Gorbatschow - Ignaz Lozo - E-Book

Gorbatschow E-Book

Ignaz Lozo

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Beschreibung

Ignaz Lozo hat Michail Gorbatschow in den vergangenen drei Jahrzehnten rund ein Dutzend Mal interviewt, zuletzt 2019 für diese Biografie. Er hat mit politischen Weggefährten wie Widersachern gesprochen und eine Vielzahl neuer russischer Quellen ausgewertet – auch solche, die als Staatsgeheimnis deklariert sind. Er hat sich auf Spurensuche an die Orte begeben, in denen Gorbatschow seine Kindheit und Jugend verbrachte. Mit dieser Biografie, die erstmals Gorbatschows ganzes Leben umspannt, legt Lozo ein politisches und persönliches Porträt vor.  Der renommierte Autor und Osteuropa-Historiker wirft auch einen hintergründigen Blick auf den Untergang der Sowjetunion und den russischen Krieg gegen die Ukraine, dessen Beginn Gorbatschow noch erlebte.

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Seitenzahl: 600

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Meinem Sohn Marc,

meiner Schwester Maria,

meinem Schwager Roland Lessig

und in dankbarer Erinnerung meinen Eltern

Die 1. Auflage erschien 2021 bei der wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft),

Darmstadt

2. erweiterte Auflage 2024

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Lektorat: Melanie Heusel, Freiburg

Gestaltung und Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: Deutsche Bundesstiftung Umwelt

Abb. auf S. 2: Michail Gorbatschow um 1950;

© Gorbatschow-Stiftung, Moskau

ISBN Print: 978-3-451-03490-9

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-83543-8

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83547-6

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

INHALT

Vorwort zur 2. Auflage

1. Strickjacken und der Mantel der Geschichte

2. Kindheit und Jugend im Nordkaukasus

Stalins Terror

Das leckerste Eis der Welt

Vom reitenden Postboten zum Musterschüler

Griff nach den Sternen

3. Hochzeit in geliehenen Schuhen

Stalinist

Holpriger Start mit Raissa

Ja-Wort ohne Verwandtschaft

Junges Glück mit Rückschlägen

4. Vom Juristen zum Parteifunktionär

Tauwetter

5. Zar in der Provinz

Protektion aus dem Moskauer KGB

Ein Reformer schon in jungen Jahren?

Die erste Reise in die Bundesrepublik

Privilegiert und systemtreu

6. Im Moskauer Geflecht der Intrigen

Aufstieg ins Politbüro

Mehltau-Jahre

Andropows Kronprinz

Straucheln kurz vor der Spitze

7. 1985: Endlich auf dem Kreml-Thron

Gorbatschow holt Jelzin ins Team

Bürgernähe und Mobilmachung gegen Alkohol

Zurück zu Lenin

Ende der Eiszeit

8. Glasnost und die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl

Der größte anzunehmende Unfall tritt ein

„In der Sowjetunion gibt es keinen Sex“

Perestroika light

9. Perestroika – die zweite russische Revolution?

Der Fall Jelzin

10. Abschied vom sowjetischen System

11. Kontrollverlust im Innern

12. Gorbatschow, die Befreiung Europas und der Mauerfall

Das Gemeinsame Europäische Haus

Unsere Deutschen, deren Deutsche

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Der Mauerfall aus sowjetischer Sicht

13. Deutsche Einheit für Nichterweiterung der NATO?

Grünes Licht für die Wiedervereinigung

Westliche und östliche Positionssuche in der Bündnisfrage

14. Doppelherrschaft in Moskau – Anarchie und Agonie

15. 1991: Zerfall, Putsch und der Untergang der Sowjetunion

Der Blutsonntag von Vilnius

Zwei Züge auf Kollisionskurs

Der August-Putsch 1991

Der Totenschein für die Sowjetunion

16. Das Leben nach dem Kreml

Buchautor und Kommentator

Publikumsmagnet im Ausland

Gorbatschow, der Politiker nach 1991

Gorbatschow, der Privatmann

17. Ukraine-Krieg, Krankheit und Tod

Epilog

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Personenregister

Bildnachweis

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

Michail Gorbatschow war der größte Reformer des 20. Jahrhunderts. Er starb am 30. August 2022 in Moskau. Diese erweiterte Neuausgabe bezieht sein letztes Lebensjahr und seinen Tod ein. Damit liegt jetzt die erste Biografie vor, die sein ganzes Leben umspannt. Sie wirft ferner einen Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022, den Gorbatschow noch erleben musste.

Die Gorbatschow-Stiftung in Moskau hatte im März 2021 einen Beitrag mit der Überschrift und der Unterzeile veröffentlicht: „Zum 90. Geburtstag Gorbatschows erschien in Deutschland seine Biografie – Das Buch von Ignaz Lozo ist die weltweit erste wissenschaftlich fundierte Biografie über den Präsidenten der Sowjetunion, die von einem Historiker verfasst wurde.“*

Das erscheint doch recht erstaunlich angesichts der vielen Publikationen, die es bis dahin über ihn gab. Am Anfang meiner Arbeiten zu diesem Buch war ich überrascht, dass noch kein einziger Historiker diese Aufgabe in Angriff genommen hatte.

Ich bin dankbar, dass ich Michail Gorbatschow in den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens insgesamt rund ein Dutzend Mal treffen durfte, zuletzt 2019 in Moskau zu einem Vier-Augen-Gespräch. Ein Exemplar der ersten Auflage meines Buches, das anderthalb Jahre vor seinem Tod veröffentlicht wurde, ließ sich Gorbatschow in sein Haus bei Moskau bringen. Das Cover, der Titel und die Auswahl der Fotos gefielen ihm sehr gut, ließ er mir über die Direktorin seiner Stiftung ausrichten. Die Realisierung der geplanten russischen Edition machte der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine leider zunichte.

Diese Biografie über Gorbatschow geht insbesondere der Frage nach, wie sich dieser einst systemkonforme Kommunist von der Ideologie und vom Block-Denken löste, wie er vom Dogmatiker zum Freiheitsgeber wurde. Besonderes Augenmerk liegt auf dem Poker um die Deutsche Einheit, von der Gorbatschow selbst sagte, sie sei eine seiner „wichtigsten Taten“ gewesen.*

Diese Biografie gibt ferner eine klare Antwort auf die strittige und viel diskutierte Frage, ob Gorbatschow in den Wendejahren vom Westen versprochen wurde, dass es keine NATO-Erweiterung nach Osten geben würde.

Die Komplexität von Michail Gorbatschows Persönlichkeit ist ebenso wie sein Wirken herausragend. Es war ein atemberaubender Lebensweg – voller Erfolge, Niederlagen, Brüche und Widersprüche. Mir war und ist es immer wichtig, Akteure und Zeitzeugen selbst zu befragen sowie an die historischen Schauplätze zu gelangen. So bekam ich 2015 beispielsweise exklusiven Zugang zu der Staatsdatscha im Kaukasus, wo Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl im Juli 1990 die Verhandlungen über die Deutsche Einheit bahnbrechend abschlossen. Auch durfte ich die geheime ehemalige sowjetische Staatsresidenz in Viskuli (heute in Belarus) besuchen, wo 1991 das Ende der Sowjetunion besiegelt wurde.

Meine eindrucksvollen Erlebnisse, Begegnungen und Gespräche auf den zahlreichen Reisen in Russland, der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sind in dieses Buch eingeflossen mit dem Anliegen, Geschichte wissenschaftlich fundiert und zugleich lebendig zu erzählen.

Wiesbaden, im Mai 2024

Ignaz Lozo

* Fond Gorbačeva: K 90-letiju Gorbačeva v Germanii vyšla ego biografija – Kniga Ignaca Lozo eto pervaja v mire naučnaja biografia presidenta SSSR, napisanaja istorikom, 04.03.2021: https://gorby.ru/presscenter/news/show_30227/

* „Es war unmöglich, so weiterzuleben“. Michail Gorbatschow im Interview mit Anna Sadovnikova, in: Der Spiegel 46/2019, 9.11.2019, S.46. Im Folgenden wird Michail Gorbatschow mit M.G. abgekürzt.

1. STRICKJACKEN UND DER MANTEL DER GESCHICHTE

Zu den ikonischen Bildern der Deutschen Einheit gehören jene vom Sommer 1990 mit Michail Gorbatschow und Helmut Kohl im Kaukasus. Dort trafen sich die beiden Staatsführer und ihre Delegationen in einer sowjetischen Staatsdatscha. 25 Jahre später, lange vor dem flächendeckenden russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, erhalte ich die exklusive Erlaubnis, diesen bis heute streng abgeschirmten Ort zu besichtigen.

Nachdem die Wachmänner meine Personalien überprüft haben, öffnet ein Posten das massive Eisentor, das zum Anwesen führt. Es sind noch einige Hundert Meter Fahrt auf dem asphaltierten Weg durch den Wald und entlang schön angelegter Gärten, bevor die Staatsdatscha auf einer malerischen Lichtung sichtbar wird. „Datscha“ ist eigentlich das falsche Wort, denn der Bau gleicht eher einer Trutzburg in der Größe von etwa drei Einfamilienhäusern. Der sowjetische Geheimdienst ließ das Objekt einst als Feriendomizil für die kommunistische Parteispitze bauen. Es liegt vor dem Ortseingang von Archys, einem kaukasischen Bergdorf, das heute rund 600 Seelen zählt.

Der damalige Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Juri Andropow, reiste eigens aus Moskau an, um das Gebäude zu begutachten und am 6. Oktober 1978 zu eröffnen. Hauswirtin Valentina Schaposchnikowa erinnert sich: Alles sei damals so geheim gewesen, dass nicht einmal die Hausbediensteten erfuhren, wer hier Urlaub machen oder als Gast kommen würde. Alle hätten eine Erklärung unterschreiben müssen, niemals auch nur ein Wort über die Datscha und die Gäste nach außen dringen zu lassen. Entsprechend hätten sie keine Fragen gestellt, auch nicht im Juli 1990. „Dass Präsident Gorbatschow und Kanzler Kohl kommen, verriet mir ein KGB-Mann erst in letzter Minute“, erzählt Schaposchnikowa und fügt hinzu: „Äußerlich ist hier alles wie seit der Eröffnung 1978: Die Möbel, die gesamte Einrichtung, selbst die Tapeten sind gleich geblieben. Nur untersteht das Gebäude jetzt nicht mehr dem KGB, sondern der Administration des russischen Präsidenten.“1

Helmut Kohl bezeichnete die Regierungsdatscha in seinen Memoiren als „alte Oberförsterei“, in anderen Publikationen ist die Rede von einer „Jagdhütte“, was beides nicht zutrifft. Im Eingangsbereich springt einem zwar ein ausgestopfter Gebirgsbock ins Auge, und auch im kleinen Konferenzraum hängt an der Wand der Kopf eines Ebers – aber das war es auch schon. In dieser Residenz für die Parteielite verbrachte Gorbatschow mit seiner Familie öfter seinen Winterurlaub und feierte ins neue Jahr hinein.

