Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion - Ignaz Lozo - E-Book

Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion E-Book

Ignaz Lozo

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Beschreibung

August 1991: Panzer auf Moskaus Straßen, Ausnahmezustand, der sowjetische Staatspräsident unter Hausarrest. Der Putsch am 19. August markiert das Ende der Ära Gorbatschow und den von da an nicht mehr aufzuhaltenden Untergang der Weltmacht Sowjetunion. Diese Zäsur in der russischen Nachkriegsgeschichte konnte mangels solider Quellen bisher nicht verlässlich und umfassend untersucht werden. Das Buch von Ignaz Lozo schließt diese Lücke. Der Russlandexperte und ehemalige Moskau-Berichterstatter hat zahlreiche Dokumente ausgewertet, die in Russland offiziell als Staatsgeheimnisse deklariert sind, und mehr als 30 Zeitzeugen befragt, darunter ehemalige Putschisten und Michail Gorbatschow selbst. War der sowjetische Präsident, wie oft behauptet, selbst einer der Verschwörer oder zumindest stiller Mitwisser? Lozos spannend geschriebenes Buch, das in Kürze auch als Übersetzung in Russland erscheint, legt die Hintergründe des Putsches dar, erläutert die Ursachen für sein Scheitern, zeigt die politischen Folgen auf und fragt nach Gorbatschows politischer Mitverantwortung. Ein historisch-politisches "Aufklärungsbuch" im besten Sinne!

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

 

Umschlagabbildungen:

Vorderseite: © Itar-TASS, Andrej Solowjow

Rückseite: © RIA Novosti, Dima Tanin

 

 

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

 

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

 

Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen

Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld

Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln

Druck: freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG, Freiburg

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

 

ISBN 978-3-412-22230-7 (Print)

ISBN dieses eBooks: 978-3-412-21642-9

Hinweise des Verlages

Dieses eBook ist zitierfähig, das Ende einer gedruckten Buchseite und die originäre Bild-Positionierung wurde in Form von Text-Hinweisen kenntlich gemacht. Inhaltlich entspricht dieses eBook der gedruckten Ausgabe, auch das Impressum der gedruckten Ausgabe ist vorhanden.

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Ihr Böhlau Verlag

Für Stefanie und Marc

Inhalt

Cover

Impressum

Hinweise des Verlages

1 Einleitung

2 Rekonstruktion der Ereignisse – Grundlagen

3 Stellenwert der Interviews mit Hauptakteuren und Zeugen

4 Hintergründe und Motive für den Putsch

4.1 Gorbatschows Machterosion und Orientierungslosigkeit 1990/1991

Putschwarnungen

Die Machtverschiebung zugunsten Jelzins

4.2 Die sukzessive Entmachtung der KPdSU

Jelzins Parteizellenverbot

Der Widerstand der Partei und der Systembewahrer

Gorbatschows Verlust der innenpolitischen Mittlerrolle

4.3 Die Militärführung und die sowjetische Rüstungsindustrie

4.4 Der Kontrollverlust über die Republiken

Das Referendum vom März 1991

Das Referendum als Scheinargument für die Unionsbefürworter

4.5 Der neue Unionsvertrag

Die Verhandlungen und ihr Abschluss

Zum Inhalt des Unionsvertrages

Die Akzeptanz des Unionsvertrages

Die späte Veröffentlichung der Endfassung

4.6 Das Geheimtreffen zwischen Gorbatschow, Jelzin und Nasarbajew

Offene und geheime Absprachen

Das Recht zur Steuererhebung

Die Vorverlegung der Unterzeichnung auf den 20. August 1991

Die Geheimabsprachen zu Wahlen und Verfassung

Die Geheimabsprachen über Neubesetzungen

4.7 Wurde das Gespräch der drei Präsidenten abgehört?

Die Quelle der Abhörversion

Das angeblich abgehörte Gespräch als verbreitetes Putschmotiv

5 Gorbatschows Rolle im Putsch und seine politische Mitverantwortung

5.1 Gorbatschows personelle Stärkung der Systembewahrer

5.2 Verabschiedung und Inhalt des Gesetzes über den Ausnahmezustand

5.3 Die Diskussion über die Verhängung des Ausnahmezustandes

Die erste Phase ab Herbst 1990

Die zweite Phase ab Frühjahr 1991

Der Auftrag zur Ausarbeitung von Ausführungsbestimmungen

Die Ablehnung der Einführung des Ausnahmezustandes

Gorbatschows Distanzierung vom Ausnahmezustand

5.4 Gorbatschow in Foros während der Putschtage

Der unangekündigte Besuch der Emissäre

Das Ausmaß der logistischen Isolierung Gorbatschows

5.5 Unterstellungen der Komplizenschaft mit den Putschisten

6 Entscheidungsabläufe des Putsches und die Gründe für sein Scheitern

6.1 Die politischen Ziele des GKTSCHP

6.2 Der Auslöser für den Putsch

6.3 Die Putschvorbereitungen

Die Hauptorganisatoren

Das konspirative Treffen der Putschisten am 17. August 1991

Die Amtsträger, die in den Putsch hineingerieten

Das Fehlen einer klaren Strategie gegenüber Jelzin

6.4 Die unbeherzte Machtergreifung in der Nacht zum 19. August 1991

6.5 Die Rolle Lukjanows vor und im Augenblick der Machtübernahme

6.6 Der erste Putschtag

Das Publikmachen der Machtübernahme

Schwanensee und der Putsch

Die publizierten Verordnungen und Erklärungen

Die Begründung der Machtübernahme und des Ausnahmezustandes

Der Auftrag an das Militär und die KGB-Kampfeinheiten

Die Strategiesuche des Jelzin-Lagers in Archangelskoje

Jelzins Pressekonferenz und seine Rede auf dem Panzer

Die erste Sitzung des GKTSCHP und dessen Beschlüsse

Die internationale Pressekonferenz der Putschisten

Die Sitzung des sowjetischen Kabinetts

6.7 Der zweite Putschtag

Die Vormittagssitzung des GKTSCHP

Die Planung des Sturms auf Jelzins Machtzentrale

Das Gespräch zwischen der russischen Führung und Lukjanow

Die Abendsitzung des GKTSCHP im Kreml

6.8 Der dritte Putschtag

Die drei Todesopfer

Die Nachtsitzung im KGB

Gab es einen Befehl, Jelzins Machtzentrale zu stürmen?

Jasow und die Auflösung des GKTSCHP

Die Reisen nach Foros

6.9 Gorbatschows Rückkehr nach Moskau

6.10 Lukjanows Verzögerungstaktik

6.11 Kontakte des Jelzin-Lagers mit Militärführern und dem GKTSCHP

6.12 Die Rolle der KPdSU bei der Machtübernahme durch das GKTSCHP

6.13 Die Lage in Leningrad

6.14 Die Reaktionen in den Republiken

6.15 Die Reaktionen des Auslands

6.16 Die Rolle der Medien

7 Die politischen Folgen des Putsches und seine historische Einordnung

7.1 Das weitere Schicksal der Putschisten und ihrer Unterstützer

Die Verhaftungen, die Verhöre und deren Publizierung

Die staatsanwaltlichen Ermittlungen und der Gerichtsprozess

Die Amnestie und die gesellschaftliche Rehabilitierung

7.2 Der Putsch als Katalysator für den Untergang der KPdSU und UdSSR

Jelzins faktische Entmachtung Gorbatschows nach dem Putsch

Jelzins Demontage der KPdSU

Gorbatschows Illusion eines reformierten Zentralstaates

7.3 Die Bewertung des August-Putsches durch die russische Bevölkerung

7.4 Die Bewertung des August-Putsches durch russische Historiker

7.5 Die Darstellung in russischen Geschichtslehrbüchern

7.6 Die politische und mediale Erinnerungskultur

7.7 Deutsche Osteuropahistoriker und der Putsch

8 Zusammenfassung und Schlussbetrachtungen

9 Nachwort und Danksagung

10 Quellenüberblick

Biographien, Autobiographien und Zeugenberichte

Das Buch der leitenden russischen Staatsanwälte

Wissenschaftliche Abhandlungen

Russische Archive

Dokumente, Erlasse, Stenogramme, Protokolle

Untersuchungsberichte

Presseartikel, Agenturmeldungen, Radio-, TV- und Internetbeiträge

Filmquellen

Gespräche und Interviews der Akteure und Zeitzeugen mit dem Verfasser

Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge

Nachrichtenagenturen

Umfrageergebnisse des russischen Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum

Radioquelle

Unveröffentlichte Schriftquellen

11 Literaturverzeichnis

Dokumenten- und Interviewsammlungen, Chroniken und Augenzeugenberichte

Abkürzungen/Erläuterungen

12 Anmerkungen

13 Dokumente

14 Personenregister

Backcover

1     EINLEITUNG

Am 18. August 1991 wurden Michail Gorbatschows Telefonverbindungen an seinem Urlaubsort in Foros am Schwarzen Meer abgeschaltet; die Weltöffentlichkeit erfuhr einen Tag später von dem Putsch, als das Staatskomitee für den Ausnahmezustand die Macht ergriff, Panzer in Moskau einrollten und der sowjetische Präsident aus Krankheitsgründen für amtsunfähig erklärt wurde. Das Putschkomitee gab den Offizieren, die den sogenannten Atomkoffer in Foros bewachten und im militärischen Ernstfall bedienen sollten, den Befehl, nach Moskau zurückzufliegen und den Koffer mitzunehmen. Gorbatschow verlor somit die Kontrolle und die Verfügungsgewalt über den Einsatz der sowjetischen Atomwaffen.

Intrigen, Verschwörungen und Verrat bis hin zum „Königsmord“ bieten oft den Nährboden für kontroverse Darstellungen des Geschehenen, für Spekulationen, Unterstellungen und Theorien, die lange Zeit über das Ereignis hinaus ihre Wirkung nicht verlieren. Michail Gorbatschow 1 wird in historischen Abhandlungen und in den Medien – nicht nur seines Heimatlandes – häufig eine zwielichtige Rolle im Machtkampf zugeschrieben, der im August 1991 zwischen den restaurativen Kräften der Sowjetunion und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin entbrannte. In der Beschreibung dieses Machtkampfes haben sich die Begriffe „August-Putsch“ und „August-Revolution“ durchgesetzt.

