sowie der Medienkritik. Mit seiner Familie lebt er in Wien. Misha Anouk bloggt regelmäßig auf www.indub.io und twittert unter @mishaanouk.
Für Lamm
Ich war von meiner Geburt im Jahre 1981 bis zu meinem Ausschluss 2003 ein Mitglied der Zeugen Jehovas. Aus dieser Zeit berichte ich in diesem Buch anhand von persönlichen Erfahrungen, Eindrücken und Beobachtungen. Schreibe ich über die Bibel und Gott, beziehe ich mich ausschließlich auf die Auslegung und Wahrnehmung der Zeugen Jehovas. Wo es mir möglich ist, nehme ich auf aktuelle Entwicklungen in der Organisation der Zeugen Jehovas Bezug. Zitate, die ich mit WTG gekennzeichnet habe, sind Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft, dem Verlag der Zeugen Jehovas, entnommen. Ich habe die Namen und Eigenschaften einzelner Protagonisten geändert, um Persönlichkeitsrechte zu wahren.
Ansonsten ist alles ziemlich genau so passiert.
«It’s hard to dance with a devil on your back.»
– Florence and The Machine –
Ich erzähle dir mal, wie das so läuft.
Es ist Samstag. Es klingelt an deiner Tür. Du wachst auf. Oder du bist schon wach, und es klingelt genau in dem Moment, in dem du dir dein Nutellabrot in den Mund schieben möchtest, auf das du dich freust, seit du zum ersten Mal auf die Schlummertaste gehauen hast. Oder es klingelt und du wirst beim Rasenmähen unterbrochen. Oder beim Duschen. Und du hetzt im Bademantel und nass tropfend zur Tür, weil es wichtig sein könnte. Ein Paket, vielleicht, oder deine Frau oder dein Mann, die vom Einkaufen zurückkommen und die Schlüssel vergessen haben. Es könnte wichtig sein, denkst du, und: Wehe, das sind die Zeugen Jehovas.
Natürlich sind es die Zeugen Jehovas.
Freundlich lächelnde Zeugen Jehovas.
Guten Morgen.
Aus Datenschutzgründen hast du keinen Namen. Du bist eine Hausnummer auf einem kleinen A6-Formular, das gemeinsam mit einer nummerierten Karte deines Wohnviertels in einer Klarsichtfolie in der Tasche deiner Besucher aufbewahrt wird. Nachdem du die Tür geschlossen hast, wird hinter deiner Hausnummer ein Code notiert: M oder W für dein Geschlecht, NH für «Nicht zu Hause», NI für «Nicht interessiert». In den meisten Fällen steht ein Code neben deiner Hausnummer, der deinen Besucher oder die Vertretung an einen Rückbesuch bei dir erinnert.
Hinter der Hausnummer und dem Code ist noch Raum für Notizen. Hast du eine Zeitschrift angenommen? Hat man ein Fünkchen Interesse für das angesprochene Thema in dir wahrgenommen? Warst du freundlich, feindlich, indifferent? Gibt es einen ernsthaften Grund, weshalb man nicht wieder bei dir vorsprechen sollte? Hast du Kinder, einen Partner oder eine Partnerin, ein großes Haus, wirktest du gepflegt, unglücklich oder neugierig?
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch stehen deine Besucher da, zwei freundlich lächelnde Menschen, die so aussehen, als würden sie in einem Film Zeugen Jehovas spielen. Einer der beiden Besucher spult den auswendig gelernten Gesprächseinstieg ab, während er dich und dein Zuhause durch den Türrahmen scannt. Am Schlüsselbrett hängt ein Diddl-Anhänger? Neben der Tür klebt eine Ohne dich ist alles doof-Postkarte? Dann werden dir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die tollen Bilder von Kindern gefallen, die mit Pandas im Paradies spielen.
Einer der beiden Besucher redet mit dir, der andere lächelt freundlich. Er wird mit unwiderstehlichen Schlagworten um sich werfen, als spiele er Malen nach Zahlen auf einem Bullshit-Bingo-Zettel, ein Best Of der kleinsten gemeinsamen Nenner der Menschheit, bis er mit einem ins Schwarze trifft. Irgendetwas, das eine Reaktion bei dir auslöst, ein Gefühl, eine Zustimmung, eine Erinnerung. Er ist ein geschulter Fluchthelfer aus der Realität. Er schleust dich an Gemeinplätze wie: «Würden Sie nicht auch gern ewig leben?», «Fänden Sie es nicht schön, Ihre verstorbenen Liebsten wieder in die Arme schließen zu können?» oder «Würden Sie nicht auch gern wissen, warum Gott so viele schlimme Dinge zulässt?». Vertraute Gemeinplätze, die Widerspruch tautologisch beinahe unmöglich machen. Das einzig Exotische: Das bemerkenswert aufrichtige Lächeln der beiden. Du nickst. Wer würde das alles denn nicht wollen?! Der rhetorische Enkeltrick sozusagen. Nur, dass du es besser wissen müsstest, schließlich bist du noch keine 90 Jahre alt. Aber vielleicht weißt du es nicht besser. Und sie wissen beide, dass du es nicht besser weißt.
Während dieser ersten dreißig Sekunden erstellen deine Besucher ein ausführliches Profil von dir. Das geschieht ganz automatisch, sie sind schon lange dabei, sie haben ihre Perspektivenübernahme-Fähigkeit in vielen Stunden Predigtdienst verfeinert. Idealerweise bist du hilflos, verzweifelt, gläubig, aber von deiner Kirche enttäuscht, eher konservativ, in einer Ausnahmesituation, naiv, auf der Suche, verletzlich. Es ist einfacher, einen gläubigen Menschen zu bekehren als einen Atheisten. In den Vereinigten Staaten sind einer Studie zufolge ein gutes Drittel der Zeugen Jehovas ehemalige Protestanten, 27 Prozent waren vorher Katholiken.[1] Trifft keiner der Faktoren zu, ist das ärgerlich, aber kein Ausschlusskriterium. Jeder verdient es, gerettet zu werden. Manche Parameter erleichtern dem Besucher jedoch sein Vorhaben. Menschen, die einem gewissen Profil entsprechen, sind empfänglicher für die Rhetorik der Wachtturm-Gesellschaft.
Es gibt nicht viele Gründe, warum man dich nicht noch mal besuchen sollte. Wenn du nicht ausdrücklich darauf bestehst, von einem erneuten Besuch abzusehen, wird derjenige, der mit dir gesprochen hat, kein NI in deiner Zeile eintragen. Das NI ist ein inoffizielles Kürzel, es ist auf dem Formular noch nicht mal vorgesehen. Der Besucher ist darauf vorbereitet, dass du ihn schnell loswerden möchtest. Ein flapsiges «Ich habe keine Zeit», «Vielleicht ein anderes Mal» oder selbst ein «Kein Interesse, danke» deinerseits wird bloß als Abfallprodukt unserer schnelllebigen, stressigen Gesellschaft aufgefasst. Genau das ist womöglich der Aufhänger für den nächsten Besuch. Oder ein anderes Detail, das man in deiner Zeile notiert, eine Kleinigkeit, eine Beobachtung, eine Auffälligkeit.
Man wird es als Einstieg in das Folgegespräch nutzen, und du wirst dumm gucken, weil du keine Ahnung hast, wovon der Besucher redet. Du wirst den Besucher nicht sofort wiedererkennen, aber er wird sich an genug Details erinnern, um entsprechend vorbereitet eine Publikation im Gepäck zu haben, die zufälligerweise etwas mit der Kleinigkeit, der Beobachtung, der Auffälligkeit zu tun hat. Der Besucher wird dich auf dem falschen Fuß erwischen, und egal, was du sagst und wie du dich verhältst, er wird wieder eine Notiz anfertigen. Er wird wiederkommen. Vielleicht sagst du diesmal aber auch, dass du wirklich kein Interesse hast. Vielleicht hast du diesmal das seltene Glück und hinter deiner Hausnummer steht ein NI. Herzlichen Glückwunsch. Es dauert ein Jahr, bis die Zeugen Jehovas wieder an deiner Tür klingeln. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wirst du niemals ein Zeuge Jehovas sein.[2]
Womöglich steht in der Notiz aber auch, dass du einen Wachtturm entgegengenommen hast. Was man der Notiz nicht entnehmen kann: Das machtest du nur, um ihn abzuwimmeln, weil du vielleicht etwas überrumpelt worden bist, wie das bei Haustürgeschäften so häufig der Fall ist.
Mittlerweile nimmt dein Besucher das mit dem Datenschutz nicht mehr so ernst. Er hat konkrete Angaben zu deinem Namen, deinem geschätzten Alter, deinem vermuteten Familienstand und der Tageszeit, zu der er dich angetroffen hat, notiert. Vielleicht hast du ihm auch schon deine religiöse Zugehörigkeit mitgeteilt. Er hat gelernt, all diese Informationen für seine Zwecke einzusetzen.
Aber sei ihm nicht böse. Wie alle auf der untersten Ebene eines Schneeballsystems glaubt er an das, was er dir verkaufen möchte. Er glaubt, dass es dein Leben bereichern wird, so wie er überzeugt ist, dass es sein Leben bereichert hat. Er will dir die Wahrheit verkaufen. Den Schlüssel zum ewigen Leben. Dein Besucher ist ein eifriger Bibellehrer, ein Verkündiger der Guten Botschaft. Und er wird nicht aufgeben, jetzt erst recht nicht.
