Grande Amore. Eine Liebe in zwei Welten - Stefanie Mertens - E-Book

Grande Amore. Eine Liebe in zwei Welten E-Book

Stefanie Mertens

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Beschreibung

Große Gefühle zwischen Bonn und Sizilien​

Nachdem Katharina den Großteil ihrer Familie bei einem tragischen Unfall verloren hat, ist sie am Boden zerstört. Bis sie Luciano trifft. Der junge Italiener ist gerade als Gastarbeiter nach Bonn gekommen und von der selbstbewussten Katharina fasziniert. Eine Frau wie sie hat er noch nie getroffen. Und auch Katharina verliebt sich sofort. Schritt für Schritt nähern sich die beiden einander an. Doch die Sprachbarriere, die kulturellen Unterschiede und vor allem die Vorurteile um sie herum stehen ihnen im Weg. Katharinas Umfeld und Lucianos Familie tun alles, um diese Liebe zu verhindern. Eine Deutsche und ein Italiener? Ein Skandal! Also müssen sie kämpfen – für sich, für ihre Liebe, für ihre Zukunft.

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Das Buch

Nachdem Katharina den Großteil ihrer Familie bei einem tragischen Unfall verloren hat, ist sie am Boden zerstört. Die Männer in ihrem Leben, die ihr so viel Halt und Sicherheit gegeben haben, sind fort, und sie muss sich in den Fünfzigerjahren allein als Frau, privat und beruflich, durchschlagen und beweisen. Das ist nicht einfach in einer Zeit, in der Frauen nicht viel zugetraut wird. Da trifft sie Luciano. Der junge Italiener ist gerade aus Sizilien nach Bonn gekommen, um für einen Monat in der Eisdiele seines Onkels auszuhelfen. Er löst Gefühle in ihr aus, die sie lange verloren glaubte, und nimmt sie als moderne, selbstbewusste Frau ernst. Schritt für Schritt nähern sich die beiden Verliebten einander an. Und nicht nur ihre Gefühle teilen sie miteinander, auch beruflich haben sie gemeinsame Visionen. Doch die Sprachbarriere, die kulturellen Unterschiede und vor allem die Vorurteile um sie herum stehen ihnen im Weg. Ob Luciano doch länger in Deutschland bleiben wird, um ihrer gemeinsamen Liebe eine Chance zu geben? Katharinas Umfeld und Lucianos Familie tun alles, um das junge Glück zu verhindern. Eine Deutsche und ein Italiener? Ein Skandal! Also müssen sie kämpfen – für sich, für ihre Liebe, für ihre Zukunft.

Die Autorin

Stefanie Mertens wurde 1953 im Bergischen Land geboren und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Sie liebt es, Lebens- und Liebesgeschichten zu erfinden und diese mit historischen Fakten zu verbinden. Mit ihrer Schäferhündin Laska lebt sie in der Eifel und verbringt dort viel Zeit in der Natur.

STEFANIE MERTENS

EINE LIEBE IN ZWEI WELTEN

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Originalausgabe 12/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von Shutterstock.com/bioraven;

Getty Images/George Marks

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26813-8V001

www.heyne.de

per il mio grande amore – mia figlia

Wir riefen Arbeitskräfte,

und es kamen Menschen.

Max Frisch

TEIL 1

Katharina

Katharina legte den Stift aus der Hand und versuchte, sich für ein paar Augenblicke zu entspannen. Durch das Fenster trug der Morgenwind den Duft von jungem Grün und feuchter Erde in das enge Kontor, wo er sich mit dem Geruch staubiger Akten mischte. Dankbar atmete sie die milde Luft tief ein. In den Weinstöcken auf dem Hügel zu ihrer Linken zwitscherten die Vögel. Unten in Rebenach krähte ein Hahn. Sonst war alles noch still. Ihr Blick glitt zu den Eifelbergen, die sich hinter den Weinhängen am Horizont erhoben. Üppig bewaldete, längst verstummte Vulkane, Millionen Jahre alt. Verwaschen und konturlos lagen sie im Morgendunst – genauso wie ihre Zukunft und die des Weinguts. Mit einem tiefen Seufzer sah sie auf den Kalender. 20. Mai 1956. Pfingstsonntag. Vor einem Jahr und zwei Monaten – am 20. März 1955 – war ihre Welt eingestürzt. Während ihre Familie von dem verheerenden Krieg und seinen Folgen weitgehend verschont geblieben war, hatte das Schicksal an diesem sonnigen Vorfrühlingstag erbarmungslos zugeschlagen. Wie immer, wenn sie an das schreckliche Unglück dachte, spürte sie, wie eine eiserne Faust ihr Herz zusammendrückte.

Doch bevor die Erinnerung sie wieder überrollen konnte, vernahm sie das Klappern hoher Absätze auf den Holzdielen des Ganges. Ein paar Sekunden später klopfte es an die Kontortür. Im Türrahmen stand ihre Mutter – mit großen Augen und so frisch anzusehen wie dieser Frühlingsmorgen.

»Hier bist du !«, rief Martha Hammes erstaunt aus. Ihr weich geschnittenes Gesicht nahm einen mitleidigen Ausdruck an. »Ach, Liebes, konntest du wieder einmal nicht schlafen ?«

Katharina setzte ein unbeschwertes Lächeln auf. »Die Sonne hat mich geweckt.«

Natürlich glaubte ihre Mutter ihr nicht. Dennoch erwiderte sie genauso unbeschwert: »Endlich lässt sie sich nach der langen Schlechtwetterperiode mal wieder bei uns sehen.«

»Warum bist du denn schon so früh auf ?«

»Frühgottesdienst. Da wir doch zum Mittagessen bei Lotte und Ursel eingeladen sind …« Martha Hammes ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen. Schon lange akzeptierte sie, dass Katharina sie nicht mehr zum Kirchgang begleitete. »Hermann ist auch in aller Herrgottsfrühe in den Wingert gegangen«, fuhr sie mit bekümmertem Blick fort.

Katharina nickte. »Ich habe ihn gesehen.«

Ihre Mutter sah sie bedeutungsvoll an. »Katharina, wir müssen endlich etwas ändern. So geht es doch nicht weiter.«

»Mutter, bitte. Lass uns lieber über dein neues Kleid reden. Es sieht wunderschön aus.«

Martha lächelte geschmeichelt. »Gestern Abend fertig geworden.« Dabei strich sie liebevoll über den lindgrünen, leicht glänzenden Stoff, der ihrer barocken Figur schmeichelte. Dann fragte sie unsicher: »Oder meinst du, dass es für eine solche Farbe noch zu früh ist ?«

»Unsinn«, widersprach Katharina. »Das Trauerjahr ist vorbei. Mit fünfzig bist du noch zu jung, um den Rest deines Lebens Schwarz zu tragen. Ich bin gespannt, was deine Freundinnen gleich sagen werden.«

Ihre Mutter verzog bedauernd das Gesicht. »Ich werde heute in der Kirche keine Sensation sein. Erna und Hanna haben ihre Kostüme auch fertig genäht und werden sie bestimmt heute anziehen.«

»Ihr drei solltet ein Schneideratelier eröffnen.«

Martha schüttelte den Kopf. »Trotz Wirtschaftswunder legen die Frauen hier auf dem Land leider noch keinen großen Wert auf modische Kleidung. In Bad Neuenahr mit dem großen Kurpark, den Hotels und dem Kasino sieht das schon anders aus.« Sie winkte mit der weiß behandschuhten Hand ab. »So, ich muss jetzt gehen. Da läuten schon die Glocken.« In der Kontortür drehte sie sich noch einmal um. »Solltest du gleich noch in den Wingert gehen – setz lieber einen Hut auf. Bei der Sonne bleicht dein Haar sonst aus.«

»Das ist doch jeden Sommer so, Mutter«, entgegnete Katharina lächelnd.

Ihre Mutter zögerte. »Weißt du, was Hermann an den Feiertagen macht ?«

»Wahrscheinlich das, was er immer am Wochenende macht.«

»Er hätte auch mit uns zu meiner Schwester fahren können. Lotte hat ihn ausdrücklich eingeladen.«

»Du kennst ihn doch …«

Mitleidig schüttelte Martha den Kopf. »Ich möchte nicht wissen, was dem armen Mann auf seinen stundenlangen Wanderungen alles durch den Kopf geht.«

»Wir tragen alle so viel Trauer mit uns herum. Und dennoch muss das Leben weitergehen.« Katharina nickte ihrer Mutter aufmunternd zu. »Hermann ist nun mal ein Einzelgänger. So …«, sie hob die Hand, »jetzt geh du in den Gottesdienst, und ich widme mich wieder den Geschäftsbüchern.«

Martha bekreuzigte sich. »Ich werde für das Weingut beten.« Dann zog sie die Tür hinter sich zu.

