Grau und Gold - Hamburger Geschichten - Fritz Stavenhagen - E-Book

Grau und Gold - Hamburger Geschichten E-Book

Fritz Stavenhagen

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Beschreibung

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten. In den neun Erzählungen bringt der Autor Themen wie Leben am Deich und das Meer auf den Punkt. Lass Dich auf eine maritime Reise mitnehmen. #wenigeristmehrbuch

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Grau und Golden

Hamburger Geschichten 

von

Fritz Stavenhagen

Impressum

Instagram: mehrbuch_verlag

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ISBN: 9783755773825

Public Domain

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Fischerjugend
Der Jollenführer
Der Schiffszimmermann
Auf Fischfang
Die Köksch
Nordwest-Sturm
Krischan Kattun
Das Alleinmädchen
Im Schneetreiben

Fischerjugend

Eine Liebesgeschichte

Das weite Schilfmeer, das vom Deich bis nahe an die Fahrrinne des Stromes reichte, hatte wieder einmal Manneshöhe erreicht. Die Halme blitzten in der Sonne, und ein heimliches Flüstern schwebte mit dem leichten Winde über dem Wasser.

Der kleine Hafen lag gedrängt voller Fischerfahrzeuge, Kutter, Ewer und Jollen. Die weitmaschigen Netze waren zwischen den Masten und Wanten zum Trocknen aufgehißt, und niemand schien sich an Bord zu befinden: denn es war Markt in dem Fischerdorf.

Die langgezogenen Orgeltöne von den Karussels und die schrille Blechmusik eines Hundetheaters scholl herüber; aber die aufspritzenden Wellen verschlangen diese Stimmen, und weiterhin auf der kleinen Insel war es still.

Die Insel bildete einen einzigen Werftplatz mit vier Helgen. Auf zweien lagen schwerfällige Ewer, 10 und auf dem einen ein schlanker Fischerkutter. Aber kein rastloses Hämmern und Hobeln war hörbar, keine tönenden Amboßschläge klangen aus der Schmiede hervor.

Alles wie ausgestorben. Nur der bald stärker, bald schwächer werdende Ostwind spielte am Boden und auf den schwankenden Gerüsten um die Fahrzeuge mit zusammengerollten Spänen, die gleich kleinen Kugeln vor ihm herrollten.

Um diese Stunde des niedrigsten Wasserstandes segelten nur wenige Schiffe auf dem breiten, spiegelnden Elbstrom weit draußen. Aus dem kleinen Hafen – von den Schiffern kurzweg »Loch« genannt – war das Wasser meist heraus. Eine Menge grausandiger Inseln und Inselchen lagen frei, die das schmutzige Grundwasser umspülte, als wollte es sie in sich hinabziehen.

Dicht neben dem leeren Helgen, im Schatten einer weit über das Wasser hinausragenden Weide ward plötzlich eine scheltende Mädchenstimme laut:

»Nee, nee, Hinnick – lat mi tofreeden – du . . .!«

Dann schaukelte eine Jolle unter den überhängenden Zweigen hervor. Das Wasser spritzte auf: ein kräftiges, hellhaariges Mädchen plätscherte mit dem schwereichenen Riemen am Gatt des kleinen Bootes. Sie versuchte eifrigst zu wriggen, brachte es aber nicht fertig. Ihren Zweck hatte sie dennoch 11 erreicht: aus dem dunklen Blätterversteck ins Sonnenlicht zu kommen.

Sie zog den Riemen ein, warf ihn polternd über die Duchten und ließ sich dann selbst trotzig nieder.

»Du büst tau unnasch hüt. Wat mag di blot in 'e Kron trocken sien? – Wär' ick bloß nich mit di rümfohrt!«

»Ah wat, unnasch!« warf der junge Fischerknecht dagegen ein: »Dat seggt ji Frugnslüt jümmers, un nahsten könt ji nich 'naug kriegen.«

Er saß auf der vordersten Ducht, spielte mit den Händen in der kühlen Flut und sah lauernd zu ihr herüber. »Do du man recht as son'n Zierpopp; häst de Welt ok nich glieks kennt, as kam'n büst.«

Sie hörte nicht auf ihn und schwieg. Sie schaute wie abwesend nach dem breiten Strom hinüber, wo mit lautem Getut ein Fischdampfer aufkam.

