Gottes Wunden - Magdalena Bennato - E-Book

Gottes Wunden E-Book

Magdalena Bennato

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Beschreibung

Das autobiographische Buch beschreibt die traumatischen Ereignisse einer Kindheit und Jugend im katholischen Polen in der Zeit zwischen 1970 und 1990. Es erzählt in kurzen, prägnanten Episoden authentische, bewegende, zum Teil schockierende und verstörende Erlebnisse.

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Magdalena Bennato

Gottes Wunden

Geschichte(n) einer Resilienz

© 2021 Magdalena Bennato

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-26006-1

Hardcover:

978-3-347-26007-8

e-Book:

978-3-347-26008-5

Hörbuch:

978-3-96931-441-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für meine Wegbegleiter, die mein Leben bereichern, mit Verständnis, Geduld, mit Tiefe und Liebe.

1

Wir wohnen noch im Haus meiner Großeltern.

Ein Kälbchen, rot-weiß, steht angebunden an der Kellertür. Es blökt nach seiner Mama.

Die Kuh im Stall muht laut, ohne Pause. Sie ist am Trog festgebunden. Sie verdreht ihren Kopf so stark, dass das Augenweiß hervortritt.

Das Kälbchen hat große, schwarze Augen.

Es zieht an der Schnur. Will wieder zu seiner Mutter.

Es ist kein halbes Jahr alt. Ein kleines Kälbchen. Männlich. Nutzlos – sagt Großvater.

Es wird geschlachtet, zerstückelt und verkauft.

Ein Geheimtipp unter den Nachbarn und Bekannten meiner Großeltern.

Es ist strengstens verboten, Tiere zum Verkauf zu züchten. Mein Großvater tut es trotzdem. Es ist im Kommunismus, und Kalbfleisch ist eine Delikatesse.

*

Ich sehe mich am Küchenfenster stehen. Ich weine und schreie nach meiner Mutter.

Sie steigt den Hügel hoch. Sie muss zur Arbeit.

Ich sehe, wie sie sich dreht und mir zuwinkt. So ist es ausgemacht. Trotzdem habe ich Sehnsucht.

Ich will nicht, dass sie mich alleine lässt. Ich schluchze und schreie.

Mit einer Münze, die ich auf dem Tisch finde, schlage ich gegen das Fenster.

Ich bekomme keine Luft mehr.

Meine Großmutter kommt, sagt etwas, versucht mich zu beruhigen.

Ich will meine Mutter haben!!

Ich gehe im Garten umher. Besuche die Tiere. Streichle die Kühe, die Hasen.

Beim Schweinestall gibt es eine kleine Sickergrube. Es ist eigentlich ein Fass. Einbetoniert im Boden. Darin ertrinken regelmäßig kleine Schweinchen, Hasen, Küken.

Ich sehe gerade dort eins an der Oberfläche treiben.

Das Fass wird fast nie abgedeckt. Die Großmutter schimpft mit dem Großvater: Da kann ja ein Kind ertrinken! – sagt sie erbost.

Ich darf dort nicht hin und soll ja aufpassen. Ich gehe dort eh nicht gerne hin. Habe Angst vor den großen Tieren. Sie essen alles – sagt der Großvater – auch Kinder.

Dort gibt es auch ein blaues Plumpsklo – ich habe immer Angst, dorthin zu gehen. Es riecht unangenehm, und die Bretter wackeln unter meinen Füßen. Ich kann durch sie hindurchsehen. Dort ist es immer dunkel.

Hoffentlich falle ich nicht hinein – denke ich immer, wenn ich doch hin muss.

Bei den Eltern meiner Mutter gibt es auch ein solches Klo. Dort kann man sogar den Inhalt sehen. Fliegen legen dort ihre Eier ab. Daraus entwickeln sich Maden.

Ich habe immer Angst, wenn ich auf dem Loch im Brett sitze, dass ich in die Madenmasse hineinfalle. Das Loch ist eigentlich zu groß für mich.

*

In einem Dampfgarer kochen Kartoffeln und Getreide für die Schweine. Darin werden auch verendete Tiere, Knochen und Häute mitgekocht. Schweine essen alles.

Mein Vater bringt mir einen Welpen. Wenn du brav bist und auf ihn aufpasst, darfst du ihn behalten – sagt er. Ich verspreche alles.

Der Welpe hat einen kupierten Schwanz, und die Wunde ist noch nicht ganz abgeheilt. Ich fasse ihn immer wieder an, aber der Welpe weicht aus. Ich setze ihn auf einem Pralinenschachteldeckel, um ihn festzuhalten.