Der Preis? Nichts, was sich in Geld aufwiegen ließe. Die Wachtturm-Gesellschaft ist nicht hinter deinem Vermögen her. Wir sind hier ja nicht bei Scientology. Du kannst jahrzehntelang Zeuge Jehovas sein, ohne auch nur einen Cent an die Organisation zu zahlen. Alles, was sie will, ist deine totale, hundertprozentige Loyalität. Es ist nicht teuer, ein Zeuge Jehovas zu sein. Die Höhe des Preises, den du bezahlst, bestimmst du selbst. Die Währung steht im Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die freie Entfaltung deiner Persönlichkeit. Vergiss die Handlungsfreiheit, vergiss dein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Man wird dir sagen, was du zu tun hast, man wird dir vorschreiben, was du zu sagen hast, man wird anordnen, wie du dich zu kleiden und zu benehmen hast. Und du wirst es tun, du wirst es gerne tun, denn du kannst dich nicht entsinnen, dass man es dir befohlen oder vorgeschrieben, gar verboten hätte. Du wirst überzeugt sein, dass es deine eigene Idee war, dein eigener Wunsch, deine eigene freiwillige Reaktion auf den vergemeinschaftlichten Imperativ, der die Sprache der Wachtturm-Gesellschaft dominiert.
So weit sind wir aber noch lange nicht.
In den letzten Jahren hat der Besucher wichtige demographische Erkenntnisse über dein Wohnviertel gewonnen und in einem separaten Notizbuch detailliert aufgezeichnet. Er ist noch alte Schule; manche seiner jüngeren Zeugen-Jehovas-Kollegen nutzen bereits eine Smartphone-App.
Dummerweise hast du den Wachtturm nicht gelesen, auf den er dich anspricht. Das ist nicht schlimm. Von seinen Besuchen bei deinen Nachbarn weiß er, dass es noch viele andere Themen gibt, die die Menschen in deinem Wohnviertel bewegen. Wie der Zufall es will, enthält der aktuelle Wachtturm einen Artikel zu einem der Themen. Natürlich hat er ihn dabei. Du bist viel zu überrascht, um abzulehnen. Als er dich fragt, ob es in Ordnung wäre, wenn er die Zeitschriften regelmäßig in deinem Briefkasten hinterlässt, bist du einverstanden, weil du hoffst, dass er nicht mehr klingelt.
Er lobt deinen Vorgarten und deine Vorhänge und fragt, ob dein Schnupfen besser geworden ist. Vielleicht erwähnt er, dass ihm aufgefallen ist, dass du beim letzten Mal ein Dortmund-Trikot trugst. Ihr unterhaltet euch fünf Minuten lang über das Revierderby. Beim Abschied sagt er noch, dass die Begleitzeitschrift des Wachtturms, das Magazin Erwachet!, einen wunderbaren Artikel enthält, der ganz bestimmt was für deine Teenagertöchter ist.
Er ist freundlich. Sein Interesse schmeichelt dir. Beim nächsten Mal lächelst du, wenn du die Tür aufmachst. Die Strategie des Love-Bombings geht auf. Du weißt nicht, dass man diese Strategie so nennt, aber tröste dich: Er auch nicht. Und er würde vehement widersprechen: Dass er dich mit Aufmerksamkeit, der Liebe Währung, überhäuft, ist aus seiner Sicht keine Strategie, keine Taktik. Er will dir aufrichtig zu einem One-Way-Ticket ins Paradies verhelfen.
Du bist keine Zeile mehr. Du bist eine ganze Seite in einem Notizbuch und du hast einen Namen. Du bist jetzt eine sogenannte «Zeitschriftenroute». Seine Brüder und Schwestern, wie sich getaufte Zeugen Jehovas in ihren Königreichssälen gegenseitig ansprechen, wissen von dir. Zwei hast du im Rahmen der Besuche sogar schon kennengelernt, er hatte sie mitgebracht. Sie lächelten dich an, wie man einen alten Bekannten anlächelt. Für die anderen bist du der Hauseigentümer aus dem Erfahrungsbericht, den dein Besucher in einer Zusammenkunft zum Besten gab. Zusammenkunft, so nennen die Zeugen Jehovas ihre Gottesdienste. Das weißt du auch schon. Was du nicht weißt: Er hat in der Zusammenkunft erzählt, wie er dein anfängliches Desinteresse überwand. Er erzählte von deinem BVB-Trikot. Die Zuhörer lachten und nickten. Der Diskussionsleiter hob die Anekdote als «Best-Practice»-Beispiel dafür hervor, wie man im Predigtdienst das Eis brechen kann. Das weißt du nicht, aber wenn du es wüsstest, es würde nichts ändern. Du hast ja nichts zu verbergen, sagst du immer.
Ein paar Wochen, vielleicht drei Monate, hörst du nichts von ihm. Die Zeitschriften holst du aus dem Briefkasten. Statt im Altpapier landen sie auf dem Klo, weil du dem Artikel über die Verrohung der Gesellschaft zustimmst. Als er wieder vor der Tür steht, regnet es in Strömen. Er lächelt. Du bittest ihn auf einen Kaffee herein. Deine Frau ist im Urlaub oder bei den Schwiegereltern oder vielleicht sitzt sie auch neben dir. Er fragt, ob du Gelegenheit hattest, in die Zeitschriften hineinzuschauen. Du hattest. Bevor er geht, bedankt er sich für den Kaffee, fragt nach deinen Töchtern und lobt die Wohnzimmereinrichtung. Er lässt dir einen Artikel über den BVB aus der Sport Bild da. Als er ihn las, hat er an dich denken müssen.
Du kennst seinen Namen, und du kennst seine Ehefrau und Kinder. Beim nächsten Mal, er war grad in der Nähe, heute trägt er keine Krawatte, sondern Polohemd und Jeans, bietet er dir ein kostenloses Heimbibelstudium an. Du nimmst an.
Du bekommst deine eigene Akte in Form eines Studienberichts, der mit deinem Namen und deiner Adresse und ausführlichen Details zu deinem Heimbibelstudium (Dauer, Häufigkeit, persönliche Angaben) von den Ältesten der örtlichen Versammlung archiviert wird. Jetzt bist du offiziell und namentlich von den Zeugen Jehovas erfasst. Insgesamt rund 3300 Stunden Predigtdienst werden benötigt, um einen einzigen Menschen zu bekehren. Das haben zwei US-Sozialwissenschaftler errechnet.[3]
Oder du lehnst ein Bibelstudium ab. Aber du bist damit einverstanden, weiterhin von ihm mit dem Wachtturm und Erwachet! beliefert zu werden. Die Zeit, die er bei dir verbringt, und die Zeitschriften, die er dir hinterlässt, tauchen am Ende des Monats als Zahl in seinem Felddienstbericht auf, einem weiteren Formular, das er als Nachweis seiner Predigttätigkeit an seine Ältesten weiterreicht. Diese Zahlen landen in Summe in der Akte, die über jedes einzelne Mitglied der Zeugen Jehovas angelegt wird. Die Daten werden zwecks Auswertung an die Dachorganisation der Zeugen Jehovas weitergereicht.
Es klingelt an der Tür. Das Gesicht ist ein anderes, aber das Lächeln ist dasselbe. Dein Wachtturm-Lieferant ist umgezogen. Er ist der neue. Und ob es für dich in Ordnung sei, wenn er jetzt regelmäßig die Zeitschriften in deinem Briefkasten hinterlässt. Bevor er deine Wohnung betritt, weiß er bereits, wie dein Wohnzimmer aussieht, wie du mit Vornamen heißt, wie alt deine Töchter sind, wann du arbeitest, was deine Zukunftswünsche sind. Er weiß, dass du dir Sorgen wegen der Finanzkrise machst, dass dich die Situation in Nahen Osten beschäftigt und dass du mit dem Rauchen aufhören möchtest. Der Stift, mit dem er die Adresse des nächsten Königreichssaales auf der Rückseite des Wachtturms notiert, ist aus dem Fanshop von Borussia Dortmund.
In seiner Schultertasche ist ein Notizbuch und eine Karte deines Wohnviertels.
Das ist deine Geschichte.
Also, das könnte deine Geschichte sein. Es ist nämlich so: Du hast die Wahl. Es ist deine Entscheidung.
