Grappa und der Sonnenkönig - Gabriella Wollenhaupt - E-Book

Grappa und der Sonnenkönig E-Book

Gabriella Wollenhaupt

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Beschreibung

Es lebe der König, der König tritt ab Die MeToo-Debatte erreicht Bierstadt: Kurz vor Beginn der Festspiele ›Summer-Pott‹ erhebt Schauspielerin Liane Licht schwere Vorwürfe gegen den Intendanten. Adalbert Engels soll regelmäßig sexuelle Dienstleistungen erpresst haben. Der leugnet selbstverständlich. Doch als sich Liane Licht das Leben nimmt, ist für Polizeireporterin Maria Grappa das Maß voll und sie setzt alles daran, der Öffentlichkeit das wahre Gesicht des sich selbst als ›Sonnenkönig‹ bezeichnenden Maestros zu zeigen. Inmitten von Silikonpuppen erfüllt sich dessen Schicksal … "Grappa ist eine Bank, ihr fiktives Bierstadt ist überall …" Thomas Friedrich, Ultimo über Grappa in der Schlangengrube

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Gabriella Wollenhaupt

Grappa

und

der Sonnenkönig

Kriminalroman

© 2019 by GRAFIT im Emons Verlag GmbH

Cäcilienstr. 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto: subbotina/123rf.com

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

eISBN 978-3-89425-752-1

Über dieses Buch

Die MeToo-Debatte erreicht Bierstadt: Kurz vor Beginn der Festspiele ›Summer-Pott‹ erhebt Schauspielerin Liane Licht schwere Vorwürfe gegen den Intendanten. Adalbert Engels soll regelmäßig sexuelle Dienstleistungen erpresst haben. Der leugnet selbstverständlich. Doch als sich Liane Licht das Leben nimmt, ist für Polizeireporterin Maria Grappa das Maß voll und sie setzt alles daran, der Öffentlichkeit das wahre Gesicht des sich selbst als ›Sonnenkönig‹ bezeichnenden Maestros zu zeigen. Inmitten von Silikonpuppen erfüllt sich dessen Schicksal …

Die Autorin

Gabriella Wollenhaupt arbeitete viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund. Ihre freche Polizeireporterin Maria Grappa hatte 1993 ihren ersten Auftritt. Mit Grappa und der Sonnenkönig stellt sie zum neunundzwanzigsten Mal ihre Schlagfertigkeit unter Beweis.

Zudem hat sich die Autorin gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz mit Blutiger Sommer auf einen Ausflug in den Vormärz und mit Schöner Schlaf in die Kunstszene begeben.

www.gabriella-wollenhaupt.de

Die Personen

Carsten ›Bärchen‹ Biber

ist voll integriert

Hans Damm

mausert sich zum guten Chef

Adalbert Engels

ist ein Sonnenkönig mit sehr dunklen Flecken

Maria Grappa

mag keine notorischen Grapscher

Simon Harras

mag noch nicht mal sich selbst

Renate Kleinert

hat wenig Freude im Leben

Friedemann Kleist

lässt seine Beziehungen spielen

Liane Licht

weiß keinen Ausweg mehr

Mareike

lässt sich nicht in die Suppe spucken

Oliver ›Olli‹ Moreck

mag originelle Lebensentwürfe

Wayne Pöppelbaum

zaubert mit seinen Fotos

Francesca Romero

will auf die Titelseiten

Sarah, Stella, Susi

entwickeln sich zum Trio Infernal

Adrian Schmaus

will nur helfen

Anneliese Schmitz

hilft mit gesundem Menschenverstand

Margarete Wurbel-Simonis     

muss sich durchsetzen

Udo ›Utze‹ Zorn

liebt die Kunst aus dem Norden

Die Frauen erfinden das, weil sie tief gekränkt sind, weil sie eine Rolle nicht bekommen haben. Wenn es zu Missverständnissen gekommen ist, entschuldige ich mich dafür. Wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes danebengegriffen habe, dann entschuldige ich mich. Ich entschuldige mich aber nicht bei jemandem, der etwas erfindet.

Gustav Kuhn,suspendierter Leiter der Erler Festspiele im TV-Interview

Es hat sich sehr schnell gezeigt, dass das Thema sexuelle Belästigung nur die Spitze des Eisbergs ist, hinter dem sich Machtmissbrauch, vielfältige Diskriminierungserfahrungen und eine Unzufriedenheit mit dem Betriebsklima verbergen. Sexuelle Belästigung ist eine sehr hässliche Form von Machtmissbrauch.

Monika Wulf-Mathies,Sonderermittlerin beim Westdeutschen Rundfunk

Ein schönes Lebensgefühl

»Frau Grappa, ich muss Sie unbedingt sprechen.«

Wie oft hatte ich diesen Satz in den letzten Jahren gehört?

»Um was geht es denn?«, wollte ich wissen.

»Das kann ich Ihnen am Telefon schlecht sagen«, behauptete die Männerstimme. »Aber ich weiß, dass Sie interessiert sein werden.«

»Geben Sie mir ein Stichwort«, forderte ich.

Er zögerte und sagte dann: »Der Begriff ›Me-too‹ sagt Ihnen was?«

»Sicher. Sind Sie ein Betroffener?«

»Nicht direkt. Es geht um die Bierstädter Festspiele im Sommer.«

»Den Summer-Pott?«

»Genau.«

»Und wer wird da von wem belästigt?«

»Das sage ich Ihnen, wenn wir uns treffen.«

»Okay. Kommen Sie in einer Stunde zum Verlagshaus und warten Sie in der Kantine auf mich. Der Pförtner zeigt Ihnen den Weg.«

Ich brauchte Infos von Wurbelchen. Kulturredakteurin Dr. Margarete Wurbel-Simonis war an diesem Morgen früher in die Redaktion gekommen, um eine Premierenkritik zu Rossinis Barbier von Sevilla in der Oper zu verfassen. Dazu brauchte sie Ruhe und nicht die Geräuschkulisse, die ab Mittag in dem Großraumbüro herrschte.

»Mäggi, was ist los?«, begrüßte ich sie. »Du siehst irgendwie anders aus.«

Sie blickte über den Rand des goldenen Brillengestells. »Ich war beim Friseur.«

»Das passt zum Thema«, stellte ich fest. »Nimmst du demnächst auch Flötenunterricht, bevor du Mozarts Zauberflöte rezensierst?«

»Sehr witzig, Grappa. Kann ich jetzt weitermachen?«

»Nein. Ich muss dich was fragen.«

Ich berichtete ihr von dem Anruf.