Eines Tages – mein Vater meint, er wird zu groß für zu Hause – wird er von ihm auf unsere Parzelle mitgenommen. Dort wird unser Haus gebaut.

Der Hund wird in einem Hasenstall einquartiert und das Essen wird ihm von meinem Vater gebracht. Meistens Reste vom Mittagessen.

Eines Tages ist er nicht mehr da. Der Opa hat ihn wahrscheinlich mitgekocht – sagt mein Vater. Für die Schweine.

Er ist einfach verschwunden.

Ich bin traurig. Der Welpe war so süß. Milchkaffeefarben, mit schwarzer Zeichnung um die Augen und an den Pfoten.

Später bekomme ich mit, dass man Tiere, die nicht gut geraten sind, zum Beispiel Hunde mit Schlappohren oder einem Ringelschwanz, an einer Mauer erschlägt. Sie sind nicht richtig.

Eine wie auch immer geratene Geburtenkontrolle. Das gleiche macht man mit Katzen.

Andere Tiere dürfen länger leben. Es sind ja Nutztiere. Zum Essen.

Sterilisation oder Kastration ist eine Sünde. Und Tiere sind ja auch keine Menschen …

Etwa 35 Jahre später ist meine Mutter bei uns zu Besuch. Sie sieht unsere Katze, die gerade reinkommt und ihren Schwanz wie üblich gebogen nach oben hält. Meine Mutter meint – Sie wird sicher bald trächtig werden. Ich kann sie beruhigen. Unsere Katze hatte zwar schon Junge bekommen, wurde dann aber sterilisiert.

Meine Mutter ist entsetzt. Wie konnten wir bloß das dem armen Tier antun … das ist doch eine Sünde – sagt sie.

*

In Großvaters Garten gibt es einen großen Hund. Er ist so mächtig, dass sein Kopf sich auf der Höhe meines Gesichtes befindet.

Ich soll alle ein bis zwei Tage Milch holen gehen. Ich habe Angst vor ihm. Er läuft meistens frei herum.

Ich schaue immer zuerst nach, ob er vielleicht nicht doch an der Kette ist.

Eines Tages ist er fort. Endlich. Was für ein Glück für mich. Verkauft oder gekocht … ?

Für die Schweine. Die essen alles.

*

Meine Oma züchtet Küken auf dem Dachboden. Ich darf mit ihr hoch gehen. Die Küken laufen dort in alle Richtungen davon. Nur zur Fütterung kommen sie angelaufen. Ich darf eins anfassen. Es ist so warm, flauschig, weich. Es piepst ganz leise. Ich halte es zu fest. Oma ist böse und schimpft.

Ich weiß nicht, wie ich‘s nehmen soll. Ich habe es vorher noch nie machen dürfen.

Die Küken verleben ihre ersten Wochen auf dem Dachboden. Da gibt es keine Habichte und Elstern. Sie sind gut geschützt, und das Tageslicht schimmert durch die Glasziegel.

Dort ist es staubig, düster in den Ecken.

Auch der Zugang ist kompliziert: Über eine Wandleiter, die in einem Schacht steht, gelangt man auf ein schmales Brett, das einfach über dem Schacht liegt. Man muss gut balancieren können, um auf die andere Seite zu gelangen.

Die Luft dort ist trocken, abgestanden; kleine Staubpartikel flimmern im Licht.

Im Stall darunter stehen Kühe. Schwarz, weich, warm. Die große Leitkuh schaut auf, als ich hereinkomme. Ich kraule sie zwischen den Hörnern. Sie streckt den Kopf nach mir aus. Genießt. Ihre Zunge ist sehr beweglich. Rau. Sie leckt meine Hände.

Der Großvater ist sehr sparsam. Die Kühe haben immer zu wenig Einstreu und machen sich manchmal sehr schmutzig. Er meint, sie machen es mit Absicht.

Er tritt nach der Kuh.

Sie soll gefälligst aufstehen. Er rammt die Mistgabel in ihre Hinterbeine. Die Kuh springt auf.

So lernt das Tier sauber zu bleiben – sagt mein Opa.

Eines Tages hilft er einer Kuh beim Kalben, in dem er das Kälbchen mit Gewalt aus ihr herauszerrt. Er rutscht auf dem nassen Boden aus. Mit einem Schädelbasisbruch kommt er ins Krankenhaus. Nach wenigen Tagen sehe ich ihn wieder. Opa hat sich selbst entlassen.