Ob das helfen wird ?, fragte sich Katharina. Sie seufzte und schaute hoch in den weiten Himmel, der sich über das felsige Ahrtal spannte. »Ach, Vater«, sagte sie leise vor sich hin, »falls du dort oben wirklich sein solltest und du mich jetzt hörst, dann hilf mir doch. Ich will ja kämpfen, aber im Moment weiß ich wirklich nicht mehr weiter.« Sie merkte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Doch bevor sie ihre Augen füllen konnten, räusperte sie sich mehrmals energisch, setzte sich aufrecht hin und nahm den Stift wieder in die Hand. Nein, sie wollte nicht jammern. Das würde ihrem Vater nicht gefallen – falls er sie tatsächlich von dort oben sehen konnte. Du bist stark, du wirst das schaffen – das waren seine letzten Worte gewesen. Ja, sagte sie sich tapfer, ich schaffe das. Und als sie noch einmal hoch in das klare Blau sah, war ihr, als würde ihr die Sonne zweimal zublinken. Ganz besonders hell und leuchtend. Da musste sie lächeln. Hatte ihr Vater sie tatsächlich gehört ?

Luciano

Luciano saß auf der Bank vor dem kleinen Steinhaus, das oberhalb des elterlichen Hofes lag. Ein sanfter Wind wehte ihm den Duft von wildem Thymian und Rosmarin um die Nase. Es war immer noch warm. Während er dem Gesang der Zikaden lauschte, blickte er hinauf nach Il Nido, das wie ein Vogelnest auf dem Felsen rechts von ihm lag, den die untergehende Sonne zum Leuchten brachte. Hinter dem kleinen Ort erstreckte sich das Madoniegebirge mit seinen kargen Steinlandschaften. Zu seiner Linken reichte sein Blick über den abfallenden Hügel, auf dem wie hingestreut einzelne Höfe lagen, bis zum Meer.

Luciano liebte diese Stunde, wenn die Geräusche des Tages leiser wurden, wenn sich der aprikosenfarbene Himmel über Sizilien langsam in ein immer dunkleres Violett färbte. Doch an diesem Abend war alles anders. Vor drei Tagen hatte er erfahren, dass er bald arbeitslos sein würde. Die Autowerkstatt in Cefalú, wo er schon seine Lehre gemacht hatte, würde schließen. Carlo war im Alter von fünfzig völlig unerwartet verstorben.

Nach einem tiefen Seufzer zog er an seiner Zigarette und stieß den Rauch scharf aus. Er wusste, dass sich sein Leben fortan verändern würde. Er wusste nur noch nicht, in welche Richtung. Erleichternd war, dass er bei seinen Plänen weder auf eine Ehefrau noch auf Kinder Rücksicht nehmen musste. Er konnte überall hingehen, um zu arbeiten.

Luciano blickte den Hang hinunter zum elterlichen Hof, von dem das Singen seiner Mutter und das Lachen seiner beiden Neffen zu ihm heraufklangen. Seine Familie wusste noch nichts von seiner Situation. Er hatte seine Mutter nicht beunruhigen wollen.

Ein Geräusch, das nicht in die ihm vertrauten Geräusche der Natur passte, riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand auf und trat die Zigarette aus. Ein Motorroller kam die sich windende, schmale Straße herunter. Er zog eine lange Staubwolke hinter sich her. Luciano erkannte den Fahrer auf den ersten Blick. Es war der Sohn des Barbesitzers aus Il Nido. Der Sechzehnjährige bog in den Weg ein, der zu Lucianos kleinem Rustico führte.

»Buona sera, Luciano, come stai ?«, rief der Junge ihm zu.

»Bene«, antwortete Luciano mit plötzlich pochendem Herzen. Mit einem Mal spürte er eine unbestimmte Unruhe in sich – eine Ahnung, dass etwas geschehen war, das Auswirkungen auf sein Leben hatte.

»Du sollst deinen Onkel in Deutschland anrufen. Es ist dringend.«

»Ich komme sofort«, erwiderte Luciano und lief hinein, um seinen Motorradschlüssel zu holen.

Als er am elterlichen Hof vorbeifuhr, rief sein Bruder ihm erstaunt zu: »Wohin fährst du ? Wir essen in einer halben Stunde.«

»Bin gleich zurück.«

Eine Viertelstunde später fuhr Luciano die steile Straße von Il Nido wieder hinunter – und fühlte sich wie neu geboren. Vom Himmel funkelten ihm die ersten Sterne zu, als wollten sie ihm gratulieren, und von Weitem schon wehte ihm der köstliche Duft von Pasta con le sarde entgegen. Pasta, Sardinen und wilder Gebirgsfenchel – nach dem Rezept seiner Mutter zubereitet – war sein Lieblingsessen. Seine Familie saß bereits an dem langen Holztisch unter der mit Wein bewachsenen Pergola im Innenhof.

»Na, endlich !«, rief sein Bruder missmutig. »Wir haben Hunger.«

Maria, die Frau des Bruders, brachte den Korb mit der noch ofenwarmen Focaccia. Seine Mutter stellte eine große Platte mit pomodoro verde auf den Tisch. Silvio schenkte den Nero d’Avola ein, den er selbst erzeugte, während sich seine Söhne lautstark über die neuesten Fußballergebnisse stritten.

»Gabriele, Matteo – basta !«, rief ihre Nonna sie zur Ordnung, woraufhin die beiden sofort verstummten.

Luciano musste lächeln. Jeder hatte vor seiner Mamma Respekt.

Nachdem seine Mutter das Gebet gesprochen hatte, machten sich alle nach ihrem harten Arbeitstag über die grünen Tomaten mit Olivenöl her. Violetta Pasini richtete ihren Blick auf ihren jüngsten Sohn. »Warum bist du hoch in den Ort gefahren ?«

»Onkel Cesare hat in der Bar angerufen«, antwortete Luciano, nachdem er einen Schluck Rotwein getrunken hatte.

»Was wollte er ?« Die großen schwarzen Augen seiner Mutter hatten bis heute nicht an Feuer verloren. Unter diesem prüfenden, ja geradezu warnenden Blick fühlte sich Luciano zurückversetzt in seine Kindheit, als hätte er etwas Verbotenes getan, was nicht im Sinne seiner Mutter gewesen war.

»Onkel Cesare hat mich gefragt, ob ich für Antonio einspringen kann. Er muss ins Krankenhaus. Eine Magenoperation. Onkel Cesare will in einer Kleinstadt unterhalb von Bonn einen zweiten Eissalon eröffnen. Um die Nachfrage zu testen, ist Antonio seit ein paar Wochen für vier Tage die Woche dort mit dem Eiswagen unterwegs.«

Silvio, den so schnell nichts vom Essen ablenken konnte, blickte ruckartig vom Teller auf. »Aber du musst doch arbeiten.«

Luciano atmete tief durch. »Nur noch bis Samstag. Danach bin ich arbeitslos. Die Tochter von Carlo, Gott hab ihn selig, hat die Räume der Kfz-Werkstatt kurzfristig als Lagerräume an den Fischereibetrieb vermietet.«

Seine Mutter ließ das Besteck fallen und bekreuzigte sich. »Madonna ! Und was jetzt ?«

Silvio sah ihn vorwurfsvoll an. »Warum hast du uns das nicht erzählt ?«

Luciano hob die Schultern. »Ich wollte euch nicht beunruhigen.«

»Woher weiß Onkel Cesare denn, dass du Zeit hast ?«, erkundigte sich Silvio.

»Von Antonio. Ich habe ihn letzte Woche an seinem Geburtstag angerufen, weil ich vergessen hatte, eine Karte zu schicken.«

»Und jetzt willst du wirklich nach Deutschland und für deinen Vetter einspringen ?«, fragte Violetta, und ihre Missbilligung war nicht zu überhören.

»Montag fange ich an.«

»Madonna ! Dann musst du ja schon in vier Tagen fahren ! Und so weit weg ! Für wie lange denn ?«

»Vier Wochen. Bis Ende Juni.«

Wie nicht anders zu erwarten, begann Lucianos Mutter zu weinen. »Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt. Wer weiß, was in diesen vier Wochen alles passieren kann.«

Silvio legte eine Hand auf ihren Arm. »Mamma, wenn Luciano ab nächster Woche arbeitslos ist, passt das doch. Vielleicht kann er ja bei Onkel Cesare länger arbeiten als nur vier Wochen. Dann ist er abgesichert. Kein Mann will untätig herumsitzen, das musst du verstehen.«

»Nein, das hat er klargestellt«, wiegelte Luciano alle Hoffnungen seines älteren Bruders ab.

