Gottesdienst im Spannungsfeld zwischen Liberalität und Orthodoxie - Friedhelm Haas - E-Book

Gottesdienst im Spannungsfeld zwischen Liberalität und Orthodoxie E-Book

Friedhelm Haas

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Beschreibung

Masterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Theologie - Historische Theologie, Kirchengeschichte, Note: 2,0, , Sprache: Deutsch, Abstract: Die Auseinandersetzung mit der Frage nach biblischem Gottesdienst ist in heutiger Zeit wichtiger den je. Jede der verschiedenen Kirchen, Freikirchen und Sondergruppen behauptet für sich, das richtige Gottesverständnis und die richtige Gottesdienstpraxis zu haben. Verglichen an der Heiligen Schrift können solche Behauptungen nicht stimmen, denn »Ein Glaube, eine Taufe, ein Geist, ein Gott und Vater aller...« wäre somit in Frage gestellt. In der hier vorgelegten Thesis zum Thema »Gottesdienst im Spannungsfeld zwischen Liberalität und Orthodoxie« geht es einerseits darum aufzuzeigen, dass sich das Gottesbild und das damit zwangsläufig verknüpfte Gottesdienstverständnis, vornehmlich in der evangelischen Welt, gewandelt hat und in den Liberalismus abdriftet, denn Die Säkularisierung hat die Kirche erreicht und die Gottesdienste vielerorts einem anthropozentrischen Diktat unterworfen. Andererseits soll diese Arbeit Vorurteilen begegnen, urchristliche und altkirchliche Gottesdienstpraktiken wären starr, traditionell und nicht mehr zeitgemäß. Insofern will der Autor auch einen Verständnisbeitrag dazu leisten, dass die von freikirchlichen Kreisen oft kritisierten liturgischen Gottesdienstelemente der Kirchen durchaus ihre Berechtigung haben und biblischen Ursprungs sind. Alle gegenwärtigen Gottesdienstformen der verschiedenen Konfessionen miteinander zu vergleichen oder zu bewerteten wäre aufgrund ihrer Vielzahl unmöglich. Auch verschiedene Liturgien gegenüberzustellen, um daraus eine "Standard- oder Leitliturgie" zu entwickeln, wäre ein unsinniges Unterfangen. Wenn Eph1 davon spricht, dass Christus »alles unter ein Haupt zusammenbringen« will, kann die Devise nur lauten: Zurück zu den Wurzeln des urchristlichen Gottesdienstes, wie er im Neuen Testament beschrieben und von den Kirchenvätern in der Alten Kirche praktiziert und fortgeführt wurde. Der Autor zeigt auf, dass liberaler Gottesdienst mit Minimalliturgie, wie er heute in evangelischen und freikirchlichen Gemeinden üblich geworden ist, nichts mehr mit der eigentlichen Definition von Gottesdienst zu tun hat und plädiert dafür, das reiche Erbe der frühen Kirche wieder neu zu entdecken.

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Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Zweckbestimmung und Aufgabe der Gemeinde Jesu.
2.1 Was bedeutet Gottesdienst?
2.2 Gottesdienst als Gemeinschaft der Gläubigen
2.3 Gottesdienst als Christusanamnese
2.4 Gottesdienst als Epiklese
2.5 Gottesdienst als Eucharistie
3. Symbol und Ritual im Gottesdienst
3.1 Was bedeutet Liturgie?
3.2 Zweck und Aufgabe einer Liturgie
3.3 Liturgische Elemente
3.4 Das kirchliche Stundengebet
3.5 Das Kirchenjahr
4. Der gottesdienstliche Ort
4.1 Gottesdienst und Kunst
4.2 Wesen und Aufgabe der Kirchenmusik
5. Historischer Rückblick auf den urchristlichen Gottesdienst
5.1 Ort und Zeit des urchristlichen Gottesdienstes
5.2 Elemente des urchristlichen Gottesdienstes
6. Zusammenfassung und Ausblick
7. Begriffserklärungen
8. Literaturverzeichnis

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1. Einführung

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach biblischem Gottesdienst ist in heutiger Zeit wichtiger den je. Jede der verschiedenen Kirchen, Freikirchen und Sondergruppen behauptet für sich, das richtige Gottesverständnis und die richtige Gottesdienstpraxis zu haben. Verglichen an der Heiligen Schrift können solche Behauptungen nicht stimmen, denn“Ein Glaube, eine Taufe, ein Geist, ein Gott und Vater aller...“1wäre somit in Frage gestellt.