»Me-too beim Summer-Pott?«, lachte sie. »Sexuelle Übergriffe? Wer soll denn das Opfer sein?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Das wird den Sonnenkönig nicht freuen, wenn sein Laden in Verruf gerät«, prophezeite sie.

»›Sonnenkönig‹?«

»Adalbert Engels, der Intendant. Er hat das Festival erfunden. Ich hatte ein paar Mal mit ihm zu tun, was allerdings kein Vergnügen war. Aber seinen Spitznamen, den mag er. Streichelt seine Eitelkeit.«

»Kann ich mir vorstellen«, meinte ich. »Was weißt du noch?«

Mäggi rümpfte die Nase. »Er soll die Sänger und Schauspieler wie Untergebene behandeln. Aber das ist in der Branche üblich. Die Chefs fühlen sich alle wie Könige. Leider ist das künstlerische Angebot gar nicht königlich, sondern eher unterschichtkompatibel. Das Programm beschränkt sich auf Operettenabende, ältliche Theaterstücke und Musicalshows. Der Bierstädter Kulturverein vermarktet das Ganze im Auftrag der Stadt, karrt die meist älteren Besucher mit Bussen zu den Vorführungen in den Stadtteilen und bringt sie nachher wieder zurück. Der Sonnenkönig verantwortet von den Veranstaltungen nur das Musical Die Schöne und das Biest, bei dem er Regie führt, den Rest überlässt er seinen Untertanen in den Vororten. Aber das Konzept ist erfolgreich. Über magere Besucherzahlen kann sich der Verein nicht beschweren – die Vorstellungen sind meist ausverkauft. Das Musical ist in diesem Jahr natürlich der Hauptakt.«

»Dann bin ich mal gespannt, was der Anrufer auf der Pfanne hat. In der Konferenz halte ich mich aber besser noch bedeckt.«

»Gut so«, nickte Mäggi. »Damm mag solche Storys nicht.«

Verleger Hans Damm führte nach dem unschönen Sturz der letzten Redaktionsleiterin das Tagesgeschäft. Sein Bestreben war es, das Bierstädter Tageblatt mit harmlosen Themen zu füllen. Dabei standen der Sport und die Mitteilungen des städtischen Presseamtes im Mittelpunkt. Blaulicht, Skandale und kritische Meinungsäußerungen rangierten auf den hinteren Plätzen der Verlegergunst. Der Mantelteil mit den Ressorts Politik, Wirtschaft, überregionale Kultur und Sport wurde sowieso schon von einem anderen Verlag zugeliefert und bestand hauptsächlich aus den Meldungen der großen Presseagenturen. Den Leserinnen und Lesern schien der inhaltliche Niedergang des Tageblattes allerdings egal zu sein. Die Printauflage war zwar zurückgegangen, doch die Zahl der Kunden, die sich die Zeitung als ePaper ins Haus holten, stieg an.

»Guten Tag, verehrte Kolleginnen und Kollegen«, begrüßte uns Damm. »Heute ist ein wundervoller Frühlingstag und dieses Gefühl wollen wir in Schrift und Bild an unsere Leser weitergeben. Wie wäre es mit einer Bildreportage über die emsigen Kleingärtner in unserer Stadt? Laut Presseamt gibt es fast hundertzwanzig Gartenvereine in Bierstadt. Auf einer Fläche von über vier Millionen Quadratmetern Pachtfläche befinden sich über achttausend Gärten. Ist das nicht sensationell?«

Niemand in der Runde konnte Damms Begeisterung teilen. Fotograf Wayne Pöppelbaum war beim Begriff Bildreportage tief in seinen Stuhl gerutscht, Sekretärin Susi verdrehte die Augen, ihre Kollegin Sarah gähnte, Wurbelchen hüstelte, Simon Harras kratzte sich am Kinn, ich grinste.

Doch dann rief Bärchen Biber: »Ein gutes Thema, das prima zum Tag passt. Ich würde das gern übernehmen, Herr Damm. Die Fotos mache ich auch selbst.«

Ich applaudierte und nach und nach taten es die Kollegen mir nach. Jeder war froh, dass es ihn nicht getroffen hatte. Der kleine Schleimer hatte uns gerettet.

Doch die Show war noch nicht zu Ende. Der Verleger hatte nicht nur ein Herz für Blümchen, sondern auch für die Kultur. Das wurde von Margarete Wurbel-Simonis zwar geschätzt, aber auch gefürchtet, denn Damms Faible galt der Oper und er hielt sich für einen Experten.

»Der Barbier von Sevilla!«, schleuderte Damm in den Raum. »Die Premiere am Sonntag war eine Zumutung! Ich hoffe, Sie sehen das auch so, Frau Kollegin.« Er sah Mäggi direkt an.

Prompt bekam sie hektische Flecken auf dem Dekolleté – ein sicheres Zeichen für eine Widerspruchsexplosion. »Das sehe ich ganz anders, Herr Damm. Ich habe mich bestens unterhalten gefühlt und kann diese außergewöhnliche Inszenierung nur empfehlen.«

»Das war dilettantische Augsburger Puppenkiste!«, widersprach Damm. »Wie kann man Sänger an Fäden über die Bühne führen? Was soll der Blödsinn?«

»Das können Sie morgen in der Zeitung lesen, die Ihnen gehört. Und zwar im Kulturteil«, schnippte Mäggi.

»Mozart ist doch immer schön«, meinte Sportredakteur Simon Harras. »Die Melodien kann sogar ich mitsingen.«

»Rossini, Herr Kollege!«, korrigierte Damm. »Rossini!«

»Stimmt! Ich verwechsle den Barbier immer mit Figaros Hochzeit.«

»Sie sollten dringend bei Sportberichten bleiben, Herr Harras«, echauffierte sich der Verleger.

»Das sehe ich auch so«, grinste Simon. »Ich hole mir jetzt einen Kaffee und geh dann arbeiten. BVB-Pressekonferenz. Nicht Besonderes. Es geht nur um ein paar Millionen Euro für einen neuen Spieler. Lasst euch bitte nicht stören beim Kulturplausch.« Er rauschte ab.

Sarah massierte ihre Finger mit Hautcreme, Susi begann ein Spiel auf dem Handy, Bärchen Biber knibbelte an einem Pickel und unterdrückte ein Gähnen.