Warum fiel 1990 die Wahl ausgerechnet auf Archys als Ort für solch epochale Verhandlungen mit den Deutschen, warum nicht auf Moskau? Weil es die Heimat Gorbatschows und ein Privileg sei, von einem Russen nach Hause eingeladen zu werden, lautet seit Jahrzehnten die landläufige Erklärung. Tatsächlich aber befindet sich das Dorf in der Republik Karatschai-Tscherkessien. In Archys, rund 20 Kilometer von der Grenze zu Georgien entfernt, leben überwiegend turkstämmige Karatschaier – ein Bergvolk, das in Deutschland so gut wie niemand kennt. Gorbatschows Geburtsort Priwolnoje hingegen liegt gut sieben Autostunden und rund 450 Kilometer nördlich und ist überwiegend von Russen bewohnt. Helmut Kohl und seine Delegation, zu der unter anderen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Finanzminister Theo Waigel und der außenpolitische Kanzler-Berater Horst Teltschik gehörten, bekamen daher in jenen Juli-Tagen 1990 Gorbatschows eigentliche Heimat gar nicht zu Gesicht.

Bei ihren früheren Begegnungen ab 1988 hatten Kohl und Gorbatschow immer wieder ihre prägenden Erinnerungen an die Schrecken und Entbehrungen des Zweiten Weltkriegs ausgetauscht. Beim Überfall des „Dritten Reichs“ auf die Sowjetunion im Juni 1941 war Michail Gorbatschow zehn, Helmut Kohl elf Jahre alt gewesen. Diese Gemeinsamkeit einer Kindheit im Krieg, wenn auch auf verschiedenen Seiten, verband die beiden ungemein.

1 Sowjetische, jetzt russische Staatsresidenz in Archys. Michail Gorbatschow und Ehefrau Raissa wohnten im mittleren Teil im ersten Stock. Helmut Kohl links daneben, im leicht zurückgesetzten Teil. Links unten im Bild: der Gebirgsfluss Bolschoi Selentschuk.

Es ist Gorbatschow, der informell bei seinem Bonn-Besuch 1989 den Vorschlag macht, den Bundeskanzler ins kaukasische Stawropol einzuladen, wohin es den späteren Kreml-Chef nach seinem Studium in Moskau verschlug und wo seine politische Karriere begann. Das Stawropol des einen entspricht gewissermaßen dem Mainz des anderen, wo die Polit-Karriere des Pfälzers Kohl Fahrt aufnahm. Dem Bundeskanzler gefällt dieser Gedanke, weshalb er seinen außenpolitischen Berater Teltschik beauftragt, bei dessen Moskau-Besuch im Mai 1990, als es um dringende deutsche Finanzhilfe für die Sowjetunion geht, Gorbatschow an diesen Vorschlag zu erinnern. Erst zwei Monate später und nur wenige Tage vor der geplanten Moskau-Reise des Bundeskanzlers lässt Gorbatschow Teltschik ausrichten, dass tatsächlich neben Moskau auch Stawropol zum Programm gehören wird. Von Archys aber ist noch keine Rede.2

Die abgeschirmte „KGB-Datscha“ kommt aus mehreren Gründen später noch ins Spiel: zum einen wegen der idealen Bedingungen für eine persönliche Begegnung, die sie den Hauptverhandlungspartnern bietet; dann wegen der landschaftlichen Schönheit ihrer unmittelbaren Umgebung; und schließlich wegen der Abgeschiedenheit und Unerreichbarkeit für unerwünschte Presse. Die meisten Medienvertreter sind ausgeschlossen und dürfen von Moskau und von Stawropol nicht nach Archys weiterreisen. Nur ein handverlesener Journalisten-„Pool“ versorgt die Weltpresse mit Bildern. Informationen über die Verhandlungsergebnisse dringen jedoch vorerst nicht durch. Diese werden der Welt erst nach Abschluss des Treffens im 200 Kilometer entfernten Schelesnowodsk präsentiert.

Nach der Rückkehr von dieser historischen Reise wird Kohl nicht nur von seinen westlichen Verbündeten gefeiert, sondern selbst die innerdeutsche Opposition zollt ihm Respekt. Schnell ist in der Öffentlichkeit die Rede vom „Wunder vom Kaukasus“ und vom „Strickjackentreffen“. Doch was hatte Gorbatschow dazu bewogen, Deutschland die volle Souveränität zurückzugeben? Was hatte sich in der „Datscha“ ereignet?

Nur die beiden Staatschefs waren direkt in der Regierungsdatscha untergebracht, während die Minister und übrigen Delegationsmitglieder in anderen Gebäuden außerhalb des streng bewachten Areals einquartiert waren. Vom Eingangsbereich im Erdgeschoss führt noch heute eine Tür geradewegs in ein überschaubares Verhandlungszimmer mit rundem Tisch. Links vom Flur befindet sich ein Billardzimmer und rechts ein geräumiger Speisesaal. Und genau dort, an einem langen Esstisch, verhandelten beide Seiten über den Abzug der Sowjetarmee aus der DDR und über die alles entscheidende Frage, ob Gesamtdeutschland Mitglied der NATO werden dürfe oder nicht.

Über eine mächtige Treppe gelangt man in das Obergeschoss, wo Gorbatschow und Kohl direkt nebeneinander untergebracht waren: jeweils ein Schlafzimmer, ein Wohnraum und ein großes Tageslichtbad, nicht luxuriös, eher gut bürgerlich. Mir bieten die Gastgeber 2015 an, in Kohls oder in Gorbatschows Räumlichkeiten zu übernachten. Ich entscheide mich für Kohls; habe wirklich noch nie so gut geschlafen auf einer Dienstreise wie dort: die Ruhe, die Natur, die gute Bergluft – einfach wunderbar.

*

Bei dem Kaukasus-Gipfel 1990 hatte Gorbatschow auf die obligatorischen Personenschützer verzichtet, die vor den Nachtquartieren von Staats- oder Regierungschefs üblicherweise postiert sind.

Welche Diskrepanz: Einerseits die weltberühmten Archys-Aufnahmen an der Uferböschung des reißenden Flusses Bolschoi Selentschuk, wohin Gorbatschow und Kohl hinabgestiegen waren, oder die Fernsehbilder von einer Sitzgruppe aus Baumstümpfen, wo die beiden Staatsmänner mit ihrer jeweiligen Entourage Entspanntheit und Leichtigkeit zur Schau stellten. Andererseits: Der immense politische, der wirtschaftliche und vor allem auch der moralische Druck, der auf dem Kreml-Chef lastete. Nicht wenige im Land warfen ihm vor, die territorialen Errungenschaften des Zweiten Weltkriegs, die mit dem Blut der Veteraninnen und Veteranen erkämpft worden waren, leichtfertig preiszugeben. 1990 lebten ja noch viele Veteranen. Sie hatten aber – wie Teile der übrigen Bevölkerung – durchaus auch Verständnis für die deutsche Sehnsucht nach Wiedervereinigung. Helmut Kohls Dienstreise nach Moskau, Stawropol, Archys und Schelesnowodsk Mitte Juli 1990 wird zur wichtigsten in seinen 16 Jahren als Bundeskanzler. Er spürt den Zeitdruck: Wenn überhaupt, kann er die Einheit nur unter Dach und Fach bringen, solange Gorbatschow am Ruder ist. Und der Kreml-Chef seinerseits sucht die politische Nähe des Kanzlers, braucht unbedingt finanzielle Hilfe für die schon zu diesem Zeitpunkt kollabierende und implodierende Sowjetunion. Doch es wäre zu simpel und verzerrend, in dieser Notlage die entscheidende Voraussetzung für die politischen Zugeständnisse des Kremls zu sehen.

*

2 Gorbatschow und Kohl am Bolschoi Selentschuk am 15. Juli 1990

Wirtschaftlich am Abgrund und gefangen in der Planwirtschaft – wie sich das im Alltag ausnahm, erlebte ich im Juni 1990 bei meiner ersten Reise nach Moskau. Als ich damals eines der Geschäfte auf dem Kusnetski Most nahe der Lubjanka, der berüchtigten KGB-Zentrale, betrat, konnte ich es nicht fassen: Im ganzen Laden nur leere Regale, keine Ware, nichts! Folgerichtig war ich auch der einzige Kunde, doch die Kassiererin hinter der manuellen Kasse musterte mich nur seelenruhig. Ich stellte mich höflich als Besucher aus Deutschland vor und wagte die naheliegende Frage, warum die Kasse überhaupt besetzt bleibe, wo es doch keinen einzigen Artikel zu kaufen gab: „Nun, das ist halt meine Arbeit“, erwiderte die Frau eher teilnahmslos. Der deprimierende Gedanke, dass jemand mindestens acht Stunden lang in einem leeren Laden sinnlos vor einer Kasse sitzt, prägte sich mir ein, dabei war diese Frau sicher nur ein Sandkorn in der durch die Planwirtschaft verursachten sowjetischen Wüstenei.

