Gottvorkommen - Gotthard Fuchs - E-Book

Gottvorkommen E-Book

Gotthard Fuchs

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Beschreibung

Was lässt uns hoffen in Zeiten vielfältiger Krisen? Wie können wir gut zusammenleben und die großen Herausforderungen bewältigen? Welche Quellen und Impulse sind dafür hilfreich? Gotthard Fuchs hebt in 52 spirituellen Kurzessays Schätze von Alltagsmystik und entdeckt das Gottvorkommen in und "hinter" den Dingen. Mit dieser Ressource lässt es sich bewusster, solidarischer und wohl auch glücklicher durchs Leben gehen.

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Seitenzahl: 152

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Gotthard Fuchs

Gottvorkommen

Mystik im Alltag

 

 

 

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Verlag Herder, Freiburg i. Br.

Umschlagmotiv: © Qweek / Getty Images

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft

 

ISBN 978-3-451-39884-1

EPUB ISBN 978-3-451-83530-8

INHALT

Worum es (mir) geht

I. Zur Welt kommen

II. Diskretion bitte

III. Glaubensbewegt

IV. Leibhaft Beten

V. Empowerment

VI. Wieder geboren

Dank

Über den Autor

Worum es (mir) geht

„Leben ist das, was passiert, während du gerade dabei bist, andere Pläne zu machen.“ Dieser Satz von John Lennon gefällt mir. Lege ich ihn auf die Goldwaage – und das tue ich gerne –, dann ist da, jedenfalls in der deutschen Übersetzung, auch von Passanten und Passagen die Rede. Und das Wort Passion liegt nahe. Wohin fließt meine Leidenschaft? Was spricht (mich) an und be-trifft? Was ergibt Sinn bzw. „Richtung“? Solche Fragen werden dann zum alltäglichen Lackmustest, die Übersetzungsarbeit beginnt und es entstehen Texte wie die folgenden. Einfälle und Fundstücke aus dem Alltag werden zu theologischen Miniaturen verdichtet, die man „mystagogisch“ nennen könnte, also Wegbegleitung zum Geheimnis des Da-Seins.

Denn eine Einsicht wird mir von Tag zu Tag wichtiger: Nichts ist geheimnisvoller als das (vermeintlich) Selbstverständliche. Herunter vom hohen Ross der hehren Sprüchen! Ideale sind gewiss nicht schlecht zur Orientierung, aber entscheidend ist eben doch das reale Leben: Was hält im Alltag stand und bringt weiter? Denn das erste Stück Welt, das der Wandlung fähig und bedürftig ist, bin immer ich selbst. Wir können dieses je eigene Da-Sein gar nicht wichtig genug nehmen, gerade um der Anderen willen und mit ihnen. Nichts ist weniger selbstverständlich als das Gegebene. Dieses Lob des Selbstverständlichen als Ort des Wunderbaren lässt sich grundsätzlich formulieren: „Man kann alle Dinge doppelt sehen: als Faktum und als Geheimnis“ (Hans Urs von Balthasar). Man darf und muss also den Tatsachen ins Auge sehen und sollte nichts religiös überhöhen wollen; man sollte aber auch nicht empiristisch am bloß Vorhandenen hängen bleiben. Erst wo beides im Blick ist, würde ich von (authentischer) Spiritualität sprechen oder auch von Mystik als deren Intensivform: Es geht um die Geheimnisstruktur der Wirklichkeit, um das Unverfügbare im Verfügten und Verfügen. Deshalb heißt die Reihe, aus der die folgenden Texte entstanden sind, Mystik im Alltag. Mystik eben nicht als Geheim- und Sonderwissen, nicht als Erlebnissucht in besonderen Höhenlagen, vielmehr als Hingerissenwerden von dem, was auf uns zu-kommt und mich an-geht.