Weltweit – vor allem aber in Deutschland – fand seit 1945 selten ein außenpolitisches Ereignis so viel Aufmerksamkeit wie der Sturz des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow; selten war die Sorge der deutschen Bevölkerung und der Politiker so groß wie bei der Machtübernahme der orthodoxen Kommunisten am 19. August 1991 in Moskau.2 Aus der Sicht des Westens drohte das Ende der liberalen Politik von Perestrojka und Glasnost. Der Grund für die ausgeprägten Sorgen der Deutschen war die noch vorhandene Präsenz der sowjetischen Truppen auf dem Gebiet der ein Jahr zuvor untergegangenen DDR. Umso größer waren die Freude und die Erleichterung über das Scheitern des Putsches, hatten doch viele eine Rückkehr zum Kalten Krieg befürchtet. Die Wiedervereinigung war zwar völkerrechtlich vollzogen, aber Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Michail Gorbatschow hatten für den vollständigen Abzug der rund 550.000 sowjetischen Militärangehörigen [<< 11] (einschließlich deren Familienangehörigen) einen Zeitraum von vier Jahren vereinbart. Die Rückführung der Truppen und des sowjetischen Militärpotentials sollte laut Vertrag erst 1994 abgeschlossen sein.3

Das Ende des sowjetischen Systems wurde durch den Putsch besiegelt. Dieses einschneidende Ereignis der Weltgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist im Hinblick auf seine Ursachen und Vorbereitungen, seinen Verlauf und seine Folgen kaum untersucht worden. Es ist mit einer sperrigen Abkürzung verbunden: GKTSCHP. Für die Russen selbst ist sie schwer aussprechbar. Sie steht eben für dieses Staatskomitee für den Ausnahmezustand, das die Putschisten bildeten – Gosudarstvennyj Komitet po Črezvyčajnnomu Položeniju (GKČP bzw. GKTSCHP).

Auch rund ein Vierteljahrhundert später liegt weder in Russland noch in Westeuropa oder in den USA eine zusammenhängende, umfassende und wissenschaftlich fundierte Monographie über den August-Putsch von 1991 vor. Die Hintermänner und Akteure waren während des Umsturzversuches öffentlich weitgehend unsichtbar geblieben. Wer waren sie? Wie und wo verliefen die Putschvorbereitungen? Wie agierten das Staatskomitee, die Armeeführung und der KGB?

Die Medienvertreter konnten ab dem 19. August 1991 nur das äußere Tagesgeschehen abbilden, die Situation auf den Straßen Moskaus und in anderen Städten beschreiben. Den Historikern mangelte es in späteren Jahren vor allem an fundierten Quellen. Eine möglichst dichte Rekonstruktion der Putschtage war daher das Ziel dieses Buches. Die Entscheidungsfindungen des Staatskomitees, das hinter den Kremlmauern agierte, standen dabei besonders im Mittelpunkt – aber auch die Rolle Gorbatschows. Was geschah an seinem Urlaubsort in Foros? Wie belastbar sind die bis heute kursierenden Darstellungen oder Vermutungen, er sei stiller Komplize der Putschisten gewesen? Schließlich gibt das Buch auch eine Antwort auf die Frage, was der Auslöser für den Putsch war.

Meist wird in diesem Zusammenhang die für den 20. August 1991 geplante Unterzeichnung des Unionsvertrages genannt, der eine Dezentralisierung der Sowjetunion vorsah. Ebenso wird aber auch ein vom KGB angeblich abgehörtes Gespräch zwischen Gorbatschow, dem russischen Präsidenten Boris Jelzin sowie dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew als Auslöser bezeichnet. Bei diesem Dreier-Gespräch im Juli 1991 wurde die Absetzung einiger der späteren Mitglieder des Staatskomitees für den Ausnahmezustand verabredet, die ja Teil der Gorbatschow-Führung waren. Wurde das Gespräch überhaupt abgehört? Was waren die Gründe für das [<< 12] Scheitern des Putsches? Hat es seitens des GKTSCHP einen Befehl zum Sturm auf Jelzins Machtzentrale, das Weiße Haus, gegeben? Wenn ja, wurde er von entscheidenden Einheiten des Militärs und des KGB verweigert?

Die Erforschung dieser und weiterer Fragen erforderte eine neue Qualität der Quellen. Ausgewertet wurde die rund 1.000 Seiten umfassende Anklageschrift. Diese Dokumente sind im Obersten Gericht der Russischen Föderation archiviert und offiziell als Staatsgeheimnis deklariert. So hatte Gorbatschows Tochter Irina Wirganskaja, die 1991 in Foros auf der Krim aufgrund der Aktionen der Putschisten drei Tage festgesetzt war, Einsichtnahme beantragt. Die Hürden und Bedingungen, die vom Obersten Gericht dafür aufgestellt wurden, waren offenbar so hoch, dass sie schließlich auf die Einsicht verzichtete.4 Ferner wurde die inzwischen sehr umfangreiche Memoirenliteratur der Akteure und der Zeugen des Putsches ausgewertet. Mit mehr als 30 dieser an den Ereignissen unmittelbar oder mittelbar beteiligten Personen führte ich in den Jahren 2009 bis 2012 Interviews, persönliche Gespräche oder Telefonate, darunter mit Michail Gorbatschow, dem damaligen sowjetischen Verteidigungsminister Dmitri Jasow oder dem Chef der sowjetischen Rüstungs- und Raumfahrtindustrie Oleg Baklanow.

Nach der Niederlage der Putschisten, die den endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion zur Folge hatte, brachen sich unterschiedliche Verschwörungstheorien Bahn. Hier lässt sich von einem „Instrument der Manipulation“ und von einer „Waffe der relativen Verlierer“ sprechen. Das Kultivieren dieser Theorien bietet sich für die Verlierer als „Bewältigungsstrategie“ für ihr erlittenes Scheitern an.5 Dies erinnert zum Beispiel an die Dolchstoßlegende, mit der die Schuld für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg den Sozialdemokraten zugeschoben werden sollte. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die Falschdarstellungen der historischen August-Ereignisse in der Sowjetunion lediglich den Putschisten, ihren Anwälten und politischen Sympathisanten zuzuschreiben. Allerdings hat auch Gorbatschow – wenn auch in einem weit geringeren Maße – einige Begebenheiten verzerrt wiedergegeben.

Mindestens bis zum Abschluss der staatsanwaltlichen Ermittlungen und der Verhöre sowie der Fertigstellung der Anklageschrift Ende 1992/Anfang 1993 gab es kaum belastbare Informationen über die Hintergründe, die Organisation und die Entscheidungsabläufe des Putsches. Und selbst nach Fertigstellung der Anklageschrift drangen diese Informationen nicht umfassend, sondern nur in selektiver Form an die Öffentlichkeit. Zutreffend [<< 13] schrieb der Osteuropahistoriker Edgar Rösch 1996, dass die Hintergründe des Putsches noch ungeklärt seien.6 Nach Norbert Elias, dem einflussreichen Soziologen des 20. Jahrhunderts, erklärt sich die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien aus anthropologischer Sicht auch aus einer Grunderfahrung des Menschen – dem „Horror des Nichtwissens.“7

Es verwundert daher nicht, dass in historischen und publizistischen Darstellungen zentrale Fragen des Putsches häufig umgangen oder – wie hier dargelegt werden wird – nicht plausibel beantwortet werden. Gestützt auf eine völlig neue und solide Quellenbasis, wird durch dieses Buch bis heute kursierenden Mythen und Verzerrungen die Grundlage entzogen. Der Blick auf die Ereignisse vom August 1991 ist nun in einem klaren Licht möglich. [<< 14]

2     REKONSTRUKTION DER EREIGNISSE – GRUNDLAGEN

Die Quellenkombination aus Anklageschrift und persönlichen Gesprächen, darunter mit Putschisten, den ranghöchsten Vertretern des Jelzin-Lagers und mit Michail Gorbatschow, findet sich weder in Abhandlungen innerhalb Russlands noch außerhalb. Als wichtige dritte Quellengruppe dienen die inzwischen recht zahlreichen Autobiographien und Werke der Erinnerungsliteratur der Hauptbeteiligten speziell zum August 1991. Sie allein hätten allerdings nur einen sehr begrenzten Wert für die Erhellung der Hintergründe und Abläufe des Putsches; isoliert genutzt, würden sie wohl beinahe jeden an diesen Ereignissen interessierten Leser bei dem Versuch, eine korrekte Einordnung vorzunehmen, überfordern. Erst die Gegenüberstellung im Einzelnen und der Abgleich mit dem übrigen Quellenmaterial gab dem Verfasser die Gewissheit, die schriftlichen Ego-Dokumente sicher und zielgerichtet nutzen zu können. Dass die detaillierte Anklageschrift als Quelle herangezogen werden konnte, ermöglichte auch eine recht sichere Einschätzung der Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit des jeweiligen Zeitzeugen.

Zu den aussagekräftigsten Quellen gehören die staatsanwaltlichen Ermittlungsergebnisse und Verhörprotokolle, die in der rund eintausend Seiten starken Anklageschrift zusammengefasst wurden. Über das Deutsche Historische Institut in Moskau stellte ich am 23. März 2012 bei Wjatscheslaw Lebedew, Vorsitzender des Obersten Gerichts der Russischen Föderation, den Antrag auf Akteneinsicht zu wissenschaftlichen Zwecken. In seinem Antwortschreiben vom 11. April 2012 begründete das Gericht die Ablehnung der Akteneinsicht damit, dass diese Dokumente Staatsgeheimnisse darstellten und dem „Gesetz der Russischen Föderation vom 21. Juni 1993, Nr. 5485–1 Über das Staatsgeheimnis“ unterlägen. Während meines Recherche- und Forschungsaufenthaltes im März/April 2012 in Moskau ist es mir dennoch gelungen, nicht nur Einsicht in die Anklageschrift zu nehmen, sondern ein Exemplar anschließend sogar nach Deutschland zu überführen. Diesen Umstand, der für die Erschließung der Quellen und für die Erstellung dieses Buches höchst bedeutsam war, verdanke ich Frau [<< 15] Tamara Schenina, Ehefrau des 2009 verstorbenen KPdSU-Politbüromitglieds Oleg Schenin. Der russischen Strafprozessordnung entsprechend wurde den Angeklagten jeweils ein Exemplar vor Prozessbeginn übergeben. Frau Schenina überließ mir für meinen Forschungszweck das aus fünf Bänden bestehende Originalexemplar der Anklageschrift gegen ihren Mann. Exzerpte der Anklageschrift kursieren seit Jahren in den russischen Medien und im russischen Internet. Teile sind also durchgesickert, doch sind diese vom quellenkritischen Standpunkt aus zu unsicher, um zum Zwecke der Erstellung einer verlässlichen Darstellung der Ereignisse weiterverwendet zu werden. Es kann nicht wirklich verifiziert werden, ob die Exzerpte jeweils authentisch sind oder ob sie interessengesteuert eingesetzt wurden. Diesem Buch liegt demgegenüber nicht nur die fünfbändige Anklageschrift im Original vor, sondern auch in ihrer Vollständigkeit.1

Gegen zwölf am Putsch Beteiligte wurde letztlich ein Gerichtsverfahren eröffnet; zu den vielen Zeugen gehörten zum Beispiel Fahrer, Fernmeldetechniker, Wachpersonal, Telefonistinnen, Sekretärinnen, Volksdeputierte, Armeeangehörige, KGB-Mitarbeiter, Parteifunktionäre, aber auch Spitzenpolitiker wie Michail Gorbatschow und Boris Jelzin. Im Zuge der Ermittlungen wurden rund 2.700 Zeugen befragt und 53 Stunden Videomaterial von Verhören der Hauptbeteiligten angefertigt.2 Allein das GKTSCHP-Mitglied Oleg Baklanow wurde zwischen dem 24. August und dem 17. Dezember 1991 neunzehn Mal von den Ermittlern verhört.3 Von den zwölf Angeklagten leben noch fünf (Stand: Dezember 2013).