Violetta setzte sich aufrecht hin. Obwohl sie klein und rundlich war, strahlte sie etwas Hoheitsvolles aus. Ihre Augen sprühten Blitze. »Meine Kinder müssen nicht für Cesare arbeiten. Luciano wird auch hier Arbeit finden. In Palermo oder Catania.« Sie beugte sich vor, und ihre volltönende Stimme rutschte eine Oktave höher. »Wisst ihr, was euer Onkel Cesare ist ? Un egoista. Cesare hat seinen einzigen Bruder – meinen Mann und euren Vater – allein gegen die Tedeschi kämpfen lassen und ist dann auch noch zu denen gegangen, um dort reich zu werden.«

»Vergiss nicht, Mamma, dass Onkel Cesare uns nach Vaters Tod finanziell unterstützt hat«, erinnerte Silvio, der sonst nur wenig sagte, seine Mutter. »Die neue Ölmühle und den Traktor hätten wir uns ohne ihn nicht leisten können.«

»Taci !«, schnaubte Violetta mit wegwerfender Bewegung. »Und was ist mit Sophia ?«, wandte sie sich mit herausforderndem Blick an Luciano.

Alle sahen sie an, auch Luciano. Dieser spürte, wie die Wut in ihm hochstieg.

»Sie wird dich vermissen, wenn du nach Deutschland gehst, und dich danach vielleicht nicht mehr wollen.«

Er atmete einmal tief durch, bevor er ruhig, aber entschieden antwortete: »Mamma, lass bitte Sophia aus dem Spiel.«

Dummerweise hatte Sophia seiner Schwester Carlotta, die mit Sophias Onkel verheiratet war, anvertraut, dass er etwas mit ihr gehabt hatte – zweimal eine gemeinsame Nacht, jeweils nach einem Fest und zu viel Wein. Carlotta hatte diese Neuigkeit prompt in der Familie herumerzählt, die nun nur allzu gerne glauben wollte, dass aus ihm und der Nichte seines Schwagers Alessandro ein Paar würde.

»Du bist in dem Alter, in dem du eine Familie gründen solltest«, fuhr seine Mutter ungerührt fort. »Sophia wäre die richtige Frau für dich. Sie ist Sizilianerin, jung und schön. Nun gut, sie hat nicht den besten Ruf, aber sie gehört zur Familie. Und sie wird bestimmt einmal eine gute Mutter werden.«

Lucianos Halsschlagader begann zu pochen. Er wollte jetzt keinen Streit anfangen. Er liebte seine Mutter, sie meinte es nur gut mit ihm. Aber seine Zukunft würde er selbst gestalten. So griff er zum Glas und spülte die unwirsche Entgegnung, die ihm auf den Lippen lag, mit ein paar Schlucken Rotwein herunter.

»Sophia !« Sein sechzehnjähriger Neffe Gabriele verdrehte verzückt die Augen. »Bella Sophia … Jeder Mann aus Il Nido läuft ihr nach.«

»Und sie läuft Terzo nach«, fügte sein jüngerer Bruder Matteo grinsend hinzu.

»Jetzt nicht mehr, der ist ja als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen«, erwiderte Gabriele, bevor er sich ein Stück Focaccia in den Mund schob.

»Seid still !«, wies ihre Mutter die beiden zurecht. »Ihr seid noch zu jung für so etwas.«

»Sind wir nicht«, begehrten beide Jungspunde gleichzeitig auf.

»Adesso basta !«, sprach da ihre Nonna ein Machtwort, woraufhin beide sofort schwiegen.

»Ich hoffe, du verstehst, dass ich hier auf dem Hof keine Arbeit für dich habe«, wechselte Silvio das Thema, wobei er seinen jüngeren Bruder schuldbewusst ansah. »Aber das Stück Land gibt einfach nicht mehr her für eine weitere Person.«

»Das verstehe ich«, beruhigte Luciano ihn. »Außerdem wollte ich nie Bauer werden. Das weißt du doch. Ich liebe meinen Beruf. Wenn ich aus Deutschland zurück bin, werde ich mir sofort Arbeit suchen. Das Angebot von Onkel Cesare sehe ich in meiner gegenwärtigen Situation jedoch als ein regalo di dio an, und dafür bin ich erst einmal dankbar.«

Katharina

Brütend stand die Hitze über dem Ahrtal. Die Luft fühlte sich schwer und klebrig an, der Himmel war verhangen. Nur noch wenigen Sonnenstrahlen gelang es, die gelbliche Wolkenschicht zu durchbrechen. Sie warfen ein gespenstisch helles Licht auf die Reben.

Katharina strich sich mit dem Handrücken den feuchten Film von der Stirn. Warum musste das Wetter auch immer so extrem sein ? Vor Tagen noch hatte es unentwegt geregnet, und jetzt war es viel zu heiß für Ende Mai.

»Ich mache Schluss für heute !«, rief Hermann ihr zu. »Ich bin in Dernau verabredet. Du solltest auch aufhören. Es gibt bestimmt gleich Gewitter.«

»Nur noch drei Reihen !«

»Wir sehen uns morgen.« Hermann winkte ihr aus der übernächsten Rebenreihe zu. »Übrigens – morgen helfen uns drei Schüler aus der Weinbauschule beim Heften der Triebe aus.«

»Morgen ist Fronleichnam !«

Hermann lachte. »Das ist den jungen Leuten egal. Sie wollen Geld verdienen.«

Dankbar lächelte sie ihm zu. »Das klingt gut.« Dann sah sie ihn ernst an. »Hermann – wir müssen uns mal zusammensetzen und über die Zukunft das Weinguts reden. Ich brauche deinen Rat.«

»Kein Problem. Wie wär’s morgen Abend ?«

Sie strahlte ihn über die Reben hinweg an. »Wunderbar. Achtzehn Uhr ?« Sie hob die Hand. »Also dann – einen schönen Abend.«

Beide Hände in den schmerzenden Rücken gestützt, sah sie dem Kellermeister ein paar Augenblicke nach, wie er in seiner grünen Arbeitskluft und mit der Schiebermütze auf dem schlohweißen Haar zwischen den Rebstöcken hindurch talwärts ging. Seine gebeugte Haltung und sein langsamer Gang ließen ihn wie einen alten Mann erscheinen, obwohl er erst Anfang fünfzig war. Das haben der Krieg und die russische Gefangenschaft aus ihm gemacht, dachte sie voller Mitleid.

Sie erinnerte sich noch daran, wie Hermann vor einem Jahr zu ihr gekommen war. Wie ein Geist war er ihr erschienen – dürr und durchsichtig. Inzwischen hatte er dank Hedwigs deftiger Küche einen kleinen Wohlstandsbauch bekommen. Und die Arbeit, die er so liebte, hatte ihm wieder Leben eingehaucht.

Nachdem Katharina einmal tief durchgeatmet hatte, krempelte sie die Ärmel des Oberhemds, das einmal ihrem Bruder gehört hatte, höher und fuhr damit fort, die Geiztriebe herauszuschneiden. Nach einer Stunde war sie fertig. Das weiße Hemd klebte ihr am Oberkörper, und ihr Haar fühlte sich unter dem Florentinerhut feucht an. Jetzt war es Zeit für ein erfrischendes Bad.

Sie blickte hoch zum Himmel, der sich nun vollends zugezogen hatte. Dunkle, bedrohlich wirkende Wolkenmassen lagen über den Ahrbergen wie eine Decke mit gelben und violetten Rändern. Noch waren sie in Bewegung. Vielleicht ziehen sie ja weiter, hoffte Katharina, während sie Rebenschere und Harke in den kleinen Geräteschuppen brachte, der an dem asphaltierten Weg oberhalb des Hangs stand. Dann lief sie zwischen den Rebenzeilen hindurch hinunter zum Haus.

Als sie durch den Torbogen ging, über dem das Wappen ihrer Familie eingemeißelt war, hörte sie in der Ferne ein Grollen. Sie stieg aus den Gummistiefeln. Welch eine Wohltat ! Seit sieben Uhr war sie auf den Beinen. Die körperliche Arbeit tat ihr gut, lenkte sie ab und ließ sie abends gut einschlafen. Sie griff in die Brusttasche der grünen Latzhose – ebenfalls ein Erbstück ihres Bruders –, die sie mit einem braunen Ledergürtel auf Taille brachte. Wo war denn ihr Schlüsselbund ? War er etwa bei der gebückten Haltung im Hang herausgefallen ? Nur das nicht ! Mit klopfendem Herzen durchsuchte sie die anderen Taschen. Nichts.

»O nein«, murmelte sie.