*

Im Juli 1990 ging es in Archys für Gorbatschow in erster Linie darum, kurzfristig Hilfe von außen für seine Misere im Innern zu bekommen und mit der Bundesrepublik einen langfristigen wirtschaftlichen Partner zu gewinnen. Angesichts des kolossalen Drucks, dem er von verschiedenen Seiten ausgesetzt war, ist es erstaunlich und bewundernswert zugleich, mit welcher Ruhe Gorbatschow agierte. Doch an fehlendem Selbstbewusstsein hat er nach eigener Darstellung nie gelitten, im Gegenteil. „Ich war oft einfach zu selbstsicher“, räumte er lange nach seinem Ausscheiden aus dem Amt ein.3

Blickt man auf die Ereignisse rund um sein Sommer-Treffen mit der deutschen Seite, stockt einem der Atem. Alltäglich schlugen allein in der ersten Juli-Woche umwälzende Nachrichten ein. Das Nachkriegsgefüge, der Kalte Krieg, alles, was sich bis dahin politisch mit der Sowjetunion und dem Block-Denken verband, schien obsolet, und es wurde von Ost und West eine neue Zeit ausgerufen: eine Zeit der Kooperation und sogar der Freundschaft. Die NATO selbst erklärte auf ihrem Gipfel am 5. und 6. Juli 1990 in London nicht nur die Block-Konfrontation für beendet, sondern kündigte auch eine neue Militärstrategie an sowie „neue Streitkräftepläne, die den revolutionären Veränderungen in Europa“ Rechnung tragen sollten.4 US-Präsident George H. W. Bush erklärte feierlich in London: „Ich bin froh, verkünden zu können, dass meine Kollegen und ich mit einer umfangreichen Umgestaltung der NATO begonnen haben – und wir betrachten dies als einen historischen Wendepunkt. Die Londoner Deklaration gestaltet das Verhältnis zu unseren früheren Gegnern neu. Den Regierungen, die uns im Kalten Krieg gegenüberstanden, reicht unser Bündnis die Hand zur Freundschaft.“5

Alle Staats- und Regierungschefs des Warschauer Pakts, des östlichen Militärbündnisses, wurden nicht nur persönlich in die Brüsseler NATO-Zentrale eingeladen, sondern es wurde ihnen auch die Möglichkeit gegeben, ständige diplomatische Verbindungen mit der NATO aufzunehmen. Dieses Angebot erging natürlich auch an die Sowjetunion, natürlich auch an Gorbatschow. Seine Zugeständnisse an die Deutschen hinsichtlich der militärischen und finanziellen Details sind unbedingt auch vor diesem Hintergrund zu erklären und nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen Bedürftigkeit seines Landes in jener Phase. Grundsätzlich stand den Deutschen aber laut Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) das Recht zu, die Bündniswahl frei zu treffen; die Sowjetunion hatte da genauso wenig wie jeder andere Staat ein Mitspracheoder gar Blockaderecht. Allerdings basierte die Schlussakte auf dem Prinzip der Selbstverpflichtung, sie hatte keinen verbindlichen Vertragscharakter.

Vor diesem Hintergrund fand 1990 die Kaukasus-Reise statt, die einem eng getakteten Zeitplan folgte. Am Samstag, den 14. Juli, landeten die Deutschen vom Flughafen Köln/Bonn kommend am späten Abend in Moskau, wo am nächsten Morgen die ersten Gespräche im Gästehaus des Außenministeriums begannen. Außer den beiden Dolmetschern Andreas Weiß und Iwan Kurpakow nahmen neben Gorbatschow und Kohl nur die beiden Berater Horst Teltschik und Anatoli Tschernajew daran teil. Bei der Begrüßung fiel der berühmte Ausdruck vom „Mantel der Geschichte“ oder, was später medial entsprechend zurechtgebogen wurde, wie Helmut Kohl in seinen Memoiren festhielt:

Gorbatschow begrüßte mich mit den Worten, die Erde sei rund und ich flöge ständig um sie herum. Mein Bedarf an Reisen sei gedeckt, erwiderte ich, aber es handle sich jetzt um historisch bedeutsame Jahre, und solche Jahre kämen und gingen, deshalb müsse man die Chance nutzen. Wenn man nicht handle, seien sie vorbei, meinte ich und führte Bismarck an mit dem Satz: „Man kann nicht selber etwas schaffen. Man kann nur abwarten, bis man den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört; dann vorspringen und den Zipfel seines Mantels fassen – das ist alles“ – die Medien machten daraus dann den viel zitierten „Mantel der Geschichte“.6

Gorbatschow erwiderte, er kenne den Bismarck-Spruch nicht, fände die Aussage aber interessant und richtig. Während des fast zweistündigen Gesprächs versicherte Gorbatschow ruhig, das vereinte Deutschland könne Mitglied der NATO sein, und laut Protokoll wiederholte er diese sensationelle Aussage sogar. In der anschließenden Pressekonferenz in Moskau wich er jedoch aus und ruderte etwas zurück, indem er – darauf angesprochen – erklärte: „Alles fließt“.7

Kommt hier ein (vermeintliches) Wesensmerkmal des Politikers Gorbatschows zutage, das ihm nicht nur seine Gegner im eigenen Lande, sondern auch einige westliche Politiker und Kommentatoren während und nach seiner Amtszeit vorhielten? Dass er wankelmütig, zaudernd und ohne klare Linie sei? In Wirtschaftsfragen traf dies sicherlich zu, weil er davon wenig verstand. Angesichts der Komplexität der Probleme und der sich zum Teil explosiv gegenüberstehenden innersowjetischen Interessen- und Machtkonstellationen, die Gorbatschow im Blick haben musste, ist dieser Vorwurf in der NATO-Frage jedoch nicht berechtigt, zumal auch die westlichen Siegermächte nach dem Mauerfall erst ihre Positionen finden mussten. In Moskau demonstrierten zeitgleich zum Kohl-Besuch Hunderttausende gegen den sowjetischen Zentralstaat an sich. Die deutsche Delegation bekam allerdings von diesen Massenprotesten nichts mit, da sie vom Gästehaus des Außenministeriums, einige Kilometer vom Kreml entfernt, direkt zum Regierungsflughafen gebracht wurde.

Die Flugzeit in das rund 1500 Kilometer südlich gelegene Stawropol im Nordkaukasus betrug etwa zwei Stunden. Hier hatte 1955 die Parteikarriere des 24-jährigen Gorbatschow begonnen. Stawropol war für die beiden Delegationen ein eher flüchtiger Aufenthalt; verhandelt haben beide Seiten hier überhaupt nicht. Angesichts der Tatsache, dass Stawropol zwischen August 1942 und Januar 1943 unter deutscher Besatzung stand und ein Großteil der Bevölkerung damals vor der anrückenden Wehrmacht geflohen war, hatte der Besuch der deutschen Regierungsspitze aber einen hohen Symbolwert, der die uneingeschränkte Versöhnungsbereitschaft der sowjetischen Führung unterstreichen sollte. Am Ehrenmal für die Kriegstoten hielten Gorbatschow und Kohl inne – umringt von Hunderten Bürgern, darunter viele Veteranen.

Hans Klein, mitgereister Sprecher der Bundesregierung und Bundesminister für besondere Aufgaben, notierte dazu: „Ein Sprecher der Veteranen, die zu dieser Kranzniederlegung gekommen sind, appelliert an Kohl und Gorbatschow, alles zu tun, damit Deutsche und Russen Partner würden und nie wieder Leid übereinander brächten. Jetzt ist dem Kanzler die Rührung anzumerken. Die alten Kriegsteilnehmer sind ohne Jacke, im kurzärmeligen Hemd, aber mit Orden und Auszeichnungen auf der Brust erschienen.“8 Dann erklimmen Gorbatschow, sein Außenmister Eduard Schewardnadse und andere Mitglieder der sowjetischen Führung gemeinsam mit Kohl, Genscher und Waigel die Tribüne des wuchtigen Lenin-Denkmals mitten auf dem zentralen Platz von Stawropol, um dort der Menge zuzuwinken wie sonst die Parteiführung anlässlich der Paraden zum 1. Mai oder zum Jahrestag der sogenannten Oktoberrevolution. Der JournalistenTross folgte ihnen auf Schritt und Tritt, aber inhaltlich gab es noch sehr wenig zu berichten.

Lenin, immer wieder Lenin. Sein Porträt hing auch noch in Gorbatschows altem Büro, das er den Deutschen im Haus der Sowjets von Stawropol zeigte. „Hier hat alles angefangen“,9 erläuterte damals der Kreml-Chef. Um anschließend in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje und zu den Orten seiner Kindheit und Jugend zu gelangen, hätten die Delegationen jetzt gut 160 Kilometer nördlich reisen müssen. Sie flogen aber mit mehreren Hubschraubern in die entgegengesetzte Richtung, nach Archys, rund 300 Kilometer südlich von Stawropol.

Auf dem Weg dorthin legten sie einen kurzen Zwischenstopp auf dem Acker einer Kolchose im Dorf Iwanowskoje ein, wo die beiden Staatsmänner mit den Dorfbewohnern in Kontakt kamen, einen Mähdrescher bestiegen und ein Stück gemeinsam fuhren. Der westdeutsche Botschafter in Moskau, Klaus Blech, hielt alles mit seiner V-8-Videokamera fest und kam somit in Besitz eines einzigartigen Filmdokuments, waren die Möglichkeiten der Medienvertreter während dieser historischen Kaukasus-Reise doch äußerst eingeschränkt. Botschafter Blech erinnerte sich: „Der Flug nach Archys – ob das große Historie würde, wussten wir nicht, aber dass es spannend werden würde, das war klar.“10 Noch vor der Dämmerung an jenem Sonntag, dem 15. Juli 1990, landeten Gorbatschow, Kohl und die Delegationen schließlich auf dem Hubschrauberplatz vor der Staatsdatscha.

Kurz nachdem sie ihre Zimmer bezogen hatten, ließ Gorbatschow anfragen, ob Kohl vor dem Abendessen noch an die frische Luft gehen wolle, was dieser zusagte. Die beiden Staatsmänner wechselten in legere Kleidung: Kohl trug nun eine dunkelblaue Strickjacke, Gorbatschow einen dunkelblauen Pullover. In Begleitung ihrer Minister, Gorbatschows Ehefrau Raissa und einer Handvoll sowjetischer und deutscher Journalisten brachen sie auf – anders als später kolportiert jedoch nicht zu einer Wanderung mit Rast,11 sondern lediglich zum hinter dem Haus gelegenen Fluss Bolschoi Selentschuk und zu jener am Ufer gelegenen Sitzgruppe aus Baumstümpfen.