Bei einer Umfrage gaben 96 Prozent der Menschen an, die Zeugen Jehovas zu kennen.[4] Sie sind wahrscheinlich die bekannteste Sekte der Welt – aber sind sie das überhaupt: eine Sekte? Oder sind sie bloß missverstandene «nette und friedliche Menschen», die laut Spiegel Online auf ihren Kongressen Fremden Lakritz und Apfelschnitze anbieten, Wolldecken um Frierende legen und den Alten die Stufen hochhelfen?[5] Wie passt dieses harmlose Image zu der Behauptung, man verliere sein gesamtes soziales Umfeld, wenn man die Sekte der Zeugen Jehovas verlässt, wie es zum Beispiel in einem Porträt im Online-Angebot der Zeit nachzulesen war?[6] Was ist diese ominöse Blutfrage der Zeugen Jehovas, über die Bestsellerautor Ian McEwan in einem Interview sagte, diese Praxis sei «pervers und menschenverachtend»?[7] In welchem Zusammenhang stehen die Zeugen Jehovas zu dieser Wachtturm-Gesellschaft? Wolltest du nicht schon immer wissen, was auf der anderen Seite deiner Tür passiert, nachdem du sie den Zeugen Jehovas vor der Nase zugeschlagen hast? Und überhaupt: Was ist von den Zeugen Jehovas zu halten? Nun, die letzte Frage kann und möchte ich dir nicht beantworten. Das musst du schon selbst herausfinden. Alles, was ich machen kann, ist, dir meine Version zu erzählen.
Erzähle ich in einem Gespräch, dass ich als Zeuge Jehovas aufgewachsen bin, wollen die meisten Zuhörer wissen, wie das denn so war. Dann erzähle ich, wie das so war. Dann wollen sie wissen, warum ich kein Zeuge Jehovas mehr bin. Dann erzähle ich ihnen, warum. Dazu muss ich immer etwas ausholen. Wenn ich fertig bin mit meiner Erzählung, fühlen sich die einen in den Vorurteilen, die sie gegenüber der Wachtturm-Organisation pflegen, bestätigt. Die anderen meinen, ich würde übertreiben. Das könne man sich irgendwie überhaupt gar nicht vorstellen. Das seien doch nette Menschen, die Zeugen Jehovas, die seien doch die «nette Sekte von nebenan». Man wohne neben, arbeite mit, kenne Zeugen Jehovas persönlich. Die seien harmlos, verglichen mit anderen.
Beide Standpunkte sind nachvollziehbar. Viele Vorurteile, die man mit dem Unternehmen namens Wachtturm verbindet, das die Ideologie der Zeugen Jehovas steuert und vertreibt, entsprechen im Kern den Tatsachen. Gleichzeitig sind die Mehrheit der Mitglieder der Zeugen Jehovas tatsächlich umgängliche, freundliche, verlässliche, äußerst angenehme Menschen. Menschen wie du und ich. Kennt man ein Mitglied einer Glaubensgemeinschaft persönlich, ist man dieser gegenüber in der Regel positiver eingestellt.[8] Für mich ist und war die Frage jedoch nie, ob Zeugen Jehovas gute oder schlechte Menschen sind. Die Frage war immer nur, ob dieser Glaube für mich gut war.
Wie gesagt: Es fängt schon damit an, dass du eine Wahl hast. Die hatte ich nicht. Und das, das ist meine Geschichte.
Dazu muss ich etwas ausholen.
Natürlich hält mich die Polizei an. Es passt zu diesem Abend. Anscheinend habe ich eine rote Ampel übersehen. Ob ich getrunken habe, will der Beamte wissen. Schön wär’s, sage ich. Ärger?, fragt der zweite Beamte grinsend. Wenn er wüsste, denke ich. Wenn er wüsste, sage ich. Und dann erzähle ich, was mir an diesem Abend noch bevorsteht. Ich erzähle ihnen meine Geschichte, in Kurzform. Sie hören mir zu, tauschen Blicke aus. Ich bekomme meinen Führerschein wieder. Sie belassen es bei einer Ermahnung. Ich mache den Schulterblick und fädele wieder ein in den Verkehr, der sich über die Ausfallstraße zieht. Über Ausfallstraßen habe ich einmal gelesen, dass sie in Stadtrandzonen nicht sonderlich einladende Eingangsbereiche einer Stadt prägen, die in der Wahrnehmung eines Besuchers eher als unattraktiv und vernachlässigt erscheinen. Für diese Straße in meiner Heimatstadt gilt das in jedem Fall. Nicht sonderlich einladend. Eine Straße wie dieser Abend.
Ich wurde 1981 auf Gibraltar in diese Welt hineingeworfen. Gibraltar ist eine Halbinsel an der Südspitze Spaniens, gehört aber zu Großbritannien. Gibraltar ist die Heimat der letzten freilebenden Affen Europas. Es gibt mehr als doppelt so viele Briefkastenfirmen wie Einwohner. Die Landebahn des Flughafens kreuzt die einzige Zufahrtstraße – wenn ein Flugzeug landet, müssen die Autos stehenbleiben. Eine großartige Insel. So stellt man sich das Taka-Tuka-Land vor.
Natürlich wird man nicht rein zufällig auf Gibraltar geboren. Niemand war einfach so auf Gibraltar, vor allem nicht in den Achtzigern. Die Spanier hatten die Grenze dichtgemacht, weil es ihnen nicht passte, dass dieser kleine Wurmfortsatz von Halbinsel den Briten gehört. Wollte man nach Gibraltar, musste man von Spanien aus erst mal auf die andere Seite des Mittelmeeres nach Marokko rüber, die Zollbeamten mit einem machen lassen, was die dortigen Zollbeamten eben mit einem machen, um danach wieder übers Mittelmeer nach Gibraltar hinüberzuschippern. Nicht gerade der übliche Sonntagsausflug. Niemand war einfach so aus Spaß auf Gibraltar. Entweder hatte man das Pech, dort geboren zu werden. Oder man wurde dorthin entsandt.
Meine Eltern befanden sich im Auftrag der Wachtturm-Gesellschaft als Missionare auf Gibraltar. Missionare sind Vollzeit-Verkündiger, wie die Bibellehrer genannt werden, die hauptberuflich den lieben langen Tag nichts anderes machen, als von Haus zu Haus zu gehen und die Lehren der Zeugen Jehovas zu verbreiten. Missionare werden von der Wachtturm-Gesellschaft finanziell unterstützt, damit sie sich voll und ganz auf ihren Predigtdienst konzentrieren können.
Ich wurde also in der Wahrheit geboren, wie es bei uns hieß. Die Wahrheit ist ein Begriff, der von den Zeugen Jehovas synonym für vieles verwendet wird: Ist eine Person Mitglied der Zeugen Jehovas, so ist sie in der Wahrheit. Spricht jemand über die Lehren der Wachtturm-Gesellschaft, redet er oder sie über die Wahrheit. Sind die Eltern bereits Zeugen Jehovas, wenn man das Licht der Welt erblickt, so wächst man in der Wahrheit auf. So wie ich.
Meine Großmutter väterlicherseits war Zeugin Jehovas, meine Großeltern mütterlicherseits waren beide Zeugen Jehovas. Mein Onkel und meine Tante arbeiten im Bethel, der klosterartigen Deutschland-Zentrale der Zeugen Jehovas in Selters/Taunus. Man kann sagen, dass meine Familie eine kleine Zeugen-Jehovas-Dynastie ist. Ich hatte alle Voraussetzungen für eine Bilderbuchkarriere bei den Zeugen Jehovas.
Mein Vater wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in London geboren. Er zog mit seinen Eltern nach Frankreich, der Heimat meines Großvaters. Im Teenageralter kam er das erste Mal über seine Mutter mit den Zeugen Jehovas in Berührung. Als Katholik aufgewachsen, wirkte dieser Glaube sehr ansprechend auf ihn. Also konvertierte er. Mit 17 Jahren floh er vor dem Militärdienst zu Freunden nach London, wo er Vollzeitpionier der Zeugen Jehovas wurde. Vollzeitpioniere sind wie Missionare. Nur, dass sie zusätzlich zum hauptberuflichen Predigtdienst noch für ihren eigenen Unterhalt sorgen müssen. Mein Vater lebte von der Hand in den Mund. Im Winter stopfte er seine Sommerschuhe mit Zeitungspapier aus, weil er sich keine Stiefel leisten konnte. Anfang der siebziger Jahre bewarb er sich um einen Studienplatz in Gilead, der theologischen Hochschule der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn, New York, an der Studenten in einem sechsmonatigen Crashkurs auf eine Tätigkeit als weltweit eingesetzte Missionare vorbereitet wurden. Er wurde an der Schule aufgenommen und zog nach New York.
Meine Mutter wurde zwei Jahre nach meinem Vater in der fränkischen Provinz geboren. Ihre Eltern waren beide Zeugen Jehovas. Gemeinsam mit meinem Onkel wuchs sie in der Wahrheit auf. Nach ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau stieg sie in den Vollzeitpionierdienst ein. Anfang der siebziger Jahre bewarb sie sich ebenfalls um einen Studienplatz in Gilead. Sie wurde angenommen und zog nach New York.
Dort lernte sie meinen Vater kennen.
Mein Vater machte meiner Mutter vor Beendigung ihres Studiums einen Heiratsantrag. Sie nahm ihn an. Kurz darauf wurde mein Vater als Missionar nach Marokko geschickt und meine Mutter ans andere Ende der Welt nach Paraguay. Zwei Jahre lang hielten sie per Brief Kontakt. Sie hatten sich für mindestens zwei Jahre verpflichtet, ledig zu bleiben und sich ausschließlich dem Missionarsdienst zu widmen. Dann heirateten sie. Irgendwann flogen sie in Marokko auf, wo sie im Untergrund tätig gewesen waren, weil die Zeugen Jehovas dort verboten sind. Deshalb wurden sie von der Wachtturm-Gesellschaft nach Gibraltar versetzt.