Ich schaue im Alltag natürlich mit meiner Brille: aus gut bürgerlichen Verhältnissen kommend, gehöre ich zu den so genannten Gebildeten und deutlich Privilegierten, auch kirchlich als Priester und Theologe. Mir wird von Tag zu Tag bewusster, wie sehr das mein Selbst- und Weltgefühl bereichert und zugleich massiv einschränkt. Auch dass ich zur so genannten Ersten Welt gehöre, macht mir beim Denken und Schreiben zunehmend zu schaffen, bin ich doch hineinverwickelt in himmelschreiende Unrechtsverhältnisse und befangen in meinem Milieu. Bewusst als weißer Mann durch die gender-erwachende Welt zu gehen, verändert ebenfalls meine Wahrnehmung.

Und natürlich Segen und Last des Kirchlichen, denn dem verdanke ich die Bibel, also die Sache mit Jesus und die Suche nach seinem Gott. Ich lebe und schreibe als Christ, genauer als einer, der es werden möchte und seit Jahrzehnten als Seelsorger und Theologe unterwegs ist. Dazu gehört die Überzeugung, dass diese unsere Welt kein Betriebsunfall ist, sondern gute, ja sehr gute Schöpfung schon – aus nichts anderem als aus göttlicher Liebe. Warum denn sonst blüht jeder Mensch auf, wenn er gelobt und geliebt wird? Woher das Gute und Sanfte? Und „natürlich“ auch die andere Frage aller Fragen: Warum Leiden und Gewalt, warum die Schuld und das Böse? In jedem Fall: „Glaubhaft ist nur Liebe“ – nichts selbstverständlicher als das, nichts vernachlässigter. Deshalb stimme ich Botho Strauß zu: „Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts“, in seinem Weg sieht jedenfalls der Christenmensch Gott vorkommen wie nirgends. Dem spüre und spure ich nach. Deshalb auch, mit dem ganzen Wagnis des direkten Gott-Sagens, der Titel dieses Buches: Was und wer kommt auf mich, auf uns zu? Sich von Gott in allen Dingen finden zu lassen und ihn dort zu finden – das gilt seit je als Summe christlichen Lebensstils, eben auf der Spur dessen, den Charles de Foucauld den „Meister des Unmöglichen“ nannte.

Aber längst zögere ich, und ich hoffe, man spürt den folgenden Texten diese Sprachnot an. Zu schwer wiegt die Last überlieferter Gottesrede und kirchlicher Selbstgerechtigkeit, zu oft verführte „Religion“ heraus aus den realen Verhältnissen in Schein- und Hinterwelten, von eklatantem Missbrauch ganz zu schweigen. Aber umgekehrt: Was wäre, wenn der authentisch religiöse Blick auf Faktum und Geheimnis fehlte? Wenn schon die Frage nach dem Geheimnis, das man bisher „Gott“ nennt, nicht mehr gewagt würde? Und: Was würde der Welt fehlen, wenn ihr Jesus von Nazareth fehlte und das entschiedene Bekenntnis zu ihm? Ja, wenn es Kirche nicht gäbe, müsste man sie erfinden.

Die folgenden Text-Miniaturen umkreisen also diese Nicht-Selbstverständlichkeit des Daseins in der Welt, durchaus mit christlicher Option, mit Gottes kräftigem Ja zu Welt und Mensch trotz allem. Deshalb immer der Bezug zur biblischen Überlieferung und zur Erfahrung christlicher Mystikerinnen und Mystiker. Die zitiere ich oft und dankbar – was wäre mein eigenes Fragen und Hoffen ohne diesen Golfstrom genauen Denkens und Betens? Insofern auch das ständige Gespräch mit Dichtung und Literatur und das häufige Zitieren aus diesem Schatz: Wie sonst sollte das Ganze der Wirklichkeit in den Blick kommen? Überhaupt die Sprache und auch das Schreiben! Dass Jesus von Nazareth nichts geschrieben hat, bleibt ständige Herausforderung. Nichts fordert mich beim Entstehen dieser Texte mehr heraus als der Wunsch, dem vielsagenden Schweigen Gottes im Geräusch unseres Lebens sprachlich Raum zu geben. Konkret bedeutet das: Widerstand und Widerspruch gegen alles bloße Gerede und Getue, gerade im Feld des Religiösen und Spirituellen. Oder mit der Gefängnisnotiz des Jesuiten Alfred Delp: „Nur muß man allem den letzten Sinn abverlangen, jeder Frage sich stellen bis zuletzt. Sie enthüllt sich als Frage nach Gott und als Gottes Frage zugleich.“