Ich mag das Geräusch des Melkens. So beruhigend. Die Großeltern lehnen ihre Köpfe in die Kuhle am Bauch der Tiere. Zisch, zisch, zisch …

Oma betet oder singt. Opa ist manchmal lustig. Redet mit mir. Die Katzen kommen und schlabbern Milch aus alten Konservendosen. Hasen springen in ihrer Behausung unter dem Futtertrog. Dort ist es zu feucht für sie. Sie bekommen Ausschläge.

2

Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, spielt Akkordeon. Sie hat sehr große Hände und eine sehr tiefe Stimme. Wie der Großvater.

Das Akkordeon ist dunkelrot. Es glänzt … Ich bin fasziniert … Will alleine spielen. Das geht nicht.

Ich bin zu klein für das Instrument. Ich versuche gleichzeitig zu spielen und Luft zu pumpen.

Lass das, es reicht – sagen meine Eltern. Das Akkordeon wird wieder weggepackt.

Auf der Hochzeit meiner Tante spielt eine Kapelle. Ich darf in den Pausen das Schlagzeug spielen. Aber ja nicht zu lange. Es stört.

Mein Onkel wirft mich in die Luft. Zur Begrüßung. Er lacht dabei. Ich mag das nicht. Ich habe Angst, dass er mich nicht rechtzeitig auffangen wird. Es tut weh, von ihm gedrückt zu werden. Er ist grob, lacht dabei. Es soll lustig sein. Ich lache auch, weil alle anderen lachen.

3

Ich mag die schöne glänzende Orgel in der Kirche, in die wir jeden Sonntag zur Messe gehen. Beim Herausgehen, in der Menschenmenge, darf ich endlich hochschauen und mich satt sehen.

Der Organist ist blind. Er kann fantastisch improvisieren.

Der Klang, der mich umgibt, ist weich. Er schwillt am Ende an …

Jetzt habe ich kein gutes Gefühl. Ich habe mich wieder schlecht benommen. Bin in der Kirche herumgelaufen und habe mir die Menschen, Bilder und Altäre angeschaut. Meine Eltern stehen immer vor einem Seitenaltar, und ich kann nichts sehen. Mir wird immer langweilig.

Der Mesnerbruder kommt mit dem Opferkörbchen vorbei. Er legt mir immer seine Hand auf den Kopf. Er darf eigentlich nicht segnen, aber sein Daumen zeichnet immer ein Kreuzzeichen auf meine Stirn. Es ist eine Dankesgeste. Es fühlt sich immer so schön an. Weich, zart und liebevoll. Seine Hand riecht nach Weihrauch und sein weißes Gewand nach Stärke und sauberer Wäsche. Ich kann es nie abwarten, bis er wieder kommt.

Auch die Klosterpatres sind sehr nett. Jedenfalls meistens, oder fast alle.

Ein Pater gibt in meiner Klasse Religionsunterricht. Er teilt immer mit der ganzen Klasse sein bescheidenes Mittagessen. Der Unterricht findet damals noch in einem separaten Gebäude außerhalb der Schule statt. Im Winter kommen wir, die ganze Klasse, ziemlich verfroren rein. Er macht gleich seine Thermoskanne mit der Roterübensuppe auf und gibt jedem von uns einen Schluck.

Wir vergöttern ihn. Und unsere Mütter nützen jede Gelegenheit, um in seiner Nähe zu sein und ein paar Worte zu wechseln.

An meinem Erstkommunionstag soll ich ihm und dem Oberprior vor der versammelten Gemeinde ein Gedicht vortragen. Es klappt gut, und am Ende gibt es Blumen für beide. Ich vertausche jedoch die Farbe der Blumen in der ganzen Aufregung. Meine Mutter redet den ganzen Nachmittag immer wieder davon, dass ich´s falsch gemacht habe. Ich verstehe es nicht. Es waren weiße und rosa Nelken.

Der Unterschied ist doch nicht so groß. Sie hat sich halt dabei was gedacht …

Der Nachfolger ist nicht so nett zu uns …

Er steht in der Tür des Unterrichtsraums mit der weißen Schnur in der Hand, die sonst seine Kutte zusammen hält.

Er macht ein „Spielchen“ mit uns … Wer es schafft, ruhig vorbei zu gehen, wird nicht geschlagen.

Wer zu schnell geht, bekommt etwas auf den Hintern. Mädchen schlägt er meistens nicht. Auch mit einem Lineal macht er es gleich. Wer seine Hände ruhig hält und sie nicht ruckartig wegzieht, bekommt es nicht so zu spüren. Wir lachen alle, er auch.

