© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Der Mystik auf der Spur
Den Alltag durchbrechen
Mystik – ein weites Wort
Mystiker – Christen unter Strom
II. Den Alltag (er)leben
Erwachen
Morgendämmerung
Reinigungsrituale
Ankleiden
Essen und Schauen
Wetterlage
Mit offenen Augen
Der nächste freie Mitarbeiter
Woher das Gute?
Langeweile
Ausmisten
III. Mitmenschen begegnen
Gläserne Wände
Fremdeln
Mit offenen Armen
Verrückte Liebe
Lieben und lieben lassen
… allein mir fehlt die Frage
Tränen − Grundwasser der Seele
Caritas
Das Tragische ernstnehmen
Pass gut auf dich auf
IV. Die Schöpfung betrachten
Ur-sprünglich
Das Herz der Erde
Aus Finsternis wird Licht
Was (nicht) in den Sternen steht
Blitzeinschläge
Der Himmelsbaum vor dem Balkon
Unter Linden
Der Gesang der Wale
Entsäuern
V. Den Tod wahrnehmen
Geburt und Abschied
Loslassen
Der göttliche Winzer
Mit-Leiden
Die Frage aller Fragen
Getröstet
Ein Rest von Glauben
Hoffnung, nicht Sehnsucht
Nachruf
VI. Fragen stellen
Fragende und Gefragte zugleich
Gottesfrage
Warum-Fragen
Warum gerade ich – nicht?
Beten – eine Weltmacht
Am Ariadnefaden der Antwort
Wohin sich wenden?
Aufklärung, bitte
Blickwechsel
Wer unterschreibt
Nachwort
Über den Autor
Vorwort
»Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da entsteht die Mystik.« Dieses inzwischen viel zitierte Wort des späten Nietzsche bringt eine typische Stimmungslage auf den Punkt. Es geht um den Wunsch nach authentischem, nach gelingendem Leben − am Leitfaden dessen, was schon erfüllend da ist, freilich im Modus des Mangels. Simone Weil meinte etwas Vergleichbares, als sie Unglück und Schönheit zu den Eingangstoren wirklichen Lebens erklärte. Sage mir, worunter du leidest, was dir fehlt, was dich unglücklich sein oder gar verzweifeln lässt − und sage mir, wonach du dich sehnst, wohin deine Leidenschaft fließt, was für dich schön und attraktiv ist. Dann bist du schon auf dem Weg zu dem, was man Mystik nennen kann. Es geht also nicht primär um besondere Gipfelerlebnisse oder außerordentliche Erfahrungen, womöglich für religiös Hochmusikalische. Gemeint ist vielmehr die innere Stimmigkeit in der Vielfalt des alltäglichen Lebens und der Weg dorthin. Gerade das vermeintlich Selbstverständliche entpuppt sich dann als besonders, als geheimnisvoll und aller Achtsamkeit wert. Die folgenden Miniaturen gehen in diesem Sinn auf Spurensuche und laden zu bewussterem Leben ein. Denn Mystik kann man als »unmittelbare Bewusstheit göttlicher Gegenwart« verstehen – und das in allen Dingen.
Unverkennbar ist den folgenden Momentaufnahmen die Geschichte ihres Autors eingeschrieben. Ich lebe und schreibe als jemand, der Christ sein darf und werden möchte. Ich schreibe als Mann aus der Erfahrung von über fünfzig Priesterjahren. So ist mir auch der spirituelle Lebenszusammenhang der Kirche sehr wichtig. Im Zentrum geht es dabei immer um jenes Lebensgeheimnis, das wir Gott nennen. Gott ist keine Kirchenangelegenheit, sondern wirksam und gegenwärtig in allen Dingen; in keinem freilich so wie in Jesus, dem Unvergesslichen aus Nazaret, dem gottdurchlässigen Menschen schlechthin. Für ihn eine entschiedene Vor-Liebe zu haben und zu leben, kennzeichnet Christenmenschen. Was das konkret heißen kann, zeigen z.B. jene, die wir ausdrücklich Mystiker und Mystikerinnen nennen, wie Meister Eckhart, Teresa von Ávila, Madeleine Delbrêl oder Dag Hammarskjöld. An ihnen wird deutlich, was grundsätzlich gilt: Mystik ist, jedenfalls christlich, kein elitärer Sonderweg und auch nichts Irrationales. Es ist vielmehr jene Lebensform, die dem Hauptgebot der Bibel entspricht: sich von Gott lieben zu lassen, ihn zu lieben und selbst den fernsten Nächsten zu lieben, denn er ist wie du. Deshalb finden sich in den folgenden Texten immer wieder Zitate aus dieser Schatzkammer des Christlichen. Bewusst möchte ich jede bloß fachtheologische Sprache vermeiden und deutlich werden lassen, dass und wie sehr es nur um eines geht: um das Geheimnis des Daseins im Lichte dessen, den wir Gott nennen dürfen, um das Geheimnis der Welt und das des Lebens als Gabe und Geschenk.