Entscheidend sei fürs Leben und auch Schreiben, wie viel Gegensätze man in sich vereinige. Dieser Grundsatz des Nikolaus von Kues kommt der Quadratur des Kreises gleich. Manchen werden diese Texte immer noch zu theologisch sein, anderen zu wenig. Einige mag der christliche Notenschlüssel fürs Ganze stören. Recht hat in der Tat, wer den ausdrücklich interreligiösen Dialog vermisst – das wäre ein anderes Projekt. Auch die kontrastive Variation unterschiedlicher Stile, Zugangsdaten und Betrachtungsweisen ähnelt einem Spagat. Aber all das könnte auch den Reiz des Ganzen ausmachen und Anstöße geben, ganz im Sinne von Dag Hammarskjöld: „Der Weg zur Heil(ig)ung geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln.“

 

 

 

 

ZUR WELT KOMMEN.................

„Nichts ist schwer, sind wir nur leicht.“(Richard Dehmel)

Lieber dafür oder dagegen?

Natürlich sind wir alle geprägt – in den neun Monaten schon, bevor das Abenteuer des Lebens außerhalb des Mutterleibs beginnt. Und noch viel weiter zurück reichen die Begabungen und Erblasten, aus denen wir stammen. Ob einer eher schwermütig zur Welt kommt oder als geborener Optimist, liegt im Zusammenspiel der Gene, im soziokulturellen Kontext von Genealogie und Genese – und in jenem Raum, der im Deutschen zutreffend mit „Geheimnis“ beschrieben wird. Und wie viele Faktoren spielen dann nach der Geburt erst mit!

Es gibt Menschen, die nehmen das Leben leicht, selbst wenn es schwer wird. Sie fallen immer auf die Füße. Und es gibt die Pechmaries und Kritikaster, die stets mit dem Schlimmsten rechnen und in jeder Suppe das Haar finden. Das ererbte Lebensgefühl findet irgendwann seine neue eigene Gestalt, so oder so. Man darf dann von Charakter sprechen oder von der Grundstimmung oder schlicht der Musik des Alltags. Wie stehe ich zum Leben: positiv oder negativ? Eher zuversichtlich und optimistisch oder eher als Bedenkenträger im Modus von Verdacht und Befürchtung? Also lieber dafür oder dagegen?

„Ja oder Nein: Hat das menschliche Leben einen Sinn? Hat der Mensch eine Bestimmung?“ – so beginnt der Philosoph Maurice Blondel sein großartiges Werk Die Tat. Darin geht es um das Geheimnis des Wollens und des Handelns. Wir kommen auf Dauer um die Grundfrage nicht herum. Stimmen wir zu, und zwar mit Gründen und aus Überzeugung? Oder empören wir uns bis zuletzt oder harren agnostisch im Absurden aus? Verweigern wir das Eintrittsticket ins Dasein bis zuletzt? Ob widerwillig oder einwilligend – die Fragen stehen unentrinnbar im Raum.