»Natürlich hatte ich zunächst auch Vorbehalte beim Barbier«, blieb Mäggi beim Thema. »Sänger und Sängerinnen als Marionetten und ein Erzähler, der die Handlung erklärt. Gewöhnungsbedürftig. Doch schon nach den ersten Minuten war ich begeistert. So muss moderne Oper sein. Ich hatte einen rundum wundervollen Abend. Und genau das werde ich schreiben, Herr Damm. Das nennt man Meinungsfreiheit.«

»Verschonen Sie mich mit Ihren Belehrungen, Frau Dr. Wurbel-Simonis«, sagte Damm mit eisigem Blick. »Hier dürfte es wohl eher um Geschmack gehen.«

»Dann schreiben Sie doch auch eine Kritik, Herr Damm«, schlug ich vor. »Pro und Kontra. Meinungsvielfalt gefällt den Lesern.«

»Dazu fehlt mir leider die Zeit«, wehrte er ab.

Mäggi warf mir einen triumphierenden Blick zu. Die erste Runde ging an sie.

»Hat sonst jemand eine Idee zur Gestaltung der morgigen Ausgabe?«

Volontärin Mareike meldete sich. »Ich hätte vielleicht ein Thema. Eine Hauptschule am Hafen schließt Schüler vom Unterricht aus, die zu spät kommen oder keinen Bock auf Schule haben. Eine erzürnte Mutter hat mir das gestern erzählt. Ihr Sohn kam erst zur zweiten Stunde und konnte gleich wieder nach Hause gehen.«

»Geht das denn so einfach?«, fragte Bärchen Biber. »Was sagt denn die Schulaufsichtsbehörde dazu?«

»Das muss ich noch recherchieren«, gab Mareike zu. »Aber über die Hauptschule weiß ich schon was. Neunzig Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund und achtzig Prozent der Familien leben von Hartz IV.«

»Bildungsferne Schichten können sich nur schwer an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen«, nickte Damm leicht angeekelt. »Aber ein gutes Thema. Wenn Sie allein nicht klarkommen mit der Geschichte, fragen Sie mich. Ich helfe Ihnen gern. Meine Tür steht offen.«

Mareike starrte Damm an. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.

»Und jetzt einen schönen Tag. Ich teile Ihnen später per Mail die Zeilen zu.« Der Verleger packte seinen Block und verschwand.

Belle und das Biest

»Die Konferenzen werden immer anstrengender«, meinte Bärchen Biber wenig später im Großraumbüro.

»Für dich doch nicht«, entgegnete ich. »Du bist doch der Meister des Opportunismus.«

»Das ist kein Opportunismus, Grappa«, sagte er. »Sondern Überlebensstrategie. Damm will nämlich verkaufen, so hört man. Diese Zeitung ist bald weg vom Fenster – wetten?«

»Und du hoffst, vom neuen Besitzer übernommen zu werden?«, hakte ich nach.

»Wer denn, wenn nicht ich?«, grinste er. »Und jetzt muss ich mich um meine Kleingärtner kümmern und ein positives Lebensgefühl verbreiten. Ganz wie der Herr Verleger es wünscht.« Er deutete einen Kratzfuß an und griff zum Telefon.

»Zynischer Kotzbrocken!«, entfuhr es mir.

»Er will sich nur wichtigmachen«, rief Sekretärin Sarah durch den Raum. »Wisst ihr eigentlich, warum Damm selbst keine Artikel schreibt?«

Wayne, Wurbelchen, Mareike und ich verneinten.

»Damm hat eine Rechtschreibschwäche«, behauptete Sarah. »Seine Sekretärin überprüft jedes Schreiben, das er verfasst. Sie jagt das Rechtschreibprogramm drüber und macht den Rest von Hand schön.«

»Hauptsache, er kann Zahlen lesen«, kommentierte Wayne trocken. »Und hoffentlich nicht nur die roten.«

»Legasthenie ist eine Krankheit«, bemerkte Mareike. »Da kann er doch nichts dafür. Ich finde es nett, dass er mir helfen will.«

Bärchen musterte sie. »Das liegt wohl hauptsächlich an deiner … äh …«, er musterte ihre Oberweite, »… Ausstrahlung, Mareike. Da kriegt sogar der alte Damm Frühlingsgefühle.«

»Grappa!«, rief Susi. »Der Pförtner hat grad angerufen. Ein Herr Schmaus wartet in der Kantine auf dich.«

Schmaus? War das mein Me-too-Informant? Erst jetzt fiel mir auf, dass ich beim Telefongespräch nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Schmaus – das klang nett. Was es wohl heute Mittag in der Kantine gab? Ich tippte auf vegetarische Lasagne, die die klein geschredderten Gemüsereste der vergangenen Woche zwischen die Pastablätter gedrückt bekommen hatte.

Mir war sofort klar, wer mein Informant war. Das war keine Kunst, denn außer ihm saß niemand in der Kantine. Er drückte Kondensmilch in seinen Kaffee.

Ich trat zum Tisch. »Herr Schmaus? Haben wir heute früh telefoniert?«, fragte ich.

»Ja. Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«

Wir gaben uns die Hände. Endlich mal ein Kerl mit einem festen Händedruck! Ich hasste die toten Fische, die mir manchmal gereicht wurden.

»Kommen wir doch gleich zum Thema«, begann ich.

Er nahm die Aktentasche vom Stuhl und holte ein Tablet heraus. Seine Hände waren feingliedrig und gepflegt, sein Haar dunkel und leicht gewellt und der Teint leicht gebräunt. In jüngeren Jahren hätte ich Schnappatmung bekommen, doch die Zeiten waren vorbei. Aber gucken war auch schön.

»Es geht um die Festspiele – aber das wissen Sie ja schon. Ich arbeite dort als Sänger in dem Musical Die Schöne und das Biest. Ich bin das Biest.«

»Erstaunlich.« Das musste einfach raus. »Als Biest kann ich mir Sie nicht wirklich vorstellen.«

»Na ja, das Biest ist ja nicht wirklich eins, sondern ein verzauberter Prinz, der durch die Liebe einer jungen Frau, sie heißt Belle, entzaubert wird. Ich muss fast das ganze Stück eine hässliche Maske tragen.«

»Das tut mir sehr leid für die Zuschauer.«

Er lachte. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Die Mundpartie bleibt frei, sonst könnte ich ja gar nicht singen.«

»Das klingt logisch.«

»Kennen Sie das Musical?«

»Nur vom Hörensagen. Ich war nie drin. Muss ich aber unbedingt nachholen – der Plot klingt ja total originell.«

Er kapierte die Ironie nicht.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Es geht um sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch. Wir proben das Musical seit einigen Wochen und es passieren Dinge, die in die Öffentlichkeit gehören, damit sie aufhören. Die Rolle der Belle wird von Liane Licht verkörpert, einer jungen Sängerin. Es ist ihre erste größere Rolle. Ich habe ein Foto von ihr. Das ist sie.«

Schmaus öffnete eine Fotodatei. Belle. Zart, blond, sinnlicher Mund und blaue, große Augen.