Und dann kam ich. Mit einem Kind ist der Missionardienst schwierig. Meine Eltern beendeten ihre Tätigkeit und wurden zu ganz normalen Zeugen Jehovas. Von Gibraltar zogen wir über Umwege nach Deutschland, wo mein Vater in Bielefeld eine Arbeitsstelle fand.
So kam es, dass ich als Zeuge Jehovas aufwuchs. Ob ich dabei Mitspracherecht hatte, ist Ansichtssache. Ich war mir in meiner Kindheit keiner Alternative bewusst. Wohin hätte ich denn auch sollen als Kind? Das Leben, das meine Eltern führten, das Leben, das sie für mich ausgesucht hatten, das war alles, was ich kannte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung vom anderen Leben da draußen. Meine Güte, als der erste Batman-Film in die Kinos kam, dachte ich, das Logo wäre ein Mund mit verfaulten, gelben Zähnen.
Man erzählte mir, dass es außerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas eine Welt gab, eine andere, spirituelle Welt, die man nicht sehen konnte. Diese Welt war böse und beeinflusste die echte Welt und deshalb würden beide Welten vernichtet werden. Deswegen war es besonders wichtig, sagte man mir, dass ich immer brav sei, in den Predigtdienst gehe, zu Jehova bete und ihm gefalle. Damit er bloß nicht auf den Gedanken käme, ich sei auf Satans Seite. Ich wolle Jehova doch nicht traurig machen, oder?
Das Universum der Wachtturm-Gesellschaft ist schwarzweiß. Die Geschichte, die uns die Wachtturm-Gesellschaft erzählt, ist simpel, das älteste Sujet der Welt: der ewige, epische Kampf Gut gegen Böse. Jehova gegen Satan. Superman gegen Lex Luthor. David Dunn gegen Elijah Price. Wie James Moriarty zu seinem Erzfeind Sherlock Holmes sagt: «Jedes Märchen braucht einen schönen altmodischen Schurken. Sie brauchen mich. Ohne mich sind Sie ein Nichts. Weil wir genau gleich sind, Sie und ich.»
Die Wachtturm-Gesellschaft ist auf ihren Antagonisten angewiesen. Aus ihm leitet sie ihren Anspruch ab. Der größte Trick, den die Wachtturm-Gesellschaft je vollbrachte, war, ihre Gefolgschaft, die Zeugen Jehovas, zu überzeugen, dass sie im Kampf gegen den Teufel Gottes Stellvertreter auf Erden sind. Auch ich bin darauf reingefallen.
Natürlich wollte ich Jehova nicht traurig machen. Ich war vier, fünf, sechs, sieben, acht Jahre alt und Jehova Gott das mächtigste Wesen im Universum. Ich hatte in der Bibel gelesen, dass Jehova ein Gott der Liebe, aber auch der Rache war. Ich wusste, was er mit den Menschen in Sodom und Gomorrah und im Gelobten Land gemacht hatte, mit den Ägyptern, mit den Babyloniern, das stand alles in meinem Kinderbibelbuch. Außerdem erinnerte ich mich gut an die Hörspielkassette, in der Gott Moses’ Schwester kurzzeitig mit Lepra bestraft hatte, weil sie Widerworte gegeben hatte.
Lepra!
Wegen Widerworten!
Meine liebsten Worte!
Tagelang hatte mich diese Szene verfolgt, und wenn ich die Kassette hörte, weil ich kaum andere Hörspielkassetten hatte außer denen, in denen man lernte, warum es wichtig war, gottgefällig zu sein, versteckte ich mich bei der Szene unter dem Wohnzimmertisch. Der Wohnzimmertisch schien mir sicher, schließlich sollte man sich bei einem Erdbeben (oder bei einem Bombenalarm, ich bin mir nicht mehr sicher, immerhin war Kalter Krieg) unter einem Tisch verstecken. Ich wollte mich nicht mit jemandem anlegen, der gleich mit Lepra nach einem warf, wenn man zu einem «Aber …» ansetzte. Schließlich kam einem dieses blöde Wort so leicht über die Lippen. Ich dachte mir: Unter einem Tisch ist man sicher vor Lepra.
Die Alternative, Satan, war mir auch nicht recht. Satan war eine unheimliche, mehrköpfige, rote Schlange, die ich aus den Zeitschriften und Büchern der Zeugen Jehovas kannte, ein Bild, das mir bereits im frühesten Kindesalter Angst einjagte und dazu führte, dass ich nachts ohne Licht nicht schlafen konnte. Irgendwie war es eine Wahl zwischen Pest und Cholera, auch wenn man mir etwas anderes zu vermitteln suchte.
Wenn man bei den Zeugen ist, wird einem gesagt, dass man auf der guten Seite ist. Auf Gottes Seite. Man hat die Ehre, eine Figur zu sein in einem universellen Schachspiel. Gott war weiß, der Gute, Satan schwarz, der Böse. Wir die Bauern. Ich hatte schon mal ein Schachspiel gesehen. Die Bauern wurden als Erste geopfert.
Ich habe den ganzen Zirkus mitgemacht. Ich wusste, es hätte sonst «Konsequenzen» gegeben, und «Konsequenzen» wollte ich nicht riskieren. Auch wenn ich mir mit fünf, sechs Jahren noch nicht so recht darunter etwas vorstellen konnte. Ich wusste noch nicht, dass ich in weniger als zwei Jahrzehnten alles verlieren würde, was mir lieb und teuer war. In meiner Welt damals waren Konsequenzen handfeste Tatsachen. Ich war ein Kind. Sachen wie «Ausschluss» oder «Harmagedon» waren bloß Worte. Die taten nicht weh. Harmagedon war für mich damals ein Klaps auf den Hintern.
Wir waren eine glückliche Familie. Vater, Mutter, Kinder. Mein Vater ging einer geregelten Beschäftigung nach, meine Mutter schmiss den Haushalt, wir zahlten pünktlich unsere Steuern. Wir wohnten in einem schönen Viertel, hatten ein gutes Verhältnis zu unseren Nachbarn, wir mähten den Rasen und trennten den Müll. Wir hielten die Flurwoche ein und halfen unserer gebrechlichen Nachbarin, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen konnte. Zwei Mal im Jahr fuhren wir in den Urlaub. Wenn der Zirkus oder die Kirmes in unsere Stadt kam, gingen wir hin und aßen Zuckerwatte. Meine Mutter besuchte alle Elternabende, und nach den Sprechtagen ermunterte sie mich, respektvoller zu meinen Lehrern zu sein. Unsere Kleidung war sauber und gebügelt. Mein Bruder und ich bekamen regelmäßig Taschengeld. Wir hatten eine Tageszeitung im Abonnement, einen Fernseher und eine HiFi-Anlage. Unsere Lieblings-Fernsehsendung war die Bill Cosby Show, und an Weihnachten schauten wir uns gemeinsam das neueste Walt-Disney-Meisterwerk an. Wenn Nachbarn sagten, wie umgänglich und beispielhaft meine Familie war, wenn fremde Menschen lobten, wie wohlerzogen wir Kinder waren, wann immer es etwas Positives gab, versäumten es meine Eltern nie, zu verraten, dass es dafür einen guten Grund gab: Wir waren Zeugen Jehovas.
Urlaub machten wir immer im Süden, bei meinem Großvater. Er wohnte in einem kleinen Haus in einer kleinen Stadt zwischen Marseille und Toulouse. Das Haus hatte einen großen Hof, in dem mein Bruder und ich spielten. Die Stadt hatte einen großen Strand, direkt am Mittelmeer, in dem wir schwammen. Es war ein prima Ort, um Urlaub zu machen.
Im Garten meines Großvaters wuchsen die größten und saftigsten Tomaten, die ich gegessen habe. Vor dem Haus stand ein riesiger Kastanienbaum, unter dem wir speisten. Wenn wir nicht am Strand waren, verbrachten wir die Tage im Schatten des Baumes, lesend, oder im Haus, vor dem Fernseher, weil in ihm gerade Tour de France lief. Das Haus stand den Rest des Jahres über leer; mein Großvater lebte mit seinem Schäferhund aus irgendeinem Grund in einer kleinen Hütte neben der Garage.
Mein Großvater war kein sympathischer Mensch. Ich sprach kaum Französisch, er sprach kaum ein Wort Englisch. Dabei hätte ich so viele Fragen gehabt. Er war Seemann gewesen, ein echter Seemann. Die Seefahrt faszinierte mich, und ich war direkt an der Quelle. Aber sie ließ mich am langen Arm verhungern. Er gab sich keine besondere Mühe, seine Enkelkinder kennenzulernen. Bis zu seinem Tode brachte er es nicht einmal fertig, meinen Vornamen richtig auszusprechen.
Dabei waren wir, seine Enkel, der einzige Grund, weshalb wir überhaupt unseren Urlaub bei ihm verbrachten. Mein Opa hasste die Zeugen Jehovas. Er hatte meinen Vater verstoßen, als der konvertiert war. Vielleicht warf er den Zeugen vor, ihm seine Frau gestohlen zu haben. Meine Großmutter war Zeugin Jehovas geworden, und ein paar Jahre danach war sie an einem Gehirntumor gestorben. Traurig, keine Frage, aber selbst mit ein bisschen Phantasie kann ich da keinen Zusammenhang sehen.