Römisch-katholisch zu sein, heißt aufs Ganze zu gehen. Es bedeutet, dem Gott Jesu verpflichtet zu sein, der sich in allen Dingen und Verhältnissen finden und suchen lassen will. Noch auf dem Sterbebett formulierte deshalb Angelo Roncalli/Johannes XXIII., es komme darauf an, »dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, (und) in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur die der katholischen Kirche zu verteidigen.« Gerade weil die folgenden Texte aus christlicher Prägung und Perspektive geschrieben sind, interessieren sie sich für alles, was Welt ist und Leben heißt. Sie entstehen ganz selbstverständlich aus dem Gespräch mit anderen Religionen (denen sie gerne noch viel mehr Raum gegeben hätten) und im ständigen Dialog mit sogenannter säkularer Kunst und Kultur. Bewusst werden immer wieder aktuelle Bezüge und Anknüpfungen gesucht, durchaus situationsbedingt und augenblicksbezogen, eben alltäglich und möglichst in einer Sprache, die vielen zugänglich ist. Dabei sind spirituelle und intellektuelle Redlichkeit untrennbar, und immer gilt Hammarskjölds Wort: »Der Weg zur Heilung geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln.«
Den Alltag durchbrechen
Es gibt im Grunde nur ein Problem in der Welt, und es hat diesen Namen: Wie bricht man durch? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling?
So lässt Thomas Mann im »Dr. Faustus« die Hauptfigur sagen, einen Komponisten auf der Suche nach der neuen Musik und deshalb im Teufelspakt mit dem genial Unheimlichen. »Wem also der Durchbruch gelänge aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls, ihn sollte man wohl den Erlöser der Kunst nennen.« Wie in der Kunst so im Leben: heraus aus der Kälte ichbezogener Teufelskreise, nein hindurch; heraus aus der Oberflächlichkeit, die man Leben nennt, hindurch zu wahrem, wirklichem Da-Sein.
Das Alltägliche zu »durchbrechen« auf die letzte und göttliche Dimension hin – das war ein Lieblingsbild, das der Mystiker Meister Eckhart prägte. Das wesentliche Leben kann der Mensch demnach »nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet und sich von der Außenwelt in die Einsamkeit kehrt; er muss vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er sei. Er muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und den kraftvoll in einer wesenhaften Weise in sich einbilden zu können.«
Da spricht der kontemplative Christ. Da fliegt der entpuppte Schmetterling. Da geht es um die Heiligung des Alltags und die Mystik der offenen Augen. Das sagt ein Mönch, also einer, der die ersehnte Gotteinung Tag für Tag übt und auf den Durchbruch hofft – das sagt »der Mönch in mir«. So wie die Dinge aus dem Geheimnis des einen Gottes in ihrer Vielfalt »ausfließen«, so wollen sie zurück in den Grund Gottes, in das »einig ein« und »nichtig nichts«. Aus der Vielheit in die Einheit hindurchfinden und wieder einig werden mit Gottes Grund und in ihm – das ist der Durchbruch, und der geschieht wesentlich im Menschen.
Das ist in der Tat das Lebensthema schlechthin. Daran hängt aller Friede. Auf dieses Durchbrechen allein kommt es an, in den göttlichen »Grund ohne Grund«. Das ist der Wendepunkt zur Wirkeinheit mit Gott. So wird der Mensch wirklich fruchtbar. Für Eckhart ist das dank und seit Christus endgültig geglückt, im Prinzip sozusagen. Aber allzu oft ist dies vom Egowillen und ständigen lärmenden Treiben derart überdeckt, dass es allererst – wieder – gesucht, freigelegt, entdeckt werden muss. Aber nie durch Weltflucht oder Abwertung des Alltäglichen, ganz im Gegenteil. Nicht zufällig ist im Wortbild vom Durchbruch stets das Entscheidende präsent: die tägliche Geburt.