Die rund 1.000 Seiten umfassenden Dokumente enthalten nicht nur inhaltlich wertvolle und eine Reihe bisher noch nicht veröffentlichter Informationen und Sachverhalte, sondern auch die Privatadressen (und teilweise die Telefonnummern) der zwölf Angeklagten sowie von 991 Personen, die potenziell als Zeugen vor Gericht infrage kamen – darunter zahlreiche Spitzenpolitiker, Militärangehörige oder zum Beispiel auch Mitglieder des KGB.4 Letzteres erleichterte die Kontaktaufnahme zu diesen Personen. Sehr verlässliche Informationen stellen beispielsweise die minutengenauen Telefonprotokolle der über die Regierungsleitungen abgewickelten Gespräche dar, aus denen genau hervorgeht, wer mit wem wann und wie lange telefoniert hat und wer wen angerufen hat. Damit lässt sich erhärten, wer zu den Putschorganisatoren und wer zu den „Hineingezogenen“ gehörte. Auch wurde an den jeweiligen Pforten und in den Sekretariaten sehr genau Buch geführt, wer sich wann und wie lange im Kreml, in der KPdSU-Parteizentrale oder an anderen wichtigen Orten aufhielt. Auch aufgrund [<< 16] der Fahrtenbücher der Chauffeure blieben beispielsweise die als Geheimtreffen geplanten Zusammenkünfte im KGB-Objekt „ABZ“ nicht geheim.

Diese in Schriftform oder audiovisuell festgehaltenen Ermittlungsergebnisse waren essenziell für die Rekonstruktion und die Einordnung der Ereignisse, in erster Linie für die Darstellung der strategischen und personellen Vorbereitung des Putsches sowie der internen Entscheidungsfindungen während der gefährlichen Tage des Machtkampfes in Moskau vom 19. bis 21. August 1991. Was die politischen Bewertungen durch die Staatsanwaltschaft betrifft, die in diesen Dokumenten ihren Niederschlag finden, ist allerdings Zurückhaltung angebracht. Als Gegengewicht im Sinne des Grundprinzips „audiatur et altera pars“ – man möge auch die andere Seite hören – wurden die von mir geführten Interviews und Gespräche mit den damaligen Angeklagten und Zeugen sowie deren Memoiren ausgewertet und berücksichtigt.

Eigene Befragungen von Hauptakteuren und Zeugen

Für dieses Buch war aufgrund des teilweise hohen Lebensalters mit der Befragung der Mehrzahl der Akteure Eile geboten. Inhaltlich ging es primär darum, auf der Faktenebene zu bleiben – mit in der Regel geschlossenen Fragen. Um ein Beispiel zu nennen: Der unangekündigte Besuch der fünfköpfigen Delegation an Gorbatschows Urlaubsort in Foros ist eine der entscheidenden Episoden der Putschgeschichte. Dieser Ort auf der Krim ist einer der bedeutendstenSchauplätze des Kampfes um die Deutungshoheit darüber, wie die Verhängung des Ausnahmezustandes und die Bildung des GKTSCHP zustande kamen. Da keinerlei Protokolle oder Tondokumente dieses entscheidenden Gesprächs existieren, kann sich der Versuch einer Rekonstruktion dieses Ereignisses nur auf mündliche Zeugnisse stützen.

Diese Ego-Dokumente – seit den 1980er-Jahren verstärktals Quellen und als Instrument der Forschung herangezogen – werden unter dem Begriff „Oral History“ subsumiert und bedürfen einer besonderen quellenkritischen Vorsicht.5 Norbert Frei konstatiert, dass „die Geschichtswissenschaft viel zu lange Chancen, die in der […] Befragung von Zeitzeugen lagen, ungenutzt verstreichen“ gelassen hat.6 In erster Linie ging und geht es bei Oral History allerdings mehr um mündliche Zeugnisse von einfachen Bürgern, mit deren Hilfe der Frage des Verhältnisses von Individuum und System nachgegangen wird.7 Inzwischen subsumiert dieser Begriff auch die Quellen, die durch die Befragung von maßgeblichen Akteuren, die meist hohe Repräsentanten eines Staates waren oder sind, entstanden. [<< 17]

Mit den noch lebenden Hauptbeteiligten hatte der Verfasser zwischen Oktober 2009 und Mai 2011 TV-Interviews geführt, in denen die Kernfragen schon beantwortet worden waren. Doch schienen für das vorliegende Buch eine Erweiterung des Personenkreises sowie eine neue Befragung einiger Beteiligter, die schon ein Interview gegeben hatten, geboten. Aus diesem Grunde wurden mit Michail Gorbatschow, Sowjetmarschall Dmitri Jasow, mit dem sowjetischen Rüstungsindustriechef Oleg Baklanow und dem Kommandeur der KGB-Elitetruppe „Alpha“ Michail Golowatow je zwei Gespräche geführt. Teilweise ging es um historische Präzisierungen, teilweise um das Auflösen von Widersprüchen durch vorliegende Darstellungen anderer Beteiligter oder Zeugen des Putsches.8

In dieser zweiten und erweiterten Interviewrunde war es vorteilhaft, dass die Gespräche überwiegend ohne Kamerateam (nur bei Gorbatschow wurde auch beim zweiten Mal gefilmt) und ohne die damit erforderliche umfangreiche Technik geführt wurden, womit eine entspanntere Gesprächsatmosphäre gegeben war. Gleichwohl stellten bereits die Interviews der ersten Runde ein ausgezeichnetes Quellenmaterial und eine erste Grundlage für den Fall dar, dass ein neues Interview abgelehnt wurde oder der jeweilige Gesprächspartner in der Zwischenzeit verstorben war.9

Es gab während des Putsches drei Lager, Orte und Machtzentren:

1 Gorbatschow an seinem Urlaubsort in Foros. Sein politisches Ziel war, die Sowjetunion als reformierten und zentral regierten Unionsstaat zu erhalten. Er wollte den Republiken mehr Selbstbestimmung und Eigenständigkeit zugestehen, lehnte allerdings eine lose Konföderation ab. Er war bereit, diejenigen Republiken, die die völlige Loslösung von der Sowjetunion anstrebten, in die Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu entlassen.

2 Jelzin und dessen Unterstützer im Weißen Haus. Er strebte die Eigenständigkeit der russischen Republik an, wollte keine Bevormundung mehr durch die sowjetische Zentralregierung akzeptieren. Dennoch beteiligte er sich an den Verhandlungen über eine reformierte Sowjetunion und war bereit, den ausgehandelten neuen Unionsvertrag zu unterschreiben.

3 Die Putschisten im Kreml sowie deren Unterstützer. Ihr politisches Hauptziel war, die territoriale Integrität der Sowjetunion zu erhalten. Sie wollten die Unterzeichnung des neuen Unionsvertrags verhindern, der nicht nur eine Dezentralisierung der Sowjetunion, sondern auch die Loslösung mehrerer Teilrepubliken festgeschrieben hätte. Im Hinblick auf die Frage, ob dieses Ziel auch mit Gewalt durchgesetzt werden sollte, war das Putschkomitee allerdings gespalten. [<< 18]

Da Gorbatschow in Foros isoliert wurde und vorübergehend politisch ausgeschaltet war, wurde der Putsch zu einem Zweikampf der Machtzentren in Moskau – desjenigen der Putschisten und desjenigen von Jelzin. Die Interviewpartner sind entweder einer dieser drei Gruppen zuzuordnen, oder sie sind zufällig oder als politische oder militärische Funktionsträger in eines der drei Lager hineingeraten. Es war anzunehmen, dass einige der Interviewten interessengesteuert antworten würden. Sorgfalt und Vorsicht bei der Interpretation der Interviewäußerungen waren und sind daher geboten. Bei der Auflistung der Zeitzeugen weiter unten wird in einigen Fällen sowohl die Funktion als auch die Amtszeit angegeben, um – wie zum Beispiel im Falle von Eduard Schewardnadse – deutlich zu machen, dass er zum Zeitpunkt des Putsches nicht sowjetischer Außenminister war. Bei allen aufgeführten Zeitzeugen, bei denen nur die Funktion angegeben ist, bedeutet dies, dass sie zum Zeitpunkt des Putsches diese auch innehatten.

Aus dem Gorbatschow-Lager konnten folgende Personen für ein persönliches Gespräch gewonnen werden:

– Michail Gorbatschow (*1931), UdSSR-Präsident und Generalsekretär des ZK der KPdSU

– Anatoli Tschernajew (*1921), engster Berater des sowjetischen Präsidenten; er war ebenfalls in Foros festgesetzt und ist somit ein wichtiger Zeitzeuge

– Eduard Schewardnadse (*1928), sowjetischer Außenminister von 1985 bis 1990 und nach dem Putsch wieder zwischen Oktober und Dezember 1991

– Wadim Bakatin (*1937), sowjetischer Innenminister 1990 und Chef des KGB10 vom 23. August bis zum 3. Dezember 1991, als der KGB aufgelöst wurde

– Grigori Jawlinski (*1952), Wirtschaftswissenschaftler

Aus dem Lager des verstorbenen russischen Präsidenten Jelzin:

– Alexander Ruzkoj (*1946), Vizepräsident Russlands

– Ruslan Chasbulatow (*1942), amtierender Parlamentspräsident Russlands11

– Gawril Popow (*1936), Oberbürgermeister von Moskau

– Michail Poltoranin (*1939), Presse- und Informationsminister Russlands (Telefonat)

– Gennadi Burbulis (*1945), Chefberater Jelzins

Aus dem Lager der Putschisten und deren aktiver Unterstützer:

– Marschall Dmitri Jasow (*1924), sowjetischer Verteidigungsminister

– Oleg Baklanow (*1932), Chef der sowjetischen Rüstungs- und Raumfahrtindustrie

– Wladislaw Atschalow (1946–2011), stellv. sowjetischer Verteidigungsminister

– Juri Prokofjew (*1939), KPdSU-Chef von Moskau-Stadt [<< 19]

Akteure und Zeugen, die Befehlsempfänger waren oder sich plötzlich involviert sahen:

– Alexander Bessmertnych (*1933), sowjetischer Außenminister

– Valentin Falin (*1926), ZK-Sekretär (Telefonat)

– Pawel Gratschow (194712– 2012), Kommandeur der sowjetischen Luftlandetruppen

– Michail Golowatow (*1946), stellvertretender Kommandeur der KGB-Elitekampfeinheit „Alpha“13

– Alexander Dsasochow (*1934), ZK-Sekretär (Telefonat)

– Wladislaw Terechow (*1933), sowjetischer Botschafter in der Bundesrepublik (Telefonat)

– Leonid Krawtschenko (*1938), Chef des staatlichen Fernsehens und Radios der Sowjetunion

– Wjatscheslaw Keworkow (*1924), stellvertretender Leiter der Nachrichtenagentur TASS