Inzwischen drückten die bleigrauen Wolken tief herab. Kurz entschlossen stieg sie wieder in die Stiefel. Den Blick konzentriert auf den Boden gerichtet, der mit Luzerne und Klee überwuchert war, stieg sie zügig hangaufwärts. Auf halber Höhe blieb sie stehen – schwer atmend, schwitzend und verzweifelt. Wo mochte sie den Schlüsselbund verloren haben ?

Es wurde immer dunkler. Die Vögel hatten aufgehört zu singen. Kein Rebenblatt regte sich mehr. Die Welt schien den Atem anzuhalten in Erwartung von etwas ganz Großem. Eine eigenartige Spannung lag in der Luft – Elektrizität, die sich entladen wollte.

Katharina drückte den Rücken durch und stieg weiter bergan, den Blick auf den Boden gerichtet.

»Suchen Sie das hier ?«, hörte sie plötzlich kurz unter der Hangkuppe jemanden fragen.

Sie zuckte zusammen, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Dann sah sie auf und entdeckte den Mann. Er stand am Rand des Weges und hielt ihren Schlüsselbund hoch. »Gehört der Ihnen ?«, fragte er mit rauer Stimme.

Katharina blinzelte verwirrt. Ihr Blick wurde gefangen von der Größe des Mannes und seiner Attraktivität. Schwarzes, glänzendes Deckhaar, das er aus der Stirn gekämmt trug, ein kantiges gebräuntes Gesicht, ein sensibel geschnittener Mund. Er trug ein weißes Oberhemd mit locker gebundener brauner Krawatte, eine beige Stoffhose, Slippers an den nackten Füßen – und zeigte ihr ein Lächeln, das ihr die Knie weich werden ließ. Dieses Lächeln vertiefte sich, bekam einen amüsierten Ausdruck, während sie ihn immer noch stumm von unten anstarrte.

»Ja ?«, vergewisserte er sich, wobei sich der belustigte Ausdruck auf seinem Gesicht vertiefte. Ihre Verblüffung schien ihm Spaß zu machen.

»Ja, die gehören mir«, brachte sie schließlich mit belegter Stimme hervor. Dann kam wieder Leben in sie. Was passierte hier mit ihr ? Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Aber so eine Situation hatte sie noch nie erlebt. Es gefiel ihr überhaupt nicht, wie sie von ihrem Standort zwangsweise zu ihm aufblicken musste. Und noch weniger gefiel ihr, dass er sie so sah – verschwitzt, schmutzig, außer Atem und wie hypnotisiert.

Bevor sie etwas sagen konnte, fragte der Fremde mit diesem besonderen Lächeln: »Sind das die Schlüssel zu Ihrem Herzen, Signorina ?« Dabei reichte er ihr galant die Hand, die sie wie in Trance ergriff, und zog sie hinauf auf den Weg. Jetzt standen sie sich gegenüber. Er wirkte gelassen, schien ganz in sich zu ruhen. Da sie keine kleine Frau war, überragte er sie nur um zwei Handbreiten, was ihr schon sehr viel besser gefiel.

»So viele Schlüssel, um Ihr Herz aufzuschließen ?« Der Blick aus seinen tiefbraunen Augen hielt ihren fest.

Jetzt, auf fast gleicher Höhe mit ihm, fand sie endlich ihre Geistesgegenwart wieder. »Selbst die reichen nicht«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das weit weniger kühl ausfiel, als es hatte sein sollen. Sie griff nach ihrem Schlüsselbund, den er immer noch wie eine Trophäe hochhielt. »Danke.«

Ihre Blicke trafen sich, hielten sich fest. Die Augenblicke zogen sich hin. Katharina spürte eine unsichtbare Spannung zwischen ihr und diesem Fremden, oder war das nur die elektrisch aufgeladene Luft des nahenden Gewitters ? Sie musste jetzt entweder auf dem Absatz umdrehen oder diesem Schweigen ein Ende machen.

»Sind Sie Italiener ?«, fragte sie geradeheraus.

Er lächelte voller Stolz. »Sizilianer.«

»Sie sprechen sehr gut Deutsch. Mit einem Akzent, der irgendwie österreichisch klingt. Oder ?«

»Österreichisch und italienisch.«

»Und woher können Sie so gut Deutsch ?«, fragte sie weiter. Da sie jetzt die Gesprächsführung in die Hand genommen hatte, fühlte sie sich wieder sicher.

»Von meinem Professore, meinem Lehrer aus der Schule.«

Ungläubig sah sie ihn an. »Wird in den Schulen auf Sizilien Deutsch unterrichtet ?«

Er lachte, dunkel und tief. »Er hat es mir privat beigebracht.«

Und wieder verfingen sich ihre Blicke. Wieder schwiegen sie, ohne dass sein Blick ihren losließ.

»Und Ihr Professore ist Österreicher ?«, nahm sie die Unterhaltung rasch wieder auf.

»Italiener. Seine Mutter war Österreicherin. Nach ihrem Tod wollte er die deutsche Sprache nicht verlernen. Also hat er mich unterrichtet, und wir sprechen nur Deutsch miteinander.«

Sie hatte jetzt weniger seinen Worten zugehört, als mehr seiner rauen Stimme mit dem weichen Akzent gelauscht. Was für ein Mann. Sie musste unbedingt mehr über ihn erfahren.

»Machen Sie Urlaub hier ?«

»Ich helfe für vier Wochen bei meinem Onkel aus. Er besitzt eine Eisdiele in Bonn.«

Sie überlegte kurz. »Und was machen Sie auf Sizilien ?«

Da trat er einen Schritt von ihr zurück und hob die Hände. »Signorina, Sie stellen sehr, sehr viele Fragen. Ist das typisch für deutsche Frauen ?«

Sie spitzte die Lippen und entschied sich, ihn unbekümmert anzulächeln. »Ich glaube, dieses Phänomen ist bei Frauen international zu finden. Oder sind Italienerinnen nicht neugierig ? Man muss doch schließlich wissen, mit wem man es zu tun hat.«

»Das sehe ich genauso. Deshalb möchte ich Ihnen jetzt auch eine Frage stellen.«

Sie lachte. »Bitte.«

Er maß sie von oben bis unten – von ihrem zerzausten Zopf, der seitlich unter dem Hut hervorlugte, bis zu ihren verstaubten Gummistiefeln. »Arbeiten Sie hier im Weinberg ?«

»Danach sieht es aus, nicht wahr ?«, entgegnete sie keck.

»Dann sind Sie eine Landarbeiterin.«

Den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie. »Ja.«

»Und wo wohnen Sie ?«

Sie zeigte den Hang hinunter. »Dort unten in Rebenach.«

Da glitt ein zufriedenes Lächeln über das attraktive Männergesicht, so, als hätte sie die Prüfung bestanden. Er reichte ihr die Hand.

»Ich bin Luciano. Luciano Pasini.«

»Katharina«, stellte sie sich vor und ergriff seine Hand, die sich angenehm anfühlte, kräftig und groß genug, um ihre zu bedecken. Sie vermittelte Stärke und Geborgenheit.

»Katharina …«, wiederholte Luciano mit seiner tiefen Stimme. Dabei zog er das Wort lang auseinander und rollte das R, was ihren Namen sehr sinnlich klingen ließ. Sie merkte, wie sein Blick sie wieder fixierte, und bevor sie erneut unsicher werden konnte, zeigte sie auf das Motorrad, das unter dem Vordach des Geräteschuppens stand. »Sind Sie damit aus Ihrer Heimat gekommen ?«

Er nickte, wieder mit dem belustigten Glitzern in den braunschwarzen Augen.

Sie verstand nicht viel von Motorrädern, obwohl sie auch nach dem Krieg immer noch das Straßenbild bestimmten. Dieses hier sah groß und schwer aus und hatte einen Beiwagen, auf dem eine braune, lederne Fliegerjacke, Brille und Handschuhe lagen.

»Wie viele Kilometer sind das ?«, erkundigte sie sich interessiert.

»Ungefähr zweitausenddreihundert und eine Fahrzeit von etwa vierundzwanzig Stunden.«

»So weit ? Unglaublich !«, rief sie aus. Ja, das passte zu ihm. Er strahlte Energie aus, Sicherheit und Ruhe. So ein Mann war ihr noch nie begegnet.

Plötzlich wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. In diesem Moment erhellte ein greller Blitz zischend den Himmel. Ihm folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Sie hatte das nahende Gewitter gänzlich vergessen. Jetzt zuckte sie erschrocken zusammen und griff unwillkürlich nach Lucianos Arm. Überrascht sah er sie an. Schnell zog sie ihre Hand zurück. Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg, und trat von ihm zurück. Nun fielen auch die ersten Tropfen vom Himmel. Der Donner hörte sich an wie rollende Fässer über ihnen.