Ein Mann Gottes tut doch alles nur aus Liebe zu den Kindern. Die Jungs hassen ihn mit der Zeit. Ich muss meine Hände auch einmal hinhalten. Es tut höllisch weh. Er schlägt mit der Kante. Er grinst dabei.

Zu Hause werde ich geschimpft. Oft geschlagen. Ich soll mich doch endlich benehmen!!

Ich weiß nicht, was ich falsch mache. Ich soll mich hinknien und Rosenkranz beten. Zur Strafe für mein Benehmen in der Kirche.

Ich habe meinen eigenen Rosenkranz. Blau-weiß. In einer rosa Plastikschachtel, die an ein Buch erinnern soll. Der Rosenkranz zerfällt in einzelne Fragmente.

Du hast das sicher mit Absicht getan, sagen meine Eltern …

Ich bete schnell. Immer den Anfang des „Vater unser“ oder „Ave Maria“.

Ich glaube, dass es so richtig ist. Mein Vater wundert sich, dass ich schon fertig bin. Ich soll ihm vormachen, wie ich bete. Das ist doch falsch – sagt er und erklärt mir, wie man es richtig macht.

Es ist unendlich lang. Mir tun Knie, und Hände und der Rücken weh. Ich muss mich erbrechen. Das kommt sicher vom Essen – meint meine Mutter.

Ich bekomme als Drei- bis Vierjährige auch ein Kindergebetbuch. Die Bilder sind sehr ausdrucksstark. Sie sprechen mich an und bewegen mich sehr. Der Gottvater schaut sehr gütig aus. Auch die Muttergottes wirkt sehr liebevoll.

Es gibt aber auch Bilder, die ich sehr traurig finde. Zum Beispiel der Junge, der mit seinem Fußball eine Fensterscheibe eingeschlagen hat. Seine Mutter sieht meiner Mutter ähnlich. Sie weint.

Der Junge schaut hinter einer Ecke hervor.

Ich denke oft, dass ich auch so ungezogen bin. Wie der Junge.

Oft wird er mir als Beispiel für mein Benehmen vorgehalten.

Allerdings, ich habe noch nie meine Mutter wegen mir weinen sehen.

Heute, 45 Jahre später, werde ich immer wieder von meinem Vater gefragt – Hast du überhaupt einen Rosenkranz und betest du damit? Das ist das wichtigste Gebet eines Katholiken. Er kennt jemanden, der sich durch Rosenkranz beten vom Alkoholismus befreite. Er trinkt jetzt nur sehr wenig. Sagt er.

*

Am Wochenende ist unser 23. Hochzeitstag. Meine Eltern bestellen eine Messe und tun sehr wichtig. Ich soll an diesem Tag ja in die Kirche gehen.

Sonst wirkt es nicht – sagt mein Vater. Und wenn man dich erst hereintragen wird, wird es zu spät sein. Du weißt schon …

4

Mein Vater unternimmt immer wieder Versuche, mich im Gesicht streicheln zu wollen.

Seine Hand ist rau und ungelenk. Es riecht immer wieder anders. Ich weiß nicht, wie mein Vater wirklich riecht.

Er wäscht sich oft die Hände, immer aber, wenn er von draußen kommt. Meistens in der Badewanne. Da ist immer Wasser drin, von der Waschmaschine oder vom Baden.

Er lässt nie einen Tropfen Wasser ungenutzt laufen. Einfach so. Es ist wichtig zu sparen, und keiner kann das so gut wie er.

Alles wird gesammelt, Essen, Kleidung, alte Werbeprospekte, sogar Müll. Er kann alles brauchen.

Die Hand die er immer wieder an mein Gesicht drückt, riecht intensiv mal nach Kernseife, mal nach seinem Rasierwasser, mal nach Erde, nach Tieren oder Gülle.

Immer überdeckt mit einem anderen Duft.

Ich sehne mich nach Zuneigung, Wärme und Liebe, kann aber nicht leiden, wenn er mich anfasst.

Ich will keine Berührung … nicht von ihm, nicht mit seinen Händen …

Er fasst mich sonst nicht an, er nimmt mich nicht in den Arm, er streichelt mich nicht, er küsst mich nie, er berührt mich nie liebevoll. Ich kann mich daran nicht erinnern.

Ich darf aber seine Hände massieren. Er hat ein schlimmes Rheuma, und das Massieren macht es wohl erträglicher.