Von meiner französischen Familie habe ich eine gewisse Sturheit geerbt. Mein Großvater war schon ein Arschloch gewesen, bevor seine Frau und sein Sohn Jehovas Zeugen geworden waren. Er war Matrose in der Handelsmarine gewesen und kam so gut wie nie nach Hause. Für meinen Vater war er ein Fremder, und mein Opa tat alles dafür, dass es dabei blieb. Er quälte und demütigte ihn, wann immer es eine Gelegenheit dazu gab.
Mein Papa brüllte meinen Opa im Urlaub während ihrer gelegentlichen Streitereien an. Das fand ich doof. Aber im Nachhinein verstehe ich es nur zu gut. Vielleicht wäre allen gedient gewesen, wäre mein Großvater unten geblieben, als er einmal bei schwerem Seegang über Bord ging, ich weiß es nicht.
Wegen seiner Enkel versöhnte sich mein Opa mit meinem Vater. Bis zum Tod meines Großvaters war es aber eher ein Waffenstillstand als ein echter Friede. Das begriff ich erst, als ich älter wurde. Als Kind fand ich die Urlaube bei meinem Großvater klasse. Ich liebte die Sonne, das Meer und die hübschen südfranzösischen Mädchen. Aber am allermeisten schätzte ich an den drei Urlaubswochen, dass ich nicht in den Predigtdienst musste und wir nur einmal den Königreichssaal der örtlichen Versammlung besuchten. Urlaub in Frankreich war für mich auch Urlaub von Jehova.
Zeugen Jehovas sind in örtlichen Gemeinden organisiert, die Versammlungen heißen. In einer Versammlung gibt es keinen Pfarrer, sondern eine Gruppe von Glaubensbrüdern, die Älteste heißen und gemeinsam die Gemeinde führen. Die Ältesten werden von der Leitenden Körperschaft ernannt und haben Weisungsbefugnis.
Unsere Versammlung war englischsprachig. In dieser Versammlung war ich aktiv. Und mit aktiv meine ich: keine halben Sachen. Ich war ein Vollblut-Zeuge.
Meine Familie definiert sich bis heute darüber, Zeugen Jehovas zu sein. So wie die meisten Zeugen Jehovas. Eifer ist dabei ein ganz besonders wichtiges Merkmal. Als Eifer bezeichnen Zeugen Jehovas ihre Gottesfurcht und das Engagement für den Glauben, das sie an den Tag legen. Unsere Eltern hielten meinen Bruder und mich von Kindesbeinen dazu an, eifrig zu sein. Mit einem Ältesten als Familienoberhaupt hatten wir in der Versammlung eine Vorbildfunktion. Meine Eltern stellten sicher, dass unsere Familie ihr nachkam.
Alles drehte sich um Jehova und seine Anbetung.
Montags war meistens das Familienbibelstudium. Gemeinsam bereiteten wir uns im Wohnzimmer auf die sonntägliche Zusammenkunft vor. Papa stellte die vorgegebenen Fragen, wir meldeten uns reihum per Handzeichen und durften dann die vorgegebenen Antworten vorlesen. Ziemlich idiotensichere Angelegenheit. Das ging in der Regel anderthalb Stunden.
Dienstags oder mittwochs war das Gruppenbibelstudium. Die Versammlungsgemeinde war in kleinere Gruppen eingeteilt, die eine vorgeschriebene Lektüre der Wachtturm-Gesellschaft gemeinsam besprach. Das Prinzip war dasselbe wie beim Familienbibelstudium, bloß wurde erwartet, dass man sich schon im Vorfeld darauf vorbereitete und die entsprechenden Textstellen bereits markiert hatte. Das ging in der Regel eine Stunde (ohne Vorbereitung).
Donnerstags oder freitags fanden die Theokratische Predigtdienstschule und die Dienstzusammenkunft statt. Auch hierauf sollte man sich natürlich vorbereitet haben (nach Vorbild des Familienbibelstudiums allein und in innerer Einkehr). Das ging in der Regel zwei Stunden (ohne Vorbereitung).
Am Wochenende wurde ein Vormittag im Predigtdienst verbracht. Das ging in der Regel mit An- und Abfahrt drei Stunden.
Samstags oder sonntags gingen wir dann zur öffentlichen Ansprache und zum Wachtturm-Studium in den Königreichssaal. Ein angereister Redner sprach 45 Minuten lang über ein bestimmtes Thema unter Berücksichtigung neuester biblischer Erkenntnisse der Leitenden Körperschaft. Im Anschluss wurde dann öffentlich abgefragt, was wir bereits montags im Familienbibelstudium durchgekaut hatten.
Vor dem Frühstück, dem Mittagessen und dem Abendessen wurde gebetet. Wir schlossen unsere Augen und falteten unsere Hände. Anders als in den meisten Kirchen müssen die Gebete der Zeugen Jehovas keiner besonderen Vorgabe entsprechen, was häufig dazu führt, dass sich die öffentlichen Vorbeter gegenseitig mit ganz besonders eloquenten und gottesfürchtigen Gebeten zu übertrumpfen versuchen. Im Familienkreis war das zum Glück weniger der Fall. Mein Vater hatte dennoch den Hang abzuschweifen. Was besonders ärgerlich war, wenn man Hunger hatte. Durch halb geschlossene Augenlider starrte man in den Topf Bolognese inmitten der gefalteten Hände und hoffte, Papa würde nicht noch ein Land einfallen, in dem Zeugen Jehovas verfolgt wurden, für die er Jehovas Segen erbat.
Auch vor dem Schlafengehen wurde gebetet. Überhaupt wurde empfohlen, zu jedem denkbaren Zeitpunkt zu beten. Ich kam mir immer wie ein Vollidiot vor, wenn ich die Augen schloss und still vor mich hin in den leeren Raum hinein betete. Viel zu oft wurde ich abgelenkt, und zehn Minuten später beendete ich das Gebet mit einem hastig angehängten «… durch Jesus Christus, Amen».
Zusätzlich zu den Zusammenkünften und den Gebeten, zusätzlich zur Schule und Arbeit wurde selbstverständlich erwartet, dass man am Predigtdienst teilnahm, um seinen Eifer zu bezeugen. Für Freizeit und Klassenkameraden blieb nicht viel Zeit.
Aber es war nicht alles strenges Regiment, es war nicht alles schlecht, bei weitem nicht. Meine Freunde bei den Zeugen Jehovas und ich, wir waren eigentlich ganz normale Kinder. Wir bolzten, wir spielten, wir schauten Filme, wir machten Quatsch. Wir fuhren Skateboard, wir fuhren Fahrrad, wir kletterten auf Bäume und wir fielen herunter. Wir lachten und wir brüllten, wir knufften und wir prügelten uns, wir ärgerten den Hausmeister und klauten im Kaufhaus Hörspielkassetten. Und abends im Bett weinten wir uns in den Schlaf, weil wir Angst hatten, wegen der gestohlenen Hörspielkassetten nicht ins Paradies zu kommen. Wir zogen uns die Decke über den Kopf und sprachen ganz oft hintereinander den Namen Gottes aus, weil der Name Gottes ein gutes Mittel gegen die Geister war, die wir gerufen hatten.
Meine Eltern legten sehr viel Wert darauf, als Familie Spaß zu haben. Wir machten Ausflüge, besuchten Bekannte oder liehen uns einen Film aus der Videothek aus. Mein Vater gründete für meine Freunde und mich einen Abenteuerclub, er entwarf Urkunden, die er uns ausstellte, wenn wir von Wanderungen zurückkehrten.
Im Teutoburger Wald am Ende der Straße gab es einen Bombenkrater aus dem Zweiten Weltkrieg. Für uns war er ein Dinosauriergrab, und wir wühlten gemeinsam im Dreck nach Knochen. Meine Mutter machte die beste Pizza der Welt. Wenn meine Freunde und ich vom Bolzen heimkehrten, dampften Waffeln im Eisen. Im Sommer fuhren wir in den Süden, im Herbst in den Norden. Wir hatten einen großen Garten. Mein Vater schuftete sich jahrelang den Buckel krumm, damit es seiner Familie an nichts fehlte. Ich bin sehr dankbar, es hat uns an nichts gefehlt. Es hat mir an nichts gefehlt, weder an Liebe noch materiell. Nur eine Sache fehlte mir: Freiheit. Aber das wusste ich noch nicht. Noch nicht. Die Sache mit meinen Eltern hatte eigentlich nur einen Haken: Sie waren Zeugen Jehovas.