»Kommen Sie !« Luciano legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich zu der Bank unter dem Vordach des Geräteschuppens. »Bitte.« Mit einer höflichen Geste bot er ihr den Platz auf der Holzbank an, so als wären sie in einem der besten Lokale Bad Neuenahrs.

Sie setzte sich. Dicht nebeneinander schauten sie zu, wie der Himmel seine Schleusen öffnete und die Blitze ihn in Stücke rissen. Katharina atmete Lucianos Duft ein, den Duft von Zitronen und Sandelholz, und hoffte, dass sie nach diesem Tag nicht etwa nach Schweiß riechen würde. Unmerklich rückte sie ein Stück von ihm weg. Immer noch schwiegen sie. Die Regentropfen hüpften vor ihnen auf dem Weg, der Wind kam in Böen und fuhr fauchend durch die Weinblätter. Feuchtigkeit lag in der Luft, die sich auf die Haut legte. Katharina begann innerlich zu zittern, nicht aus Angst vor dem Gewitter, nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. Zu gerne hätte sie noch mehr Zeit mit Luciano verbracht, aber sie dachte an ihre Mutter, die sich bestimmt Sorgen machen würde. Inzwischen goss es in Strömen. Sie drückten sich an die Holzwand. Bevor das Schweigen zwischen ihnen noch spannungsvoller werden konnte, sagte sie:

»Ich muss nach Hause. Meine Mutter macht sich sonst Sorgen.«

»Ich fahre Sie ins Tal«, bot er ihr an.

»Nein, nein«, wehrte sie hastig ab und fügte dann etwas ruhiger hinzu: »Ich habe es nicht weit.«

»Aber bei diesem Wetter …« Voller Unverständnis sah er sie an.

Sie lachte. »Das ist nicht das erste Gewitter, das ich erlebe.«

»Wie Sie wollen …« Er hob die breiten Schultern. »Meinen Sie, ich kann das Gewitter hier abwarten, bevor ich mich auf den Rückweg mache ?«

»Natürlich«, erwiderte sie und stand auf. Er erhob sich ebenfalls und reichte ihr die Hand. »Dann … Auf Wiedersehen.« Als sie sich noch einmal in die Augen sahen, wusste sie, dass sie diesen Mann unbedingt wiedersehen musste. Und wider alle Vernunft und wider ihre zurückhaltende Art sagte sie:

»Ich habe noch nie italienisches Eis gegessen.«

Da lächelte er sie an, mit diesem jungenhaften, verwegenen Lächeln. »Dann ist es höchste Zeit. Zum Beispiel Samstag in Bad Neuenahr. Dann bin ich mit dem Eiswagen dort.«

»Ja, vielleicht«, erwiderte sie. »Mal sehen.«

Einen Tag später fanden sich Katharina, ihre Mutter und Hermann Roth pünktlich um achtzehn Uhr im Innenhof des Weinguts ein. Martha hatte den langen Holztisch unter der Linde schon eingedeckt mit drei Gläsern, einer Schale mit Salzstangen und einem Käseigel. Sie reichte Hermann die Flasche. »Das ist ein Weißburgunder vom Kaiserstuhl. Den hat mein Mann vor drei Jahren von einem Winzerkollegen geschenkt bekommen. Den sollten wir heute mal probieren.«

Nachdem Hermann eingeschenkt hatte, kosteten sie den Wein in kleinen, bedachten Schlucken.

Hermann nickte anerkennend. »Geröstete Mandeln, Holunderblüten und Feuerstein, würde ich sagen.«

»Ein typischer Weißburgunder«, stimmte Martha ihm zu. »Sehr gut.«

»Ehrlich gesagt, mir sind unsere jungen Rieslinge lieber«, sagte Katharina. »Die schmecken fruchtiger und frischer.«

»Aber schlecht ist er nicht«, verteidigte Martha ihre Wahl und wandte sich dann im Plauderton an Hermann: »Und, wie waren deine Wanderungen an den Feiertagen ?«

»Bei dem schönen Wetter waren sehr viele Leute unterwegs. Ich bin ja lieber allein mit der Natur.« Dann wechselte der Kellermeister das Thema: »Und wie war es bei euren Verwandten ?«

»Wir sollen dich grüßen.« Martha lächelte ihn herzlich an. »Bei Lotte und Ursel gibt es Neuigkeiten. Sie wollen die Garage zu einem zusätzlichen Verkaufsraum ausbauen, da der Lebensmittelladen so gut läuft. Selbst hier in der Eifel auf dem Land merkt man das Wirtschaftswunder. Alle sind in Lohn und Brot und leisten sich wieder was. Essen und Trinken stehen dabei an erster Stelle.«

»Hat Ursel inzwischen ihren Führerschein gemacht ?«, erkundigte sich Hermann.

»Am ersten Juni hat sie Prüfung«, antwortete Katharina.

»Und in knapp drei Wochen fahre ich mit meiner Schwester nach Bad Gastein«, fügte ihre Mutter seufzend hinzu.

Hermann sah sie erstaunt an. »Du klingst, als müsstest du ins Krankenhaus, nicht in den Urlaub. Freu dich doch !«

»Das hat Lotte auch gesagt, aber ich habe ein schlechtes Gewissen wegen unserer finanziellen Situation.«

Katharina rückte mit dem Holzstuhl näher an den Tisch. »So, damit hat Mutter gerade das Stichwort gegeben. Jetzt lasst uns über das Weingut reden.« Sie zog ein Blatt Papier aus der Rocktasche und legte es auf den Tisch. Dann sah sie Hermann bedeutungsvoll an. »Ich habe in der letzten Zeit ja schon häufiger erwähnt, dass die Bestellungen wie auch die Direktvermarktung seit Vaters und Peters Tod rückläufig sind«, leitete sie mit fester Stimme das Gespräch ein. »Hier ein paar Fakten: Vergangenes Jahr haben die meisten unserer langjährigen Kunden im Frühjahr, also kurz nach Vaters und Peters Tod, noch für den Herbst und Winter geordert. Für das ADAC-Eifel-Rennen Ende Mai hatten wir auch noch Wein geliefert. Danach jedoch ist es stetig bergab gegangen. Zurzeit ist die Auftragslage im Vergleich zu 1954, als Vater das Weingut noch geleitet hat, um neunzig Prozent eingebrochen. Direktverkäufe haben wir kaum noch. Wir haben weder eine Anfrage für das diesjährige ADAC-Eifel-Rennen erhalten noch für den Bundespresseball im November in Bad Neuenahr. Genauso wenig hat die Stadt Bad Neuenahr bis jetzt angefragt, ob wir in diesem September mit einem Weinstand auf dem Dahlienfest vertreten sein werden. Damit sind drei feste Größen in der Finanzplanung des Weinguts weggebrochen.« Katharina faltete das Papier zusammen und resümierte in müdem Ton: »So ist die Lage. Das Geschäftskonto ist inzwischen bei null, da die monatlichen Ausgaben die Einnahmen bei Weitem übersteigen.«

»Ich glaube ja, die Leute denken, das Traditionsweingut Hammes existiert nach Vaters Tod nicht mehr«, sagte Martha.

»Ausgeschlossen«, widersprach ihr Katharina. »Nach dem Unfall habe ich alle Kunden darüber informiert, dass ich das Weingut in alter Tradition weiterführen werde. Und dass wir einen neuen Kellermeister haben. Nein, nein«, energisch schüttelte sie den Kopf. »Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass selbst die Kunden, die schon ewig bei uns kaufen, keine Geschäfte mit mir machen wollen. Wahrscheinlich trauen sie einer Frau nicht zu, ein Weingut leiten zu können.«

»Vielleicht trauen sie auch dem neuen Kellermeister nichts zu«, meinte Hermann mit schiefem Lächeln.