Diese Bilder einer vertrauensvollen Zusammenkunft gingen um die Welt, vor allem auch in die ganze Sowjetunion; seinen Bürgern wollte Gorbatschow zeigen, dass das Verhältnis zu den Deutschen ein fundamental neues war, das nichts mehr mit der dunklen Vergangenheit zu tun hatte. An Letztere erinnerte Gorbatschow den Bundeskanzler nichtsdestotrotz bei den offiziellen Gesprächen dieser Reise: „Wir können unsere Vergangenheit nicht vergessen. Jede unserer Familien wurde seinerzeit vom Unheil heimgesucht. Es gilt aber heute, sich Europa zuzuwenden und den Weg der Zusammenarbeit mit der großen deutschen Nation einzuschlagen.“12 Natürlich hing der Schatten dieser Vergangenheit auch über den Verhandlungen in Archys, denn der „Große Vaterländische Krieg“, wie er in der Sowjetunion genannt wird, lag gerade einmal 45 Jahre zurück.

Die hölzerne Sitzgruppe wurde Jahre später abgebaut, nach Deutschland abtransportiert und ersetzt durch eine Nachbildung. Das Original dient als Exponat im Bonner Haus der Geschichte. Auch Gorbatschows Pullover und Kohls Strickjacke sind dort ausgestellt, ebenso wie ein sowjetischer Panzer des Typs T-34, mit dem noch am 17. Juni 1953 der Aufstand der DDR-Bürger gegen das SED-Regime blutig niedergeschlagen worden war.

Als die Film- und Fotoaufnahmen vom trauten Beisammensein am schlichten Holztisch gemacht waren, lud Gorbatschow die Deutschen zum Abendessen in die Staatsdatscha ein. Hauswirtin Valentina Schaposchnikowa hätte die Bewirtung allein nicht geschafft. Fünf Köche aus Moskau waren daher eingeflogen worden, um in der auch heute noch erstaunlich einfach eingerichteten Küche ans Werk zu gehen. Hinter dem Speisesaal und einer düsteren Kammer gelegen, unterscheidet sie sich wohl kaum von anderen Küchen in den umliegenden Bergen.

Während des Abendessens der beiden Delegationen waren keine Verhandlungen vorgesehen. Gorbatschow erzählte die eine oder andere Anekdote und vergaß nicht, Helmut Kohl anerkennend zum Fußballweltmeistertitel zu gratulieren. Am Sonntag zuvor, dem 8. Juli, war die DFB-Elf mit ihrem Teamchef Franz Beckenbauer und Kapitän Lothar Matthäus in Rom gegen Argentinien als Final-Sieger vom Platz gegangen. Der Bundeskanzler war live dabei gewesen.

Mit armenischem Cognac in der Hand hob Gorbatschow zu einem Trinkspruch an: ein Hoch auf Deutschland, das in jenen Tagen nicht nur politisch, sondern auch sportlich im Fokus der Weltöffentlichkeit stand. Dass Fußball etwas Völkerverbindendes hat, mag eine Binsenweisheit sein, hier in Archys diente er tatsächlich der Auflockerung und Entspannung. Kohl notierte in seinen Memoiren, Gorbatschow habe seinen Schilderungen über den Verlauf des Endspiels interessiert gelauscht und Zwischenfragen gestellt.

Zudem erzählte Gorbatschow von seiner Kindheit während des stalinschen Terrors in den 1930er-Jahren und von der deutschen Besatzung seines Dorfes Priwolnoje. Jener Mann, der in der Bundesrepublik das „Gorbi-Fieber“ auslöste, lenkte das Tischgespräch auch auf den Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der zwei Tage zuvor zu Ende gegangen war und nochmals offenbart hatte, dass die Sowjetunion inzwischen nicht nur ein tief zerrissenes Land war, sondern auseinanderzufallen drohte. Einen Ausweg aus der Krise sah Gorbatschow, wie er auch den kommunistischen Delegierten beim Parteitag vorgetragen hatte, im „Übergang zur Marktwirtschaft“ – eine mit der Ideologie der Kommunistischen Partei nicht zu vereinbarende Position, die dem jahrzehntelangen Wettern gegen den westlichen Klassenfeind diametral entgegenstand. Verkehrte Welt, meinten die einen, Pragmatismus, meinten die anderen.

In Archys trafen sich Gorbatschow und Kohl nach dem Abendessen gegen 23 Uhr separat zu einem kurzen Gespräch, um die Verhandlungen des folgenden Tages vorzubereiten. Die uneingeschränkte NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands, der Gorbatschow am Vormittag in Moskau noch zugestimmt hatte, war laut Kohl zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht final gebilligt. Als Kohl nun in Archys erneut darauf zurückkam, habe Gorbatschow jedoch nur geschwiegen.13

3 Das Schlafzimmer von Bundeskanzler Kohl in der Staatsdatscha Archys

Versuchte Gorbatschow den Preis hochzutreiben? War er sich seiner Position doch nicht sicher? Oder wurde er von Kohl missverstanden? Letzterer rief nach dem Gespräch mit Gorbatschow seine Leute zusammen, um die Verhandlungspunkte durchzugehen. Es sollte dabei auch um die Abzugsmodalitäten für das sowjetische Militär aus der DDR gehen – und somit nicht zuletzt um Geld. Am Ende eines sehr langen Tages zog sich der Bundeskanzler auf sein Zimmer zurück. Seine Anspannung und seine Gedanken am Vorabend der historischen Wegmarke beschrieb Kohl wie folgt: „Es war schon nach Mitternacht, als ich auf den Balkon der Datscha trat, über mir ein wunderschöner Sternenhimmel und vor mir die dunkle Silhouette des Kaukasus. Vieles ging mir durch den Kopf, vor allem fragte ich mich, was der morgige Tag wohl bringen würde. Es stand für uns Deutsche so viel auf dem Spiel.“14

Valentin Falin, langjähriger Deutschlandberater Gorbatschows und in den 1970er-Jahren sowjetischer Botschafter in Bonn, hatte am Vorabend der Kaukasus-Reise, an der er selbst nicht teilnahm, noch einen fast verzweifelten Versuch unternommen, seinen Chef in einem Telefonat von weitgehenden Zugeständnissen abzubringen:

Ich sagte zu Gorbatschow, es gehe jetzt nicht nur um das Schicksal der DDR und des Warschauer Paktes, sondern auch um das unseres Landes. Wenn das alles so kommt, verlieren wir unsere strategischen Positionen und verlieren das, was im Großen Vaterländischen Krieg erkämpft wurde. Er hörte mir zu, unterbrach mich nicht und sagte zum Schluss: „Ich werde alles in meinen Kräften Stehende tun. Aber ich glaube, der Zug ist schon abgefahren.“15

Am nächsten Morgen – es war Montag, der 16. Juli 1990 – erschienen Gorbatschow und Kohl jetzt beide in Strickjacken, was dem legendären Treffen seinen Namen gab. Die deutsche Seite war mit zehn Männern vertreten: Kohl, Genscher, Waigel, Regierungssprecher Klein, Kanzler-Berater Teltschik, Botschafter Blech, Staatsminister im Außenministerium Dieter Kastrup, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium Gert Haller, Kohls Büroleiter Walter Neuer und Dolmetscher Andreas Weiß. Auf sowjetischer Seite waren es sieben: Gorbatschow, Außenminister Eduard Schewardnadse, Finanzexperte und Vize-Regierungschef Stjepan Sitarjan, Europa-Abteilungsleiter im Außenministerium Juli Kwizinski, Botschafter in Bonn Wladislaw Terechow, Gorbatschows Pressesprecher Arkadi Maslennikow und Dolmetscher Iwan Kurpakow.

Kohl bringt zunächst den schon beim Gespräch in Moskau in Aussicht gestellten „Großen Vertrag“ ins Spiel, der eine umfassende, langfristige und vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik vorsieht. In Archys herrscht insofern eine wechselseitige Abhängigkeit, als sich die Staatsmänner gegenseitig zum Erfolg verhelfen könnten. Gorbatschow sieht die Chance, sich bei seinen entglittenen, ja außer Kontrolle geratenen Reformversuchen Luft zu verschaffen. Und Kohl will unbedingt die deutsche Einheit verwirklichen, einen politischen Lebenstraum vieler Deutscher, der auch ein Ende der Teilung Europas bedeuten würde.

Fast vier Stunden ringen sie miteinander: Am Ende steht die volle Souveränität Gesamtdeutschlands als Ergebnis fest. Für den Abzug der sowjetischen Truppen von deutschem Boden vereinbaren sie einen Zeitraum von drei bis vier Jahren. Gorbatschow hatte ursprünglich einen Übergangszeitraum von fünf bis sieben Jahren gefordert, denn immerhin müssen rund eine halbe Million Soldaten, Offiziere und Angehörige in die Heimat zurückgebracht werden. Hinzu kommen die schweren Waffen und sonstiges militärisches Gerät. Beschlossene Sache ist jetzt auch die NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands, wobei auf dem Gebiet der DDR die Stationierung von NATO-Truppen tabu ist, solange die sowjetischen noch nicht abgezogen sind.