Eine schwüle Wolke lag zwischen ihnen, keiner wagte sie zu durchbrechen. Die melancholischen Töne der großen Karusselorgel klangen wieder deutlich herüber:

»Das Mee–e–er erglä–nzte weit hinaus Im letzten A–bendscheine – –«

Hinnick sah sich unruhig um: er suchte nach einer Ablenkung. 12

Da, wie er nach vorn sah, veränderte ein breites Lächeln sein braunes Gesicht: er bemerkte, daß eben Flut eingetreten war und das Boot langsam dem weiten und hohen Schilfmeer entgegentrieb. Da packte ihn der Mutwille, schnell sprang er auf und tat mit dem Riemen ein paar kräftige Stöße auf den Grund.

Schurrend und knirschend schoß das Boot in das auseinanderschlagende Schilf. Kaum zwei Bootslängen wühlte es sich hinein: da saß es wie eingekeilt.

Hinnick rieb sich die Hände vor Vergnügen. Gesa aber ließ äußerlich durch nichts merken, wie erbost sie war. Als er ihr lächelnd zunickte, drehte sie ihm den Rücken zu. Den Ellbogen auf den Bord des Bootes gestützt, blickte sie ruhig in den leicht bewegten, rauschenden Schilfwald: nur ihn nicht merken lassen, wie sie sich ärgerte.

In der Mitte drückte der Bug des Schiffes das Schilf weit auseinander, doch vorn und hinten neigten die Halme schwankend herein.

»Kumm, Gesa, sie nich görig. Schall ick ein'n hebben? Einen man bloß! Heww di doch nich so. Kumm nu.«

Als sie noch schwieg, überkletterte er die Ruderbänke und legte seine Hand auf ihren Nacken.

»Gesa – ick denk, dat du mi 'n bitten leiw hest . . .« 13

Aber sie schüttelte seine Hand ab. »Lat mi tofreeden! segg ick di. Du büst to driest worden in letzt' Tiet. Ick will nicks miehr von di weeten!«

»Blot dorüm nich?« Hinnick wurde ernst, aller jugendlicher Übermut war von ihm gewichen, sein vergnügtes Lächeln verschwunden.

»Öberhaupt nich!« Entrüstet schleuderte sie es ihm entgegen.

Ohne ein Wort zu erwidern, kletterte Hinnick wieder zurück. Er stützte seinen Kopf in beide Hände: das hatte ihn zu tief geschmerzt! Da hörte der Scherz auf.

Aber so wollte es Gesa erst recht nicht gefallen. Ihre schnellen herben Worte wurden ihr leid.

»Hinnick,« rufte sie endlich leise, »Hinnick, büst vertürnt?«

Er antwortete nicht. Sein Instinkt sagte ihm sofort: was du bei der nicht durch Bitten erreichst, erreichst du mit Trotz. Und er spann sich immer mehr in seine Ärgerlichkeit hinein.

Gesa ward es jetzt inne: sie hatte ihm wehgetan, sie mußte nachgeben. Sie versuchte es mit Schmeicheleien und Scherzen; sie zwang sich sogar zu einem Lächeln und gab ihm Kosenamen.

»Mien lütt leiw Kruskopp, nu segg mi doch, wat fehlt di?«

Schwerfällig, mit finsterem Gesicht erhob sich Hinnick, trotzig-dumpf warf er ihr die Worte zu: 14

»Mit de Tied hüt nacht gah wi nah buten, denn kannst di ja 'n annern seuken. – Vielleicht kam ick ok nich weder.« Dann griff er zum Riemen und arbeitete das Boot widerwillig heraus. Er mußte seine ganze Kraft gebrauchen; es war, als hielten die langen, dünnen Schilffinger das bewegungslose Boot umspannt – wie Gesa es wünschte. Sie hätte es lieber noch weiter hineingetrieben, denn nur nicht mit ihm im Bösen auseinandergehen: dann war sie wieder allein, wieder allein und gehaßt!

»Hinnick – Hinnick! Nu wees doch weder got. – Ick – ick . . . Du kannst ja . . .«

»Ick will nicks! – Wi kennt uns nich mehr!«

Das Grausam-Menschliche war in ihm erwacht, und wie sie immer mehr in Demut vor ihm versank, wurde die Wollust nur größer, ihr noch Tritt auf Tritt zu versetzen.