»Unsinn«, erwiderte Katharina. »Du hast dir in dem einen Jahr bei uns einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Durch deinen guten Kontakt zur Weinbauschule in Ahrweiler bist du inzwischen auch überregional bekannt. Nein, Hermann, es liegt am Zeitgeist. In dieser Branche wird eine Frau nicht ernst genommen.«

Hermann nahm einen Schluck, ließ den Weißburgunder ein paar Augenblicke auf der Zunge spielen und lehnte sich zurück. »Durch meine Kontakte bekomme ich natürlich viel mit«, begann er so zögerlich, als wäre er sich nicht sicher, ob er das Folgende überhaupt sagen sollte. Schließlich fuhr er mit fester Stimme fort: »Tatsächlich tun sich viele schwer damit, dass du nun das Weingut leitest. Du bist keine Winzerin und auch keine Kellermeisterin. Der Weinbau ist eine Männerdomäne.«

»Das ist so ungerecht !«, rief Katharina erbost aus. »Alle Kunden wissen, dass ich in dem ältesten und größten Weinbaubetrieb im Ahrtal groß geworden bin. Und jeder weiß auch, dass ich eine kaufmännische Ausbildung habe und seit meinem zwanzigsten Lebensjahr Seite an Seite mit meinem Vater und meinem Bruder hier gearbeitet habe. Ich finde es eine Unverschämtheit, dass man mir nicht zutraut, das Weingut allein weiterführen zu können. Hält man eine Frau etwa für zu dusselig, Wein zu vermarkten ? Es kann den Leuten doch egal sein, von wem sie kaufen. Die Hauptsache ist, dass das Produkt qualitativ noch genauso gut ist wie zu Vaters und Peters Zeiten.«

»Bitte, Kind, rege dich doch nicht so auf«, versuchte ihre Mutter sie zu beschwichtigen.

Mit bedrückter Miene hob Hermann die Schultern. »Dass die Einnahmen derart stark zurückgegangen sind, liegt natürlich auch daran, dass 1955 kein besonders gutes Weinjahr gewesen ist – in allen Regionen Deutschlands. Der viel zu trockene Sommer hat die Entwicklung der Trauben gehemmt, und hinzukommt …«

»Und dieses Jahr ?«, unterbrach Katharina ihn ungeduldig. »Wie wird dieses Jahr ?«

»Wenn wir dem Bauernkalender glauben wollen, wird es nicht besser. Sankt Eulalia Sonnenschein, bringt viel Obst und guten Wein.«

Katharina zog die Stirn zusammen. »Wann ist St. Eulalia ?«

»Am 12. Februar«, antwortete Hermann. »Erinnert ihr euch an den Februar ? Er gehört zu den kältesten Monaten seit Beginn der Wetteraufzeichnung und hat vielen Reben nach dem bereits vorher erfolgten Rebschnitt erheblich geschadet.«

Katharina seufzte. »Na bestens, dann sind ja weitere finanzielle Einbrüche vorprogrammiert.«

In einer Geste der Ergebenheit hob Hermann die Schultern. »Die Natur arbeitet nicht immer mit dem Winzer zusammen.« Er räusperte sich energisch, bevor er fortfuhr: »Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Weinkonsum in den vergangenen Jahren stetig rückläufig war, was daran liegt, dass wir hier in Deutschland auf Massenproduktion setzen statt auf Qualität. Anders als in Frankreich zum Beispiel. Die mindere Qualität verstimmt die Verbraucher. Da bleiben Absatznöte nicht aus.«

»Und warum ändern wir das nicht ?«, fragte Katharina mit herausforderndem Blick.

»Einige Winzer und Kellermeister sind sich inzwischen durchaus bewusst, dass man die Weinkelterung revolutionieren muss«, erwiderte Hermann ruhig. »Seit Kurzem sind neue Kelterverfahren wie auch neue Rebsorten im Gespräch. Aber das braucht Zeit und Geduld.«

»Deshalb sage ich ja immer wieder, dass wir uns der Mayschosser Winzergenossenschaft anschließen sollten«, meldete sich Martha wieder zu Wort. Dabei drückte sie die nur halb gerauchte Zigarette entschlossen aus. »Dann müssen wir unsere Trauben nur noch pflücken und dort abliefern. Alle zur Genossenschaft gehörenden Winzer teilen sich die Arbeiter, die Geräte und Maschinen. Und die Genossenschaft übernimmt sogar die Aufgabe der Vermarktung. Damit würden wir viele Kosten einsparen.«

Katharina hatte sich nur schwer beherrschen können, dem so leidenschaftlich vorgebrachten Vortrag ihrer Mutter geduldig zuzuhören. Diese Lösung kam für sie nicht infrage, obwohl sie durchaus einige Vorteile aufwies. Aber sie hatte ihrem Vater ein Versprechen gegeben. Und dieses würde sie halten.

»Sag, Hermann …« Sie beugte sich vor. »Wir sind jetzt noch im Mai. Wenn wir den Hang, den Vater vor zwei Jahren dazugekauft hat, in den kommenden Tagen mit einer neuen Rebsorte bepflanzen würden, ab wann würden wir dann …?«

»Das kommt ein bisschen auf die Rebsorte an. Aber grundsätzlich trägt eine neu gepflanzte Rebe in der Regel in den ersten drei Jahren keine weinbringende Frucht«, unterbrach der Kellermeister sie. »Das wäre eine langfristige Lösung, aber keine kurzfristige.«

Katharina streckte das Kinn vor. »Dennoch. Da ich nicht vorhabe, das Weingut aufzugeben, sollten wir darüber nachdenken.«

Ohne darauf einzugehen, fuhr Hermann fort: »Was Einsparungen bei den laufenden Kosten angeht, könnte ich mal in der Weinbauschule in Ahrweiler nachfragen, ob ein paar Schüler von denen sich dauerhaft was dazuverdienen wollen. Bei der Erneuerung der Pfähle könnten wir Hilfe brauchen, bei der Ausbesserung der Drahtanlage oder dem Entblättern der Reben. Die würden im Lohn billiger sein als die Arbeiter aus dem Tal.«

Katharina seufzte und strich sich mit beiden Händen das Haar aus der Stirn, das ihr in großen, dichten Locken über die Schultern fiel. »Ja, das ist eine gute Idee«, sagte sie matt. »Vielleicht könnten wir sowieso bei den Arbeitern einsparen. Ich könnte auch mehr helfen. Im Kontor gibt es ja immer weniger für mich zu tun«, fügte sie bitter hinzu.

»Um die sechs Hektar fachgerecht zu bewirtschaften, brauchen wir auch Leute, die etwas vom Weinanbau verstehen. Ich kann nicht überall sein und alle kontrollieren.« Hermann sah sie bedeutungsvoll an. »Ganz ehrlich: Wenn ihr euch keine Arbeitskräfte mehr leisten könnt, dann verkauft lieber, bevor die Reben unter schlechter Pflege leiden.«

Martha, die sich eine neue Zigarette angezündet und den Rauch scharf ausgestoßen hatte, sagte: »Ich meine ja immer noch, dass wir uns der Winzergenossenschaft anschließen sollten. Einer für alle, alle für einen.« Sie suchte den Blick ihrer Tochter. »Katharina, du bist jetzt achtundzwanzig. Du kannst doch nicht deine beste Zeit an das Weingut vergeuden. Was soll denn aus deinem Leben werden ? Wenn du einen Mann und Kinder haben willst, wird es Zeit.«

»Also, bitte … Jetzt hör aber auf !«, rief Katharina ungehalten aus.

Martha biss sich auf die Lippe. »Wir könnten Hedwig entlassen, und ich koche ab jetzt«, meinte sie dann kleinlaut.

»Das kommt überhaupt nicht infrage«, erwiderte Katharina mit hochroten Wangen. »Hedwig ist seit Urzeiten bei uns. Seit ihr Mann als Invalide aus dem Krieg zurückgekehrt ist, brauchen die beiden das Geld mehr denn je. Hedwig bleibt.« Sie atmete tief durch und hielt einen Moment inne. Dann sah sie ihre Mutter und Hermann nacheinander an. »Ich werde noch einmal alle Kunden von früher anschreiben«, sprach sie etwas ruhiger weiter. »Darüber hinaus muss ich mir etwas einfallen lassen, wie wir möglichst schnell zu Nebeneinnahmen kommen. Wahrscheinlich muss ich mich von dem Gedanken verabschieden, dass ich das Weingut im Alleinerwerb fortführen kann. Aber eines werde ich ganz bestimmt nicht«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort: »Und zwar all die, die mir diese Aufgabe nicht zutrauen, in ihrer Meinung bestätigen, indem ich der Genossenschaft beitrete oder gar aufgebe.«

Nachdem ihre Mutter und Hermann gegangen waren, blieb Katharina allein unter dem hellgrünen Blätterdach der alten Linde sitzen. Es war ein milder Abend. In der Luft schwebte der Duft von Muskat und Honig. Er kam von den blühenden Holunderbüschen her, die hinter dem Haus standen. Hier im Hof war es schon dämmerig, während die Ahrberge in der Ferne noch im goldenen Licht der untergehenden Sonne lagen.