Telefonate mit wichtigen Akteuren oder Zeugen, die zu einem persönlichen Gespräch und zu ausführlichen Aussagen nicht bereit waren, deren – wenn auch kurze – Ausführungen dennoch einen Erkenntnisgewinn bieten:

– Alexander Tisjakow (*1926), Mitglied des GKTSCHP

– Boris Beskow (*1939), Kommandeur der KGB-Elitekampfeinheit „B“14

Weitere Zeugen und indirekt Beteiligte, mit denen persönliche Gespräche geführt wurden:

– Rudolf Seiters (*1937), Chef des Bundeskanzleramtes unter Helmut Kohl

– Klaus Blech (*1928), Botschafter Deutschlands in der Sowjetunion

– Jack F. Matlock (*1929), Botschafter der USA in der Sowjetunion15

– Jörg R. Mettke (*1943), Korrespondent des Nachrichtenmagazins Der Spiegel

– Valentin Stepankow (*1951), Generalstaatsanwalt Russlands

– Juri Blochin (*1945), Vorsitzender der Fraktion „Sojus“ im Obersten Sowjet der UdSSR

– Vytautas Landsbergis (*1932), Präsident Litauens

– Vitali Doguschijew (*1935), kommissarischer Ministerpräsident der Sowjetunion nach dem angeblich krankheitsbedingten Ausfall von Valentin Pawlow (Telefonat)

– Lew Ponomarjow (*1941), Volksdeputierter der RSFSR; er leitete die parlamentarische Untersuchungskommission des Obersten Sowjets der RSFSR zum Putsch

– Tamara Schenina, Ehefrau von Oleg Schenin (1937–2009), der einer der Hauptorganisatoren des Staatskomitees war [<< 20]

– Ljubow Komar, Mutter von Dmitrij Komar, eines der drei Putschopfer

– Galina Wolskaja-Everstowa, Tochter des Industriefunktionärs Arkadi Wolski (Telefonat); sie nahm am 18. August 1991 einen Anruf Gorbatschows aus Foros entgegen

Schriftlich beantwortete Michail Gorbatschow am 24.07.2012 drei weitere wesentliche Fragen, die sich nach der Sichtung des umfangreichen Quellenmaterials ergeben hatten.16 Der ehemalige US-Außenminister Baker gab mir im Mai 2011 ein TV-Interview zum Putsch. Meine Fragen trug in Houston ein Bevollmächtigter vor, da der mir von Baker vorgegebene Gesprächstermin mit Interviewterminen in Moskau kollidierte. [<< 21]

3     STELLENWERTDER INTERVIEWS MIT HAUPTAKTEUREN UND ZEUGEN

Dass es kaum schriftliche Dokumente und keine Audioquellen über die Planung eines Putsches gibt, liegt in der Natur der Sache begründet. Denn schriftliche Spuren oder Tondokumente im Vorfeld und während der Planung und Durchführung einer Machtübernahme zu produzieren, wird von potenziellen Putschisten aus Gründen der Vorsicht in der Regel vermieden. Daher rücken nachträgliche Gesprächsquellen mit den Beteiligten und Betroffenen in den Vordergrund, die in der Regel einen bedeutenden Erkenntnisgewinn liefern. Hinzu kommt, dass es für eine gründliche Untersuchung erforderlich ist, aus allen der damals widerstreitenden politischen Lager Quellenmaterial zu gewinnen.

Bislang konnten Autoren von in Westeuropa oder in den USA veröffentlichten Abhandlungen nicht auf ausführliche eigene Gespräche mit Zeitzeugen aus der früheren sowjetischen und russischen Führung zurückgreifen, weil sie sich entweder nicht um einen Zugang bemüht hatten oder weil die Zeitzeugen nicht für ein persönliches Gespräch zur Verfügung standen. Dieses Buch will diese Lücke schließen. Dabei ergibt sich allerdings bei den Interviews, die in unserem Fall rund zwanzig Jahre nach den Ereignissen erfolgten, eine Reihe von Vor- und Nachteilen, die es im Folgenden zu skizzieren gilt.

Das Bedürfnis, die eigene Position auch im Nachhinein zu verteidigen und in einigen Fällen auch subtile Rache an den Gegnern üben zu wollen, darf als Interviewmotiv nicht ausgeschlossen werden. Des Weiteren könnte ein Gesprächspartner aufgrund seines fortgeschrittenen Alters großes Interesse daran haben, der Nachwelt ein möglichst vorteilhaftes Bild von sich zu hinterlassen, und seine Ausführungen entsprechend gestalten. Das GKTSCHP-Mitglied Oleg Baklanow sagte dem Verfasser während der zweiten persönlichen Begegnung wörtlich: „Das Einzige, was man ins Grab mitnehmen kann, ist der gute Name.“1

Zu den Vorteilen dürfte gehören, dass die Betroffenen aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters keine Rücksicht mehr auf mögliche Karrierenachteile [<< 23] nehmen müssen, sodass sie möglicherweise eher geneigt sind, mit großer Offenheit Interviews zu einem sensiblen Thema zu geben. Auch müssen sie wegen des großen zeitlichen Abstandes nicht mehr befürchten, Mitglieder des eigenen Lagers oder sich selbst durch wahrheitsgemäße Antworten zu belasten, obwohl einige genau dies nach dem gescheiterten Putsch taten. Schließlich ist – im Gegensatz zu den an einem positiven Eigenbild Interessierten – oft zu beobachten, dass gegen Ende des Lebens eine gewisse Altersmilde eintritt, die mit dem Bedürfnis einhergeht, die Dinge nach bestem Wissen und Gewissen wiederzugeben, vereinzelt auch Geheimnisse preiszugeben. So nannte beispielsweise Marschall Jasow Gorbatschow einige Jahre nach dem Putsch, als er juristisch und politisch in Sicherheit war, einen Verräter; nun beschrieb er diesen als „ordentlichen Menschen, auf den ich nicht böse sein muss. Er hat mich zum Marschall ernannt. Heute gibt es nur noch vier lebende Marschalle in unserem Land.“2

Der zeitliche Standort der Beteiligten ist aus mehreren Gründen relevant, was bei der Interpretation und Bewertung der Quellen berücksichtigt werden muss.3

1991, als nach dem Scheitern des Putsches ein politisches Klima der Abrechnung herrschte und die Verwurzelung in dem damals gerade überwundenen totalitären Regime noch stark war, machten einige Putschisten oder Unterstützer bei oder nach ihrer Verhaftung Aussagen, mit denen sie Mitstreiter des eigenen Lagers belasteten, um sich selbst zu entlasten. Interessant ist auch die vollständige politische Metamorphose des Generals und damaligen russischen Vizepräsidenten Alexander Ruzkoj, der an der Seite Jelzins den Widerstand gegen die Putschisten organisierte. Er hatte pathetisch an die Bürger appelliert, sie sollten das Weiße Haus verteidigen, in welchem sich der Regierungssitz Jelzins und das russische Parlament befanden. Die GKTSCHP-Mitglieder belegte er mit Schimpfwörtern; am dritten Putschtag flog er zu Gorbatschow auf die Krim, um diesen unter den gebannten Blicken der Weltöffentlichkeit nach Moskau zurückzubringen. Zwanzig Jahre später sagte er dagegen, Gorbatschow habe da „eine Show veranstaltet“, die GKTSCHP-Mitglieder seien Patrioten gewesen.4 In einer einem Gerichtsverfahren ähnelnden Diskussionssendung des russischen Fernsehens RTR anlässlich des 20. Jahrestags des Putsches saß Ruzkoj auf der Seite der GKTSCHP-Mitglieder Baklanow, Jasow und Starodubzew und verteidigte deren Taten vom August 1991 vehement. Dieser vollständige Positionswechsel lässt sich vor allem dadurch erklären, dass Ruzkoj spätestens 1993 zu einem erbitterten Feind seines bisherigen Mitstreiters [<< 24] Jelzin geworden war, der sich zwei Jahre zuvor gegen das Staatskomitee für den Ausnahmezustand (GKTSCHP) durchgesetzt hatte. Im Oktober 1993 gipfelte die Feindschaft zwischen dem russischen Präsidenten und Ruzkoj (sowie dem Obersten Sowjet) in einem blutigen Machtkampf mit dem Beschuss des russischen Parlaments durch Panzer. Ruzkoj ist aber keine Ausnahme. Die Lager von 1991 sind somit nicht politisch identisch mit denen in den Folgejahren. Einander widersprechende Aussagen oder sogar Positionsänderungen, was die Einschätzung des Putsches betrifft, liegen auch bei Jelzin vor, wie weiter unten dargelegt wird.

Erinnerungsselektion, durch die – bewusst oder unbewusst – bestimmte Sachverhalte nur eingeschränkt wahrgenommen werden, ist ein weiteres Phänomen in diesem Zusammenhang. Auch war es 1991 vorteilhaft, auf der Seite der „Sieger“ zu stehen, die geholfen haben, das Sowjetimperium zum Einsturz zu bringen. In der Putin-Ära wurde dies zunehmend weniger opportun, als Putin sogar dazu überging, einige ehemalige Putschisten auszuzeichnen.

Einige Gesprächspartner konnten eigene oder vermeintlich eigene widersprüchliche Aussagen, die in verschiedenen Quellen auftauchten, erläutern. Hinsichtlich der Quellenkritik und der Quelleninterpretation war vor allem die Frage von Bedeutung, wann, wo und in welchem psychologischen Umfeld die Quelle entstand und wer der Adressat war. Ein konkretes Beispiel, das die Bandbreite der möglichen Quelleninterpretation veranschaulicht, ist das folgende:

Gorbatschow hat in seinem kleinen Museum, das sich in seiner Stiftung befindet, auch Dokumente und Gegenstände aus den Putschtagen ausstellen lassen. Dazu gehört ein handschriftlich geschriebener, flehentlich um Vergebung bittender Brief des Hauptdrahtziehers des Putsches – des KGB-Chefs Wladimir Krjutschkow. Dieser hatte den Brief in den ersten Tagen seines Gefängnisaufenthalts verfasst und ihn – mit unterwürfiger Selbstkritik versehen – an Gorbatschow geschickt. In Moskau wurde zu diesem Zeitpunkt darüber spekuliert, ob gegen die Putschisten nicht die Todesstrafe verhängt werden würde, was viele für wahrscheinlich hielten. Gorbatschow zitiert sehr häufig aus diesem Brief, wenn er auf den August-Putsch angesprochen wird oder wieder Zweifel an seiner eigenen Rolle in diesen Ereignissen geäußert werden. Dieser Brief scheint eindeutig klarzumachen, wo die Schuld und die Verantwortung für das Geschehen vom August 1991 liegen. Jahre später und besonders nach dem Jahr 2000, als Krjutschkow von Wladimir Putin zu dessen Amtseinführung als russischer [<< 25] Präsident in den Kreml eingeladen worden war, war in Krjutschkows Stellungnahmen und Interviews zum August-Putsch 1991 nichts mehr von Selbstkritik zu vernehmen. Vielmehr richtete er verbale Anklagen in Richtung des ersten und letzten Sowjetpräsidenten und äußerte sein Bedauern, Gorbatschow nicht rechtzeitig vor Gericht gestellt zu haben. Der Reue-Brief von 1991 hat daher nur eine geringe inhaltliche Relevanz.