»Eine schöne Frau. Ist sie das Opfer?«

»Ja.«

»Und wer ist der Täter?«

»Adalbert Engels.« Er präsentierte das Bild des Intendanten: um die sechzig, verlebtes Gesicht, geschwollene Tränensäcke, Hängebacken, schütteres weißes Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Seine kleinen Schweinsäuglein blickten provozierend in die Kamera.

»Was hat er getan?«

»Er hat sie sexuell bedrängt und tut es noch.«

»Wehrt sie sich nicht?«

»Liane hat Angst. Sie weiß nicht, dass ich hier bin, und darf es auch erst einmal nicht wissen. Sie halten sich doch an den Informantenschutz, oder?«

»Ich hab ja bisher nichts erfahren – außer einer pauschalen Behauptung.«

Er nahm einen Schluck Kaffee, tippte erneut auf seinem Tablet herum und schob es mir hin.

»Gucken Sie sich das Video an. Ich habe den Film während einer Probe gemacht. Liane singt die Belle, wir alle hören zu.« Sein Zeigefinger berührte erneut die Tabletoberfläche. »Engels sitzt hier, mit dem Rücken zur Kamera. Es handelt sich um die erste Szene des Musicals.«

Dorfkulisse.

Liane Licht tritt aus einem kleinen Haus, läuft los und singt: »Unsere Stadt ist ein ruhiges Dörfchen, jeder Tag bringt dasselbe nur, unsere Stadt voller kleiner Leute, stets borniert und stur.«

Die Statisten rufen: »Bonjour! Bonjour! Bonjour! Bonjour! Bonjour!«

»Da ist der Bäcker wie an jedem Morgen«, singt Liane weiter. »Mit seinen Broten hier zur Stell, So geht’s tagaus, tagein, seit wir hier trafen ein, in der Stadt am End der Welt …«

»Stopp, stopp, stopp!«, schreit eine Männerstimme.

Liane Licht schreckt zusammen.

»Schätzchen, was ist los? Hast du die Nacht durchgemacht? Oder hast du deine Tage?«

Licht bringt keinen Ton heraus.

»Du kriegst zu wenig Luft bei den hohen Tönen, die ja nun weiß Gott nicht schwer zu singen sind. Und du bist zu schnell. Wenn das so weitergeht, lasse ich die Zweitbesetzung holen«, schimpft der Intendant weiter.

»Aber gestern warst du doch zufrieden und …«

»Gestern ist gestern und heute ist heute«, tobt Engels. »Ich verlange gleichbleibende Leistung, Schätzchen, sonst ist bald Schicht im Schacht. Ich gebe dir hier die Chance deines Lebens, aber das hast du wohl nicht kapiert! Und jetzt weiter!«

Engels wendet sich von ihr ab und sagt halblaut zu dem Mann am Regiepult: »Die Kleine ist wohl untervögelt.« Der Intendant lacht dreckig.

Adrian Schmaus stoppte die Show. »In diesem Stil ging es weiter, bis Liane weinend die Probe verließ.«

»Das Video beweist nur, dass Engels ein ungehobeltes Macho-Arschloch ist, das gerne Leute schindet«, sagte ich. »Das ist zwar widerlich, aber nicht verboten.«

»Er hat sexuelle Dienste von ihr verlangt. Am Vorabend der Probe hat Engels Liane bedrängt und Oralverkehr gefordert, aber sie hat sich geweigert. Er hat ihr mit Rausschmiss gedroht. Sie war total fertig. Direkt danach folgte diese Probe, die Sie eben gesehen haben.«

»Wann ist das passiert?«

»Vor drei Wochen.«

»Offenbar haben sich die Wogen inzwischen geglättet, denn sie hat die Rolle ja noch«, stellte ich fest. »Haben die beiden sich wieder zusammengerauft?«

»Nein, im Gegenteil. Das Ganze ist eskaliert. Nach der Probe ist Liane zu Engels’ Hotel gegangen, um mit ihm zu reden. Sie redeten auch. Er machte ihr klar, dass sie die Rolle verliert, wenn sie sich nicht mit ihm einlässt. Dann hat er sie vergewaltigt. Sie wirkte regelrecht traumatisiert, als sie mir davon erzählte.«

Ich musterte Schmaus. Er erzählte so sachlich, als sei er Zeuge eines Verkehrsunfalls gewesen.

»Warum geht Frau Licht nicht zur Polizei? Vergewaltigung und sexuelle Nötigung sind Offizialdelikte. Da muss ein Staatsanwalt ermitteln – sogar wenn die Anzeige anonym erstattet wird.«

»Sie hat Angst und schämt sich. Sie weiß, dass ihr nächtlicher Besuch in seinem Zimmer ein Fehler war. Er hat ihr außerdem nicht nur mit Rausschmiss gedroht, sondern auch mit einer Anzeige wegen falscher Beschuldigung.«

»Gibt es irgendwelche Beweise für die Vergewaltigung – außer Lichts Behauptungen? Vielleicht neigt sie ja zur Hysterie oder sie will Engels fertigmachen, weil er sie kritisiert hat?«

»Das macht Liane nicht. Sie ist ein ehrlicher Mensch.«

»In welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zu ihr?«

»Ich kenne sie seit der Folkwangschule«, antwortete Schmaus. »Wir haben beide dort Musical studiert.«

»Haben Sie eine sexuelle Beziehung zu ihr?«

»Nein, ich bin schwul.«

»Wie schade«, nickte ich.