In der säkularen Welt spricht man von Politikverdrossenheit, wenn dem Volk keine Perspektive mehr aufgezeigt und das Handeln der Akteure nicht mehr verstanden wird. Im gottesdienstlichen Bereich vieler Kirchen und Gemeinden ist diese Entwicklung ebenso zu beobachten. Wenn Gemeinde zum Publikum, der Prediger zum Kanzelredner wird, wenn Singen und Zuhören die einzigen Aktivitäten der Gemeinde bleiben, wenn der Individualismus den Sinn für alles Korporative verdrängt, wenn düsterer Ernst oder schlichtweg Langeweile an die Stelle der Freude treten; wenn angebliche Kultfeindlichkeit, ohne dies zu bemerken, selbst einen Kult produziert -und zwar einen schlechten; wenn die Gemeinde den Gottesdienst nicht mehr mitein-ander erleben will, sondern jedes Alter und jede Gruppe eigens bedient werden soll,2spätestens dann hat auch die Gemeinschaft der Christen eine "Gottesdienstverdrossenheit" wenn nicht sogar Krise erreicht.

In der hier vorgelegten Magisterarbeit zum Thema"Gottesdienst im Spannungsfeld zwischen Liberalität3und Orthodoxie4"geht es einerseits darum aufzuzeigen, dass sich das Gottesbild und das damit zwangsläufig verknüpfte Gottesdienstverständnis, vornehmlich in der evangelischen Welt, gewandelt hat und in den Liberalismus abdriftet. Die Säkularisierung hat die Kirche als Gemeinde Jesu erreicht und die Gottesdienste vielerorts einem anthroposophischen Diktat unterworfen. Andererseits soll diese Arbeit Vorurteilen begegnen, urchristliche und altkirchliche Gottesdienstpraktiken wären starr, traditionell und nicht mehr zeitgemäß. Insofern sollen meine Ausführungen auch einen Verständnisbeitrag dazu leisten, dass die in freikirchlichen Kreisen oft kritisierten liturgischen Gottesdienstelemente der Kirchen durchaus ihre Berechtigung haben und biblischen Ursprungs sind.

1Eph 4,5-6.

2Vgl. Hans-Christoph Schmidt-Lauber.Die Zukunft des Gottesdienstes. Von der Notwendigkeit lebendiger Liturgie.Stuttgart: Cal-

wer Verlag, 1990, S. 22.

3Liberalitätsteht für "freiheitlich; nach allen Seiten offen; den Einzelnen wenig beschränkend und seine Selbstverantwortung

betonend". Siehe dazu:Brockhaus Enzyklopädie in 25 Bänden.Mannheim: F.A. Brockhaus Verlag, 1996.

4Bildungssprachlich gesehen ist der BegriffOrthodoxieeher negativ besetzt und steht z.B. für engstirniges Festhalten an Lehrmei-

nungen; jedoch im hier vorliegenden Fall ist damit "Rechtgläubigkeit" bzw. das Festhalten an der Lehre der Kirchenväter und Re-formatoren gemeint. Siehe dazu:Brockhaus Enzyklopädie in 25 Bänden.A.a.O.

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Alle gegenwärtigen Gottesdienstformen der verschiedenen Denominationen mitein-ander zu vergleichen oder zu bewerteten wäre aufgrund ihrer Vielzahl unmöglich. Auch verschiedene Liturgien gegenüberzustellen, um daraus eine "Standard- oder Leitliturgie" zu entwickeln, wäre ein unsinniges Unterfangen. Im Mittelpunkt soll vielmehr Christus stehen, der durch den Autor des Hebräerbriefes an die Verantwortung jedes Einzelnen appelliert und an den erinnert, "…mitdem wir es zu tun haben":

"Denndas Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, sowohl der Gelenke als auch des Markes, und ein Beurteiler (oder Richter) der Gedanken und Gesinnungen des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben".5

Es ist mein besonderer Wunsch, dass diese Arbeit neu dazu anregt, die eigene Gottesdienstpraxis zu überprüfen, um zu dem zu gelangen, was Karl Barth sehr treffend formulierte:

"Der christliche Gottesdienst ist das Wichtigste, Dringlichste und Herrlichste, was auf Erden geschehen kann."6

Um ein einheitliches Begriffsverständnis zu gewährleisten, habe ich bewusst auf freikirchlichen bzw. evangelikalen Terminus verzichtet und klassisch kirchliche Bezeichnungen verwendet. Wichtig dabei ist, dass z.B.katholischnicht fürrömischkatholischsteht und mitEucharistienicht die römisch-katholische Messe gemeint ist. Eine Erklärung der Begrifflichkeiten ist in Kapitel 7 (Begriffserklärungen) zu finden.