Eine kleine Hilfe bei der Bewältigung dieser großen Menge an einerseits widersprüchlichen und andererseits interessengesteuerten Aussagen, die geradezu ein Quellendickicht bilden, dürfte sein, dass der Verfasser im persönlichen Gespräch mit den Akteuren deren Reaktion, Mimik, Gestik und Stimme beobachten konnte. Dies dürfte die Gefahr von Fehlinterpretationen doch erheblich reduzieren. [<< 26]

4     HINTERGRÜNDE UND MOTIVE FÜR DEN PUTSCH

Der Niedergang der sowjetischen Wirtschaft und die Erstarrung des politischen und gesellschaftlichen Systems, das durch das Kommando-Prinzip geprägt war, begannen in der Spätphase der Ära Leonid Breschnew. Er regierte das Land von 1964 bis 1982. Zahlreiche Missernten, die enormen Verteidigungsausgaben in Konkurrenz zu den USA, eine kostspielige Unterstützung der sogenannten „Bruderstaaten“ sowie die Finanzierung kommunistischer Parteien und Bewegungen in kapitalistischen Staaten waren Anzeichen einer ernsten Krise, die kaum noch mithilfe der Propaganda verdeckt werden konnte. So bildete der elfte Fünfjahresplan (1981–1985) „ein historisches Tief in der Geschichte der Sowjetunion.“1 Versorgungsmangel, das sogenannte „Defizit“, sowie Schlangen vor den Geschäften waren also grundsätzlich keine Erscheinungen, die erst während der Gorbatschow-Ära in das Leben der sowjetischen Bürger traten, wie häufig angenommen oder behauptet wird.

Auch in den Bereichen Industrie, Computer- und Kommunikationstechnik wurde der Rückstand zum Westen Anfang der 1980er-Jahre immer größer. Die weiterhin betriebene Abschottung vom Ausland und die Versuche, westliche Einflüsse auf die sowjetischen Bürger zu unterbinden, ließen sich zunehmend schwerer durchsetzen. Die Diskrepanz zwischen der propagierten Ideologie und der gesellschaftlichen Wirklichkeit nahm zu und unterhöhlte das kommunistische Herrschaftssystem. Nach dem Tod Breschnews im November 1982 versuchte sein Nachfolger Juri Andropow, der 15 Jahre KGB-Chef gewesen war, Reformen auf den Weg zu bringen. Diese fanden zunächst ihren Niederschlag in Kampagnen für mehr Arbeitsdisziplin und in Versuchen, die Korruption zu bekämpfen. Es blieb bei Reformversuchen, denn Andropow war schon nach etwa einen halben Jahr im Amt des Generalsekretärs krankheitsbedingt nicht mehr handlungsfähig. Er verstarb im Februar 1984. Nachfolger wurde Konstantin Tschernenko, ein langjähriger Vertrauter Breschnews. Die Zeichen standen wieder auf Festigung des Parteiapparats und Reformunwilligkeit. [<< 27]

Tschernenko, der schon sehr krank an die Macht gekommen war, personifizierte als Parteiapparatschik und Generalsekretär das degenerierte sowjetische Herrschaftssystem. Der für das Schicksal des Landes wohl wichtigste Impuls dürfte gewesen sein, dass seine dreizehnmonatige Amtszeit und sein Tod im März 1985 den Ausschlag für das Politbüro gaben, dieses Mal – schon aus politischem Selbsterhaltungstrieb heraus – einen bedeutend jüngeren Nachfolger zu wählen. Michail Gorbatschow, 54 Jahre alt, wurde am 11. März 1985 neuer Generalsekretär. Während er anfangs den Begriff „Uskorenije“ – Beschleunigung – häufig als politisches Schlagwort zur Beschreibung seiner programmatischen Ausrichtung benutzte, kamen danach „Glasnost“ (Offenheit)2 und „Perestrojka“ (Umbau) hinzu. Diese beiden Wörter setzten sich durch und waren schon in Gorbatschows zweitem Amtsjahr sowohl national als auch international als Synonyme für die politische Kursbeschreibung der Sowjetunion etabliert.3 Der politisch übergeordnete Begriff „Perestrojka“ stand für tief greifende Reformen in der Partei und in der Gesellschaft; mit mehr Glasnost sollten die Bürger für die Reformen mobilisiert werden; Missstände sollten benannt werden und Glasnost sollte helfen, den Mangel an Vertrauen seitens der Bevölkerung zu den Machthabern zu verringern.

Die Intention Gorbatschows war, die Sowjetunion konkurrenzfähiger und das sozialistische System für die Menschen attraktiver zu machen. Joachim Holtz, der den Übergang der kurzen Regierungszeit Tschernenkos zu Gorbatschow und dessen Amtszeit als ständiger ZDF-Korrespondent bis 1990 in Moskau beobachtete, schrieb im vierten Jahr der Perestrojka analytisch zutreffend: „Die Verfassung und die ideologische Starrheit der sowjetischen Führung bewahrt die KPdSU vor Konkurrenz, das soll auch in Zukunft so bleiben. Es darf nur eine Partei geben, sie soll avantgardistisch und bewahrend sein. Regierung und Opposition zugleich. Der Vielfalt anderer Gesellschaften setzt Gorbatschow einen begrenzten ‚sozialistischen Pluralismus‘ entgegen.“4 Seine Reformen sollten sich innerhalb der Systemgrenzen bewegen. Genau das gelang Gorbatschow allerdings nicht. Das Mehr an Freiheit war auf Dauer nicht in sozialistischen Bahnen zu halten und zu kontrollieren. Viele Bürger wollten zunehmend die ganze Freiheit. Die Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung waren von den Herrschenden jahrzehntelang entweder unterdrückt oder als eine längst gelöste und damit obsolete politische Frage propagiert worden. Die Revolutionen in Ostmitteleuropa 1989 verstärkten die separatistischen Strömungen in der UdSSR, die vom Initiator zum Schlusslicht bei den [<< 28] politischen Veränderungen innerhalb des Warschauer Paktes geworden war. Neben den zahlreichen Bestrebungen nach Unabhängigkeit von Moskau und der Vielzahl von innersowjetischen Nationalitätenkonflikten in den Jahren 1988 bis 1991 waren vor allem die prekäre Lage der Wirtschaft sowie die Versorgungskrise die Hauptursachen für das völlige Scheitern der von Gorbatschow anvisierten Reformen. Die von anderen Autoren vorgetragene Kritik, Gorbatschow habe kein ausgereiftes Reformkonzept gehabt, laufen allerdings ins Leere. Angesichts der gigantischen Aufgabe, angesichts all der Unwägbarkeiten und unkalkulierbaren Risiken, angesichts der beispiellosen Größe und Komplexität des Landes hätte er es schwerlich vorlegen können. Heinz Brahm stellte in diesem Zusammenhang fest: „Der neuen Führung im Kreml fehlten oft die simpelsten Daten, die für eine zuverlässige Diagnose und Therapie der Sowjetgesellschaft nötig gewesen wären. Man experimentierte daher mit immer neuen Reformplänen und endete in einem solchen Chaos, dass man schließlich nur noch in der Marktwirtschaft einen Ausweg aus der Krise sah.“5

Gorbatschows ideologisch untermauerte Perestrojka, wie sie von ihm selbst formuliert und ursprünglich propagiert worden war, blieb aber ein uneingelöstes Versprechen. Insofern bildete sie weder den Hintergrund noch ein Motiv für den gescheiterten Putsch von 1991 – im Gegenteil: Hätte die Perestrojka Erfolg gehabt, wäre der Boden für den Versuch der Putschisten, die Macht zu ergreifen, nicht vorbereitet gewesen. Es war vielmehr die übergroße Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit der Perestrojka-Politik, die die Putschisten zu ihrem Handeln bewegte.

In diesem Kontext seien hier die grundlegenden Prinzipien der Gorbatschow’schen Perestrojka in Bezug auf die sowjetische Innenpolitik in Erinnerung gerufen. Damit soll aufgezeigt werden, dass Gorbatschow und seine von ihm selbst ausgesuchten Führungsmitglieder, die später zu Putschisten wurden, zumindest in ideologischer Hinsicht ursprünglich weitgehend identische Zielvorstellungen hatten. Gegen Ende des dritten Jahres im Amt des Generalsekretärs der KPdSU ließ Gorbatschow im November 1987 sein Buch „Perestrojka“ weltweit veröffentlichen. Die ideologische Quelle für die Perestrojka sei Lenin, schrieb er. In der Sprache eines überzeugten Parteifunktionärs und Kommunisten führte er wörtlich aus: „Gerade sein Vorbild ist uns ein unsterbliches Beispiel für hohe moralische Stärke, umfassende Bildung und selbstlose Hingabe an die Sache des Volkes und des Sozialismus. […] Lenin lebt weiter in den Köpfen und Herzen von Millionen von Menschen. […] Die Rückbesinnung auf Lenin 6 [<< 29] hat Partei und Gesellschaft beflügelt, Erklärungen und Antworten auf die neu aufgeworfenen Fragen zu finden.“7 Und diametral entgegengesetzt zu seinen gut zwei Jahre später tatsächlich praktizierten politischen Schritten hatte er ausgegeben: „Die Ziele der Perestrojka, die für das Land und den Sozialismus von entscheidender Bedeutung sind, erfordern die Stärkung der Führungsrolle der Partei […].“8 Die Ideologie und das Machtmonopol der KPdSU standen für den Generalsekretär demnach nicht nur nicht zur Diskussion oder gar zur Disposition; im Gegenteil: Er wollte ursprünglich beides sogar stärken. Des Weiteren wollte er mit seiner Perestrojka auch an zwei weiteren Pfeilern des Sowjetsystems keinesfalls rütteln: am zentralistischen Staat und an der zentralistischen Planwirtschaft. In seinem Buch, mit dem er sich, wie er schrieb, „direkt an die Bevölkerung in der UdSSR, in den USA und in allen anderen Ländern“9 wenden wollte, hatte er – nachdem die Perestrojka schon fast drei Jahre im Gange war – geschrieben: „Der von V. I. Lenin begründete sozialistische Sowjetstaat verkörpert den revolutionären Willen und die revolutionären Ziele einer multinationalen Familie. […] Eine neue historische Gemeinschaft – das sowjetische Volk – ist entstanden. […] Die Parteikonferenz hält es für eine Aufgabe von historischer Bedeutung, Lenins Normen und Prinzipien der Nationalitätenpolitik beharrlich zu verfolgen […] auf der Grundlage unserer internationalistischen Ideologie […].“10 Den bereits damals in der Sowjetunion aufgekommenen Forderungen nach einer Aufgabe der Planwirtschaft erteilte er eine scharfe Absage: „Das können wir allerdings nicht zulassen, weil wir den Sozialismus stärken und nicht durch ein anderes System ersetzen wollen. Was uns vom Westen angeboten wird, von einem anderen Wirtschaftssystem, ist für uns inakzeptabel […]. Wir sind davon überzeugt, dass der Sozialismus weit mehr erreichen kann als der Kapitalismus, wenn wir tatsächlich das Potential des Sozialismus mobilisieren und […] die Vorteile unserer Planwirtschaftnutzen.“11