Die Bundeswehr wird – auch als Zeichen an die sowjetische Bevölkerung – deutlich verkleinert. Gorbatschow ist es wichtig, dass in das Dokument die Formulierung aufgenommen wird, Deutschland habe freie Militärbündniswahl, und dass das Wort NATO nicht erwähnt wird. Wäre Gorbatschow ein schwacher Staatslenker gewesen, hätte er dem Widerstand der Hardliner in der sowjetischen Politik nachgegeben. Doch er setzte um, was er für richtig hielt. Von seinen Kritikern im eigenen Land blieben allerdings ohnehin viele in Deckung, hielten sich mit Vorwürfen zurück, denn die deutsche Frage war angesichts der kolossalen innenpolitischen Probleme fast ein Randthema. Und auch die Weltpresse erfährt zunächst kein Wort von der historischen Einigung. Selbst, als sich die beiden Staatsmänner nach dem Ende ihrer Gespräche vor der Staatsdatscha zeigten, äußerten sie sich vor der kleinen Schar der Pressevertreter nicht inhaltlich. Für Gorbatschow jedoch wurde „Archys zu einem einzigartigen Symbol der deutschen Wiedervereinigung auf sowjetischem Boden. In jener wunderbaren Umgebung besiegelten wir die deutsche Einheit.“16

Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges mit vielen Millionen Opfern und unendlichem Leid – ziehen ihre Staatslenker jetzt nicht nur einen Schlussstrich unter die schmerzliche Vergangenheit, sondern rufen eine Zeit der Partnerschaft, der gegenseitigen Hilfe und des Friedens aus. Denn für die beiden Kriegskinder war, wie Helmut Kohl schrieb, „Friede nicht nur ein Wort, sondern ein existenzielles Grundbedürfnis.“17

Gorbatschow sucht nach dem Ende der offiziellen Verhandlungen zunächst die Nähe seiner Frau. Sie machen einen kurzen Spaziergang auf dem Gelände der Staatsdatscha. Er muss seiner Frau von den Ergebnissen berichtet haben, denn wenig später, als sie sich mit Hans-Dietrich Genscher unterhält, ist sie schon im Bilde. Die Rolle von Raissa Gorbatschowa ist in der Geschichte der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall einmalig. Kein sowjetischer Kreml-Herr hat sich mit seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit so bewusst als gleichberechtigtes Paar gezeigt; auch mit Raissas gelegentlich öffentlichem Widerspruch geht Gorbatschow gelassen um.

Wie den privaten Filmaufnahmen von Botschafter Blech zu entnehmen ist, macht Gorbatschow vor der Abreise noch einen zweiten Spaziergang mit Kohl – begleitet nur vom Dolmetscher. Raissa Gorbatschowa spricht währenddessen mit den Außenministern Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse und einem Dolmetscher. Die Rolle der „dekorativen“ Ehefrau ist ihre Sache nicht. Genscher erinnerte sich, dass sie schon am Vortag höchst politisch wurde: „Als wir zu dem bekannten Treffen am Fluss gingen, griff die Frau Gorbatschow plötzlich von hinten meine Hand und zog mich zurück und sagte: ,Wissen Sie, was mein Mann hier tut? Deutschland muss seine Verantwortung auch wahrnehmen, seine Zusagen auch einhalten.‘ Da habe ich gesagt: ‚Darauf können Sie sich verlassen.‘ – Das war die fürsorgende, politisch denkende Ehefrau.“18

Von Archys aus fliegen Gorbatschow und Kohl rund 45 Minuten Richtung Nordosten: Schelesnowodsk liegt nur zehn Kilometer vom Flughafen der Stadt Mineralnije Wody entfernt. Die beiden Orte sind bekannt für ihre Heilwässer und ziehen Kurgäste aus der gesamten Sowjetunion an. Im Lungensanatorium von Schelesnowodsk treten die Staatschefs endlich gemeinsam vor die Weltpresse. Die Teilung Deutschlands, wie sie auf der Jalta-Konferenz im Februar 1945 von US-Präsident Franklin Roosevelt, dem sowjetischen Diktator Josef Stalin und dem britischen Premier Winston Churchill de facto zementiert worden war, ist nun überwunden. Um den Schauplatz dieser historischen Verkündung vom 16. Juli 1990 einordnen zu können, muss man jedoch noch einmal zurückblicken. Schelesnowodsk war im August 1942 von der Wehrmacht besetzt und im Januar 1943 von Truppen der Transkaukasus-Front der Roten Armee zurückerobert worden. Gut 47 Jahre nach der Befreiung sind nun nicht zufällig hier die internationalen Fernsehkameras und Mikrofone auf Michail Gorbatschow gerichtet. Er, vor allem er, hat die Versöhnung mit den Deutschen und die Wiedervereinigung ihres Landes maßgeblich ermöglicht. Dies allein hätte schon für den Friedensnobelpreis gereicht, den er drei Monate später, am 15. Oktober 1990, zugesprochen bekommen wird.

Doch Gorbatschow lässt seinem Gast den Vortritt. Der Kreml-Chef leitet die Pressekonferenz mit den Worten ein: „Sie können auf interessante Nachrichten gefasst sein.“ Der Bundeskanzler trägt „mit Genugtuung“19, wie er sagt, in acht Punkten vor, worauf sich beide Seiten geeinigt haben. Die wichtigsten sind, dass das vereinigte Deutschland die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen, jedoch endgültig nicht mehr die ehemaligen deutschen Gebiete Ostpreußen, Schlesien und Pommern beanspruchen wird. Außerdem sollen mit dem Vollzug der Einheit die Rechte der vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich erlöschen und Deutschland somit seine volle Souveränität zurückerhalten. Zur Bündnisfrage führt er wörtlich aus: „Das vereinte Deutschland kann in Ausübung seiner uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Ich habe als die Auffassung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte; und ich bin sicher, dies entspricht auch der Ansicht der Regierung der DDR.“20

Dieser Satz legt sehr nahe, dass Kohl die am 18. März 1990 demokratisch gewählte DDR-Regierung vor seiner Reise in die Sowjetunion über die Verhandlungsinhalte nicht informierte. Auf jeden Fall steht fest, dass er die DDR-Regierung nicht sofort über die mit Gorbatschow erzielten Ergebnisse unterrichtete, obwohl es sich bei den Modalitäten für den Abzug der sowjetischen Truppen sowie den künftigen militärischen Status des Gebietes der DDR nicht nur um bundesrepublikanische Angelegenheiten handelte. An dem Treffen in Archys nahm kein einziger Vertreter der DDR teil, weder Ministerpräsident Lothar de Maizière noch Außenminister Markus Meckel. Letzterer spricht der damaligen Bonner Regierung zwar nicht ab, das Recht gehabt zu haben, allein in die Sowjetunion zu reisen. Doch da es bei den Verhandlungen insbesondere um die DDR gegangen sei, hätten Kohl und seine Minister über die Köpfe der ebenfalls zuständigen ostdeutschen Regierung entschieden.21

Horst Teltschik hält dagegen, dass Gorbatschow als Gastgeber die DDR-Seite hätte einladen können, was er aber nicht tat. Er meint, dass Gorbatschow deshalb so agierte, weil er mit der Bundesregierung indirekt auch über Finanzhilfen reden wollte sowie über den „Großen Vertrag“ zwischen den Sowjets und den Deutschen, der dann im November 1990 in Bonn auch unterzeichnet wurde.22 Fakt ist, dass zum Zeitpunkt der Kaukasus-Reise die DDR über keine Finanzhoheit mehr verfügte, da die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit der Bundesrepublik zwei Wochen zuvor, am 1. Juli 1990, in Kraft getreten war.

Auf der Pressekonferenz in Schelesnowodsk unterstreicht Gorbatschow Deutschlands Atomwaffen-Verzicht, die drastische Reduzierung der Bundeswehr, aber vor allem die Bedeutung der Beschlüsse vom Londoner NATO-Gipfel, der zehn Tage zuvor zu Ende gegangen war – weg von einem rein militärischen Bündnis, hin zu einem mehr politischen. Und er erinnert daran, dass das östliche Bündnis Warschauer Pakt den ersten Schritt gemacht habe mit der Veränderung seiner Militär-Doktrin: „Das, was in London vor sich ging, war in der Tat so etwas wie der Anfang einer neuen historischen Entwicklung. Wir unterstreichen, dass dieser Kontext auch sehr wichtig ist. – Wenn also nicht dieser zweite Schritt in London gemacht worden wäre, wäre es sehr schwer gewesen, bei unserem gestrigen und heutigen Treffen weiter zu gehen.“23

Immer wieder hatte schon der sowjetische Außenminister Schewardnadse in den Wochen vor Archys die Bedeutung des NATO-Gipfels für die Moskauer Kompromissbereitschaft in der deutschen Frage hervorgehoben.24 Obwohl die NATO-Deklaration nicht explizit die Wandlung des Bündnisses in eine politische Gemeinschaft beinhaltete und vielmehr Absichtserklärungen und Angebote im Geiste der neuen Freundschaft zwischen Ost und West zum Gegenstand hatte, fassten die Vertreter der Sowjetunion es gern und zu Recht so auf. Und sie konnten jetzt vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung von einer grundlegenden Veränderung der NATO sprechen, die nicht mehr eine Bedrohung darstelle, sondern ein Freund und Partner sei.

Das internationale Presse-Echo auf das historische Kaukasus-Treffen zwischen Gorbatschow und Kohl ist überwältigend. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel titelt mit einem Foto von Gorbatschow und Kohl: „Der Krieg ist zu Ende“, was keine Übertreibung ist. Denn mit dem Ende der Teilung Deutschlands ist auch die Teilung des europäischen Kontinents nach 45 Jahren überwunden.

Gorbatschow und die sowjetische Delegation begleiten die Deutschen zum nahe gelegenen Flughafen in Mineralnije Wody. Der Kreml-Chef hatte den Besuch des Bundeskanzlers bezeichnet als eines „der bedeutendsten internationalen Ereignisse, die mit den grundlegenden Veränderungen in der europäischen und in der Weltpolitik verbunden sind“.25 Entsprechend teilen das Glücksgefühl Kohls über das Erreichte wohl auch die meisten deutschen Journalisten, die die Luftwaffen-Boeing besteigen. Am nächsten Tag tritt der Bundeskanzler in Bonn vor die Presse, und die Journalisten spenden ihm alle Beifall, obwohl so etwas dieser Berufsgruppe eigentlich wesensfremd ist. In Paris kamen zur gleichen Zeit die Außenminister der Zweiplus-Vier-Verhandlungsstaaten zusammen – Markus Meckel für die DDR. Sein sowjetischer Kollege Schewardnadse habe dort ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er, Meckel, als DDR-Vertreter und Verbündeter keine unmittelbare Unterrichtung durch die Sowjets erhalten hatte über die Ergebnisse von Archys.26

Das Ehepaar Gorbatschow reiste nach dem historischen deutschsowjetischen Kaukasus-Treffen in privater Angelegenheit weiter, was angesichts der innenpolitischen Turbulenzen und der Arbeitsbelastung von Michail Gorbatschow längere Zeit nicht möglich gewesen war. Sie besuchten in Priwolnoje die 79-jährige Mutter des Staatschefs, Maria Pantelejewna Gorbatschowa.