Zu großem Dank bin ich meinem damaligen Professor und Lehrer Dr. mult. Thomas Schirrmacher verpflichtet, der mir in Vorlesungen am Martin-Bucer-Seminar und in vielen seiner Bücher Weggeleitung in Bezug auf das Verständnis der Heiligen Schrift gab.

Besonderer Dank gilt Bischof Gerhard Meyer, der mir in den letzten Jahren nicht nur ein echter Freund und Seelsorger geworden ist, sondern der mir auch den biblischen Gottesdienst der Alten Kirche näher brachte und maßgeblichen Anteil an meinem heutigen Liturgieverständnis hat, was letztlich dazu führte, das hier bearbeitete Thema in dieser Ausführlichkeit vorzulegen.

Lottstetten, im Februar 2007

5Hebr 4,12-13.

6Karl Barth.Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre.Zollikon, 1938, S. 190.

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2. Zweckbestimmung und Aufgabe der Gemeinde Jesu

"Denn es steht geschrieben: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen.“(Mt 4,10; 5Mo 6,13)

"Ich will anbeten gegen deinen heiligen Tempel, und deinen Namen preisen um deiner Güte und deiner Wahrheit willen; denn du hast dein Wort groß gemacht über all deinen Namen".(Ps 138,2)

"Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn auch der Vater sucht solche als seine Anbeter."(Joh 4,23)

“Kommt,lasst uns anbeten und uns niederbeugen, lasst uns niederknien vor dem Herrn, der uns gemacht hat! Denn er ist unser Gott und wir sind das Volk seiner Weide und die Herde seiner Hand“ (Ps 95, 6-7)

Die Hauptaufgabe der Gemeinde ist Gott anzubeten, ihn zu verherrlichen und ihm zu dienen. Die Anbetung und der Gottesdienst sind deswegen das Zentrum unseres Christseins, denn dazu wurden wir erwählt. Das unterstreicht Paulus wenn er sagt, dass Gott "unsauserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos seien vor ihm in Liebe; und uns zuvorbestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesum Christum für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade, worin er uns begnadigt hat in dem Geliebten, in welchem wir die Erlösung haben durch sein Blut, die Vergebung der Vergehungen, nach dem Reichtum seiner Gnade"(Eph 1,5-7).7

Jeder irdische Gottesdienst muss auf die Erfüllung des Gottesdienstes im Himmel ausgerichtet sein. Alle alttestamentlichen Gottesdienste waren daher Schatten des zukünftig himmlischen Gottesdienstes. Die heutige Kirche befindet sich in der Zwischenphase. Der alttestamentliche Gottesdienst mit seinen Schatten und Bildern hat aufgehört und der himmlische noch nicht begonnen. Christus ist in den Himmel eingegangen (Hebr 8,1ff). Dort hat er, der liturgische Diener (leitourgos), den Dienst am Heiligtum begonnen. Paulus beschreibt in Eph 1,12 den Sinn unseres jetzigen und zukünftigen Seins: "Damitwir zum Preise seiner Herrlichkeit seien…".

7Vgl. Thomas Schirrmacher:Gottesdienst ist mehr.Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 1998, S.9.

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Ebenso macht Johannes in Offb 5,13 konkrete Aussagen über den himmlischen Gottesdienst.8

Gottes Forderung an den Menschen ist also immer Anbetung (Mt 4,10; Joh 4,23). Es gilt also zu klären, was Gottesdienst bedeutet, wie Anbetung stattfindet und was dazu notwendig ist.