Durchaus nachvollziehbar hatte aus Sicht der Putschisten Gorbatschow nach und nach Verrat an den von ihm selbst hochgehaltenen und propagierten Prinzipien und Zielen begangen, da seine Politik dann tatsächlich nicht auf eine Reform des Systems, sondern auf dessen Abschaffung hinauslief. Nachdem das Parteimonopol Anfang 1990 gefallen war, wurde schon im Sommer die Einführung der Marktwirtschaft ernsthaft diskutiert und sogar beinahe beschlossen. Doch selbst in der Spätphase seiner Amtszeit hielt Gorbatschow unbeirrt am Leninismus als der staatstragenden Ideologie fest, auch wenn dieser seine Rolle im Land längst verloren [<< 30] hatte. Zum 120. Geburtstag Lenins im April 1990 hielt er eine Rede mit dem Titel: „Ein Wort zu Lenin“, in der er versicherte, sich von Lenin abzuwenden heiße, „die Wurzeln der Gesellschaft und des Staates abzutrennen und das Denken und Fühlen von Generationen zu verwüsten.“12 Der damalige Regierungschef Chinas, Li Peng, führte am Ende seines Besuchs in Moskau am 25. April 1990 aus, dass der sowjetische Präsident den Willen Moskaus betont habe, „an Lenins Pfad“ festzuhalten.13 In seinen Memoiren von 2012 weicht Gorbatschow von seinem in seiner Amtszeit propagierten Verständnis der Perestrojka als Fortführung der Oktoberrevolution („Perestrojka – prodolženie Oktjabrja“) ab: „Jetzt sage ich: diese Aussage hatte etwas Wahres, sie enthielt aber auch Irrtümliches. Heute bin ich vorsichtiger bezüglich einer Analogie zwischen der Oktoberrevolution und der Perestrojka.“14

In der Sowjetunion bestand schon ab 1987 eine enorme Diskrepanz zwischen der propagierten Linie sowie den Zielen der Gorbatschow-Führung einerseits und der politischen Wirklichkeit andererseits. Diese Schere ging immer weiter auseinander. Demnach war die Perestrojka schon spätestens 1990 in ihrem jahrelang zuvor von Gorbatschow selbst propagierten Sinne, nämlich als Politik der Erneuerung und Stärkung des Sozialismus und der UdSSR, vollends gescheitert. Von besonderer Bedeutung für die Putschisten sollte Gorbatschows völlige Aufgabe seiner Positionen in der Nationalitätenpolitik und in der Frage der Souveränitäts- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Republiken werden. Sichtbares Zeichen dafür war allein die Tatsache, dass Gorbatschow diese Bestrebungen ab Frühjahr 1991 als verhandelbar ansah. Dies bedeutete gleichzeitig eine klare Absage an Gewaltmaßnahmen als Mittel für den Zusammenhalt der Union, wie er sie bis dahin zumindest geduldet, wenn nicht sogar selbst sanktioniert hatte.

In der Erklärung des GKTSCHP „An das sowjetische Volk“, die am 19. August 1991 im sowjetischen Fernsehen ständig wiederholt wurde, lag der Schwerpunkt auf der Beschreibung der zu diesem Zeitpunkt in der Tat unleugbaren katastrophalen wirtschaftlichen Lage im Land, ferner auf der faktischen Unregierbarkeit des Landes aufgrund des „Kriegs der Gesetze“ zwischen der Zentralregierung und der russischen Regierung unter Boris Jelzin, auf der Gefahr des Zerfalls des Staates, die verhindert werden müsse, sowie auf der Notwendigkeit, Ordnung zu schaffen. Ein jeweils kleiner Auszug aus der „Erklärung der Sowjetführung“ und der Erklärung „An das sowjetische Volk“, beide am 19. August 1991 veröffentlicht und von den sowjetischen Massenmedien verbreitet, soll die öffentlich [<< 31] vorgegebenen Hauptmotive der Putschisten umreißen: „Die auf Initiative von Michail Gorbatschow begonnene Reformpolitik, die gedacht war, die dynamische Entwicklung unseres Landes […] zu gewährleisten, ist aus einer Reihe von Gründen in eine Sackgasse gelangt. Der anfängliche Enthusiasmus ist von Verzagtheit, Apathie und Verzweiflung abgelöst worden. […] Das Land wurde im Grunde genommen unregierbar. Wenn wir nicht schleunigst entschlossene Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft treffen, dann sind in kürzester Zeit Hunger und eine weitere Drehung der Verelendungsspirale unausweichlich […].“15 Die Verhängung des Ausnahmezustands in „einzelnen Gebieten“ der UdSSR wurde begründet mit der Absicht, „Chaos und Anarchie, die das Leben und die Sicherheit der Bürger der Sowjetunion […] und die Unversehrtheit des Territoriums […] bedrohen zu beenden.“16 Neben den öffentlich vorgegebenen Motiven gab es eine Reihe weiterer – politisch differenzierter – Gründe, die die Putschisten antrieben. Ebenso lagen bei einem Teil des GKTSCHP auch oder vor allem persönliche Motive vor.

4.1   Gorbatschows Machterosion und Orientierungslosigkeit 1990/1991

Die Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen und in den südlichen Sowjetrepubliken gewannen an Zulauf und forderten die Zentrale in Moskau immer mehr heraus. Die Führung unter Generalsekretär Gorbatschow schickte am 19. und 20. Januar 1990 Panzer in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku. Das sowjetische Militär schoss auf überwiegend unbewaffnete Demonstranten. Nachdem die Meldungen über den Militäreinsatz um die Welt gegangen waren, rechtfertigte Gorbatschow im sowjetischen Fernsehen die Gewalt, stritt eine Sanktionierung nicht ab und sagte: „Der Staat hatte die Pflicht, den Völkern Sicherheit und Frieden zurückzugeben.“17

Im Gegensatz dazu bestritt er die Verantwortung für und sogar die Kenntnis vom Gewalteinsatz fast genau ein Jahr später, als der Angriff der sowjetischen Armee in Vilnius 13 litauische Bürger das Leben kostete. In Baku kamen mit 121 Opfern fast zehn Mal so viele Bürger um, doch war eine spürbare Empörung im Westen im Fall Aserbaidschans nicht zu vernehmen.18

Neben dem Freiheitswillen der Völker, mit dem sich Gorbatschow konfrontiert sah, kämpfte er innenpolitisch zum einen gegen den Machtverlust [<< 32] der KPdSU. Die Aufgabe des in Artikel 6 der Verfassung festgeschriebenen Machtmonopols der Kommunistischen Partei musste er Anfang 1990 widerwillig hinnehmen und sich den neuen Realitäten beugen. Noch im Dezember 1989 geriet er im Volksdeputiertenkongress mit Andrej Sacharow in dieser Frage aneinander. Den argumentativen Schlagabtausch beendete Gorbatschow, indem er dem Physiker und Friedensnobelpreisträger das Wort entzog. Doch die Position der KPdSU und ihres Generalsekretärs hatte mit der politischen Wirklichkeit nicht mehr viel gemein, da zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche Parteien und Bewegungen existierten. Hunderttausende demonstrierten in Moskau für die Abschaffung des Artikels 6 in der Verfassung. Das ZK beschloss schließlich Anfang Februar 1990, das Machtmonopol aufzugeben und das Amt des sowjetischen Präsidenten einzuführen. Zum anderen kämpfte Gorbatschow innenpolitisch vergeblich gegen den Aufstieg von Boris Jelzin, der im Mai 1990 zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Sowjetrepublik Russland gewählt wurde. Dies führte bald zu einem „Krieg der Gesetze“.19

Schließlich und möglicherweise entscheidend für Gorbatschows Macht- und Autoritätsverlust war seine widersprüchliche und konzeptionslose Wirtschaftspolitik, die viele Bürger an den Rand des Existenzminimums brachte. Er sprach von „sozialistischer Marktwirtschaft“, war einmal für die Abschaffung der Planwirtschaft, dann wieder dagegen. Der international renommierte Ökonom Grigori Jawlinski, der 1990 mit der Ausarbeitung eines Wirtschaftskonzepts beauftragt wurde, das den Übergang zur Marktwirtschaft ebnen sollte („500-Tage-Plan“), legte seinen Beraterposten entnervt nieder. Zwanzig Jahre später konstatierte er: „Gorbatschow hatte wie alle Generalsekretäre der KPdSU keine Ahnung von Wirtschaft. Er wollte ein bisschen Marktwirtschaft. Aber so funktioniert das nicht. Ebenso wenig wie ‚ein bisschen schwanger‘ funktioniert.“20

In Moskau wurden 1990 Lebensmittelkarten eingeführt; Gorbatschow bat im Ausland ständig um Kredite, und der Westen schickte neben finanzieller Hilfe im Herbst 1990 auch Lebensmittelpakete. In Deutschland gab es öffentlich groß angelegte Initiativen wie „Helft Russland“.21 Schon im Juni 1990 drohte der Supermacht Sowjetunion nach Angaben von Horst Teltschik, dem außenpolitischen Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, die Zahlungsunfähigkeit. Diese Information musste aber geheim gehalten werden, um die internationale Kreditwürdigkeit der Sowjetunion nicht weiter zu beschädigen.22 Im Herbst versuchte Gorbatschow seinen Bürgern zu erklären, man sei in eine neue und entscheidende Etappe der Perestrojka [<< 33] getreten.23 Diese Ankündigung machte die Bevölkerung jedoch nur zunehmend aggressiv gegenüber ihrem Präsidenten, dem das Staatsruder entglitten war. Der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Ryschkow (1985–1990) stellte in unverhohlener Kritik an Gorbatschow am 19. Dezember 1990 in einer Rede vor dem Volksdeputiertenkongress fest, dass die Perestrojka gescheitert sei, viele Strukturen zerstört habe und diese Strukturen durch nichts Funktionierendes ersetzt worden seien. Schon Anfang Dezember 1990 hatte er Gorbatschow vertraulich mitgeteilt, dass er sein Amt aufgeben würde. Seinen Herzinfarkt erlitt er erst Wochen später; die Krankheit war eben gerade nicht – wie allgemein verbreitet – der Grund für den Rücktritt gewesen.24

Ein selbstbestimmter Rückzug Ryschkows ist allerdings recht zweifelhaft. Auf einer Sitzung des Politbüros, dessen Protokolle damals als „streng geheim“ deklariert wurden, die jedoch seit Längerem im Russischen Staatsarchiv für Neuere Geschichte einsehbar sind, stellte Gorbatschow das sowjetische Kabinett samt Ministerpräsidenten angesichts der dramatischen Wirtschaftslage und angesichts der Angriffe seitens des Jelzin-Lagers zur Disposition. Die Wortmeldungen der Politbüro-Mitglieder waren einhellig negativ, wenn auch vereinzelt Sympathie für Ryschkow als Mensch anklang.25