2. KINDHEIT UND JUGEND IM NORDKAUKASUS

Ein ausländischer Besucher, der heute zu Recherchezwecken in Gorbatschows Heimatdorf Priwolnoje reisen möchte, muss das vorher unbedingt mit dem Ortvorsteher abstimmen. Selbst Gorbatschows Cousine Maria Michalowa ist nur zu einem Interview bereit, als sie erfährt, dass eine entsprechende Erlaubnis vorliegt. Priwolnoje liegt in Südrussland zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, und Gorbatschows Elternhaus befand sich ganz am Ende dieses Dorfes. Die lang gezogene schmale Straße dorthin ist heute asphaltiert und von einer Reihe fester, elektrifizierter Ziegelstein-Häuser gesäumt – ganz anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Behausung, in der Michail Gorbatschow am 2. März 1931 geboren wurde, ein Montagskind mit Sternzeichen Fisch, steht nicht mehr. Er kam in einer sogenannten Chata zur Welt. Das ist eine Art Hütte aus Ton oder Lehm, die in Belarus (Weißrussland), der Ukraine, in West- und Südrussland typisch war. Die Dächer bestanden meist aus Stroh, und Betten gab es darin nicht, bestenfalls Schlafgestelle.

Iwan Budjakow, Ende 1930 geboren, besuchte mit Michail Gorbatschow die Grundschule. Iwans Familie war noch ärmer als die seines Freundes Michail, den er oft daheim besuchte. Iwan hat immer in Priwolnoje gewohnt, und gern zeigt er den Acker, auf dem die Chata einst stand: Vom Ende der Dorfstraße sind es etwa 30 Schritte bis zu der Stelle, wo früher das kleine Grundstück der Gorbatschows lag, das nun Teil des Ackers ist. „Genau hier. Auf dieser Stelle wurde er geboren. Die Chata wurde abgerissen, nachdem er zum Studieren nach Moskau ging. Er konnte gut singen und Balalaika spielen. Die hatte ihm sein Vater gekauft. Von Michail lernte ich auch ein bisschen zu spielen. Wir kletterten auf den Ofen und dann sangen wir zur Balalaika.“1

Iwan Budjakows Mutter war so bitterarm, dass der Sohn bald keine richtige Kleidung und keine Schuhe mehr bekam, geschweige denn Schulbücher. Noch in der ersten Klasse musste er die Grundschule abbrechen. Doch mit seinem Freund Michail blieb er sein Leben lang verbunden, auch wenn sie sich nur selten sahen. Als Iwan im Oktober 2016 im Alter von knapp 86 Jahren starb, widmete ihm sein da schon lange weltberühmter Freund einen persönlichen Nekrolog auf seiner Website gorby.ru.2 Dieser Nachruf ist ein Beleg dafür, dass der ehemalige Führer der Supermacht Sowjetunion nie vergaß, woher er kam, und dass ihm Statusfragen privat völlig unwichtig waren.

Gorbatschows Mutter Maria, die ihren Sohn im Alter von knapp 20 Jahren zu Welt brachte, war Ukrainerin. So wie viele aus ihrer Generation lernte auch sie nie lesen und schreiben. Als die Bolschewiki 1917 unter der Führung Lenins die Macht ergriffen, waren 75 Prozent der russischen Landbevölkerung Analphabeten. Gorbatschows russischem Vater Sergej war es immerhin vergönnt, vier Jahre die Schule zu besuchen.

Maria war 18, Sergej 20 Jahre alt, als sie 1929 heirateten. Obwohl die Herrschaft der Sowjets zum Zeitpunkt der Eheschließung schon zwölf Jahre währte und die Machthaber sich entsprechend der kommunistischen Ideologie die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau auf die Fahnen geschrieben hatten, wurden vor allem in den Dörfern alle wichtigen Fragen nach wie vor von den männlichen Familien-ältesten entschieden. Michail Gorbatschow erzählte 2015: „Meine Mutter wollte meinen Vater nicht heiraten. Sie liebte ihn nicht stark genug. Mit der Zeit wurde es aber eine glückliche Ehe. Meine beiden Großväter hatten sich zusammengesetzt, alles beiseitegeschoben und verfügt: ,Ihr werdet heiraten! Basta!‘“ Und in Anspielung auf die propagierte Sozialistische Demokratie in Form der Diktatur des Proletariats, die in sowjetischen Dörfern in Wirklichkeit eine Diktatur des Patriarchats geblieben war, fügte er lachend hinzu: „So funktionierte Demokratie damals!“3

Das Einmischen, ja die Bevormundung aufgrund des männlichen Senioritätsprinzips setzte sich fort: Nachdem die Jungvermählten Maria und Sergej ihren Sohn bekamen, einigten sie sich auf den Namen Viktor. „Ich hieß zwei Wochen lang Viktor“, gibt Gorbatschow die Erzählungen seiner Eltern wieder. Mutter Maria war sehr gläubig und wollte ihn heimlich taufen lassen. Großvater Andrej Gorbatschow brachte den Säugling in die Dorfkirche des Nachbarortes Letnizkoje (heute heißt der Ort Letnik), denn die Bolschewiken hatten die Steinkirche in Priwolnoje schon geschlossen und die ältere Holzkirche zerstört.4 „Und als man mich aus dem Taufbecken wieder herauszog, fragte der Pfarrer: ,Wie soll der Junge heißen?‘ Es musste ja alles in die Kirchenbücher eingetragen werden. – Mein Großvater darauf: ‚MICHAIL!‘ – Und das war’s. Auch diese Frage wurde ,demokratisch‘ entschieden“, fügte Gorbatschow wieder lachend hinzu.5

Michail Gorbatschows Großvater mütterlicherseits, Pantelej Gopkalo, war Vorsitzender einer Kolchose und somit ein wichtiger Mann im Dorf. Auch war er aufgrund seiner Funktion materiell etwas bessergestellt als die meisten anderen Bewohner. Der Großvater väterlicherseits hingegen, Andrej Gorbatschow, blieb Einzelbauer, weil er keiner Kollektivwirtschaft beitreten wollte. Zwar lehnte er sich nicht offen gegen das Sowjetregime auf, geriet aber 1934 dennoch in dessen Fänge als „Saboteur“.

Bis Michail Gorbatschow 14 Jahre alt und der Krieg zu Ende war, hatte er schon drei große Lebenskatastrophen durchgestanden und überlebt, die ihn im Vierjahresrhythmus heimgesucht hatten: 1933, 1937 und 1941. Diese prägten sein späteres berufliches und politisches Wirken maßgeblich. Die erste Katastrophe war der Holodomor, der Millionen Todesopfer forderte. Die Bezeichnung geht auf das russische und ukrainische Wort Golod (Hunger) und das alte ostslawische Wort Mor (Tod, Massensterben) zurück. Vorausgegangen war eine Dürre im Jahr 1931, doch die Hauptursache für das Massensterben waren die von Stalin befohlene Kollektivierung der Landwirtschaft und der zunehmende Terror gegen Bauern, die nicht freiwillig den kommunistischen Vorgaben folgen wollten. Das Heimatdorf Gorbatschows im Nordkaukasus liegt nicht weit von der Ukraine, wo die Bevölkerung teilweise erbitterten Widerstand sowohl gegen die Sowjetmacht in Moskau als auch gegen die von dort verfügte Kollektivierung leistete. Die Hungersnot grassierte jedoch nicht nur dort, sondern erstreckte sich auch auf den angrenzenden Nordkaukasus.

Selbst Mitglieder von Stalins Führungsclique schienen über das grausame Ausmaß der Not bedrückt, aber nur die wenigsten hatten den Mut, dies anzusprechen. Politbüro-Mitglied Kliment Woroschilow, im August 1932 mit dem Zug in der Ukraine und im Kaukasus unterwegs, schrieb an Stalin, der gerade in Sotschi am Schwarzen Meer Urlaub machte: „Im gesamten Umland von Stawropol haben wir kein einziges bebautes Feld gesehen. Wir hatten mit einer guten Ernte gerechnet, doch daraus wird wohl nichts. Und die Ukraine wirkte vom Zugfenster aus noch verödeter als der Nordkaukasus. Es tut mir leid, dich damit in den Ferien behelligen zu müssen, aber ich konnte es einfach nicht verschweigen.“6

Am 27. November 1932 sprach Stalin von „Schwierigkeiten bei der Getreidebeschaffung“, für die er Saboteure innerhalb der Kolchosen und Sowchosen verantwortlich machte. Die Parteizeitung Prawda, führendes Sprachrohr Stalins, rief zwischen dem 4. und 8. Dezember 1932 daher zu einem „entschiedenen Kampf gegen die Kulaken“, die Großbauern, auf, insbesondere in der Ukraine. Stalin setzte den Hunger als Waffe gegen sogenannte „anti-sowjetische Elemente“ ein: Die kommunistischen Parteikader stellten unerfüllbare Getreide-Abgabequoten auf, Brigaden der Bolschewiki suchten nach versteckten Lebensmitteln, ganze Dörfer wurden ausgeplündert und Hofbesitzer drangsaliert. Es handelte sich um nichts anderes als staatlichen Terror. In der Ukraine fielen dem Holodomor in den Jahren 1932 und 1933 schätzungsweise viereinhalb Millionen Menschen zum Opfer, und in der Bevölkerung kam es zu Kannibalismus. Jahrzehntelang war es in der Sowjetunion verboten, diese Tragödie öffentlich zu thematisieren. Erst nachdem Gorbatschow 1985 die Macht im Kreml übernahm, änderte sich das.

In der Region Stawropol im Nordkaukasus brach die Hungerkatastrophe 1933 aus, und in Priwolnoje starb mindestens ein Drittel der Bewohner. Gorbatschows Freund aus Kindertagen, Iwan Budjakow, verlor Vater und Bruder durch die Hungersnot. 2015 erzählte er: „Die Menschen starben; und weil es keine Särge gab, wurden die Leichen in Tücher eingewickelt und so begraben. Man kam mit Pferden und sammelte die Toten auf. Meine Mutter wusste nicht, wo mein Vater beigesetzt wurde. Diejenigen, die Kühe besaßen, aßen sie auf. Am Leben geblieben sind meine Schwester und ich. Wir krochen herum und aßen Gras, rissen etwas Lauch raus.“7

Michail Gorbatschow rettete vor allem, dass sein Großvater Pantelej Gopkalo als Leiter einer Kolchose materiell privilegiert war und politisch auf der ‚richtigen‘ Seite stand. Er hatte es bei den Großeltern nicht nur bezogen auf die Verpflegung relativ komfortabel; vor allem genoss er bei ihnen völlige Freiheit.