Wenn man also Antwort auf die Frage sucht, was im Gottesdienst geschieht und warum man ihn in dieser oder jener Form hält, so kann man nur die Heilige Schrift konsultieren. Hier gerät man jedoch zuerst einmal in Verlegenheit, denn das Neue Testament schreibt an keiner Stelle ausdrücklich vor, wie der Gottesdienst konkret abzulaufen hat. Nur andeutungsweise erwähnen die Apostelgeschichte oder die Briefe der Apostel, dass die Zusammenkünfte der Christen einer gewissen Ordnung unterliegen.9Formale Bestimmungen finden sich überhaupt nicht, inhaltliche Hinweise auf das, was bei den Zusammenkünften geschieht, nur gelegentlich. Wie kann es also sein, dass Christus seiner Gemeinde selbst keine Anweisungen gegeben hat, wie sie nach seiner Himmelfahrt ihre Zusammenkünfte gestalten sollen? Daraus könnte nun gefolgert werden und wird auch häufig gefolgert, dass Gestalt und Ordnung gottesdienstlicher Zusammenkünfte in das freie Belieben der Gemeinde gestellt seien und dass dem Wirken des Heiligen Geistes keine Hemmung in den Weg gelegt werden dürfe durch vorgegebene menschliche Ordnungen. Gewiss stimmt es, dass man den lebendig machenden Geist Gottes durch menschliche Ordnungen nicht einfangen oder verfügbar machen kann. Jedoch wird dabei vergessen, dass gemeinschaftliches Leben und Handeln nur durch Ordnung möglich ist. Wenn dies auf der einen Seite zugegeben wird, argumentiert man doch auf der anderen Seite, dass Christus keinen klaren Befehl in dieser Sache erteilt hat und eine Ordnung für den Glauben und die Frömmigkeit der Christen unbedeutend oder zweitrangig sei. Solche Auffassungen vertreten interessanterweise aber nur solche Christen, die, was biblische Ordnungen betrifft, grundsätzlich alles verwerfen, wenn es um Satzungen oder Vorschriften geht. Das Alte Testament wird als Geschichtsbuch betrachtet und dessen Gültigkeit für neutestamentliche Christen angezweifelt, wenn nicht sogar grundsätzlich abgelehnt, weil Christen heute nicht mehr unter Gesetz stehen. Der Gottesdienst der alttestamentlichen Gemeinde fand unter Gesetz statt. Er war bis in die Einzelheiten des Raumes, des Festkalenders, der Dienste, Geräte und Gewänder durch göttliches Gesetz genau festgelegt. Mit einem Blick in dieses Gesetz konnten sich die Verantwortlichen jederzeit vergewissern, ob der Kultus nach Gottes Willen recht vollzogen wurde, ob somit die Gegenwart Gottes bei seinem Volke gewährleistet war.

8Gerhard Meyer.Gottesdienst im Licht der Bibel und der frühen Gemeinde.Neukirchen, 1991, S.1

9Apg 2,42; 20,7; 1Kor 11,17; 14,26-40; Eph 4,11-16; Kol 3,16; 1Thess 3,12; 4,1-12; 1Tim 2; 3,14-15.

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Das ist durch das Kommen des Gottessohnes Jesus Christus grundlegend anders geworden. Christus ist des Gesetzes Ende, auch des kultischen. Zwar stand auch Jesus als wahrhaftiger Mensch unter dem Gesetz (Gal 4,4). Er nahm von Kind an teil am Gottesdienst des Alten Bundes und nannte schon als zwölfjähriger den Tempel in Jerusalem "Das Haus seines Vaters". Im Eifer um dieses Haus griff er später zur Geisel, um es vor gewinnsüchtigem Missbrauch zu reinigen. Wie alle Frommen seines Volkes pflegte auch Jesus mit seinen Jüngern zum jährlichen Passahfest nach Jerusalem zu pilgern. Ebenso nahm er an anderen Festen wie dem Laubhüttenfest (Joh 7) und dem Tempelweihfest (Joh 10) teil. Aus der Beschreibung des letzten Passahfestes ist zu entnehmen, dass er sich als Hausvater seiner Jüngerfamilie sehr genau an den überlieferten Ritus des häuslichen Passahmahles gehalten und mit ihr die vorgeschriebenen Gebete, Danksagungen und Lobgesänge gesprochen bzw. gesungen hat (Mt 26, 17-30). Auch am Synagogengottesdienst nahm Jesus teil, las dort selbst aus dem Gesetz und den Propheten vor und legte aus (Lk 4,15-21 u.a.). Jedoch wird zugleich überall deutlich, dass Christus den Rahmen des Gesetzes und der frommen Überlieferung sprengt, weil er nicht ein Knecht des Gesetzes, sondern sein Herr und Erfüller ist. Dies zeigt sich auch in seiner Stellungnahme zum Sabbat (Lk 6,1-11), zum Fasten (Mk 2,18-22), zum Opfer (Mt 9,13), zum Tempel (Mt 12,6; Joh 2,19-22), zu den kultischen Reinigungsvorschriften (Mt 15,1-20) und besonders beim letzten Passah, wo Jesus an die Stelle des alttestamentlichen Bundesmahles das neutestamentliche Bundesmahl setzt: das Essen und Trinken seines gebrochenen Leibes und seines vergossenen Blutes in den Gestalten von Brot und Wein zu seinem Gedächtnis. Hieran wird vollends deutlich: Christus ist des Gesetzes Ende. "Inihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig".10In Christus ist Gott seinem Volk gegenwärtig. Christus ist der Tempel Gottes. Er ist der wahre Hohepriester. Er ist das wahre Opferlamm.11Der Brief an die Hebräer führt den Nachweis, dass Christus wesenhaft das ist und tut, was im Alten Testament nur schatten- und zeichenhaft war und geschah.12Nachdem Christus das eine und ein für allemal gültige Opfer zur Sündensühnung am Kreuz dargebracht und nachdem Gott dieses eine Opfer bestätigt hat durch die Auferweckung des Gekreuzigten aus den Toten und durch seine Erhöhung zur Rechten des Vaters, setzt er sein Werk auf dieser Erde in seiner Kirche und durch seine Kirche fort. Er ist das Haupt, die Kirche ist der Leib Christi. Christus ist der Eckstein, die Kirche ist der Tempel Gottes. Sie ist ein Volk von Königen und Priestern.13Sie lebt einzig und allein von ihrem Haupt, von der realen und organi-