Tränen stiegen ihr auf. Stammelnd kam es von ihren Lippen: »Du weißt doch, Hinnick, dat ick di leiw heww. – Ick do ja alles . . . Wenn ick nu to Hus kam, sleiht mi mien Mudder, wiel ick doch weggahn bün – un ick heww dat doch bloß dien'nhalben dohn . . . All sünd se to Mark gahn, aber ick dörf nich ut de Baud' . . . Un blot, wiel ick kein'n 15 richtigen Vader heww. – Wat kann ick denn daför, dat mien Swestern ehr Vader all twei Johr verdrunken wier, as ick kam'n bün? Aber darünner möt ick nu jümmers lieden – ick dörf nich to Mark – ick dörf nich up'n Danzböhn – mi dörft se all slahn un triezen so veel as s' wöllt . . . un du – du deist dat nu ok . . .« Sie weinte still vor sich hin.

»Ah, watt ok! Lat dat Plinsen man nah. Irst wußt du nich, nu will ick nich!« Er stieß zugleich kräftig auf den Grund und brachte endlich den Kahn los; schaukelnd trieb dieser dem Strom ein Stückchen entgegen.

»Du sast aber nich so mit mi sien, Hinnick!« Sie erhob sich entschlossen und ging zu ihm. »Du sast nich so mit mi sien! – As ick hürt heww, du harst ok kein'n Vader und kein Mudder, dunn har ick di leiw, dunn wier mi't, as hürten wi tosam. Un ick will di ja ok jümmers leiw hebb'n, Hinnick. – Kiek mal eins, all de annern hebbt ehr Öllern, wo s' to seggen könn': Vader, ick much man in 'e Kark gahn, un he köfft ein' neies Tüg; oder: Mudder, ick hew Liewwehdag, un de gaud Mudder packt ein' int Bett un leggt ein' heiten Tellern upt Liew. – Wie beiden kön'n dat nüms seggen, denn mien Mudder sleiht mi alle Weihdag mit 'n Knüppel ut. Süh, wi beiden hürt tosam'n, wi möten uns einanner biestahn.« 16

Hinnick hatte den Riemen in die Gaffel am Gatt der Jolle gelegt und wriggte mit großer Kraftanstrengung, denn der Strom wurde mit jeder Minute stärker. Nur langsam kam das Boot dem Lande näher.

»Dat is ja nu all egal. Ick sett di bie 't Stack af, denn geihst du nah Hus un fauderst de Swien.«

»Aber ick kam naher weder; nich? Du bliwst doch an Burd? – Hinnick, ick kam ganz gewiß weder, wenn't schummern ward. – Sall ick dat?«

Sie fragte ihn weich und heimlich, mit der bangen Hoffnung auf ein einziges gutes Wort zum Schluß. Er fühlte ihre heiße Hand in seinem Nacken und konnte sich wohl denken, warum ihre Finger so schmeichlerisch in seinem Nackenhaar spielten – aber er zwang sich zur Kälte.

»Mientwegen. – Ick will nahher mal up 'n Salon kieken.«

»Nee!« Sie schrie es, und ihre Hand packte fest zu. »Nee, Hinnick, gah nich dorhen; Hinnick . . . oder do, wat du wullt!« Sie hatte sich besonnen, aus ihrem Blick sprach eine herbe Entschlossenheit. Schwer ließ sie sich auf den Sitz niederfallen und sah mit zornig zusammengezogenen Brauen über das hundertfältig aufblitzende Wasser.

Auf dem Wege nach Hause machte eine eigene Angst ihren Ärger über den Trotzkopf verschwinden. 17 Wenn nur daheim nichts passiert war! Wenn nur niemand vom Markt zurückgekommen und bemerkt, daß sie nicht zu Hause geblieben!

Sie lief schneller, langte zitternd den großen Schlüssel durch das kleine Küchenfenster hervor und drehte ihn hastig im Schloß um.

Alles leer, einsam, still, wie sie es verlassen hatte. Ein Zimmer nach dem andern durchschritt sie, nirgend eine Spur, daß jemand hier gewesen. Beruhigt ging sie in die Küche zurück und setzte sich auf die grüngestrichene Holzbank, neben den halbgefüllten Wassereimer.