Dagegen war er selten beim Großvater väterlicherseits, Andrej Gorbatschow, und dessen Frau Stepanida. Das Paar hatte ursprünglich sechs Kinder, doch drei von ihnen starben während der grausamen Hungerkatastrophe. Zudem wurde Andrej im Frühjahr 1934 verhaftet und zur Zwangsarbeit ins sibirische Irkutsk deportiert, weil er als Einzelbauer die Planvorgaben der Behörden nicht erfüllen konnte. Nach seiner Verhaftung musste sich Sergej, der Vater von Michail Gorbatschow, als damals 24-Jähriger um seine noch verbliebenen beiden Geschwister und um die Mutter Stepanida kümmern. Insofern war es für ihn eine Entlastung, dass sich seine Schwiegereltern des kleinen Michails annahmen. Sie wurden zu besonderen Bezugspersonen und blieben es auch nach der Rückkehr Andrejs aus der sibirischen Verbannung. Denn dieser hatte großes Glück im Unglück: Schon nach rund einem Jahr durfte er zurück nach Priwolnoje, weil er sich bereit erklärt hatte, einer Kolchose beizutreten. Jetzt konnte sich sein Sohn Sergej wieder in erster Linie um seine eigene Familie kümmern.

Russland lehnt die von der Ukraine international geforderte Bezeichnung ‚Genozid‘ ab, während das europäische Parlament den Holodomor im Jahr 2008 in einer Resolution als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt hat. 2022 verurteilte der Bundestag – mit Ausnahme der Parteien AfD und Die Linke – den Holodomor als „Menschheitsverbrechen“.

Stalins Terror

Die zweite große Lebenskatastrophe Michail Gorbatschows ereignete sich im Sommer 1937, als auch der geliebte Großvater Pantelej mitten in der Nacht verhaftet und verschleppt wurde. Damals trafen Stalins sogenannte „Große Säuberungen“ großflächig und in voller Wucht die Bevölkerung, nachdem Verfolgungen, Verhaftungen und Erschießungen schon vorher begonnen hatten. Konstruiert wurden Beschuldigungen wie „wirtschaftliche Sabotage“ oder politische Vergehen wie Spionage, „konterrevolutionäre Tätigkeit“ oder die „Mitgliedschaft in einer illegalen rechtstrotzkistischen Organisation“ und vieles mehr. Stalin verwandelte das ganze Land in einen Ort der Angst, des Misstrauens, der Denunziation, der Paranoia, der völligen Willkür und Rechtlosigkeit. Erneut forderte sein Terror millionenfach den Tod unschuldiger Menschen.

Gorbatschows Großvater Pantelej Gopkalo wurde Opfer einer unfreiwilligen Denunziation. Ein Bezirksfunktionär der Kommunistischen Partei war zuvor verhaftet worden; der Tatvorwurf gegen ihn lautete, Mitglied einer trotzkistischen Organisation zu sein. Leo Trotzki war ein Mitstreiter Lenins, Anführer der Roten Armee und Hauptkonkurrent Stalins um die Nachfolge von Lenin nach dessen Tod. Stalin verdrängte ihn aus dem Machtzirkel und ließ ihn 1940 im mexikanischen Exil ermorden. Der Vorwurf, Mitglied einer trotzkistischen Organisation zu sein, kam 1937 fast immer einem Todesurteil gleich. Unter Folter machte der Bezirksfunktionär das falsche Geständnis, viele Komplizen gehabt zu haben, darunter auch Pantelej Gopkalo. Der war aber nicht nur ein überzeugter Kommunist, sondern auch ein glühender Stalin-Anhänger und hatte inzwischen sogar eine Führungsposition im Bezirk inne. Dennoch wurde auch Gorbatschows Großvater Pantelej Gopkalo gefoltert. Doch er beugte sich nicht und bekannte sich auch nicht schuldig. Neben der Mitgliedschaft in einer trotzkistischen Organisation wurde ihm „subversive Schädlingsarbeit“ in der Kolchose vorgeworfen.

An diese erschütternden Kindheitserlebnisse erinnerte sich Michail Gorbatschow 78 Jahre später immer noch sehr klar:

4 Michail Gorbatschow als Sechsjähriger mit seinen Großeltern mütterlicherseits im Jahr 1937

Es war eine schreckliche Zeit, das Jahr 1937. Schrecklich! Der Großvater mütterlicherseits wurde verhaftet – als Saboteur und Volksfeind. 14 Monate war er eingesperrt und wurde verhört. Seine Frau – also meine Großmutter – zog zu uns. Nach seiner Verhaftung besuchte uns niemand mehr tagsüber. Unsere Verwandten konnten nur nachts kommen, fragten, was sie kaufen könnten, und halfen uns. Unser Haus war das Haus eines Volksfeindes! Nach Abschluss des Verfahrens gegen meinen Großvater lautete das Urteil: Erschießen! Doch dann trat glücklicherweise 1938 eine neue Richtlinie in Kraft, dass die Erschießungsurteile von der lokalen Staatsanwaltschaft bestätigt werden müssten. Großvater wurde freigesprochen! Ich kann mich an das Gespräch erinnern, das er am Abend seiner Rückkehr führte. Am großen Tisch im Dorf saßen alle Verwandten, und er erzählte, wie es gewesen war. Es war erschütternd. Alle weinten. Er hatte es geschafft, alle Folter zu ertragen.8

Als Gorbatschow Jahrzehnte später als lokaler Parteifunktionär die Möglichkeit gehabt hätte, die Vernehmungsprotokolle einzusehen, schreckte er davor zurück – zu groß sei die psychologische Barriere damals noch gewesen. Erst in seinem letzten Amtsjahr als Staatschef der Sowjetunion forderte er die Akten zu seinem Großvater an. Dass ihn die Verhaftung des anderen Großvaters hingegen scheinbar kalt ließ, ist leicht zu erklären. 1934, als Andrej Gorbatschow nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert wurde, war Michail gerade mal drei Jahre alt. Als Pantelej Gopkalo verhaftet wurde, war er hingegen sechseinhalb und somit in einem erinnerungsfähigen Alter. Außerdem wohnte er damals schon mehrere Jahre bei ihm, als das Verhaftungskommando kam. Andrej Gorbatschow, der 1935 wieder nach Priwolnoje zurück durfte, war zudem stets sehr viel strenger mit dem Jungen und hatte ihm aufgrund seiner Armut weit weniger Annehmlichkeiten zu bieten.

Mit seinem Großvater Pantelej hatte Gorbatschow auch seine erste Begegnung mit Deutschen, die ihm gut in Erinnerung blieb. Im Nachbarort gab es eine deutsche Siedlung, wo Lebkuchen verkauft wurde. „Da hörte ich zum ersten Mal überhaupt von Deutschen, und da sie diesen wohlschmeckenden Kuchen backten, war ich überzeugt, es müssten gute Menschen sein.“9 Erst mit der Einschulung im September 1938 sorgten die Eltern dafür, dass ihr Sohn Michail nicht mehr bei den Großeltern, sondern ständig bei ihnen wohnte. Das Leben normalisierte sich: Stalin ließ den Terror gegen die eigene Bevölkerung weitgehend einstellen und bestrafte jetzt diejenigen, die das Morden in seinem Auftrag ausgeführt hatten – unter ihnen Nikolaj Jeschow, Volkskommissar für innere Angelegenheiten. Er wurde Ende 1938 abgesetzt und 1940 erschossen. Auf diese Weise gelang es Stalin, sich zu entlasten, und selbst Pantelej Gopkalo, der nicht nur verhaftet, sondern auch gefoltert worden war, war zeitlebens felsenfest davon überzeugt, der „große Führer“ habe von all den Ungerechtigkeiten nichts gewusst. Dieses Stalin-Bild übernahm der Enkel von seinem Großvater und hegte es noch in den ersten Jahren seines Studiums in Moskau. Die prägenden Kindheitsjahre in dessen Haus und auch die tiefe Gläubigkeit seiner Mutter Maria waren Ursachen dafür, dass Gorbatschow in seiner Amtszeit als Kreml-Chef erst vorsichtig, dann ganz offen und schließlich sogar durch Gesetze die Religionsfreiheit im Land zuließ und auch festschrieb. Vorher wäre das nicht möglich gewesen, denn entsprechende Vorstöße als Lokalpolitiker hätten das Ende seiner Parteikarriere bedeutet.

Bei seinen Großeltern mütterlicherseits wuchs er zwar in einer Atmosphäre auf, in der politisch nur das Wort der kommunistischen Partei galt, doch führten bei ihnen Bücher von Marx, Engels, Lenin oder Stalin eine friedliche Koexistenz neben Ikonen und Heiligenbildern. Großmutter Wasilisa war sehr gläubig und hatte dies ihrer Tochter Maria erfolgreich weitergegeben. Hinzu kam, dass Großvater Pantelej Religiosität tolerierte, obwohl sie mit der kommunistischen Ideologie an sich nicht vereinbar war. Der junge Michail oder Mischa, wie er daheim und in der Schule genannt wurde, besuchte die Dorfschulen in Priwolnoje: während der ersten vier Jahre ein Gebäude, das inzwischen ein Wohnhaus ist; von der fünften bis zur achten Klasse die „neue“ Schule.10

Es wird nicht überraschen, dass Gorbatschow ein guter Schüler war, auch wenn er die Schule „nur“ mit einer Silbermedaille abschloss, weil er in Deutsch die Bestnote verfehlte. Einige seiner Lehrerinnen gaben nach seinem Machtantritt in Moskau an, er sei schon in der Schulzeit diskussionsfreudig und nie ein Raufbold gewesen, sondern habe immer nur Argumente sprechen lassen. Außerdem habe er Balalaika und Ziehharmonika gespielt und dabei gern und schön gesungen.11