In einem unscheinbaren olivgrünen Buch, das die Wachtturm-Gesellschaft drei Jahre vor meiner Geburt im Jahr 1978 herausgab, betonte sie den Wert einer liebevollen Erziehung. Gehorsame und wohlerzogene Kinder seien kein Zufall. Sie seien das Ergebnis ordentlicher Zucht. Schläge könnten einem Kind das Leben retten. Zwar müsse ein empfindsames Kind nicht jedes Mal geschlagen werden, aber manche Kinder seien wie ein Knecht, der nicht hören wolle. Sie benötigten körperliche Bestrafung.[1]
Der Wälzer Einsichten über die Heilige Schrift, ein Bibellexikon und Almanach der Zeugen-Jehovas-Lehren, hatte in Band 2 auf Seite 848 zum Stichwort «Schlagen» folgende Einsicht zu bieten:
In der Heiligen Schrift wird wiederholt betont, wie nützlich Schläge als Strafmittel sein können. Sprüche 20:30 zeigt, dass die Züchtigung bis ins Innerste dringen und bewirken kann, dass sich der Gezüchtigte bessert. Der Text lautet: «Quetschwunden sind es, die das Schlechte wegscheuern, und Schläge die innersten Teile des Leibes.» Der Gezüchtigte sollte erkennen, dass er töricht gehandelt hatte und dass er sich ändern sollte (Spr 10:13; 19:29). Wer wirklich weise ist, lässt sich mit Worten zurechtweisen, sodass es nicht nötig wird, ihn zu schlagen. Da alle Menschen «in Vergehen» hervorgebracht und «in Sünde» empfangen werden (Ps 51:5), gibt die Bibel Eltern den Rat, die Rute der Autorität konsequent anzuwenden, manchmal auch in Form der buchstäblichen Rute (Spr 22:15). Dadurch mag das Kind vor Schaden oder gar vor dem Tod bewahrt werden. – WTG
Um sicherzugehen, dass wir Kinder den Ernst der Lage auch wirklich begriffen hatten, las man im Königreichssaal aus dem Buch Sprüche vor, dass das Auge, das einen Vater verspotte und das den Gehorsam gegenüber einer Mutter verachte – die Raben des Wildbachtals würden es aushacken, die Söhne des Adlers es auffressen.[2] Als hätte Lars von Trier einen Erziehungsratgeber geschrieben.
Weder hackten mir die Raben des Wildbachtals die Augen aus, noch verprügelten mich meine Eltern ernsthaft. Den Hintern versohlt bekam ich trotzdem hin und wieder. Es waren die Achtziger. Noch kämpfte die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland nicht um das Körperschaftsrecht, noch hatten sie nicht ihren Standpunkt bezüglich des Schlagens von Kindern geändert.[3] Meine Eltern taten, was sie gelernt hatten und für richtig hielten.
Mein Vater hatte ein schweres Holzlineal. Es war einen halben Meter lang. Das Lineal hieß Das Pferd. Ich weiß nicht mehr, warum es so hieß, aber ich erinnere mich sehr gut daran, dass es diesen Namen trug. Das Pferd. Wenn mein Bruder und ich ungezogen waren, zählte er bis drei, während Das Pferd wie ein Damoklesschwert in seiner Hand lag. Er kam selten bis zur Drei. Wir lernten schnell. In den Jahren danach schaffte er es selten bis Zwei. Es reichte meist, «Pferd» zu sagen oder das Lineal in die Hand zu nehmen.
Eines Abends, ich war gerade mal fünf, das weiß ich, weil mein Bruder noch ein Baby war, benahm ich mich in einer Zusammenkunft fürchterlich daneben. Es war die zweite Stunde, es war Freitagabend, mir war langweilig, ich saß mit meinen Eltern, die einen Programmpunkt gemeinsam gestalteten, auf der Bühne, ich rutschte unruhig auf meinem Sitz hin und her. Ich saß mit auf der Bühne, weil ich irgendwann einen Satz sagen durfte. Doch der Augenblick der Wahrheit ließ auf sich warten.
Ich war ein Kind. Vor mir stand ein Mikrophon. Es war einfach zu reizvoll. Wiederholt beugte ich mich vor und fragte in das offene Mikro, wann ich denn jetzt endlich mal was sagen dürfe. Im Publikum gab es ein Schmunzeln, ein leises Gelächter. Das spornte mich umso mehr an. Die bösen Blicke meiner Eltern brachten mich nicht zum Schweigen. Wie der böse Knecht aus der Bibel wollte ich nicht hören. Nach dem Programmpunkt platzte meinem Vater der Kragen. Er zerrte mich nach draußen ins Foyer. Er wollte nicht aufs Pferd warten. Im Foyer musste ich mich vornüberbeugen. Mein Vater holte aus und schlug mir auf den Hintern, einmal, und noch einmal, und noch einmal. Ich biss die Zähne zusammen. Irgendwie hatte es sich ja gelohnt.
In dem Augenblick betrat meine beste Freundin mit ihrer Mutter das Foyer, um die Toilette aufzusuchen. Ihren Blick, wie sie mich anstarrte, wie ich vornübergebeugt die Schläge meines Vaters empfing, das war der GAU meiner Kindheit.
Bis auf diese Kleinigkeit namens Zeugen Jehovas habe ich schöne Erinnerungen an meine Kindheit.
Aber ich erzähle und erzähle, dabei brennen dir noch so viele Fragen auf der Zunge, das sehe ich doch. Mein Fehler. Die Zeugen Jehovas sind mittlerweile ein derart fester Bestandteil popkultureller Folklore und so bekannt, dass man als ehemaliger Zeuge Jehovas oft vergisst, dass es vieles gibt, was man als Außenstehender nicht über sie wissen kann. Die Zeugen Jehovas sind so viel mehr als das abgenutzte Klischee der freundlich dreinblickenden Menschen, die mit dem Wachtturm an deiner Haustür oder vor Karstadt stehen.
Nur, dass das kein Klischee ist. Das Missionieren, oder vielmehr der Predigtdienst, wie die Wachtturm-Gesellschaft die Tätigkeit des Evangelisierens nennt, ist gemäß ihrer Selbstdarstellung das Alleinstellungsmerkmal der Zeugen Jehovas. Sie sind natürlich nicht die einzige Glaubensgemeinschaft, die um Gläubige wirbt; aber vermutlich sind sie gemeinsam mit den Mormonen weltweit die aktivste. Den Auftrag, ihre Mitmenschen Wochenende für Wochenende mit Klingelstreichen zu behelligen, entnehmen sie der Bibel – der Befehl kommt von ganz oben:
Geht daher hin, und macht Jünger aus Menschen aller Nationen, tauft sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Abschluss des Systems der Dinge.[1]
Es gibt also einen guten Grund, weshalb die Zeugen Jehovas so viel Energie in das Predigtdienstwerk stecken: Sie warten auf das Ende. Und das Ende kommt erst, wenn das Predigtdienstwerk vollbracht ist.[2]
In der Regel bieten sie den bepredigten Menschen die neueste Ausgabe des Wachtturms und seiner Begleitzeitschrift Erwachet! an. Der Wachtturm, dessen vollständiger Titel «Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich» lautet, wurde erstmals 1879 veröffentlicht und hat eine weltweite Gesamtauflage von knapp 45 Millionen Exemplaren in über 200 Sprachen. Die Zeitschrift Erwachet! erschien 1919 zum ersten Mal und hat mittlerweile eine ähnliche Verbreitung in fast 100 Sprachen.
Herausgegeben werden die beiden Zeitschriften sowie alle Publikationen der Zeugen Jehovas von der Muttergesellschaft Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania, kurz: Watchtower Society oder Wachtturm-Gesellschaft (oder WTG). Sie unterhält eine deutsche Zweigniederlassung mit dem Namen Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas, e.V., Selters/Taunus. In den meisten Bundesländern sind Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland K.d.ö.R. (Körperschaft des öffentlichen Rechts) anerkannt.
In diesen Bundesländern sind Zeugen Jehovas also offiziell keine Sekte.
Unter dem Begriff Zeugen Jehovas versteht man gemeinhin die Glaubensgemeinschaft der Menschen, die die Anweisungen des durch freiwillige Spenden finanzierten Unternehmens befolgen, das man als Wachtturm-Gesellschaft kennt. Sprich: Zeugen Jehovas sind die Menschen, die an deiner Tür klingeln; die Wachtturm-Gesellschaft hingegen die Dachorganisation und der Verlag, der als Urheber die Botschaft herausgibt, die Lehren entwirft, die Regeln, die Verbote, die Gebote festlegt. Für die Zeugen Jehovas selbst und viele Außenstehende gibt es da keinen Unterschied. Beide Begriffe werden synonym verwendet. Objektiv – und vor allem subjektiv – betrachtet sind das zwei verwandte, aber dennoch verschiedene Welten. Am Ende des Buches wirst du verstehen, was ich meine.
An der geistigen Spitze der Wachtturm-Gesellschaft steht die sogenannte Leitende Körperschaft, gleichzeitig das Führungsgremium der Zeugen Jehovas. Sie steht sechs Komitees vor, in denen alles geregelt wird, was zu regeln ist. Die zwei wichtigsten: die Dienstabteilung, eine Art Innenministerium, verantwortlich für die Ernennung und Absetzung von Aufsehern und Ältesten[3], sowie die Schreibabteilung, die für die Inhalte der Publikationen der Wachtturm-Gesellschaft zuständig ist.