„Du weißt ja nicht, wie das mühsam ist, mit allen Sinnen ja zu sagen.“ So beginnt die vielfach von Leiden geplagte österreichische Schriftstellerin Christine Lavant eines ihrer Gedichte. Und wie vielen spricht sie damit aus dem Herzen! Lieber dafür oder dagegen – wie oft steht die Antwort auf der Kippe. Wie oft ist es ein richtiger Kampf, nicht in eine schleichende Resignation zu rutschen oder einfach blinde Kuh zu spielen. Behält das Vertrauen ins Gelungene und ins Gelingen das letzte Wort, mindestens der empörte Aufstand gegenüber dem, was zu schwer und zu fremd ist? Oder wird das dringende Nein unterschlagen und nicht gewagt? Ein Christenmensch wie Dag Hammarskjöld hat sich ein Leben lang damit herumgeschlagen. Am Ende notiert er im Rückblick: „Ich weiß nicht, wer – oder was – die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Aber einmal antwortete ich ‚Ja‘ zu jemandem – oder zu etwas. Von dieser Stunde an rührt die Gewissheit, dass das Dasein sinnvoll ist und dass darum mein Leben… ein Ziel hat.“

Das ist die Geburtsstunde zum ganzen Leben, das ist die Quelle wirklicher Lebensfreude und Gottesbejahung. Solch ein definitives Ja des Glaubens im Alltag zu bewähren, schließt das Nein gegen Böses und Schlechtes gerade nicht aus. Das Taufversprechen mit seinem „Widersagen“ und „Zusagen“ bringt es auf den Punkt. Vor der Klammer des Lebens und der Geschichte steht da eben doch das große Plus, und am Ende erst recht. Lieber dafür oder dagegen? Glänzend ist die Antwort darauf von Horst Köhler, dem ehemaligen Bundespräsidenten und überzeugenden Christen: „Dafür. Und dagegen nur mit Begründung.“

Ganz schön schwer

„Die Leute haben (mit Hilfe von Konventionen) alles nach dem Leichten hin gelöst und nach des Leichten leichtester Seite; es ist aber klar, dass wir uns an das Schwere halten müssen; alles Lebendige hält sich daran, alles in der Natur wächst und wehrt sich nach seiner Art…“ So rät Rilke einem frustrierten Dichterkollegen. „Wir wissen wenig, aber dass wir uns zu Schwerem halten müssen, ist eine Sicherheit, die uns nicht verlassen wird“. Solch eine Maxime könnte zwar den etwas schimmligen Beigeschmack der Altklugen haben, denen die Trauben zu hoch hängen. Aber gemeint ist ja, das ganze Gewicht der Welt auszuhalten und sich nicht schleckermäulchenhaft nur das herauszusuchen, was unmittelbar befriedigt oder einleuchtet.

„Ganz schön schwer“ – antworten Kinder bisweilen auf die Frage, wie es in der Schule war. Und Erwachsene kennen diese Redewendung nur zu gut – es könnte eine gute Übersetzung für das missverständliche „Herrlichkeit“ sein. Denn vom hebräischen kabod her heißt das: Gewicht, Schwere, Bedeutung, und vom altgriechischen doxa her: Glanz, Ausstrahlung. „Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit“ – eine Wucht, schlechthin überwältigend. Ja, ganz und wunderschön, aller Zustimmung wert – das möge stets an erster Stelle stehen, und nie genug. Aber das Schwere! – Gewiss schön wie guter Wein und gelingende Schwangerschaft, aber eben auch abgründig wie Schwermut und Schicksal. „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft“ (Franz Kafka).

Ein überwältigendes Beispiel, wie mit solch „verhängter Herrlichkeit“ umzugehen ist, bietet das Leben von Etty Hillesum. Keine drei Wochen vor der Deportation nach Auschwitz noch schreibt sie mitten aus den entsetzlichen Lagerverhältnissen doch voller Gewissheit: „Ach, weißt du, wenn man nicht etwas Starkes in sich hat, das alles Äußerliche einfach als malerische Äußerlichkeit betrachtet, die im Vergleich zu dieser großen Herrlichkeit nichts bedeutet (im Augenblick fällt mir kein anderes Wort ein), das unser nicht zu verfremdender innerlicher Teil sein kann, dann ist die Lage hier eigentlich verzweifelt.“ Mit ihr in biblischen Gottesglauben eintauchend, wird man etwa an Paulus denken können. Der schreibt kritisch an seine Korinther, die eine enthusiastische „Spiritualität light“ bevorzugen: „Darum werden wir nicht müde; wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert. Denn die kleine Last unserer gegenwärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges (Schwer-)Gewicht an Herrlichkeit …“ (2 Kor 4,16f). Derart hoffnungsvoll gestimmt, darf man sogar, eben weil alles ganz schön schwer ist, sich den verrückten Vers von Richard Dehmel zur Maxime machen: „Nichts ist schwer, sind wir nur leicht.“