Mit der Zeit wird es meine Aufgabe.

Er liegt auf dem Sofa, schaut Fernsehen. Ich soll herkommen. Das mache ich doch so gut, mit meinen kleinen, geschickten Händen.

Mit der Zeit kann ich es nicht leiden. Ich will es nicht. Ich fühle mich schuldig dabei. Ich will seine Schmerzen nicht verstehen – sagt er. Ich habe zu wenig Mitgefühl. Ich bin unchristlich.

Wir liegen zusammen im großen Bett meiner Eltern und schauen etwas im Fernsehen an.

Er hält bewusst Abstand zu mir. Man soll ihm ja nicht nachsagen, er würde von mir was wollen. Er ist doch ein anständiger Katholik, kein Perverser, kein Pädophiler.

Seine Berührungen sind ganz anders … so will ich auch nicht angefasst werden.

Meine Mutter kommt von der Arbeit. Es ist schon spät. Sie ist müde, muss aber noch an meinem Kommunionskleid nähen. Bis Mai soll es fertig werden. Jetzt ist Anprobe.

Meine rechte Hüfte ist immer zu hoch. Ich soll mich dann immer so hinstellen, dass die Hüfte doch gerade ist. Am besten das eine Knie nicht durchstrecken, das andere aber umso mehr.

Sie muss jetzt mehr Stoff nehmen. Das Kleid soll ja gleich lang werden und keiner soll merken, dass ich krumm bin. Ich soll möglichst makellos sein.

Mein Vater kommt immer früh in mein Zimmer, um mich zu wecken. Er macht es, anders als meine Mutter, immer sehr leise, spricht mit einer gedämpften Stimme, ist nett.

Manchmal möchte er lustig sein und reißt an meiner Decke. Ich habe mein rosa Sommernachtshemd an, das mir immer hoch rutscht, während ich schlafe. Ich bin nackt darunter, aber ich mag es so. Ich halte es für normal. Ich finde, dass die Bettwäsche sich schön an meiner Haut anfühlt.

Er reißt an meiner Decke und bemerkt, dass ich eigentlich nichts anhabe. Es ist ihm peinlich.

Er schaut weg und ist etwas verlegen.

Ich bin kein Kleinkind mehr, und das wird ihm wohl jetzt bewusst. Er macht es nie wieder.

Unsere Hunde mag er lieber als mich. Er sagt es immer wieder. Sie hören auf ihn. Sind gehorsam. Anders als ich. Wenn er gewusst hätte was aus mir wird, hätte er mich schon gleich am Anfang gegen die Mauer geschleudert …

Er will immer wieder, dass ich die Balkontür aufmache und für ihn, der draußen arbeitet, alle meine Klavierstücke spiele. Am liebsten die bekannten, Volksliedchen und Kirchenlieder. Die Nachbarn sollen es immer hören und neidisch werden. Während er arbeitet, schaut er immer wieder auf, ob auch jemand merkt, dass ich spiele.

Daraus entsteht ein Zwist zwischen mir und meinem Nachbarn, der gleich alt ist und in meine Klasse geht.

Seine Mutter, unsere Klassenlehrerin, erträgt es nicht, dass ich Klavier spiele und der arme Junge muss anfangen, Akkordeonunterricht zu nehmen. Er muss auch draußen üben, auf einer Gartenbank sitzend. Er soll auch bei uns Klavier üben, da er kein eigenes hat. Ich finde es schön, ihn zu unterrichten und ihm zu helfen. Ganz anders meine Eltern. Sie sind verärgert, lassen es aber zähneknirschend zu, da seine Mutter ja meine Lehrerin ist. Sie könnte sonst, aus Rache, meine Noten in der Schule drücken. Ich bin zwar eine sehr gute Schülerin, aber mit Lehrern im damaligen Polen 1980 ist nicht zu spaßen.

Ich soll also nur dabeisitzen und darf nichts sagen oder irgendwelche Hinweise zum Spielen geben. Ich ordne mich unter, verstehe aber nicht, warum ich nicht helfen darf?

Ich finde meine Eltern komisch.

Wir beide haben trotzdem viel Spaß miteinander.

*

Mein Vater lobt mich nie. Er ist zwar stolz, aber er sagt es nie zu mir. Ich bin ein Einzelkind und soll ja nicht verwöhnt werden …

Als sein Bruder zu Besuch kommt, soll ich etwas vorspielen. Seine Frau wünscht sich die „Donauwellen“. Ich kann dieses Stück nicht leiden, spiele es aber für sie. Dann noch ein Stück.