Katharina schenkte sich von dem Weißburgunder nach und ließ den Blick schweifen – über das stets sauber gefegte Basaltpflaster, die Natursteinwände des u-förmigen Gebäudes, an denen wilder Wein hochrankte, über die üppig wuchernden roten Geranien auf den Fensterbänken … Hier war ihre Heimat, die sie liebte, die ihr stets Sicherheit und Geborgenheit gegeben hatte. Im Moment jedoch fühlte sie sich wie auf einem Schiff im tobenden Meer. Ganz allein und ohne Kompass stand sie am Steuer dieses Schiffes – des Weinbaubetriebes, der nicht nur sie und ihre Mutter ernährte, sondern auch Hermann, Hedwig und die Arbeiter aus dem Tal. Sein Ertrag war abhängig vom Wetter, von der Wirtschaftslage und von den Kunden. Einst war das Weingut von ihrem Großvater gegründet worden, ihr Vater hatte es zum Erfolg geführt, und jetzt befand es sich kurz vor dem Untergang. Diesen Untergang musste sie verhindern.

Nachdem sie zwei Schlucke getrunken hatte, blickte sie hoch zu dem gläsernen Himmel, an dem sich bereits die schmale Sichel des Mondes zeigte. Sie atmete den Duft des Holunders tief ein, spürte die warme Luft auf ihrer Haut … Dieser Abend war viel zu schön für ihre schweren Gedanken. Er war vielmehr für die Liebe gemacht. Und wieder musste sie an den schönen Italiener denken, den sie gestern kennengelernt hatte. Luciano Pasini. Allein schon sein Name klang sehr sinnlich. Sie musste lächeln. Ob er auch noch an sie dachte ? Sollte sie tatsächlich übermorgen nach Bad Neuenahr fahren ? Was wäre, wenn sie sich gar verlieben würde ? Er arbeitete für vier Wochen als Aushilfe bei seinem Onkel. Und was würde danach sein ? Fragen über Fragen.

Katharina trank ihr Glas in einem Zug aus und stand auf. Schluss jetzt. Sie war müde. Ihr blieb noch genug Zeit, um für Samstag eine Entscheidung zu treffen.

Wie jeden Freitag gab es auch an diesem Abend im Hause Hammes geräucherte Ahrforelle mit Kartoffelsalat. Katharina und ihre Mutter saßen an dem langen Esszimmertisch aus Mooreiche.

»Ich habe Erna und Hanna von der Idee erzählt, ein Schneideratelier aufzumachen«, erzählte Martha. »Es wäre ja eine Möglichkeit, um Geld zu verdienen. Die beiden waren zuerst Feuer und Flamme, aber dann hat Hanna deswegen mit ihrem Mann einen heftigen Ehekrach gehabt. Ich hatte mir gleich gedacht, dass die Männer der beiden das niemals erlauben würden.«

Katharina hörte ihr kaum zu. Ihre Gedanken waren gerade wieder bei Luciano. In jeder freien Minute stand ihr sein Bild vor Augen, wie eine Melodie, die man nicht mehr aus dem Ohr bekam. Ob sie ihm so sehr gefallen hatte wie er ihr ? Wenn sie an ihn dachte, spürte sie ein Kribbeln im Bauch. So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt. Musste sie deswegen gegenüber Frank ein schlechtes Gewissen haben ? Nein, beschloss sie, während sie die Gabel zum Mund hob, das musste sie nicht.

»Sag mal, Liebes, hörst du mir überhaupt zu ?«, unterbrach da ihre Mutter in pikiertem Ton ihr stummes Selbstgespräch.

Katharina zuckte zusammen und sah sie an. »Natürlich, Mutter.«

»Stell dir vor«, fuhr Martha empört fort, »er verbietet Hanna zu arbeiten, und sie kann nichts machen. Steht so im Gesetz. Der Mann muss es erlauben.« Sie seufzte bekümmert. »Also, das finde ich nicht richtig. Wenn ich hätte arbeiten wollen, hätte dein Vater mir das niemals verboten. Aber Hannas Mann hat Angst, die Leute könnten denken, er verdient zu wenig und seine Frau muss deshalb mitverdienen.«

»Das würde ich mir niemals gefallen lassen«, entgegnete Katharina. »Gesetz hin oder her.«

»Du bist ja auch eine andere Generation. Frauen in meinem Alter lassen sich noch mehr gefallen.«

Katharina legte das schwere Silberbesteck zur Seite. »Das stimmt nicht. Ich habe heute Morgen beim Friseur gehört …«

»Du warst beim Friseur ?«, unterbrach ihre Mutter sie erstaunt. »Was hast du denn machen lassen ?«

»Nur ein paar Zentimeter abschneiden lassen.«

»Willst du dir nicht auch so einen schicken Kurzhaarschnitt machen lassen, wie man ihn heute trägt ?«

»Ich liebe meine Haare so, wie sie sind.«

»Wer trägt denn heute noch langes Haar ?«, fragte Martha mit zweifelndem Blick. »Mit dem langen Haar siehst du wild aus.«

Katharina lachte. »Mir gefällt’s. Außerdem trage ich ja meistens einen Zopf, oder ich stecke es hoch.«

Martha hob die Schultern. »Ich weiß nicht … Lotte und Ursel haben so moderne Schnitte. Vielleicht …«

»Mutter, lass es gut sein. Was ich dir eigentlich erzählen wollte: Frau Lehnert hat die Scheidung eingereicht – und sie ist bestimmt acht Jahre älter als du. Das nur dazu, dass sich Frauen aus deiner Generation mehr gefallen lassen.«

»Tatsächlich ?«, fragte ihre Mutter mit großen Augen. »Warum ?«

»Seit ihr Mann aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück ist, hat er sich zum Tyrannen entwickelt.« Katharina beugte sich vor. »Erinnerst du dich noch, wie Frau Lehnert während des Krieges die Holzhandlung am Laufen gehalten hat ? Wie sie geschuftet hat ? Vor einem Jahr hat Herr Lehnert wieder das Ruder in die Hand genommen und sie zurück an den Kochtopf gedrängt. Er hat sie des Büros verwiesen und gewährt ihr keine Einsicht mehr in die Bücher. Ist das nicht eine Unverschämtheit ? Nur ihr hat er es zu verdanken, dass die Holzhandlung den Krieg überhaupt überlebt hat.« Katharina redete sich immer mehr in Rage. »Ich sage dir, Mutter, das Problem liegt bei den Männern. Die kommen mit selbstständigen Frauen nicht zurecht.«

»Aber sich scheiden zu lassen«, staunte Martha. »Respekt. Da hat sie wirklich Mut. Als geschiedene Frau wird sie es nicht einfach haben. Die meisten werden schief angesehen.«

»Auch das wird sich in Zukunft ändern. Je mehr Frauen sich scheiden lassen, desto selbstverständlicher wird es irgendwann für die Gesellschaft sein.«

Im nächsten Moment klingelte das Telefon in der großen Diele. Katharina stand auf. »Ich gehe schon. Das ist bestimmt Ursel.«

»Ich bin’s – Ursel«, bestätigte ihre Cousine Katharinas Vermutung fröhlich. »Stell dir vor, ich habe heute die Führerscheinprüfung bestanden.«

»Herzlichen Glückwunsch«, erwiderte Katharina. »Ich habe dir die Daumen gedrückt.«

Ursel lachte. »Hat funktioniert. Morgen Mittag komme ich mit unserem Lieferwagen und hole dich ab. Dann machen wir einen Ausflug nach Bonn in die Eisdiele, wo ich schon ein paarmal mit einer Freundin gewesen bin. Da fühlst du dich wie in Italien. Dolce Vita, Espresso und Eis«, schwärmte sie.

»Nach Bonn ?«, wiederholte Katharina zögernd, denn in diesem Moment kam ihr eine Idee.

»Du Angsthase ! Ist dir das zu weit für deine erste Spritztour mit mir am Steuer ?«

»Na ja …«

»Meinetwegen, dann nicht so weit. Aber Bad Neuenahr muss es schon sein. Dann gehen wir dort ein bisschen bummeln.«

»Das klingt für den Anfang viel besser«, erwiderte Katharina mit zufriedenem Lächeln.

Am nächsten Nachmittag schlenderte Katharina mit ihrer Cousine, die mehr als einen Kopf kleiner war als sie und sehr viel rundlicher, untergehakt über die Kurgartenstraße in Bad Neuenahr. Zu ihrer Rechten lag das Thermalbadehaus mit seinen vier dorischen Säulen, danach folgten das Kurhotel und das Kasino; zu ihrer Linken erstreckte sich der Kurpark mit dem Lesesaal, den Trinkhallen und der Orchestermuschel. Die Leute saßen auf den Bänken in der Sonne oder spazierten unter den blühenden Bäumen her. Die Stadt verströmte die typische Leichtigkeit eines Kurbades.

»Schade, dass es hier keine Eisdiele gibt«, sagte Ursel, als sie über die Ahrbrücke in Richtung Stadtkern gingen.