»Helfen Sie mir? Bringen Sie die Geschichte?«

Ich musste nicht lange überlegen. »Nein. Die Faktenlage ist zu dünn. Ich kann aufgrund Ihrer Behauptungen keinen Menschen in Verruf bringen. Bringen Sie mir Beweise für die sexuellen Übergriffe oder schicken Sie Frau Licht zu mir, damit ich mir selbst ein Bild von ihr machen kann.«

Bettkarrieren

Am Nachmittag bat ich Kulturfrau Mäggi um ihre Einschätzung. Sie kannte sich in Theaterkreisen besser aus als ich.

»Ach, Grappa«, seufzte sie. »Überall wo junge Frauen auf ältere Männer in Machtpositionen treffen, gibt es solche Skandale. Und nicht immer sind die Männer schuld. Viele Karrieren gehen durchs Bett, Augen zu und durch … für eine Hauptrolle.«

»Es gibt aber bestimmt viele Frauen, die das nicht machen wollen und trotzdem bedrängt werden – oder Schlimmeres«, widersprach ich. »Sonst würde es die weltweite Me-too-Bewegung nicht geben. Denk mal an den WDR und die Alphatier-Affäre. Antatschen, anzügliche Bemerkungen, nächtliche Einladungen ins Hotelzimmer zum Pornofilmgucken – und der Sender will vertuschen und diszipliniert die, die solche Vorfälle melden.«

»Pornofilme?« Simon Harras war zurück von seinem Termin und hellhörig – wie immer, wenn es um sexuelle Themen ging. »Wo? Hier beim Tageblatt?«

»Nein, wir reden über Mäggis Premierenkritik.«

»Figaros Hochzeit«, nickte er. »Kommen denn da Pornofilme vor?«

»Pornofilm ist nur eine Metapher«, erklärte ich. »Du verstehst?«

Tat er zwar nicht, aber er nickte prophylaktisch. »Früher ließen die Kerle auch nichts anbrennen, wenn sie eine scharfe Schnecke vor der Flinte hatten.«

Mäggi verdrehte die Augen nach oben. Wir wussten beide, dass bei Simon in Sachen Kultur Hopfen und Malz verloren waren.

»Hältst du es für möglich, dass Engels so gewalttätig ist?«, fragte ich einen Grad leiser.

»Von sexuellen Übergriffen hab ich im Zusammenhang mit seinem Namen noch nichts gehört. Aber das heißt nicht, dass es sie nicht gibt. Engels hat sicherlich viel Erfahrung im Business, aber bis ganz nach oben hat er es nicht geschafft. Er kann charmant sein, aber auch ungerecht, jähzornig und derb. Er duldet keine Widerworte und nimmt keine Kritik an.«

»Ein echter Sympathieträger«, stellte ich fest. »Ich hätte nicht übel Lust, ihm doch in die sonnenkönigliche Suppe zu spucken.«

»Sind die Fakten nicht ein bisschen dünn?«, sprach Mäggi meine eigenen Bedenken aus.

»Stimmt. Wenn mein Informant das Opfer nicht dazu bringt, sich bei mir zu melden, hat sich die Sache erledigt. Vielleicht ist alles nur eine Intrige. Informationen aus zweiter Hand sind dubios und halten einer Überprüfung oft nicht stand. Die Frau muss zu ihren Beschuldigungen stehen.«

Ich verzog mich in mein Zimmer und beschäftigte mich mit Büroarbeit. Spesenabrechnungen und Fahrtenbuch wollten bearbeitet sein. Leider schaffte ich es nicht, Schmaus’ Vorwürfe aus dem Kopf zu bekommen, und gab die Wörter Adalbert Engels in eine Suchmaschine. Vielleicht ließen sich in den Tiefen des Internets Informationen über Engels’ Umgang mit Frauen finden. Wer mit über sechzig Jahren junge Frauen belästigt oder sogar missbraucht, hat das auch schon vorher gemacht, dachte ich.

Das Onlinelexikon Wikipedia wusste einiges über den Mann:

Adalbert Engels ist ein österreichischer Dirigent und Regisseur, daneben auch Komponist und als Lehrer und Autor tätig. Während seiner internationalen Dirigentenlaufbahn gründete er für junge Musiker und Sänger die Accademia di Monteverdi. Viele Festspiele standen unter seiner künstlerischen Leitung und er betreut den internationalen Gesangswettbewerb Junge Stimmen der Bertelsmann-Stiftung.

Seine beruflichen Stationen waren beeindruckend. Er hatte bei Karajan studiert, Opern inszeniert und sich um den Nachwuchs gekümmert. Er war einige Male verheiratet gewesen und hatte mit zwei Sängerinnen Nachkommen gezeugt.

Eins der Zitate, die seine Homepage zierten, lautete:

Musik ist die meist gesprochene Sprache auf dieser Welt. Musik ist Liebe, Liebe ist Musik, Musik ist Leben und ich liebe mein Leben.

Aha. War der Satz ein Hinweis? Nein, war er nicht. Ich holte mir einen Text nach dem anderen auf den Monitor, nichts Verwerfliches.

Doch dann stieß ich auf einen Artikel in einer österreichischen Lokalzeitung. Eine Sängerin beschuldigte Engels eines Übergriffs.

Herr Engels hat mir während eines bis dahin ganz normalen Gesprächs zwischen die Beine und unter den Pullover gegriffen, außerdem hat er versucht, mich zu küssen.

Der Vorfall habe sich auf einem Anwesen in der Toskana ereignet. Es sei üblich gewesen, so die Sopranistin, dass Mitglieder des Ensembles zu Proben dorthin fuhren. Sie habe nach dem Übergriff alle bestehenden Vereinbarungen und Verträge, die mit Engels zu tun hatten, gelöst.

Die Beschuldigung der Frau hatte zu keinen Konsequenzen geführt: Engels bestritt die Vorwürfe und unterstellte der Sängerin Lüge und Rachsucht, weil sie eine Rolle nicht bekommen habe. Sein damaliger Arbeitgeber reagierte nicht und die Sache verlief im Sand. Das angebliche Opfer war für die Medien nicht mehr erreichbar.

Wer zu spät kommt, kann wieder gehen

Mareike kam aufgeregt von ihrem Termin in der Grundschule zurück. Sie musste sechzig Zeilen abliefern – der Platz im Layout war noch frei. »Kannst du mir helfen, Grappa?«

»Wieso ich? Der Verleger hat dir doch seine Hilfe angeboten«, erinnerte ich sie. »Was hat er noch gesagt? Meine Tür steht offen.«

»Lieber nicht«, entgegnete die Volontärin. »Damit hab ich schlechte Erfahrungen gemacht.«

»Mit offenen Türen oder älteren Herren?«

»Mit Letzteren. Die werden schnell sehr zutraulich.«

»Sag mal, würdest du für deine Karriere mit einem Kerl ins Bett steigen?«, fragte ich.