Ungeachtet dessen, dass der Bedeutungsverlust des Politbüros des ZK der KPdSU im Jahr 1990 schon weit fortgeschritten war, sah sich der Generalsekretär heftiger Kritik seiner Mitglieder ausgesetzt. Die Protokolle einiger Wortwechsel aus den Sitzungen jener Periode illustrieren Gorbatschows Autoritätsverlust, aber auch seine politisch weitgehend isolierte Lage, in die er sich selbst hineinmanövriert hatte. Teilweise ist den Repliken des Generalsekretärs sogar etwas Verzweiflung zu entnehmen. Als Beispiel sei ein Auszug der Sitzung vom 16. November 1990 angeführt:

Politbüromitglied W. Mobsesjan: „Es gibt keine Rechtsordnung mehr und es herrscht Gesetzlosigkeit.“ Politbüromitglied I. Poloskow: „Ihr [Gorbatschows] Fehler besteht darin – und ich sage das hier im Kreis von Gleichgesinnten –, dass Sie die Perestrojka mit der Zerstörung des Fundaments begonnen haben, auf dem die Partei basierte.“ Gorbatschow: „Was redest du da?“ Poloskow: „Ihre Schuld besteht darin, dass Sie sich auch jetzt nicht auf die Partei stützen.“ Gorbatschow: „Ja, ich habe nichts mehr, auf das ich mich stützen könnte! Den Apparat gibt es nicht mehr. Die Regierung steht allein für sich. Strukturen auf der Präsidentenebene gibt es nicht. Die Einzigen, an denen ich mich festhalte, seid ihr. Eigentlich [<< 34] sollte ich mich als Präsident darauf nicht einlassen; aber in Wirklichkeit habe ich ja keine andere Stütze mehr.“26

Am 20. Dezember 1990 trat der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse zurück, und er tat dies während seiner Rede vor dem Volksdeputiertenkongress. Weltweite Besorgnis verursachte seine Warnung vor einer nicht näher spezifizierten „Diktatur, die kommen wird“. Armut, Anarchie und Agonie – so stellte sich 1990/1991 die Situation im Land dar, und so sahen für viele auch die Zukunftsperspektiven aus.27 Viele von Gorbatschows Mitstreitern hielten noch bis zum späten Frühjahr 1991 still, zumal sie durch verschiedene Handlungen und öffentliche Äußerungen des sowjetischen Präsidenten durchaus glauben konnten, er werde zumindest den Zerfall des Imperiums nicht zulassen. Dazu gehört vor allem Gorbatschows Haltung bei der Niederschlagung der Demokratie- und Unabhängigkeitsbewegung in der litauischen Hauptstadt Vilnius 1991. Selbst wenn er – wie er später behauptete – nichts davon gewusst hatte, so suchte er nach dem Militäreinsatz, bei dem 13 Zivilisten und ein Kämpfer der KGB-Eliteeinheit „Alpha“ ums Leben gekommen waren, nicht nach den Verantwortlichen, von einer Bestrafung der Schuldigen ganz zu schweigen. Außerdem verband ihn mit den späteren Putschisten die gemeinsame Ablehnung, ja Feindschaft gegenüber dem inzwischen starken Mann Russlands – Boris Jelzin. Auf seine Planspiele im Hinblick auf die Verhängung des Ausnahmezustandes, die die Putschisten ebenfalls in ihrem Glauben bestärkt haben dürften, er werde den Zerfall des Staates nicht zulassen, wird weiter unten ausführlicher eingegangen. Gorbatschow griff die demokratische Opposition am 26. Februar 1991 scharf an, was einer Verunglimpfung gleichkam. Er warf den „sogenannten Demokraten“ vor, sie seien im Grunde eine „rechte Opposition“, da sie „die sozialistische Idee ablehnen“ und eine kapitalistische Gesellschaft schaffen wollten.28 Die politische Entfremdung von den Putschisten setzte ein, als er im April 1991 in Nowo-Ogarewo bei Moskau mit den unionstreuen Republiken die Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag aufnahm. Doch dies bedeutete noch lange keinen Bruch mit den späteren Putschisten. Es mag bizarr klingen, doch KGB-Chef Krjutschkow und Verteidigungsminister Jasow gehörten bis zum 18. August 1991 nach wie vor zu seinen engsten Vertrauten. Ihnen beiden habe er am meisten vertraut, sagte Gorbatschow auf der internationalen Pressekonferenz in Moskau am 22. August 1991 unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Foros. Auch KPdSU-Kaderchef Oleg Schenin, seit 1990 Politbüro-Mitglied, war ein Vertrauter des Präsidenten. [<< 35] Gorbatschow hatte ihn sogar aus dem sibirischen Krasnojarsk nach Moskau geholt, wo er der lokale Parteichef gewesen war.

Neben dem drohenden Zerfall der Sowjetunion war die katastrophale wirtschaftliche Lage das zweite große Problem. Weiter finanzielle Hilfe im Ausland suchend, bat Gorbatschow als Gast auf dem G7-Gipfel in London Mitte Juli 1991 – flehentlich und unwirsch zugleich – um Milliardenkredite für die Sowjetunion, wie der damalige US-Botschafter Jack F. Matlock schreibt und dabei Gorbatschows loyalen und engsten außenpolitischen Berater Anatoli Tschernajew zitiert.29

Präsident George Bush sen. und die anderen Führer westlicher Industriestaaten hatten weitere Hilfen davon abhängig gemacht, dass Gorbatschow ein schlüssiges Wirtschaftskonzept vorlegte, was dieser offensichtlich nicht getan hatte. Seiner Enttäuschung machte er schließlich in einem separaten Gipfelgespräch mit Bush sen. Luft. Tschernajew, der in London Zeuge der Vorwürfe Gorbatschows gegenüber dem amerikanischen Präsidenten war, die USA würden für alles Mögliche Geld ausgeben, der Sowjetunion in dieser schwierigen Phase aber Hilfe verweigern, beschreibt die Situation folgendermaßen: „Es war das Wehklagen eines verzweifelten Mannes, dem die Kontrolle über sein Land sichtbar entglitt. Und was noch mehr irritierte: Es war das Gejammer eines Mannes, der gar nicht mehr wusste, wohin er wollte und was er erreichen wollte.“30 Bush habe nach Angaben zweier amerikanischer Delegationsteilnehmer bei seiner Rückkehr nach Washington Gorbatschows Ausbruch intern mit den Worten kommentiert: „Er war immer sein eigener bester Verkäufer. Aber diesmal nicht. Ich frage mich, ob er nicht inzwischen den Überblick und den Anschluss an die Entwicklungen verloren hat.“31

Festzuhalten ist, dass Gorbatschow innenpolitisch in den Monaten vor dem Putsch in einer desperaten Lage war. Glaubwürdigkeit, Sympathie und Autorität hatte er bei der sowjetischen Bevölkerung weitgehend verspielt. Die Perestrojka war für die meisten Sowjetbürger zu einer Worthülse verkommen. In ihrem Präsidenten sahen sie vor allem jemanden, der ihre persönliche Wirtschaftsmisere verursacht und das Land ruiniert hatte. Eben auch auf diese extreme Unpopularität Gorbatschows bei der Bevölkerung bauten die Putschisten, als sie im August 1991 zur Tat schritten. Dieser zweifellos vorhandene Verdruss der Bürger über ihren viel redenden und das Chaos verwaltenden Präsidenten machte die Putschisten neben anderen Gründen glauben, sie würden siegen. Sie rechneten laut Oleg Baklanow sogar ganz fest mit einer breiten Unterstützung seitens der Bevölkerung.32 [<< 36]

Putschwarnungen

Es gab in der Sowjetunion bis zum August 1991 drei Phasen von öffentlichen Putschgerüchten oder Putschwarnungen. Diese Gerüchte und Warnungen basierten auf der sich dramatisch zuspitzenden Wirtschafts- und Versorgungskrise in der UdSSR im Sommer und Herbst 1990 sowie auf der sich verschärfenden Konfrontation zwischen dem Lager der Demokraten um Boris Jelzin und dem Lager der sowjetischen Systembewahrer. Beide politischen Gruppierungen warfen sich gegenseitig vor, einen Putsch zu planen.

Auch die deutsche Bundesregierung machte sich große Sorgen. Bundeskanzler Kohl schrieb in seinen Memoiren: „Die bange Frage nach der Zukunft des Riesenreiches bewegte uns im Westen außerordentlich. Auch innerhalb des Bonner Regierungsbündnisses wurde stundenlang über die Gefahr eines möglichen Putsches diskutiert.“33 Der Grund für diese Sorgen war vor allem die noch vorhandene Präsenz von rund 300.000 sowjetischen Soldaten und Offizieren in der im Sommer 1990 im Untergang befindlichen DDR; mit den Familienangehörigen befanden sich dort noch rund 500.000 Sowjetbürger. Im Juli 1990 hatten Kohl und Gorbatschow zwar vereinbart, dass die Rückführung der sowjetischen Soldaten, ihrer Familien und der Militärtechnik bis 1994 abgeschlossen sein müsse. Doch auch nach Abschluss des Zwei-plus-vier-Vertrages in Moskau am 12. September 1990, mit dem die Bundesrepublik ihre volle Souveränität zurückerhielt, waren diese Vereinbarungen und Verträge völkerrechtlich noch nicht verbindlich. Der Oberste Sowjet der UdSSR musste – ebenso wie die Parlamente der anderen drei Besatzungsmächte (USA, Großbritannien und Frankreich) – die Verträge noch annehmen. Endgültig wurden diese Verträge vom Obersten Sowjet der UdSSR am 2. April 1991 ratifiziert.34

Die erste Phase verstärkter Umsturzwarnungen begann in der ersten Septemberhälfte 1990, als Zeitungen wie die Literaturnaja Gaseta, die Komsomolskaja Prawda oder die Moskowskie Nowosti vor einem Putsch warnten, namentlich durch das Militär.35 Das Land stand vor einer fundamentalen Richtungsentscheidung: Am 10. September 1990 begann auf der an diesem Tag eröffneten Herbstsitzungsperiode des sowjetischen Parlaments die erbittert geführte Debatte über die Frage, ob die Planwirtschaft das Leitmodell bleiben oder aber die Marktwirtschaft mit der Zulassung von Privateigentum eingeführt werden sollte, was auf die gesetzlich abgesicherte Einführung des Kapitalismus hinausgelaufen wäre.36