10Röm10,4; Kol 2,9.

11Joh 2,19-22; Hebr 4,14ff; 7,26; 10,29.

12Besonders Hebr 9,11-28.

131Kor 12, 12-17; Eph 4,15-16; 1Petr 2,9.

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schen Verbundenheit mit Christus.

Jetzt wird klar, warum Christus seinen Jüngern keine Gebote und Ordnungen gegeben hat, wie sie nach seinem Hingang zum Vater miteinander Gottesdienst feiern sollten. Es ist ja eben nicht so, dass Christus weit weg wäre, dass er seine Gemeinde allein in der Welt gelassen hätte, damit sie durch gewisse Ordnungen zusammengehalten würde. Er will nach seiner Verheißung mitten unter ihnen sein. Seine Gegenwart sammelt die Gemeinde. Die Verbundenheit mit dem gekreuzigten und aufer-standenen Christus wurde deshalb immer neu verwirklicht, wenn die Gemeinde zusammenkam. Darum blieben die ersten Christen "beständigin der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten"(Apg 2,42). Indem sie die Verkündigung der Apostel hörten, in brüderlicher Lebensgemeinschaft beiein-ander waren, das heilige Mahl feierten und beteten, hörten sie ihren lebendigen Herrn, waren mit ihm verbunden, mit ihm im Gespräch, wurden von ihm selbst gespeist und getränkt. Wenn auch die Urgemeinde in Jerusalem noch die Gebetszeiten einhielt und am Tempelgottesdienst teilnahm (Apg 3,1), wenn sie in ihren Zusammenkünften den Gesang der Psalmen und Hymnen beibehielt (Apg 4, 24-25), so war ihr eigentlicher Gottesdienst doch von einem völlig neuen Sinn erfüllt, nämlich, dass im Gottesdienst der Gemeinde Christus ein reales Ereignis ist. Dieses Gottesdienstverständnis resultierte aus dem Evangelium.

Nachfolgend möchte ich dieses neu gewonnene Gottesdienstverständnis durch zwei Beispiele aus den Evangelien verdeutlichen:

In der Geschichte der Emmausjünger (Lk 24, 13-35) wird berichtet, dass Christus den beiden Jüngern "auf dem Weg" die Heilige Schrift auslegt und ihnen zeigt, dass sie von ihm Zeugnis gibt. Jedoch erkannten sie ihn dabei nicht. Erst als er auf ihr Bitten mit ihnen ins Haus geht und ihnen das Brot bricht, erkennen sie ihn. Die heutige Gemeinde darf in dieser Begebenheit das Urbild des christlichen Gottesdienstes sehen14: Der auferstandene Christus selbst legt ihr die Schrift aus und bricht ihr das Brot im heiligen Mahl. Durch das Hören der Schriftauslegung und durch das Empfangen des Sakramentes darf sie immer wieder neu der Gegenwart des auferstandenen Christus gewiss werden und sich seiner Nähe erfreuen. Im Gottesdienst ist die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Gemeinde ein reales Ereignis. Die Abschiedsreden Jesu im Evangelium nach Johannes (Kap. 14-16) sollen den Jüngern deutlich machen, dass der bevorstehende Tod Jesu nicht das Ende, sondern der Anfang eines neuen Lebens für ihn und für sie ist. Bisher war er in Menschengestalt bei ihnen; in Zukunft wird er in einer anderen Weise, aber nicht minder real bei ihnen

14Vgl. Oscar Cullmann.Urchristentum und Gottesdienst.Zürich, 1950, S.18ff.