»Haha«, lachte sie. »Du meinst doch wohl nicht mit dem alten Damm?«

Ich schluckte. Sie nannte Damm alt, dabei war er ein paar Jahre jünger als ich.

»Natürlich nicht. Damm ist harmlos. Ich dachte an die Me-too-Geschichten, die jetzt überall diskutiert werden.«

»Als mir mal ein Chef an den Hintern gepackt hat, hab ich ihm eine geschallert«, antwortete sie. »Danach war Ruhe. Allerdings vor allem, weil ich in eine andere Redaktion versetzt wurde. Und das war gut so. Liest du meinen Artikel gleich gegen?«

Wer zu spät kommt, kann wieder gehenRektor sperrt Schüler aus

– titelte Mareike.

Weil sich die Schüler nicht um den Unterrichtsbeginn scherten, griff der Rektor der Hauptschule am Hafen zu einem drastischen Mittel: Aussperrung und warten bis zur nächsten Stunde. Rektor Hollenstein: »Der Unterricht ist anders nicht mehr durchzuführen. Alle naslang geht die Tür auf, ein Schüler schlurft in die Klasse und der Unterricht wird unterbrochen. An manchen Tagen sperren wir rund dreißig Schüler aus.«

Die Hauptschule wirkt nicht wie eine Schule, sondern eher wie ein Knast. Haupttor und der Nebeneingang sind vergittert, das Gelände verschmutzt, die Wände beschmiert und die wenigen Sitzbänke demoliert.

»Das sieht hier schon seit Jahren so aus«, berichtet Rektor Hollenstein. »Reparaturen machen keinen Sinn. Schon Stunden später ist alles wieder kurz und klein geschlagen.«

Mindestens neunzig Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund und mindestens achtzig Prozent der Schüler bekommen Sozialleistungen. Bulgaren und Rumänen leben vom Kindergeld und Hartz IV. Auf einen Brief des Rektors an die Eltern der Kinder kam keine Antwort.

Die Aussperrung ist laut Schulministerium Nordrhein-Westfalens rechtlich legitim. Einen Tag bis zu zwei Wochen kann ein Schüler von einem Schulleiter von der Schule ausgeschlossen werden – als Ordnungsmaßnahme. Ein Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung.

»Hast du doch gut hingekriegt«, lobte ich Mareike. »Jetzt noch ein paar Fotos von den lieben Kleinen und der Trümmerschule. Dann ist der Drops gelutscht.«

Traumfrauen im Puppen-Puff

Mein Golf Cabrio gab einen merkwürdigen Ton von sich, als ich den Motor startete. Es hörte sich an wie das trockene Husten eines alten Mannes. Bald ist ein neues Auto fällig, dachte ich.

Ich bog vom Parkplatz auf die Straße. Der Lebensmittelsupermarkt lag auf dem Weg nach Hause und hatte bis zwanzig Uhr geöffnet.

Ich kaufte zwei Flaschen Wein, Rucola, Brot und Käse und für ihn ein Steak. Während ich versuchte, immer weniger Fleisch zu essen, beharrte Friedemann Kleist störrisch auf Hüftsteak aus der Pampa Argentiniens. Männer!

Die Straße in den Süden der Stadt war in meiner Richtung frei, die Gegenseite verstopft. Heute Abend fand ein Champions-League-Heimspiel des BVB statt. Das Tageblatt hatte die Aufstellung bereits gemutmaßt und damit viel Netzgeschrei ausgelöst. Beim Fußball wussten immer alle alles besser. Immerhin war der jetzige Trainer beliebter als sein Vorgänger, der es nur kurz in den Job geschafft hatte. Vielleicht lag das nur an dem charmanten französischen Akzent des Neuen.

Kleist war nicht zu Hause. Ich fand eine Nachricht, dass er an der Abschiedsfete eines seiner Studenten teilnahm, der die Prüfung in Kriminalwissenschaften mit Bestnote abgeschlossen hatte. Prompt fand ich diese Nachricht auch auf meinem Handy, ich hatte sie übersehen.

Die Post lag auf dem Küchentisch. Kataloge, Handyabrechnung und ein grell aufgemachter Werbeflyer für ein Etablissement, das den vielsagenden Namen Bordoll trug – die Mischung aus Bordell und doll, was so viel wie Puppe hieß. Ein Puppen-Puff.

Der Inhaber war ein Mann namens Oliver Moreck, die offizielle Eröffnung des Bordolls wurde für nächste Woche angekündigt.

Ich las:

Wir heißen dich herzlich willkommen im ersten und größten Etablissement Deutschlands, in dem heiße Sex-Dolls für dich und deine Lust zur Verfügung stehen.

Ich öffnete die Flasche Pinot grigio, wusch den Rucola, rührte eine Soße an, warf Käse und Brot auf einen Teller und stellte alles neben meinen Laptop. Dann lud ich die Homepage des Ladens auf den Monitor.

Die Dolls waren in eindeutigen Posen fotografiert, die Brüste romantisch in Szene gesetzt. Meist Riesendinger in Spitze oder Lack und Leder, freischwebend oder hängend.

Unsere Damen sind echte Traumfrauen – für jedermann ist garantiert etwas dabei und sie sind selbstverständlich immer willig, unkompliziert und absolut tabulos.

Super, dachte ich, hier wird das Frauenbild auf das reduziert, was sich manche Männer wünschen: Eine Frau hat willig, unkompliziert und absolut tabulos zu sein.

Plötzlich hatte ich das Gesicht von Simon Harras vor Augen, der sich in den letzten Jahren vom fröhlichen Kollegen zum verbitterten Zyniker gewandelt hatte. Dessen Sprüche über Frauen ähnelten diesem Werbetext, was seine Chancen beim anderen Geschlecht nicht gerade vergrößerte.

In dem Geschäft mit den Puppen waren auch technische Daten von Bedeutung.