Schon bei Trost?

Mit den fröhlichen Fortschrittszeiten jedenfalls ist es vorbei. Mit Corona kam der erste große Knacks. Und mit den Kriegen vor unserer Haustür erst recht, in der Ukraine und im wirklich Nahen Osten. Gefühlslagen wie Ohnmacht, Wut, Trauer, Betroffenheit begegnen allenthalben, angefangen bei einem selbst. Dass offenkundig unabhängig voneinander verschiedene Zeitungen und Zeitschriften das Thema „Trost“ in die Leitzeile stellen, spricht für sich.

Es herrscht offenkundig Trostbedarf, um diese großen Kränkungen zu verarbeiten. Schon gibt es ein neues Fremdwort für das Leiden an der Trostlosigkeit: Solastalgie (Glenn Albrecht), wie Allergie. „Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen. Trost ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt“ – so die klassische Definition von Georg Simmel. Die Redeweise vom „Trost spenden“ ist bezeichnend. Solche Zuwendung und Ermutigung hat mit jenen Geschenken zu tun, derer wir dringend bedürfen.

Allzu oft ist aus religiöser Hoffnung leider nur pure Jenseitsvertröstung geworden, die das Leben lähmen konnte und abwertete. Die säkularisierte Umkehrvariante im neuzeitlichen Fortschrittsdenken ist freilich auch an ihre Grenze gekommen: Diesseitsvertröstung – als könnten wir uns mit dem, was unsere reale Geschichte bietet, je zufriedengeben und darin ersehnte Erfüllung finden. Wo sich der Mensch selbstgewiss „übernimmt“ und aus allem das Beste machen will, gilt Trost fast als unanständig und peinlich, nur für Schwächlinge.

Dabei gehört es zur Würde des Menschen, der Zuwendung anderer zu bedürfen und sich nicht mit Trostpflastern verkleben zu lassen. Nein, zum Dasein jenseits von Eden gehört das, was Habermas einmal die „Untröstlichkeit der Vernunft“ nannte; deren melancholischer Schatten begleitet ja auch das Denken und Empfinden seit den Mönchsvätern, und erst recht seit Aufklärung und Moderne. Irgendwie stimmt alles doch nicht, so sehr wir uns auch abmühen, ja abstrampeln. Aber mit Trostpreisen lassen wir uns nicht länger abspeisen. „Man darf keinen Trost haben. Keinerlei vorstellbaren Trost. Dann steigt die unaussprechliche Tröstung hernieder“ (Simone Weil).

Genau das ist die biblische Grunderfahrung: Nach seinem totalen Zusammenbruch entdeckt Altisrael gerade im Exil, welche Trostmacht sich mit dem verbindet, den es nun als den einzig Wahren erkennt (vgl. Jes 40,1; 51,12; Ps 119,82). Und die Jüngerschaft Jesu entdeckt gerade nach dem schockierenden Ende ihres Stifters genau jene Ermutigung, die etwa Paulus praktiziert und empfiehlt: Das Lob dessen, der „der Vater der Erbarmungen und der Gott allen Trostes “ (2 Kor 1,1 ff.) ist, wird zur Kettenreaktion wechselseitiger Ermutigung (2 Kor 1,1–7 und 7,10).