Die Inhalte aller Publikationen, die die Wachtturm-Gesellschaft herausgibt, werden von der Leitenden Körperschaft kuratiert. Sie allein entscheidet, was zum Bildungskanon der Zeugen Jehovas gehört – auch wenn sie nicht alle Artikel selbst schreibt. Niemand sonst darf Lehren im Namen der Zeugen Jehovas verbreiten. Die Bibelexegese ist ein Privileg, das der Leitenden Körperschaft vorbehalten ist und nur von ihr delegiert werden darf. In ihrer Selbstwahrnehmung sind die Mitglieder die Erfüllung der Bibelprophezeiung des «treuen und verständigen Sklaven», der Gottes Volk mit «geistiger Speise», wie die Wachtturm-Gesellschaft ihre Publikationen in gewohnt blumiger Sprache nennt, versorgen soll. Nur die Leitende Körperschaft darf das. Niemand anders.[4]
Den Begriff «Leitende Körperschaft» findet man an keiner Stelle der Bibel. Es ist eine unreligiöse, weltliche Bezeichnung aus der amerikanischen Rechtssprache für das Gremium, das einer Organisation leitend vorsteht. Ab 1944 wurde der Begriff im Zusammenhang mit dem Aufsichtsrat der Wachtturm-Gesellschaft gebraucht. 1971 dann versuchte man, eine Verbindung zwischen den Aposteln Jesu und der Leitenden Körperschaft der Wachtturm-Gesellschaft herzustellen. Laut Eigenaussage werden die Mitglieder von ihrem Bruder Jesus Christus persönlich ernannt.[5] Die Leitende Körperschaft bezeichnet sich selbst wechselnd als den «treuen und verständigen Sklaven», den «Sklaven», die «Sklaven-Klasse» oder auch gern «Brüder Christi».[6]
In der Broschüre Der Wille Jehovas: Wer lebt heute danach? wird über die Mitglieder der Leitenden Körperschaft gesagt: «Diese Männer sehen sich nicht als Führer von Gottes Volk.»[7] Löblich. Gesagt wird aber auch:
Vertreten wird der «treue und verständige Sklave» heute von der leitenden Körperschaft. Sie setzt sich aus erfahrenen geistgesalbten Ältesten zusammen, die führend darin vorangehen, das Königreich auf der ganzen Erde bekannt zu machen, und dieses Werk koordinieren. Ganz besonders auf sie trifft die Formulierung zu «die unter euch die Führung übernehmen» (Heb. 13:7). – WTG[8]
Und:
Jesus Christus, das Haupt, versorgt die Glieder mit allem, was nötig ist, damit sie gut koordiniert zusammenarbeiten und geistig gut genährt sind (Eph. 4:15, 16; Kol. 2:19). So kann auch die leitende Körperschaft durch ihren Aufbau die Führung unter der Leitung des heiligen Geistes übernehmen, wie Jehova es möchte. – WTG[9]
Die Leitende Körperschaft übernimmt die Führung und geht führend voran; ihren Anweisungen ist unbedingt Folge zu leisten, sie sind sakrosankt.[10] Man kann also guten Gewissens behaupten, dass es sich bei den Mitgliedern der Leitenden Körperschaft um die Glaubensführer der Zeugen Jehovas handelt. Und dass diese Hierarchie nicht nur auf dem Papier existiert, sondern innerhalb der Organisation gelebt wird, bestätigte Calvin Rouse, Anwalt der Wachtturm-Gesellschaft, in seiner Aussage vor einem kalifornischen Gericht im Jahr 2012, wo er zu Protokoll gab, die Organisation der Zeugen Jehovas sei eine «hierarchal religion structured just like the Catholic Church […] This is a hierarchal organisation. It is governed from the top down.» Zu Deutsch: Die Zeugen Jehovas sind wie die katholische Kirche eine hierarchisch strukturierte Religion, die von oben nach unten regiert wird.[11]
Übrigens: Erst seit dem 4. Dezember 1975 ist die Lehre und geistige Führung der Zeugen Jehovas das einvernehmliche Ergebnis der Gruppenarbeit der Leitenden Körperschaft. Zuvor hatten die jeweiligen Präsidenten, die dem Gründervater der Wachtturm-Gesellschaft folgten, das letzte Wort in Sachen Doktrin. Letzterer spielt heute kaum noch eine Rolle in der Lehrmeinung. Vermutlich sind viele seine Ansichten der heutigen Wachtturm-Gesellschaft zu fortschrittlich und weltoffen.
Die Zeiten sind vorbei. Zwar räumt die Leitende Körperschaft ein, nicht unfehlbar zu sein.[12] Widerrede oder konstruktive Kritik von der Basis wird trotzdem nicht geduldet. Die Aufgeschlossenheit des Glaubensgründers Charles Taze Russell ist einer Einbahnstraßenmentalität gewichen. Die Lehre der Leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas darf nicht in Frage gestellt werden. Sie fordert bedingungslose Treue ein. Immerhin wurde der «treue und verständige Sklave», also die Leitende Körperschaft, von Gott selbst eingerichtet, sagt die Leitende Körperschaft:
Gottes Liebe zeigt sich in der Belehrung und in den Regeln, die in der Bibel vermittelt werden, sowie in der geistigen Speise, die «der treue und verständige Sklave» austeilt […] Kurz gesagt, wir wandeln mit Jehova, wenn wir uns eng an die Hinweise halten, die er uns hauptsächlich durch sein Wort und durch den «treuen und verständigen Sklaven» gibt […] Jehova zu ehren erfordert auch, dass wir der weltweiten Christenversammlung und ihren Vertretern Respekt entgegenbringen. Halten wir uns eng an biblischen Rat, den uns die Klasse des «treuen und verständigen Sklaven» gibt, dann verrät das unsere Achtung vor dem, was Jehova eingerichtet hat. – WTG[13]
Wer die Leitende Körperschaft kritisiert, läuft Gefahr, als «Abtrünniger», wie religiöse Dissidenten genannt werden, von der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ausgeschlossen zu werden. Loyalität und bedingungsloser Gehorsam gehen Hand in Hand.[14]
Die Grundlagen für diese Nibelungentreue werden bereits im Kindesalter gelegt. Auf der Homepage der Zeugen Jehovas gibt es ein Musikvideo für Kinder, in dem zwei animierte Blagen namens Sophia und Caleb mit gutem Beispiel vorangehend und fröhlich grinsend ein Lied der Wachtturm-Gesellschaft trällern. Titel des Liedes: Listen, obey and be blessed. Wären die Zeugen Jehovas ein physischer Staat, stünde dieses Mantra wie in jedem Endzeitfilm in großen Lettern auf Plakaten überall verteilt. Der Refrain der deutschsprachigen Version Glücklich, wer hört und dann handelt:
Höre doch auf Gottes Wort,
lebe danach und bedenk:
Frieden und Glück sind Jehovas Geschenk.
Höre doch auf Gottes Wort. – WTG[15]
Auch das Buch Auf den großen Lehrer hören aus dem Jahr 1972, ein Buch, mit dem ich aufgewachsen bin, ein Buch, das dafür bestimmt war, Kindern vorgelesen zu werden, lässt keinen Zweifel daran, wie sich vorbildliche Zeugen-Jehovas-Kinder verhalten sollen:
Wenn wir tun, was er [Jehova] sagt, wird es uns zum Schutz sein. Wir sollten ihm stets gehorchen. […] Nur bisweilen zu gehorchen genügt nicht. Wenn du immer gehorchst, wirst du wirklich beschützt werden. […] Ihr Leben hing von ihrem Gehorsam gegenüber Jehova Gott ab. Es genügte nicht, einfach zu sagen, dass sie an Gott glaubten. Sie mussten es durch das, was sie taten, beweisen. Das war die Lektion. Eigentlich war sie nicht so schwer, oder? – Aber sie war sehr wichtig. […] Was aber werden wir tun? – Wenn wir Jehova nicht gehorchen, tun wir, was der Teufel von uns getan haben will. Wenn wir aber unseren Gott in Wahrheit lieben, werden wir seinen Geboten gehorchen. Das werden wir jeden Tag tun, und zwar, weil wir es wirklich tun wollen. – WTG[16]
Das engste Verhältnis zu diesem Jehova, der «hauptsächlich durch sein Wort und durch den ‹treuen und verständigen Sklaven›» mit den Menschen redet, sprich: das Monopol auf die Interpretation von Gottes Wort hat bei den Zeugen Jehovas die Leitende Körperschaft. Deswegen weiß auch jedes Mitglied der Zeugen Jehovas, wem es eigentlich Gehorsam schuldig ist, wenn es Jehova gehorchen soll.
Listen, obey and be blessed.