Unsere Liebespuppen bestehen aus erstklassigem medizinischen Makromolekülsilikon, das bis zur 5,5-fachen Länge im Erweichungsbereich bis zu 0-100A gestreckt werden kann, um dauerhaften Service ohne jeglichen Schaden für Menschen zu bieten – zertifiziert durch ROHS, REACH und FDA. Die Körpergelenke sind aus künstlichem Multiplexmetall von der neuesten professionellen Technologie. Dies stellt sicher, dass die Gliedmaßen frei erweitert werden können, um alle möglichen sexuellen Posen zu schaffen. Die Liebespuppen haben außerdem keinen unangenehmen chemischen Geruch – nicht wie die herkömmlichen aufblasbaren Gummipuppen.

Ich hörte ein Geräusch an der Tür, Kleist kam nach Hause.

»Was schaust du dir denn da an?«, fragte er, schon hinter mir stehend.

»Das ist Diego«, antwortete ich. »Gut bestückt und heißer Body – so steht es im Katalog. Ich überlege, ob ich ihn mal besuchen soll. Er ist willig, immer gut drauf, gibt keine Widerworte, schmutzt nicht und braucht weder Essen noch Trinken. Der perfekte Mann!«

»So ein Milchgesicht«, grinste Kleist müde. »Er könnte dein Enkel sein, Maria!«

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Ich bin geschafft«, gab er zu, »Partys mit jungen Leuten sind nichts mehr für mich. Ich muss ins Bett. Kann ich dich mit Diego allein lassen?«

Familienclans und Gewaltmonopol

Mit großem Appetit schaufelte sich Kleist die Spiegeleier in den Mund. Bäckerin Anneliese Schmitz hatte sich gemerkt, wie er sie gern mochte: auf beiden Seiten gebraten mit einer braunen Kruste drum herum. Ein langer Schlaf hatte meinem Zeit-Mann wieder eine gesunde Gesichtsfarbe und einen gesegneten Appetit verschafft.

»Bleiben Sie jetzt länger hier, Herr Doktor?«, fragte die Bäckerin mit zwei Bechern Kaffee in der Hand.

»Das kann gut sein«, antwortete er und nahm ihr eine Tasse ab. »Wenn Maria mich ertragen kann.«

»Ich bin ja fast den ganzen Tag in der Redaktion«, überlegte ich. »Das krieg ich hin.«

In der Backstube klingelte es und Frau Schmitz konnte keine weiteren Recherchen zu meinem Privatleben anstellen.

»Hast du Urlaub?«, fragte ich.

»Nein, ich habe ein Forschungssemester«, erklärte er.

»Was bedeutet das?«

»Keine Lehrtätigkeit für ein halbes Jahr. Ich forsche.«

»Aha. Und was?«

»Zur Clankriminalität in Deutschland.«

»Das ist spannend«, sagte ich. »Vor zwei Wochen gab es diese Riesenrazzia in der Stadt. Unversteuerter Tabak, Drogen, Diebstahl, Verstoß gegen das Waffengesetz – das volle Programm.«

»Wenn es nur das wäre«, seufzte Kleist. »Inzwischen nehmen Menschenhandel und erheblicher Sozialleistungsbetrug massiv zu. Hartz-IV-Empfänger aus Albanien, dem Libanon oder Osteuropa fahren Maserati und Porsche und kaufen sich ganze Häuserzeilen.«

»Ich kenne diese Bilder«, nickte ich, »und ich verstehe, warum die ehrlichen Leute, die sich ihre Rente mit Pfandflaschensammeln aufbessern müssen, langsam sauer werden und Rechts wählen, was auch keine Lösung für Probleme ist. Die Frage ist nur, wie man diesen Clans beikommt.«

»Mit mehr Polizei, besserer Vernetzung der staatlichen Stellen, hartem Durchgreifen und auch Gesetzesänderungen«, erklärte Kleist. »Keine No-Go-Areas mehr. Der Staat muss sein Gewaltmonopol durchsetzen.«

»O weh. Der Polizeistaat lässt grüßen. Als Studentin hab ich Flugblätter gegen Polizeigewalt verteilt«, erinnerte ich mich. »Gegen Überwachung, für ein Leben in Freiheit mit der Option auf Glück. So ändern sich die Zeiten.«

Er schaute mich amüsiert an. »Nicht, dass du noch depressiv wirst, liebe Maria.«

Frau Schmitz hatte ihren Kunden abgefertigt und stand wieder an unserem Tisch. »Grappa wird nicht depressiv«, behauptete sie.

»Doch«, widersprach ich. »Wenn ich keinen Kaffee mehr kriege.«

Mein Handy klingelte. Die Nummer war mir unbekannt. »Ja?«

»Hier ist Adrian Schmaus. Liane wird mit Ihnen sprechen.«

»Warum jetzt doch?«

»Ich habe ihr klargemacht, dass Engels gestoppt werden muss.«

»Gut. Ist sie auch bereit, ihre Vorwürfe gegenüber der Polizei zu wiederholen?«

»Ich denke schon. Geht es heute Mittag? Zwölf Uhr?«

Frau Schmitz stellte einen vollen Kaffeebecher vor mir auf den Tisch – die Ohren gespitzt.

»Wo?«, fragte ich.

Wir verabredeten uns beim Italiener. Im Mama Mia gab es diskrete, sparsam beleuchtete Nischen.

Kleist wunderte sich über meinen plötzlichen Aufbruch. Ich versprach, ihm am Abend zu erzählen, ob mein neuer Fall wirklich ein Fall war.

Ordnung in Gärten und ein offener Bademantel

Kleingärtner zwischen Kult und Kompost. Fast hätte Bärchen Biber eine komplette Alliteration hinbekommen. Kurz vor der Konferenz überflog ich seine Sensationsreportage über das aufregende Leben der Bierstädter Laubenpieper. Das positiv heitere Lebensgefühl der Naturfreunde kam im weiteren Text nicht unbedingt rüber – Bärchen war an einen Revoluzzer geraten, der sich über die strengen Vorschriften seines Verbandes ärgerte. Statt den Lesern des Tageblattes die Freude am Graben, Hacken und Häckseln verbal nahezubringen, amüsierte sich mein Kollege über die rigiden Paragrafen. Außerdem hatte er sich die alte Journalistenregel Große Bilder sind schnell geschrieben zu Herzen genommen.

Schrebergärtner waren lange der Inbegriff des deutschen Spießertums. Das hat sich geändert, denn immer mehr Menschen entdecken ihre Lust am eigenen Garten. Dabei sind die Kleingärtner inzwischen moderner als die Vereine, die die Gärten betreiben.

»Es gibt zu viele Regeln«, nörgelt Hans Czerwinski (56) und schneidet einer missgebildeten Narzisse den Kopf ab.