Wie das heutzutage funktionieren kann, zeigt beispielsweise Dietrich Bonhoeffers großes Neujahrslied aus dem Gefängnis: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“ – von guten Menschen auch, die selbst des Trostes bedürftig sind und ihn deshalb spenden können und das auch tun.

Herkünftig

Wie selbstverständlich scheint das Leben auf Zukunft gebürstet. Ob es am elan vital liegt, am Treibstoff der Evolution, ob am Fortschrittsdenken mit seiner Steigerungslogik und seiner Forscherdynamik? Jedenfalls gehört ständiger Verbesserungswille dazu, Problemstaus und Leidensdruck erfordern neue Lösungen, immer noch weiter und möglichst voran und hinauf. Warum denn sonst all die Optimierungsbemühungen in Staat und Kirche, im Großen und Kleinen? Dass all dies freilich nur möglich ist, weil so vieles schon erreicht wurde und „einfach da ist“, ist nicht bewusst oder ganz vergessen. Besteht gar um der Zukunft willen Herkunftsbedarf? Wir fangen ja nicht bei null an, und der Ressourcen sind viele. Deshalb ist ja Schöpfung bewahren ein heißes Thema!

Mit Meister Eckhart wäre dann zu folgern: „Die Menschen brauchten nicht so viel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie sind.“ Immerhin tauchte damals gesellschaftlich zum ersten Mal auf, was uns heute zu schaffen macht: die Angst, zu kurz und zu spät zu kommen, und die kann ja bekanntlich panisch machen. Nur ja nichts versäumen, nur ja up to date! Aber „mit Gott kannst du nichts versäumen“, denn „Gott ist gegenwärtig“, sonst wäre ja nichts! Eckhart lehrt uns das Erstaunen darüber, dass Welt und Mensch schon sind – immer schon uns ständig zuvor und voraus. Von Schöpfung zu reden, heißt, „etwas“ im Rücken zu haben und unter den Füßen, herkünftig durch und durch und von woandersher. Diese Bodenschätze in Natur und Geschichte gilt es zu würdigen.

In christlicher Lesart wird solches Schöpfungsstaunen österlich ratifiziert: Er ist hinabgestiegen in „das Herz der Erde“ (Mt 12,40), in ihm ist Schöpfung schon bewahrt und geglückt – perfekt und nicht mehr aus der Welt zu schaffen. „Wir haben einen sicheren und festen Anker der Seele, der hineinreicht bis ins Innerste“, heißt es deshalb fast übermütig im Neuen Testament (Hebr 6,19). Mit dem „Vorläufer“ Jesus sei der Durchbruch zur Bewahrung und Erneuerung der Schöpfung definitiv schon gelungen – so sagt es fast irrwitzig das Osterbekenntnis. Im Unterschied zur vagabundierenden Sehnsucht hat christliche Hoffnung demnach einen Grund; wie verlässlich der ist, zeigen die vielen, die zu ihrem Lebensauftrag stehen und gar ausdrücklich im Geist Jesu unterwegs sind. Mit Ludwig Wittgenstein ist dabei freilich nüchtern zu sehen: „Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.“ Ist es nicht bei jedem echten Geschenk so, bei jedem ehrlichen Versprechen, bei wirklicher Liebe? Trägt das wirklich, ist das glaubwürdig? Nicht zufällig gehören Zweifel geschwisterlich zum Osterglauben. Was wäre auch Hoffnung ohne Anfechtung, ohne die reale Möglichkeit zu Resignation und Verzweiflung – und die Bewahrung davor, darin zu versinken.

Das österliche Taufversprechen – das A und O des Christlichen – ist kein autosuggestives Pfeifen im Walde. Es plädiert entschieden für einen besonderen Herkunftsbonus, ohne den das Anstehende schwerlich zu meistern ist. Es wird zur Auferstehungspraxis. Seit 2000 Jahren schon gehört die zu den Bodenschätzen diese Erde. Nicht auszudenken, was schon ist und täglich geschafft, geschaffen wird, durch alle Tode hindurch.

Human?