Derzeit ist ein gutes halbes Dutzend älterer weißer Herren sowie ein älterer Herr afroamerikanischer Herkunft Mitglied der Leitenden Körperschaft. Sie sind alle gesalbt. Gesalbte sind Zeugen Jehovas, die keine irdische Hoffnung haben, also nach Harmagedon nicht im Paradies leben werden, sondern nach ihrem Tod in den Himmel aufsteigen. Dort werden sie angeblich zusammen mit Jesus Christus zu himmlischen Regenten. Nur 144000 gesalbte Menschen passen in den Himmel, der scheinbar nur so groß ist wie Osnabrück und einen umkämpfteren Wohnungsmarkt als Berlin hat. Früher hieß es, die Berufung der treuen Zeugen Jehovas mit himmlischer Hoffnung sei 1935 abgeschlossen worden. Wer danach geboren worden war und sich als gesalbt outete, wurde so schnell als Betrüger enttarnt. Diese Regelung wurde 2007 widerrufen.[17] Nun konnte im Prinzip jeder behaupten, gesalbt zu sein. Was zur Folge hatte, dass die Zahl der gesalbten Zeugen Jehovas seitdem stetig ansteigt, von knapp neuntausend bis auf über 13000 im Jahr 2013.[18]
Diese Tatsache bereitete der Leitenden Körperschaft offensichtlich einiges Kopfzerbrechen. Denn zum einen passten steigende Zahlen von Gesalbten nicht so recht ins Lehrkonzept – die Zahl sollte eigentlich abnehmen, damit das Ende der Welt endlich kommen kann. Zum anderen waren bis dato alle Gesalbten automatisch Teil des «treuen und verständigen Sklaven» und somit technisch gesehen berechtigt, ihren Senf zur Lehre der Zeugen Jehovas beizutragen. Föderalismus war der Leitenden Körperschaft allerdings noch nie so geheuer. Ihr Maßnahmenkatalog: Neuen Gesalbten unterstellten sie, emotional instabil zu sein.[19] Dann warfen sie alle Gesalbten aus der Gruppe des «treuen und verständigen Sklaven», und degradierten sie zu ganz normalen Zeugen Jehovas ohne jegliche Weisungsbefugnis.[20] Übrig blieben, richtig geraten, die Mitglieder der Leitenden Körperschaft: Sie allein bildeten jetzt den «treuen und verständigen Sklaven». Das Problem war mit einer altbewährten Wachtturm-Methodik, von der ich dir später noch erzählen werde, erfolgreich gelöst worden.[21]
Wer bei den Zeugen Jehovas nicht gesalbt ist, kommt mit ein bisschen Glück ins Paradies. Das ist der überwiegende Teil der Zeugen Jehovas, die sogenannte Große Volksmenge. Nach Eigenaussage gibt es weltweit derzeit knapp 7,9 Millionen Zeugen Jehovas, die darauf hoffen, ins Paradies zu kommen. In den USA sind gut zwei Drittel der Zeugen Jehovas Konvertiten. Nur 33 Prozent wuchsen als Zeugen Jehovas auf.[22] Ein beachtlicher Wert, der augenscheinlich für den Erfolg des Predigtdienstes spricht. Schaut man sich allerdings die aktuellen Statistiken an, die die Wachtturm-Gesellschaft veröffentlicht, dann fällt beispielsweise für Deutschland auf, dass die Zahlen der Neuzugänge seit 1997 stagnierend bis rückläufig sind. Deutschland zählt weltweit zu den Ländern mit den schlechtesten Mitgliederzahlen. In anderen Ländern verzeichnen die Zeugen dafür Jahr für Jahr wundersame Mehrung. Welche Kriterien diesen Zahlen zugrundeliegen, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen.[23] Unter Umständen sollte man der Selbstdarstellung der Wachtturm-Gesellschaft aber nicht zu viel Gewicht beimessen:
Dr. Thomas Ragg, Universität Karlsruhe, hat die Zahlen bis in die 60er Jahre zurück erfasst und analysiert. Das Ergebnis weist überraschende Aspekte auf, die nur wenigen Zeugen Jehovas bewusst sein dürften. Dazu gehört auch die Erkennntnis, dass die WTG ihr Zahlenwerk offensichtlich ganz gezielt manipuliert, um negative Entwicklungen in einem besseren Licht darzustellen.[24]
Einer Studie des Pew Research Centers kann man zudem entnehmen, dass nur 37 Prozent der Personen, die als Zeugen Jehovas aufwuchsen, später auch Zeugen Jehovas bleiben. Das beschert den Zeugen Jehovas den schlechtesten Nachhaltigkeitswert aller Glaubensgemeinschaften in den Vereinigten Staaten.[25] Anders ausgedrückt: Zwei Drittel der Menschen, die als Zeugen Jehovas auf die Welt kommen, verlassen die Gemeinschaft als Erwachsene wieder. Fürs Protokoll: Das sind keine Menschen, die erst mühsam bekehrt werden müssen. Die stammen aus dem eigenen Fundus. Die wachsen mit der Doktrin auf, die muss man nicht extra überzeugen. Die kennen nichts anderes, das sind bespielbare, leere Rohlinge! Die perfekten Bestandskunden also. Und trotzdem kann der Großteil nicht langfristig an die Organisation gebunden werden. Katastrophale Werte für eine selbsternannte wahre Religion.
Richtig gelesen: Zeugen Jehovas halten sich für die wahre Religion. Die einzig wahre Religion.
Die Vorstellung, Gott handle mit den Menschen nur durch eine einzige Religion, kommt heute manchen vielleicht extrem vor und geht ihnen gegen den Strich. Aber genau das ist die Schlussfolgerung, die die Bibel aufzeigt. – WTG[26]
Die Zeugen Jehovas sind «überzeugt, die wahre Religion gefunden zu haben»[27]. In ihrer Broschüre Werde ein Freund Gottes sagen sie selbstsicher: «Jehovas Zeugen praktizieren heute auf der Erde die wahre Religion.»[28]
Übrigens: Dass Zeugen Jehovas glauben, die wahre Religion zu sein, liegt unter anderem an dir. Wenn du sie an der Haustür abweist, ist das ein Zeichen. «Wenn wir um der Gerechtigkeit willen Gegnerschaft und Verfolgung erdulden müssen, ist das ein Beweis, dass wir als wahre Christen in Gottergebenheit leben», heißt es einmal im Wachtturm.[29] Wenn du sie hereinbittest und Interesse zeigst oder gar Zeuge Jehovas wirst: auch. Egal, was du tust, du bleibst nichts anderes als ein kleines, aber feines Glied in ihrer Indizienkette.
Der eben erwähnten Studie von Pew Research zufolge gaben 80 Prozent der Zeugen Jehovas in den Vereinigten Staaten zu Protokoll: «Meine Religion ist der einzig wahre Glaube, der zu ewigem Leben führt.» Vielleicht auch deshalb lehnt die Wachtturm-Gesellschaft die Zusammenarbeit mit anderen Glaubensgemeinschaften sowie einen interreligiösen Dialog ab.[30]
Diese Verschlossenheit ist wahrscheinlich ein Grund, weshalb es so viele Vorurteile gegenüber den Zeugen Jehovas gibt, wie beispielsweise, dass sie eine Weltuntergangssekte sind, Weihnachten und Geburtstage nicht feiern, Bluttransfusionen und Homosexualität ablehnen, Frauen nicht Pfarrer werden lassen oder dass sie alles Weltliche mit Argwohn betrachten und keinen Spaß haben dürfen. Weltlich, damit wird alles bezeichnet, was nicht theokratisch ist: Filme, Bücher, Musik, Menschen. Für alle Menschen, die beim Kauf dieses Buches jünger als 30 Jahre alt waren, kann ich den Begriff weltlich, wie er von den Zeugen Jehovas verwendet wird, mit einem Wort erklären: muggle.
Ach so, sagte ich Vorurteile? Ich muss mich korrigieren. Vier dieser Behauptungen sind wahr. Nur eine kann man so nicht stehen lassen.
Er wurmt mich. Es ist absurd, angesichts dessen, was mich erwartet, aber er wurmt mich, der Spruch des Polizisten, als ich ihm meine Geschichte erzählte. Zeugen Jehovas, grinste er, das sei doch diese Weltuntergangssekte. Nein, dachte ich. Das stimmt nicht. Wir glauben nicht an den Weltuntergang. Und wir sind keine Sekte.
Wir.
Ich denke tatsächlich in «Wir»-Maßstäben. Absurd, angesichts dessen, was mich erwartet, denke ich, und verlasse die Ausfallstraße.
Wir hatten keinen Bunker im Keller. Keinen Bunker und keine Vorräte darin, kein eingelegtes Obst und kein Gemüse, keine Dosen für drei Monate, keine Marmelade, kein Zwieback, keine Kerzen, keine Matratze, kein Radio, kein Funkgerät, keine Comics und keine Bücher, keinen Campingkocher und auch keinen Dosenöffner. Im Keller stand Gerümpel, mein Fahrrad, ein altes Möbel. Da war kein Platz, um Schutz zu suchen.
«Warum haben wir keinen Bunker?», fragte ich meinen Vater.
«Warum sollten wir einen Bunker haben?», entgegnete er verblüfft.
«Für Harmagedon», antwortete ich. Er lachte.
«So funktioniert das nicht.»
«Aber, was wird denn jetzt genau in Harmagedon passieren?»
«Wir müssen einfach auf Jehova vertrauen. Du musst auf Jehova vertrauen.»
«Aber wo gehen wir hin, wenn Harmagedon kommt?»
«Jehova wird auf sein Volk aufpassen. Vermutlich treffen wir uns mit den anderen Brüdern und Schwestern im Königreichssaal. Und dann wird uns der ‹treue und verständige Sklave› wissen lassen, was Jehova mit uns vorhat.»
Ich kannte den Königreichssaal in- und auswendig. Da gab es keine Dosen, keinen Zwieback, keinen Campingkocher. Auch keine Comics. Nur Bibeln, Wachttürme