Der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling sagte vom Geheimnis, das wir Gott nennen: »Er ist der, der anfangen kann.« Nicht nur etwas kann er anfangen, mit sich und mit uns – nein es gilt absolut: Er ist das Beginnen vor und in allem Beginnen. Viel zu selbstverständlich nehmen wir es, wenn wir mit uns etwas (oder nichts) anfangen können. Bei Licht besehen ist es unglaublich. Schwer und leicht – erst wenn der Anfang geglückt ist, können wir erahnen, wie alles wäre, wenn er nicht gelungen wäre.
Mystik – ein weites Wort
Diffus sind der »Mystik«-Begriff und der Gebrauch dieses Wortes. Aber Definitionen helfen nur begrenzt. Es geht ja um den bunten Alltag und seine (Un-)Tiefen, um Erfahrungen und Phänomene in der ganz »normalen« Lebenswelt. Doch was heißt schon normal? Alles in der Welt kann man entweder als Faktum, als pure Tatsache betrachten oder als Geheimnis. Art und Wachstum einer Pflanze zum Beispiel lassen sich chemisch oder mikroskopisch untersuchen. Der Zusammenhang von Sonnenlicht, Wasser und Chlorophyll lässt sich analysieren. Was der Erfahrung zugänglich ist, lässt sich vermessen und auch beeinflussen. Was aber sagt das über die Blume hier am Schreibtisch aus oder über den Baum vor dem Fenster?
Ach, wie sollen wir die kleine Rose buchen?
Plötzlich dunkelrot und jung und nah?
Ach, wir kamen nicht, sie zu besuchen
Aber als wir kamen, war sie da.
Eh sie da war, ward sie nicht erwartet,
als sie da war, ward sie kaum geglaubt.
Ach, zum Ziele kam, was nie gestartet.
Aber war es so nicht überhaupt?
Mit diesen Versen des alten Bert Brecht, der sich noch einmal verliebt hatte, lässt sich der Unterschied zwischen Faktum und Geheimnis gut beschreiben. Es geht um das Unglaubliche, das Überraschende, das Wunder des Daseins. Liebe als Faktum beispielsweise ist eine Sache der Hormone und der Triebe. Liebe als Geheimnis dagegen ist die Musik in der Beziehung, das Einmalige und Unfassbare.
Das griechische Wort dafür heißtmysterion. Es geht dabei – so lautet wohl der ursprüngliche Wortsinn – um etwas, vor dem man die Augen schließen muss. Man ist wie geblendet – so schön ist es, so überwältigend. Werden die äußeren Sehorgane geschlossen, können sich die Augen der Seele öffnen. Seit alters haben die Techniken der Meditation damit zu tun, nicht minder die Übung der Kontemplation. Man sieht nur mit dem Herzen gut – und genauer. Dieser sechste oder siebte Sinn ist es, der die Wirklichkeit im Ganzen sehen lässt. Vom dritten Auge sprechen die kontemplativ Erfahrenen.
Im Deutschen ist der Zusammenhang von »Geheimnis« und »Heim« oder »Heimat« klar. Im Lateinischen übrigens wirdmysterion unter anderem mitsacramentum übersetzt. Was Mystik in jedem Fall meint, ist diese Beheimatung in der Güte und Wahrheit des Daseins. Rätsel kann man lösen, grundsätzlich jedenfalls. Geheimnisse – im hier vorausgesetzten Sinn – werden nie gelöst. Sie werden bewohnt, gelebt und begangen.