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sein. Die Jünger werden traurig sein, sie werden Angst haben, aber in Wahrheit ist es ihnen gut, dass Christus die Existenz des Fleisches verlässt, um künftig durch den "Tröster", den Heiligen Geist immer bei ihnen zu sein. Sie werden nicht ärmer, sondern reicher, denn bisher haben sie nicht in seinem Namen gebetet. "An jenem Tage" aber werden sie beten in seinem Namen und erhört werden, auf dass ihre "Freude vollkommen sei".

"Jener Tag", der sonst im Neuen Testament als der Tag der "Zukunft des Menschensohnes" oder der Tag des jüngsten Gerichtes bezeichnet wird, impliziert im Evangelium nach Johannes auch den Tag der Kreuzigung und die Auferstehung Jesu Christi. Mit Karfreitag und Ostern beginnt "jener Tag", der nicht nach Stunden und Minuten gezählt wird, sondern bis zur Ankunft Jesu in seiner Herrlichkeit am jüngsten Tag dauert. In diesem Tag, dem Tag des Heils, lebt die heutige Gemeinde (2Kor 6,2). Sie ist in diesem Tag nicht ärmer als in den Tagen, da Jesus in Menschengestalt auf der Erde war, sondern sie ist reicher. Sie darf beten in Jesu Namen und wird erhört. Sie darf am Sieg Jesu teilhaben und seinen Frieden genießen. Im Namen Jesu beten, das Wort Jesu hören, am Tisch des Herrn seines Sieges und Friedens gewiss werden und davon singen, alles dies geschieht eben im Gottesdienst der Gemeinde zwischen Auferstehung und Wiederkunft. Im Gottesdienst rücken Vergangenheit und Zukunft zusammen in die Gegenwart. Die den Gottesdienst feiernde, betende, singende, hörende und das Mahl des Herrn empfangende Gemeinde gewinnt Anteil am ganzen Heil Christi, denn im Gottesdienst ist die Gegenwart des Auf-erstandenen in seiner Gemeinde ein reales Ereignis.

Was in der nachapostolischen Zeit an gottesdienstlichen Formen und Ordnungen ent-standen ist, lässt trotz großer Verschiedenheit erkennen, dass alle darum bemüht waren, dieses reale Ereignis der Gegenwart Christi zu bezeugen. Sie enthalten allesamt als Grundelemente die Verkündigung des Wortes der Heiligen Schrift, die Feier des heiligen Mahls, das Gebet im Namen Jesu und den Lobgesang. Es ist ferner deutlich erkennbar, dass jede Weiterbildung des christlichen Bekenntnisses, welches oft in langwierigen und schwierigen theologischen Auseinandersetzungen gewonnen wurde, auch ihre Ausprägung im Gottesdienst gefunden hat. Falsche Lehre wurde verworfen, weil sie notwendigerweise zu einer Verfälschung des Gottesdienstes führen musste und damit zur Infragestellung der wirklichen Gegenwart Jesu Christi, also das Heil der Gemeinde bedrohte.

Besonders deutlich wurde dieses in der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts. Die Verwerfung der Lehre der römischen Kirche durch Luther hatte auch die Ände-

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rung und Reinigung des Gottesdienstes zur Folge.15Bei der Gottesdienstreform ging es Luther wesentlich um die Wiederherstellung der "Realpräsenz" Christi, die er durch das römische Messopfer bedroht sah. Darum behielt auch und gerade bei Luther das Altarsakrament seinen selbstverständlichen Platz in der Mitte des Gottesdienstes. Der Verkündigung des Evangeliums in der Predigt gab Luther den ihr gebührenden, in der römischen Kirche verloren gegangenen Rang wieder. Die überlieferten alten Gebete und Gesänge behielt er bei und mühte sich um eine der Gemeinde verständliche deutsche Sprach- und Singform. Sämtliche Kirchenordnungen der Reformationszeit haben ebenfalls die urchristlichen Grundelemente des Gottesdiensts beibehalten.