»Die müssen aber sein«, widerspricht sein Laubennachbar Hans-Manfred Bollmann (60), »sonst sieht es hier aus wie bei Hempels unterm Sofa. Bisschen Ordnung halten sollte jeder.« Er wirft einen Klumpen Erde nach einer streunenden Katze, die schreiend flüchtet.

Doch Czerwinski lässt nicht locker. »Das kann man der Presse ja mal sagen. Die Gartenlaube darf nicht mehr als vierundzwanzig Quadratmeter haben, einschließlich überdachter Vorfläche. Und was soll der Kack mit den Anbauvorschriften? Auf einem Drittel der Gartenfläche muss Obst oder Gemüse angebaut werden. Was geht die denn an, was ich anbaue, hä?«

Bollmann schießt zurück: »Deine fünfzig Gartenzwerge sind auch nicht das Gelbe vom Ei, besonders nicht die mit dem nackten Arsch.«

Ich schenkte mir den Rest, legte das Blatt weg und ging Richtung Konferenzraum.

Damm lobte Mareike, an der er einen Narren gefressen zu haben schien, Mäggis Kritik wurde ignoriert und Bärchens Nah-dran-Reportage bekam ein knappes »Na-ja« vom Verleger. Der Tag versprach super zu werden.

Den Tisch im Mama Mia hatte ich vorbestellt. Da saß ich nun und wartete. Der Kellner hatte das frisch gebackene Brot und die Knoblauchbutter schon geliefert. Ich schob es von mir weg.

Adrian Schmaus’ Nummer war auf meinem Handy gespeichert. Ich rief ihn an: »Wo bleiben Sie?«

»Wir sind gleich da«, versicherte er.

Ein paar Minuten später drückte er die Restauranttür auf, eine zierliche Frau folgte ihm. Liane Licht. Ich hatte sie mir größer und glänzender vorgestellt, als eine schillernde Gestalt, die ihren Auftritt genießen würde. Dieses Wesen aber war eher ein Häufchen Elend. Sie war ungeschminkt, ihr Haar stumpf und zu einem lockeren Dutt gerafft. Ihr Anblick hatte nichts mit der strahlenden jungen Schauspielerin gemeinsam, deren Foto auf der Homepage des Festivals abgebildet war.

Schmaus und Licht nahmen Platz. Sie musterte mich mit ängstlichem Blick. Wenn sie eine Rolle spielte, machte sie es gut.

»Frau Licht«, begann ich. »Danke, dass Sie gekommen sind. Die Entscheidung wird nicht leicht für Sie gewesen sein.«

»Das war es nicht und ist es immer noch nicht«, sagte sie. »Aber ich habe eingesehen, dass es anders nicht geht.«

»Ich würde gern sicher sein, dass Sie wirklich Liane Licht sind«, sagte ich. »Haben Sie irgendein Dokument bei sich?«

»Ist das nötig?«, brauste Schmaus auf.

»Ja«, sagte ich in entschiedenem Tonfall.

Sie gab mir ihren Personalausweis. Vierundzwanzig Jahre, 1,68 cm groß, geboren auf der Insel Rügen. Ich fotografierte das Dokument.

»Warum tun Sie das?«, fragte Licht.

»Um mich abzusichern«, erklärte ich. »Junge, blonde Frauen gibt es mehrfach und ich muss nachweisen, dass ich sorgfältig recherchiert habe. Engels wird mit Sicherheit juristische Schritte gegen mich und die Zeitung einleiten.«

Liane Licht sah Adrian Hilfe suchend an. Das irritierte mich. Hatte er ihr nicht gesagt, dass sie im Fall einer Berichterstattung zu ihren Vorwürfen gegen den Sonnenkönig würde stehen müssen?

Der Kellner verschaffte uns eine Pause. Wie alle superschlanken Frauen bestellte Liane einen Salat – natürlich ohne Öl –, Adrian und ich wählten Pasta.

»Was hat Engels denn nun getan?«, fragte ich. »Wie hat das angefangen?«

Liane Licht räusperte sich und nahm einen Schluck Mineralwasser. »Ich hatte mich letztes Jahr für die Rolle beworben über die Künstleragentur, die mich vertritt. Dort waren die Festspiele bekannt. Man wusste, dass Herr Engels auch jungen Schauspielern eine Chance gibt. Viele haben durch ihn schon Karriere gemacht. Ich kam in die engere Auswahl und hab es geschafft. Meine erste Hauptrolle in einem Musical. Engels war sehr freundlich und …«, sie suchte nach dem passenden Wort, »… zugewandt. Wie ein väterlicher Freund. Die Proben liefen gut und er lobte meine Arbeit. Ich kam auch gut mit den Kollegen klar und habe ja Adrian wiedergetroffen, den ich von der Folkwangschule kannte. Es hätte alles wunderbar werden können.« Sie zerknüllte eine Serviette.

Ich holte meinen Notizblock und den Kuli heraus. »Wann begann das mit den Übergriffen?«

»Das kann ich gar nicht genau sagen. Zunächst war ja alles harmlos. Küsschen zur Begrüßung, Umarmung nach einer besonders guten Probe … Engels war immer freundlich und lobte meinen Einsatz und meine Leistung. An einem Abend traf sich das Ensemble zu einem Umtrunk. Engels setzte sich ganz dicht neben mich, drückte seinen Oberschenkel gegen meinen und legte die Hand um meine Taille. Ich rückte von ihm weg, doch das nutzte mir nicht viel. Er rutschte mir nach. Ich gab vor, zur Toilette zu müssen. Als ich zurückkam, setzte ich mich auf einen anderen Platz. Engels Blick sagte alles. Er ärgerte sich maßlos und alle haben das mitbekommen. Die Stimmung war danach nicht mehr die beste.«

»Warum haben Sie ihm nicht klar und deutlich gesagt, dass Sie diese Nähe nicht wollten?«

»Ich wollte ihn nicht vor allen anderen blamieren.«

Ich sah Adrian an. »Waren Sie an jenem Abend dabei?«

»Leider nicht. Ich hatte einen anderen Termin. Aber Zeugen gibt es ja genug.«

»Dieses Rankuscheln bei einem fröhlichen Umtrunk ist nicht justiziabel und beweist gar nichts«, stellte ich fest. »Wie ging es weiter?«

»Am nächsten Tag bestellte er mich in sein Intendantenbüro.«