Sie sind begeistert. Meine Tante wünscht sich noch ein Stück, das ich nicht kenne.

Mein Vater meint – Sie kann nur nach Noten spielen. Er schämt sich für mich.

Es ist ihm offensichtlich peinlich vor seiner Familie.

Ich fühle mich unvollständig. Ich kann nur nach Noten spielen.

In den Sommerferien fahre ich zu meiner Oma. Da gibt es kein Klavier, und sonst ist es auch sehr ruhig und beschaulich. Ich nehme meine Blockflöte mit und spiele dort für die Oma.

Sie hört gar nicht wirklich zu, sondern sagt gleich, nachdem sie die Flöte gesehen hatte – Das ist doch keine Blockflöte, das ist doch eine Hirtenflöte. In Polen wird ungeschicktes Verhalten mit diesem Wort kommentiert.

Du bist doch ein „Fujara“. Ein Taugenichts. Der Begriff für die Hirtenflöte heißt Fujarka. Es ist nur etwas verniedlicht. Wie eine kleine oder große Geige.

Etwa zehn Jahre später bin ich zu Besuch bei meinen zukünftigen Schwiegereltern und darf erleben, mit welcher Begeisterung jede auch noch so kleine Entwicklung der Kinder wahrgenommen, unterstützt und begleitet wird.

Ich staune über die Erziehungsmethoden in einer deutschen Familie.

Wenn wir von einem Aufenthalt in Polen kommen, werden wir herzlichst von der ganzen Familie schon vor dem Haus empfangen, begrüßt und in den Arm genommen. Das fühlt sich so schön an. Ich kenne es nicht.

Das erzähle ich meinen Eltern, die meinen nur – Ja was? Sollen wir euch auch so begrüßen? Sie sind empört über das Verhalten der Deutschen. In Polen wird erwartet, dass die Kinder zu den Eltern kommen, nicht andersherum.

Es dauert einige Jahre, aber sie schaffen es jetzt doch immer wieder, vor den Eingang raus zu kommen.

In Polen 1990 werden die Deutschen nur als Nachkommen Adolf Hitlers verstanden. Lauter SS-Männer, Kindsmörder, Verbrecher.

5

Ich liebe meine Flügel.

Den ersten großen Konzertflügel am meisten.

Das ganze Zimmer ist zur Hälfte ausgefüllt.

Mein Vater sammelt alte Sachen. Uhren mag er ganz besonders. Bald sind alle Wände voll.

Bilder, Kerzenständer, Instrumente. Es nimmt kein Ende.

Jede noch so kleine Ecke wird vollgestopft.

Bald gibt es den zweiten, dritten und vierten Flügel. Der letzte findet nur im Keller an der Wand genug Platz. Bis heute stehen alle noch im Hause meiner Eltern.

Wir, die wir alle Klavier spielen, werden nie gefragt, ob wir ein Instrument bräuchten.

Aber sie verkaufen meinen geliebten Wiener mit Elfenbeintasten. Mit Gewinn.

*

Meine Mutter kämmt jeden Tag meine Haare. Ich habe sehr langes, dichtes, braunes, welliges Haar. Sie teilt es in zwei Teile und kämmt immer wieder. Jeden Tag hundert Bürstenstriche – dann glänzt das Haar schön. Die Haarbürste ist aus hellen Holz, mit echten Borsten.

Sie fragt, wo denn meine Trinkflasche wäre (ein grüner Flachmann, aus Glas).

Ich nehme sie immer in die Vorschule mit. Da ist meistens etwas Gesüßtes drin.

Die Flasche ging am Vortag kaputt.

Ich bin bei den Nachbarskindern zum Spielen. Ich darf eigentlich dort nicht hin. Sie sind meiner Mutter nicht fein genug. Es ist eine Familie mit sechs Kindern. Ich fühle mich da hingezogen.

Sie sind so herzlich und nett.

Ich stolpere und falle hin. Überall liegen Scherben. Ich mittendrin. Zum Glück unverletzt.

Ich weine sehr. Habe Angst davor, nach Hause zu gehen. Die Nachbarin kommt, kniet sich vor mich hin und versucht mich zu trösten. Ich kann kaum sprechen, so sehr muss ich schluchzen.

Sie nimmt mich in den Arm und geht dann. Nach einer kurzen Weile kommt sie wieder. In der Hand hält sie eine neue Flasche. Rund und durchsichtig.