Mystiker – Christen unter Strom
Ständig von Mystik zu reden ist brandgefährlich. Wer sich ernsthaft mit dem Mysterium des Glaubens beschäftigt, mit dem muss »was« passiert sein – wortwörtlich: passieren, und Passage kommen ja vom gleichen Wortstamm. Sich an Jesus von Nazaret zu binden und in ihm Gott selbst zu sehen, ist so unglaublich, dass einem Hören und Sehen vergehen müssen. Vielleicht liegt der größte geistliche Gewinn dieses ersten »heidnischen« Jahrhunderts nach Christus darin, dass das Nicht-Selbstverständliche der christlichen Berufung und Nachfolge neu in den Blick kommt. Es könnte einen stolz machen und jubeln lassen, Christ(in) sein zu dürfen. »Niemand kann sagen, Jesus ist der Herr, es sei denn im Heiligen Geist« (1 Kor 12,3). So formuliert Paulus aus eigener Erfahrung. Er erinnert seine Korinther an die Zeit vor ihrer Christwerdung. Da waren sie auch hingerissen, da gab es auch ekstatische Begeisterung und schöpferische Leidenschaft. Aber den gekreuzigten Jesus zur Letztinstanz des eigenen Lebens zu machen – das ist ziemlich verrückt. Da ist eine Wirkmacht besonderer Art am Werk. »Normalerweise« würde man sagen: »Jesus ist verflucht« wie jeder Gekreuzigte. Oder: Jesus ist überflüssig. Auf einen Gekreuzigten können wir verzichten, das ist zu anstößig. In diesem Jesus und seiner Lebensart den lebendigen Gott und die Wahrheit fürs Leben und Sterben zu erkennen, ist absolut nicht selbstverständlich. Da muss etwas passiert sein. Paulus spricht vom Pneuma, von göttlicher Wirkmacht. Nurindiesem Kraftfeld unddankseiner können Geschichte und Gestalt Jesu derart bestimmend werden. Außerhalb dieses Wirkraumes wird man mit Recht sagen müssen, was viele sagen: Jesus ist als Dichter und Therapeut vielleicht interessant, auch als moralisches Vorbild – aber sich ganz auf ihn einzulassen und in ihm allein den Christus Gottes zu sehen, nein danke.
Heilig ist das Pneuma, weil es an Jesus bindet und ihn als den »Herrn« erkennen lässt, als den »Sohn«, den »Vorläufer für uns« (Hebr 6,20). All diese Jesustitel sind Liebeserklärungen derer, bei denen geistlich etwas passiert. Nennen wir es das Wunder der Berufung, den Aufbruch ins Gottgeheimnis Jesu, den Weg ins Mysterium. Deshalb ist für Paulus auch das liturgische Schreien »Abba, Vater«, »Vater unser« Aus-Druck pneumatischer Energie – die Einheitsübersetzung mildert diesen Lust- und Notschrei zum bloßen »Rufen« ab (Röm 8,15). Alles, was Christen als Christen tun, tun sieim Heiligen Geist. In diesem »energetischen Feld« re-agieren sie. Nicht zufällig geschieht christliches Beten »in der Einheit des Heiligen Geistes« –durch und dank Jesus dem Christuszu
Erwachen
Sich in allen Dingen von Gott finden lassen, das ist die große Kunst. Das Alltägliche spirituell überhöhen oder gar »mystisch« aufladen zu wollen wäre freilich ebenso verkrampft wie irreführend. Es gibt eine Art religiöser »Sinnhuberei«, die den Geschmack von Weltflucht hat. Eine Toilette ist eine Toilette und ein Termin ein Termin, sonst nichts. Mystik hat nichts mit der Suche nach Tiefsinn zu tun – wohl aber mit Präsenz, mit absichtsloser sogar. Und die erwächst aus dem Bewusstsein eines größeren heilen Zusammenhangs, der alles trägt und durchdringt und bestimmt – eben den All-Tag. Die Einladung lautet, sich von dieser göttlichen Gegenwart prägen zu lassen und ihrer inne zu sein in allem. Derart wirklich da zu sein und wahrzunehmen, was jetzt ist, ist die Herausforderung. Dann sind Toilette und Termin genau so wichtig wie Hochamt und Liebesseligkeit.
Ein Mensch gehe übers Feld und spreche sein Gebet und (an)erkenne Gott, oder er sei in der Kirche und (an)er- kenne Gott: Erkennt er darum mehr von Gott, weil er an einer ruhigen Stelle weilt, so kommt das von seiner Unzugänglichkeit her, nicht aber von Gottes wegen; denn Gott ist gleichermaßen in allen Dingen und an allen Stätten und ist bereit, sich in gleicher Weise zu geben, soweit es an ihm liegt.