Die damals einflussreiche Wochenzeitung Moskowskie Nowosti veröffentlichte sogar einen Ablaufplan für den „Tag X“, an dem die Macht an [<< 37] die Militärs übergeben werden würde. Die Begründung würde lauten, dass „Gorbatschow das Land in den Ruin geführt, die Wirtschaft zum Verfall gebracht und die Ideale des Sozialismus verraten hätte.“37 In mehreren anderen Zeitungsberichten war die Rede von angeblich ungewöhnlichen Truppenbewegungen vor Moskau. Befeuert wurden diese Gerüchteim Obersten Sowjet, als der Abgeordnete Sergej Beloserzew von diesen angeblich verdächtigen Truppenbewegungen bei Moskau berichtete und eine Erklärung verlangte.38 Oberst Sergej Kudinow, der Mitte September 1990 von seinem Amt als Kommandant einer Militärschule in Rjasan entbunden worden war, behauptete, die um den 9. September 1990 stationierten Truppen vor Moskau seien „in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden […] und auf ein außergewöhnliches Ereignis vorbereitet worden.“39 Gorbatschow forderte Oberst Kudinow daraufhin auf, die Quellen und Informanten für seine Darstellung zu benennen.40 Danach wurde sogar der Verteidigungsausschuss des Parlaments mit einer Untersuchung beauftragt, ob es ungewöhnliche Truppenbewegungen und eine erhöhte Alarmbereitschaft gegeben habe.41

Dies bedeutet, dass im Frühherbst 1990 Putschgerüchte und Putschwarnungen die Parlamentsebene erreicht hatten und nicht mehr nur Gegenstand von Erörterungen in den Medien geblieben waren. Verteidigungsminister Jasow gab in dieser Phase mindestens vier Mal öffentliche Stellungnahmen ab, in denen er Putschabsichten entschieden zurückwies, und zwar am 19., 26. und 29. September sowie am 19. Oktober 1990.42 „Alle Informationen in Presse und im Fernsehen, das Militär bereite angeblich einen Umsturz vor, sind unsinnig und entbehren jeder Grundlage“, sagte er in den Hauptnachrichten des sowjetischen Fernsehens am 19. September. Die Soldaten würden bei der Ernte helfen, lautete seine Begründung für die erhöhte Truppenpräsenz bei Moskau. Die abkommandierten Fallschirmjäger hätten sich zu Übungen zur Vorbereitung der Militärparade anlässlich der Feierlichkeiten der Oktoberrevolution dort aufgehalten. Ihre partielle Bewaffnung rechtfertigte er damit, dass die Soldaten für plötzliche Einsätze in Krisenherden hätten gewappnet sein sollen. Denn es hätte Fälle gegeben, in denen sie zu spät gekommen seien, was dann öffentlich kritisiert worden sei. Dass Soldaten zur Hilfe bei der Ernte herangezogen wurden, war in der Sowjetunion in der Tat gang und gäbe, ebenso Übungen von Militärparaden. Dies hatte bis dahin niemals Anlass zu Spekulationen oder Unterstellungen gegeben. Rotarmisten wurden schon in der Stalin-Zeit beim Bau von Eisenbahnen, Brücken oder anderen Objekten [<< 38] eingesetzt, unter Chruschtschow setzte der massive Einsatz von Bausoldaten im zivilen Sektor ein. Unter Breschnew schließlich wurde auf die Armee als Stütze bei der Einbringung der Ernte zurückgegriffen.43 Für die Version der Hilfe bei der Ernte hätte gesprochen, dass es 1990 große Probleme gab, sie einzufahren, weil sich das Land zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand der faktischen Anarchie befand. Ein Hungerwinter drohte, westliche Länder schickten bedeutende Lebensmittelhilfen.

Gegen einen beabsichtigten Putsch spricht, dass die eingesetzte Kommission des Parlaments, die die angeblich verdächtigen Truppenbewegungen untersuchte, keine Ergebnisse in diese Richtung vorlegte. Im Parlament Russlands brachte man die Truppenbewegungen vom 9. bis 13. September mit der Eröffnung der Herbstsitzungsperiode des Parlaments der UdSSR in Verbindung; die versprach, turbulent zu werden. Möglicherweise in Anspielung darauf sagte Jasow: „Es gab keine Verlegungen, um Leute zu erschrecken oder mit der Absicht, Truppen für staatsfeindliche oder andere Betätigungen zusammenzuziehen.“44 Die Aktivierung von Fallschirmjägern spricht allerdings dafür, dass es sich wegen der höchst angespannten Lage im Zusammenhang mit der bevorstehenden Parlamentsdebatte, bei der faktisch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Systemfrage verhandelt wurde, um präventive Maßnahmen für eine mögliche Eskalation der Ereignisse handelte. Das politische Moskau war zu sehr mit sich selbst und der akuten Krise im eigenen Land befasst. Die Prioritäten lagen zu diesem Zeitpunkt sicher nicht bei außenpolitischen Fragen.45

Dass ein Militärputsch zu diesem Zeitpunkt in Planung gewesen sein könnte, erscheint sogar ausgeschlossen. Jasow, der ein Jahr später zwar den Putsch-Planungen des KGB-Chefs folgte, zeigte keinerlei eigene Energie und eigenen Antrieb für einen Umsturz. Er war es auch, der den Truppenrückzug aus der Innenstadt Moskaus – gegen den Willen einer Reihe von Mitgliedern des GKTSCHP – am 21. August 1991 anordnete. Jasow blieb auch im Herbst 1990 weiter auf Gorbatschow-Kurs und kündigte zum Beispiel bei einer Pressekonferenz in Moskau mit seinem amerikanischen Amtskollegen Richard Cheney weitere drastische Abrüstungsschritte an: Mit dem Abschluss des START-Vertrages über die Halbierung der strategischen Waffen sagte die UdSSR zu, die Produktion dieser Waffen um die Hälfte zu reduzieren.46 Bei dieser Gelegenheit ging er zum letzten Mal öffentlich auf die angeblich verdächtigen Truppenbewegungen in der zweiten Septemberwoche 1990 ein. Gerüchte über einen Putsch durch die Streitkräfte wies er entschieden zurück. Damit solle die Armee diskreditiert [<< 39] werden. Und wörtlich fügte er hinzu, was im Hinblick auf den August 1991 von entscheidender Bedeutung werden sollte: „Die Streitkräfte der Sowjetunion sind Teil des Volkes, und wir werden nie die Waffen gegen das Volk erheben.“47

Die erste der oben erwähnten drei Phasen der Putschgerüchte und Warnungen ging Mitte November 1990 zu Ende. Sie war mit den vermeintlich verdächtigen Truppenbewegungen aufgekommen und bezog sich nur auf diese. Gorbatschow nahm schließlich auch zu ihnen Stellung. Bei einer Rede vor Armeeangehörigen rief er die rund eintausend anwesenden Offiziere auf, jegliche Spekulationen über einen möglichen Militärputsch zurückzuweisen. Die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS fasste unter anderem zusammen: „Der Präsident wehrte sich gegen Versuche, der Armee böswillige Pläne zu unterstellen.“48

In der Phase von September bis November konterten die Systembewahrer mit Unterstellungen gegenüber den demokratischen Kräften, sie würden den Sturz der Regierung planen und versuchen, die Macht zu ergreifen. Bemerkenswert ist dabei, dass diese schwerwiegenden Vorwürfe von der amtlichen Nachrichtenagentur TASS erhoben wurden und somit sehr wahrscheinlich mit dem sowjetischen Präsidialamt abgestimmt waren. Am 25. September 1990 warf TASS den radikalen Kritikern der KPdSU vor, sie wollten die Nahrungsmittelknappheit dazu ausnutzen, den sowjetischen Präsidenten zu stürzen. In den von den „Radikalen“ geführten Städten sei dies Teil eines Plans, die allgemeine Unzufriedenheit anzustacheln und den Weg für einen „konterrevolutionären Staatsstreich“ zu ebnen. Namentlich erwähnt wurde dabei der Moskauer Oberbürgermeister Gawril Popow.49 Er war zu diesem Zeitpunkt ein Verbündeter Jelzins. Die orthodoxen Parteizeitungen, wie zum Beispiel die Prawda oder die Sowetskaja Rossija, bekräftigten diese Vorwürfe kurze Zeit später; sogar ein Ausschuss des russischen Parlaments sollte diesen angeblichen Putschplänen nachgehen.50 Auch hier sind keinerlei Ergebnisse bekannt. Ganz offensichtlich waren dies politische Inszenierungen im Ringen mit den politischen Feinden. All diese Gerüchte, Warnungen und Unterstellungen auf beiden Seiten zeigen aber deutlich, wie spannungsgeladen die innenpolitische Lage der UdSSR spätestens seit dem Herbst 1990 war.

Die zweite Phase der Putschwarnungen setzte mit dem spektakulären, überraschenden und öffentlich vor dem sowjetischen Volksdeputiertenkongress verkündeten Rücktritt des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse ein, als er gleichzeitig vor einer in naher Zukunft drohenden Diktatur sprach. Dies geschah am 20. Dezember 1990 und gab nun verstärkt [<< 40] auch im Ausland Anlass zu Spekulationen. Gorbatschow geriet selbst in den Verdacht, sich an die Spitze einer rückwärtsgewandten Politik stellen zu können. Boris Jelzin sah in den neuen Warnungen vor einem Putsch hingegen ein „Zweckgerücht“, mit dem sein Widersacher Gorbatschow die Anhäufung von Sondervollmachten rechtfertige.51

Dass die Frequenz der Warnungen in den nächsten sechs Monaten bis Mitte Juni 1991 abnahm, lag wahrscheinlich auch daran, dass ein gewisser Ermüdungseffekt eingetreten war. Schewardnadse wiederholte noch einmal Ende April 1991 vor Mitgliedern des Moskauer Verbandes der Auslandskorrespondenten, dass ein Putsch drohe.52 Vier Monate vor dem Putsch antwortete Verteidigungsminister Jasow in einem Interview mit der italienischen Zeitung Il Giorno auf die Frage, ob die sowjetischen Streitkräfte einen Putsch verüben könnten, dass „solche Behauptungen pure Erfindung sind und jeder Grundlage entbehren.“53

Die dritte und letzte Phase der Putschgerüchte und Putschwarnungen hatte eine neue Qualität, da sich die politische Konfrontation der beiden Lager verschärft hatte und die späteren Putschisten nun auch Gorbatschow herausforderten angesichts der sich abzeichnenden Einigung über den Unionsvertrag mit Jelzin und dessen Wahl zum Präsidenten Russlands durch das Volk. Am 17. Juni 1991, fünf Tage nach Jelzins Sieg, hatte der sowjetische Ministerpräsident Pawlow – mit Rückendeckung des Innen- und Verteidigungsministers sowie des KGB-Chefs – vom Obersten Sowjet Sondervollmachten für sich beansprucht, auch auf Kosten des Präsidenten. Kommentatoren sahen darin den Versuch, Gorbatschow zu schwächen oder ihm gar die Macht zu nehmen.54 Das Parlament lehnte Pawlows Forderung letztlich ab, doch der Vorstoß blieb für Pawlow folgenlos. Gorbatschow äußerte öffentlich: „Es gibt keine Krise in den Beziehungen mit dem Genossen Pawlow und ich hoffe, dass es sie auch nicht geben wird.“55 Diese ungewöhnliche Milde Gorbatschows gegenüber seinem Ministerpräsidenten, der ihn auf offener Bühne und ohne sein Wissen herausgefordert hatte, veranlasste Jack F. Matlock