Das leckerste Eis der Welt

Diese ruhige Kindheitsphase endete 1941 abrupt, und es brach über dem inzwischen zehnjährigen Michail die dritte Lebenskatastrophe herein: Hitler hatte den Überfall auf die Sowjetunion geplant, und in den Nachtstunden des 22. Juni schlug die Wehrmacht angeblich völlig überraschend los. Tatsächlich waren die Planungen zu diesem Angriff der Sowjetunion jedoch keineswegs verborgen geblieben, sondern Stalin hatte schlicht die Warnungen seines Geheimdienstes – sogar mit korrektem Angriffstag – in den Wind geschlagen. Anlässlich des 70. Jahrestages des deutschen Überfalls wurden in Moskau erstmals Geheimdokumente der sowjetischen Auslandsaufklärung publiziert, die den jahrelang kolportierten Mythos vom Überraschungsangriff endgültig zerstörten.12

Warum wurden diese Dokumente endlich freigegeben, obwohl doch auch Putin am Bild vom weitsichtigen Stalin festhält, dem letztlich der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zu verdanken sei? Vieles spricht dafür, dass der Auslandsgeheimdienst, in welchem auch Wladimir Putin arbeitete, ins rechte Licht gerückt werden sollte und nicht länger als eine Truppe dastehen sollte, die eine derartige Bedrohung verschlafen hatte. Dennoch wird Stalin auch in dieser jüngeren Publikation nicht offen verantwortlich gemacht. Dort ist lediglich die Rede davon, dass ihm vorab alle Informationen vorlagen. Die nie gänzlich aufgegebene Legende vom kriegsentscheidenden und taktisch klugen Feldherrn Stalin erklärt dessen relativ hohe Popularitätswerte in der russischen Bevölkerung, wohingegen Gorbatschow bei der Mehrheit auch Jahrzehnte nach seiner Amtszeit noch als ein schlechter Staatslenker galt.

Tatsächlich kostete Stalins Fehleinschätzung aber viele sowjetische Zivilisten und Soldaten das Leben. Er selbst konnte die ersten Angriffsmeldungen zunächst nicht glauben. Er überließ es seinem Außenminister Wjatscheslaw Molotow, sich an die Bevölkerung zu wenden. Auch in diesem Schlüsselmoment erfüllte er seine Führungsrolle nicht, wie man es hätte erwarten dürfen, während etwa Winston Churchill mit seiner „Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede“ von 1940, in der er seine Landsleute für den „Sieg um jeden Preis“ mobilisierte, nicht nur bei Briten in Erinnerung blieb. Auch Schlusssätze von Molotows Ansprache, die um 12 Uhr mittags Moskauer Zeit am 22. Juni 1941 in das Riesenreich ausgestrahlt wurde, kennt in Russland und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion so gut wie jeder. In Priwolnoje verfolgten alle Bewohner dessen pathetischen Aufruf zum Kampf und zum Widerstand, der aus einem Lautsprecher am Parteigebäude hallte. Auch die Gorbatschows hörten so jene ungemein mobilisierenden und prägenden Worte Molotows: „Unsere Sache ist gerecht! Der Feind wird vernichtet! Wir werden siegen!“

Jetzt begann die Angst um den Vater, den Ehemann, den Sohn oder den Bruder, die in einen Krieg ziehen mussten, der geografisch noch weit weg von Priwolnoje war. Der Bote des Wehrbezirks kam zu Pferd und immer am späten Nachmittag oder frühen Abend, um den Einberufungsbefehl zu überbringen. „Hoffentlich kommt er nicht zu uns“, bangte dann auch der junge Michail, wenn er die Hufschläge des Pferdes von der Dorfstraße vernahm und noch nicht wusste, vor welcher Chata der Bote halten würde. Noch größer war die Angst im weiteren Kriegsverlaufs davor, der Bote könnte der Familie die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen.

Mein Vater wurde am 3. August, also etwas später einberufen, weil er und andere für die Ernte gebraucht wurden. Meine Mutter weinte, packte die ganze Nacht seine Sachen. Dann fuhren wir in die Kreisstadt zum Sammelplatz. Ich sah alles mit eigenen Augen. Es war ein herzzerreißendes Bild. Alle weinten. Man nahm Abschied und wusste nicht, ob man sich wiedersehen würde. Mein Vater schenkte mir zum Abschied eine Balalaika. Ich schnitzte mit dem Messer das Datum hinein: 3. August 1941. Und er kaufte mir einen Riesenbecher Eis. Das war das leckerste Eis, das ich je in meinem Leben gegessen habe.13

Sofern sie keine Hiobsbotschaften enthielten, sorgten Briefe von der Front für wahre Glücksmomente. Der zehnjährige Michail las die Front-Briefe der Mutter vor, und diese diktierte ihm die Antworten. Zudem hatte Sergej Gorbatschow die Parteizeitung Prawda abonniert, die Priwolnoje immer etwas verzögert erreichte. Kaum traf eine neue Ausgabe ein, kamen die Dorffrauen zusammen, viele wie Maria Gorbatschowa Analphabetinnen, und dann las Mischa ihnen die Berichte über den Kriegsverlauf vor. Zwangsläufig übernahm er auch jene Arbeiten des abwesenden Vaters, die lebenswichtig waren – das Graben und Jäten des Gemüsegartens, die Beschaffung des Brennstoffs für die Chata, des Heus für die eigene Kuh und vieles mehr.

5 Maria Gorbatschowa mit ihrem Sohn Michail im August 1941

Ende 1941 vermochten die sowjetischen Truppen die Wehrmacht vor den Toren Moskaus zu stoppen. Das war die erste echte Niederlage des siegesgewohnten deutschen Heeres in diesem Krieg. Im Süden der Sowjetunion jedoch rückte die Wehrmacht im Sommer 1942 wieder vor, sodass sich die Front dem Dorf Priwolnoje bedrohlich näherte. In dieser Kriegsphase, als die Entscheidungsschlachten im Süden und Südwesten der Sowjetunion tobten, gab Stalin den legendären Befehl № 227 vom 28. Juli 1942 aus, den in Russland jeder kennt und der ganz simpel lautete: „Ni schagu nazad!“, nicht einen Schritt zurück! Dieser Haltebefehl sah bei mangelnder Kampfbereitschaft oder bei vermeintlicher Feigheit vor dem Feind die Todesstrafe vor. Der Wehrmacht war es einen Tag zuvor gelungen, Rostow am Don einzunehmen, das „Tor zum Kaukasus“, wie die Nationalsozialisten die Stadt bezeichneten. In Priwolnoje brach Panik aus, die Deutschen waren jetzt nur noch rund 200 Kilometer entfernt.

Viele flohen vor der anrückenden deutschen Armee weiter Richtung Süden, so auch Michail Gorbatschows Großeltern Pantelej und Wasilisa. Schon wenige Tage nach der Eroberung von Rostow nahm die Wehrmacht auch Priwolnoje ein, widerstandslos, weil sich dort die sowjetischen Verbände in Auflösung befanden. Damit begann die Zeit der deutschen Besatzung für den inzwischen elfjährigen Michail, der schon in der Ferne das Gedröhn und die Explosionen gehört und zum ersten Mal in seinem Leben eine Salve der Raketenwerfer „Katjuscha“ am Himmel gesehen hatte. Doch Priwolnoje wurde nicht durch feindliche Panzer eingenommen, sondern in das Dorf kamen motorisierte, leicht bewaffnete Infanteristen, hauptsächlich auf BMW- oder Zündapp-Motorrädern. Zu Exzessen kam es hier offenbar nicht: „Die Deutschen haben sich zumindest bei uns nicht schlimm verhalten. Wohl aber in Mineralnije Wody. Später kamen Freiwillige aus der Ukraine nach Priwolnoje“, erinnert sich Gorbatschow.14

Tatsächlich wurden die Wehrmacht-Soldaten anfangs nicht nur in der Ukraine oder Belarus teilweise als Befreier vom kommunistischen Joch begrüßt. Selbst unter Russen gab es noch viele, die als „Weiße“ im Bürgerkrieg gegen die „Roten“ gekämpft hatten und nun auf Revanche aus waren. Der Bürgerkrieg war gerade mal zwei Jahrzehnte her, und entsprechend wurde auf sowjetischer Seite häufig behauptet, erst der deutsche Angriffskrieg habe das Land geeint. Michail Gorbatschow erinnert sich an einen deutschen Soldaten namens Hans, der in der Chata der Eltern ein- und ausging und sehr freundlich gewesen sei.15 Und seine Klassenkameradin Raissa Kopejkina berichtet, ein Arzt der deutschen Besatzer habe ihre damals neunjährige Schwester behandelt, nachdem sie von einem Schäferhund der Deutschen ins Bein gebissen worden war.16 In Priwolnoje mordeten die Wehrmacht und auch die SS offenbar nicht, doch in Mineralnije Wody, in Rostow oder in Krasnodar erschossen die Deutschen viele Tausend Menschen, überwiegend Juden, aber auch Kommunisten und Partisanen, oder sie schickten sie ins Gas.

So wie Michail Gorbatschow und Raissa Kopejkina kann sich auch Iwan Budjakow, der die Besatzer in Priwolnoje als Kind erlebt hat, an keine deutsche Untaten in seinem Dorf erinnern. „Als sie hier waren, taten sie keinem etwas Böses, auch während des Abzugs nicht.“17 Auch in Archys, so erzählen es einige verbliebene alte Bewohner, sei es zu keinen Exzessen seitens der Wehrmacht gekommen. Einmal nur hätte ein deutscher Soldat einen Bewohner erschossen, weil er sich nicht an die abendliche Ausgangssperre gehalten habe. Prägender war an diesen Orten offenbar die sowjetische Verfolgung: Stalin ließ während des Krieges ganze Bevölkerungsgruppen im Kaukasus deportieren, meist nach Zentralasien. Der Vorwurf lautete „Spionage“, „Verrat“ oder „Kollaboration mit dem Feind“. Das kleine Volk der Karatschaier gehörte zu diesen Opfern. Die hochbetagte Chalimat Tokowa war acht Jahre alt, als sie mit ihrer karatschaischen Familie 1943 aus Archys deportiert wurde, nachdem die Deutschen abgezogen waren. Viele starben während des Transports oder in der Verbannung. Sie sagt: „Es waren die Unsrigen, es war Stalin, der uns Leid zugefügt hat – nicht die Deutschen. Wir durften erst im August 1957 zurück nach Archys.“18