Erst der Einbruch der "Aufklärung" in den Raum der Kirche schaffte hier einen gründlichen Wandel. Der Ereignischarakter des Gottesdienstes als Begegnung mit Christus ging verloren. Vorbereitet wurde dieser Wandel bereits durch die Bewegung des Pietismus, die sämtliche überlieferte Formen des Gemeindegottesdienstes als totes, äußerliches Werk verworfen und alles Interesse auf den einzelnen Menschen sowie auf die private Erbauung kleiner erweckter Kreise konzentrierte. Durch die Absonderung derer, denen es ernstlich um den lebendigen Christus ging, war der herkömmliche Gottesdienst schutzlos dem Ansturm des Nationalismus ausgeliefert. So wurde die Feier des heiligen Sakraments aus der Mitte des Gottesdienstes an bzw. über den Rand hinaus gedrängt. Da die Auferstehung Jesu Christi für die menschliche Vernunft nicht fassbar war, konnte das Abendmahl nicht mehr anders verstanden werden als eine Gedächtnisfeier des Todes Christi, die sinnvollerweise nur am Karfreitag ihre Berechtigung hatte und darum nur am Karfreitag von den Gliedern der Gemeinde mitgefeiert wurde. Mit dem Verlust des Altarsakramentes16erlag auch die Predigt der Gefahr der Verfälschung. An Stelle der Bezeugung des gegenwärtigen und aufer-standenen Herrn trat die Moralpredigt. Die auf das heilige Mahl bezogenen Gebete und Gesänge der Liturgie hatten diese Beziehung nun nicht mehr und wurden weggelassen. Damit verlor auch die Kirchenmusik17ihre Heimat und das bis dahin so wichtige Kantorenamt verfiel. Die Vernunft hatte auf der ganzen Linie gesiegt. Daran vermochte auch die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts im Zeitalter der Romantik, der Rückkehr zum Altehrwürdigen, aufgestellte und verpflichtend gemachte Liturgie der preußischen Kirche nichts ändern, zumal bei ihrer Einführung kirchenpolitische Motive dominierten.18Bis heute haben sich evangelische Gemeinden bzw. die evan-

15Andieser Stelle sei erwähnt, dass es Luther nie darum ging, eine neue Kirche zu gründen. Vielmehr waren seine Bestrebungen,

den Gottesdienst der römisch-katholischen Kirche zu reformieren und sich gegen die Praxis des bis dahin etablierten Ablasshandels zu stellen.

16d.h. mit dem Verlust des Heiligen Abendmahls.

17Hierauf gehe ich speziell noch einmal in Kapitel 4, Punkt 4.2 ein.

18z.B. die Einführung der preußischen Union.

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gelische Kirche selbst von diesem Verfall des Gottesdienstes nicht mehr erholt. Die Erneuerung der reformierten Theologie, die Neubesinnung auf das Bekenntnis der Reformation und der Alten Kirche könnte Abhilfe aus diesem Dilemma schaffen und hätte eine gottesdienstliche Erneuerung zur Folge. In diesem Kontext steht das Thema dieser Arbeit. Trotz vieler, in den letzten Jahren und Jahrzehnten vorgelegten Agenden und sicher einer liturgiewissenschaftlich ausgezeichneten Arbeit, ist es heute weiter zu beobachten, dass der evangelische Gottesdienst im urchristlich-reformatorischen Sinne nach wie vor missverstanden und die Bezeugung der realen Wirklichkeit Christi in Wort und Sakrament verloren gegangen ist. An seine Stelle sind vielfach sozialpolitische Themen getreten, die in so genannten Wortgottesdiensten erörtert werden.19Schon Karl Barth kommentierte in seiner Zeit:

"Wir wissen nicht einmal mehr, dass ein Gottesdienst ohne Sakrament ein äußerlich unvollständiger Gottesdienst ist. Wir feiern mit der größten Selbstverständlichkeit in der Regel solche äußerlich unvollständigen Gottesdienste. Mit welchem Recht tun wir das eigentlich? Ist die Gefahr nicht dringend, dass wir ohne jenen natürlichen Anfangs- und Endpunkt auch innerlich, auch sachlich unvollständige Gottesdienste feiern? Würde die Predigt nicht ganz anders gehalten und gehört und würde nicht auch ganz anders gedankt werden in unseren Gottesdiensten, wenn das alles auch äußerlich sichtbar von der Taufe her käme und dem Abendmahl entgegenginge?"20