»Vielleicht nächstes Jahr«, erwiderte Katharina, die voller nervöser Anspannung war. Wo mochte Luciano mit dem Eiswagen stehen ? Auf dem Marktplatz ? In der Poststraße ? Beim Bahnhof ?

»Lass uns mal durch die Telegrafenstraße gehen«, schlug Ursel vor. »Dort gibt es doch das schöne Modegeschäft.«

Als sie am Ende der Straße ankamen, hätte Katharina sie für diesen Vorschlag umarmen können. Sie liefen geradewegs auf einen hellblauen VW-Bus zu, auf dessen Kühlerhaube in den italienischen Nationalfarben Grün, Rot, Weiß »Die fahrende Eisdiele Rimini – Inh. Cesare Pasini« stand.

»Schau mal !«, rief Ursel begeistert aus. »Ich werd verrückt ! Das ist der Wagen von der italienischen Eisdiele in Bonn.«

Vor der Seitenfront des Busses, an der eine Verkaufstheke angebracht war, stand eine lange Schlange – und hinter der Theke Luciano in weißem Hemd, umwerfend attraktiv und in bester Laune. Wie Katharina jetzt auffiel, waren die meisten der Kunden junge Frauen, die er eine nach der anderen mit seinem besonderen Lächeln bedachte. Plötzlich spürte sie Ursels Ellbogen in der Seite.

»Der sieht ja toll aus !«, sagte ihre Cousine in beinahe andächtigem Ton, während sie sich in die Schlange einreihten. Katharina schwieg. Luciano hatte sie noch nicht entdeckt. Er war ganz in seine Tätigkeit versunken. Mit einigen jungen Frauen, die ihn anhimmelten, schäkerte er auch – was ihr einen feinen Stich versetzte. Sollte sie umkehren ? Keinesfalls wollte sie den Eindruck erwecken, als würde sie ihm nachlaufen. Doch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, entdeckte er sie. Auf seinem Gesicht spiegelte sich freudige Überraschung – und noch etwas anderes. Sie sah ihm deutlich an, dass sie ihm gefiel. Natürlich hatte sie sich für diesen Ausflug besondere Mühe mit ihrem Aussehen gegeben. Ihr Haar trug sie aufgesteckt, die weiße Bluse brachte ihren leicht gebräunten Teint und den roten Lippenstift zur Geltung, und die beigefarbene schmale Hose mit den Ballerinas dazu betonte ihre langen Beine.

»Der hat dich gerade angelächelt«, raunte Ursel ihr zu, während sie in der Schlange aufrückten. Katharina tat so, als hätte sie es nicht gehört. Ihr Herzschlag hatte einen beunruhigend schnellen Rhythmus angenommen, während sie darauf warteten, an die Reihe zu kommen.

»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte Luciano, als sie endlich vor der Theke standen. »Ich war mir nicht sicher.«

Katharina sah aus dem Augenwinkel, wie Ursel sie sprachlos anstarrte.

Sie lächelte Luciano an. »Meine Cousine hat gestern den Führerschein bestanden, und ich habe sie heute auf eine Spritztour nach Bad Neuenahr eingeladen.«

»Das ist tatsächlich ein Grund zum Feiern«, erwiderte Luciano. »Ich gratuliere Ihnen«, fügte er an Ursel gewandt hinzu. »Was wollen Sie denn haben ?«

Katharina sah ihre Cousine, die gerade so stumm war wie noch nie, auffordernd an. »Und ?«

»Ich … Hm, also, ich hätte gerne Erdbeere und Schokolade«, stammelte Ursel.

»Also Erdbeere und Schokolade«, wiederholte Luciano zwinkernd.

Katharina beobachtete, wie er mit seinen schönen Händen die cremige Masse mit dem Spachtel aus den Metalltöpfen nahm und in die Waffel füllte – ruhig, geradezu sinnlich, ohne Hast, trotz der langen Schlange.

»Bitte schön.« Er reichte Ursel das Eis über die Theke. »Das ist ein Geschenk des Hauses zur bestandenen Prüfung.«

»Danke schön.« Ursel lächelte strahlend zu ihm hoch. »Und das kostet wirklich nichts ?«

Luciano lachte. »Wirklich nichts.« Dann wandte er sich mit tiefem Blick an Katharina. »Und Sie ?«

»Nur Vanilleeis.«

»Das passt zu Ihnen.«

Katharina errötete. Als er ihr dann die Eiswaffel über die Theke reichte, hielt er sie noch zwei, drei Sekunden lang fest, sodass sich ihre Finger berührten. Ihre Blicke fanden sich. Es war ein Moment intimer Zweisamkeit, der Katharinas Herz ins Stolpern brachte.

»Morgen Nachmittag bin ich wieder in den Weinbergen«, erzählte Luciano wie nebenbei. »So gegen vier«, fügte er dann noch hinzu.

Katharina verstand die Botschaft. Sie scheute sich jedoch zu antworten: Ich werde auch da sein. Stattdessen nickte sie. »Das ist schön.«

Luciano hob die Hand. »Wiedersehen. Vielleicht bis zum nächsten Mal.«

»Was war das denn ?«, stieß Ursel hervor, als sie an der Kundenschlange vorbeigingen. »Habt ihr euch etwa gerade verabredet ? Woher kennst du den überhaupt ?«

Katharina bog mit ihr in die Seitenstraße ein und atmete erst einmal tief durch. »Komm, wir setzen uns dort auf die Bank und essen unser Eis«, schlug sie vor.

Außer Sichtweite des Eiswagens erzählte sie Ursel von ihrer ersten Begegnung mit dem Sizilianer.

»Der ist ja umwerfend«, sagte Ursel, die sich, nachdem gerade erst ihre Beziehung mit ihrem ersten Freund zerbrochen war, zurzeit nicht für Männer interessierte. »Der würde mir auch gefallen.«

Katharina leckte an dem cremigen Eis, ließ es auf der Zunge zergehen und ging in Gedanken noch einmal das kurze Gespräch mit Luciano durch.

»Und er ist nur für einen Monat hier ?«, hörte sie ihre Cousine fragen.

Sie nickte.

»Und dann ?«

»Dann fährt er wieder zurück nach Sizilien.«

»Du solltest dich in dieser Zeit auf alle Fälle mit ihm treffen. So einen Mann darfst du nicht einfach so ziehen lassen. Außerdem ist es ja wirklich so was wie Schicksal, dass unsere Mütter nächstes Wochenende für vierzehn Tage in Urlaub fahren. Da hast du sturmfreie Bude.«

Katharina lächelte schwach. »Du weißt, mein Vater hat nicht an Schicksal geglaubt.«

Ursel lachte ihr helles Lachen. »Wie auch immer … Nur – verlieben solltest du dich nicht in ihn. Die Italiener sollen sehr charmant und feurig sein, aber sie schäkern auch gerne.«

Katharina sah sie skeptisch von der Seite an. »Woher weißt du das denn ?«

»Aus unserem Laden. Da wird viel getratscht. Und wir haben doch inzwischen so viele Gastarbeiter in Deutschland.«

In der Nacht zum Sonntag hatte Katharina vor Aufregung kaum schlafen können. Einerseits war da die starke Anziehung, die Luciano auf sie ausübte, und der Wunsch nach der Wärme und Zärtlichkeit eines Mannes; andererseits jedoch war ihr auch bewusst, dass Luciano nur kurze Zeit in Deutschland sein würde. Und danach ?

Als sie sonntagmorgens aufwachte, regnete es in Strömen. Und das Anfang Juni, dachte sie enttäuscht. Ob Luciano bei diesem Wetter überhaupt kommen würde ?

Sie verbrachte den Vormittag im Kontor und wurde gegen Mittag immer unruhiger. Das Ahrtal versank inzwischen im Nebelmeer. Die grauen Schleier verwoben sich mit einer tief hängenden Wolkendecke. Feiner Nieselregen schluckte das spärliche Tageslicht und ließ die Welt trist erscheinen. Gegenüber dem Vortag waren die Temperaturen um zehn Grad gesunken. Dennoch machte sich Katharina, nachdem ihre Mutter zum Kaffeetrinken zu Nachbarn gegangen war, kurz vor vier auf den Weg. Nicht in geblümtem Sommerkleid und Pumps, wie sie vorgehabt hatte, sondern in Gummistiefeln und Regencape. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Auf dem matschigen Weg rutschte sie mehrmals auf ihren Gummisohlen aus und wurde mit jedem weiteren Schritt immer wütender auf sich, dass sie bei diesem Wetter überhaupt hier hinaufstieg, nur um einen Mann zu treffen, den sie kaum kannte. Inzwischen ging sie sogar davon aus, dass Luciano gar nicht kommen würde.