An anderer Stelle meint er:

"Das heilige Abendmahl sollte stärker, als dies im Allgemeinen der Fall ist, von Ostern aus verstanden werden. Es ist nicht in erster Linie ein Trauer- und Leichenmahl, sondern die Vorwegnahme des Hochzeitsmahls des Lammes. Das Abendmahl ist ein Freudenmahl,…ist mitten in unserem Leben die Speise und der Trank zum ewigen Leben."21

19Ich verweise dabei z.B. auf die regelmäßig ausgestrahlten Fernsehgottesdienste, die den heutigen evangelischen Gottesdienst

widerspiegeln, der mit dem Ursprünglichen nur noch ansatzweise etwas zu tun hat. Soziale Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut und dergleichen haben weithin die klassische Predigt über Bibeltexte verdrängt und dominieren. Insofern hat der Gottesdienst seinen Ereignischarakter verloren, obwohl die Verantwortlichen vehement seine Legitimation verteidigen. In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf meine Ausführungen unter Punkt 2.1.

20Karl Barth.Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre.A.a.O., S. 198 ff.

21Karl Barth.Dogmatik im Grundriss.Zollikon, 1947, S. 182ff.

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Es ist deshalb in heutiger Zeit unumgänglich, dass diese Erkenntnis und ihre praktischen Folgerungen bis in die Breite wieder in den Gemeinden Eingang finden. Dann aber ist es eine Frage des Glaubens und des Gehorsams, ob wir uns dieser Erkenntnis anschließen: Gottesdienst ist die durch Predigt und Sakramentsfeier erfolgende Bezeugung der realen Gegenwart Christi, in dem und durch den wir dem dreieinigen Gott Lob, Dank und Anbetung darbringen dürfen.22

2.1 Was bedeutet Gottesdienst?

Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat der Begriff Gottesdienst in seiner Definition einen wesentlichen Paradigmenwechsel erfahren. Hervorzuheben ist dabei, wie schon erwähnt, die evangelische und evangelikale Welt, deren gottesdienstliches Grundverständnis einer fortschreitenden Säkularisierung zum Opfer fällt. Der Mensch und seine Bedürfnisse rücken immer stärker in den Mittelpunkt und verdrängen mehr und mehr biblische Vorgaben. Die Bibel selbst spricht jedoch nicht über die Wünsche und das Verlangen derer, die Gottesdienst tun, was sie zufrieden stellt und aufbaut, sondern will, dass Gottes Wünschen entsprochen wird. Es geht allein um seine Verherrlichung. Gottesdienst ist somit theozentrisch und nicht anthropozentrisch. Gottesdienst ist eine erhebende geistige Einstellung zu Gott und ein äußerlicher Ausdruck in gemeinschaftlichem Sprechen und Handeln.23Dabei ist Anbetung die vollkommene Erwiderung der Geschöpfe dem Schöpfergott gegenüber, die sich auf die unermessliche Wertschätzung gründet, ihn im Licht seiner Offenbarung und Selbstmitteilung als Gott zu preisen.24

Die Anbetung Gottes ist also das Zentrum unserer Existenz. Das Bekenntnis von Westminster formuliert am Anfang treffend:

"Das Hauptziel des Menschen ist, Gott zu verherrlichen und sich seiner für immer zu erfreuen". Im Weiteren wird dann der Gottesanspruch folgendermaßen definiert: "Ihm (Gott) steht zu - von Engeln und Menschen und jeder anderen Kreatur -, was er auch immer nach seinem Gefallen von ihnen an Verehrung, Dienst oder Gehorsam fordert."25

Als Satan Jesus in der Wüste versuchte, macht Jesus eine grundlegende Aussage zur Sinnfrage des Gottesdienstes, nämlich: "Essteht geschrieben: »Du sollst den

22Vgl. Heinz Henche.Die gottesdienstliche Aufgabe der Kirchenmusik.Gütersloh, 1951, S.12.

23Vgl.Ronald A. Ward.Our Lord's Teaching about God.London: Marshall, Morgan & Scott, 1964, S. 172.

24Zitat: Erzbischof Leonard Riches, Presiding Bishop, Reformed Episcopal Church, USA.

25Bekenntnis von Westminster,verabschiedet in 1648, Artikel 2.2, übersetzt von Pfr. Reinhold Widter.