Da saß sie sinnend eine ganze Weile. Es überkam sie eine große Traurigkeit. Starr blickte sie vor sich hin, ihre Lippen zuckten zuweilen, ein paar helle Tränen standen zitternd in ihren Aughöhlen.

Nun war sie wieder allein, ganz allein. Wie auf dem weiten, einsamen Meere schwimmend kam sie sich vor, um sie das ewige Rollen der mörderischen Wogen. Und der Mast, an den sie sich um Rettung angeklammert, war um ein Stückchen von ihr fortgerissen. Aber sie konnte ihn noch erreichen – und das wollte sie!

Gesa sprang auf, wischte sich über die Augen und ergriff den Wassereimer, um ihn frisch am Brunnen zu füllen. Es ging ihr jetzt alles leichter, flinker von der Hand. Wie sie Feuer machte unter dem schweren Kessel, ihn mit roten 18 Schweinskartoffeln und Wasser füllte, dann in den Hühnerstall lief, den sie umdrängenden Tieren das Futter streute und die frisch gelegten Eier aufnahm, tat sie alles dies mit einer fast fröhlichen Geschwindigkeit. Und sie lächelte wirklich öfters leicht vor sich hin; sie war sich ja zu sicher, daß sie ihn wiedergewinnen werde! Er soll sie nicht nur gern küssen dürfen, wenn sie beim Schummern mit ihm zusammentraf, sie wollte ihm mit ausgebreiteten Armen entgegeneilen, ihn fest umfassen . . . ihn küssen – und dann nicht mehr loslassen: wie man auf dem wilden Meere einen treibenden Mast nicht läßt, der einen einzig retten kann.

Ein solcher Glückstag war für die arme Gesa lange nicht gewesen: denn als ihre älteren Schwestern und die Mutter zum Abendessen heimkamen, hatte ihr Elsabe, die älteste, sogar ein Geschenk vom Markte mitgebracht: ein Stückchen blaues Atlasband. Und die Mutter sagte sogar zu ihr: sie könne sich nachher den Trubel auch einmal ansehen, aber sie solle nicht zu lange bleiben.

Es schien ihr, als seien alle freundlicher zu ihr, als sie es sonst gewesen waren – sie konnte es sich kaum enträtseln und nahm es als gute Vorbedeutung. Der Grund lag jedoch einfach in der fröhlichen Marktstimmung, in der man selbst einem fremden Hunde einen Knochen zuwirft.

19 Für die Mutter bedeutete Gesa eine lebende Schande, die sie und jeden andern stets an ihre Schuld gemahnte. Darum sperrte sie das Mädchen möglichst von der Außenwelt ab. Daß sich die drei Schwestern, als sie mehr und mehr zu Verstand kamen, über diesen verspäteten Zuwachs ihrer Familie nicht freuten, war verständlich. Aber sie waren keineswegs immer häßlich zu der Willigen und Fleißigen, die ihnen fast alle Arbeit abnahm. Gesa war eben ein geistig stets beschäftigtes, sehr feinfühliges Mädchen: die geringste Äußerung, die oft unabsichtlich von einer der Schwestern gemacht wurde, daß sie doch nur halb hierher gehöre und weniger Recht habe, grub sich tief bei ihr ein und machte sie ängstlicher und zurückhaltender, wodurch das Verhältnis immer schlechter wurde.

So war sie solche Gunst, von einer Schwester etwas geschenkt zu erhalten, gar nicht gewohnt und freute sich gerade an dem Tag recht herzlich darüber, wenn auch die Gabe nur gering war. Aber daß sie nun gar mit Erlaubnis der Mutter aus dem Hause gehen durfte, war ihr schier unfaßlich.

Sie konnte vor Aufregung nicht essen: sie dachte nur immer daran, wie sie ihrem Hinnick entgegenlaufen wollte; vom Markt mochte sie nichts sehen.

Als sie endlich das Geschirr abgetragen hatte, 20 warf sie sich schnell ihr blaßblaues Kleid über, das früher der Elsabe gehört hatte, band sich die Bänder ins volle offene Haar und kam sich vor wie eine reiche glückliche Prinzessin. Den kleinen Streit von vorhin hatte sie natürlich längst vergessen.

Sie drehte sich immer wieder vor dem Spiegel und freute sich, wie ihr das Blau so gut stand. Ihre Wangen hatten sich gerötet, ihre dunklen Augen blickten groß und staunend. Sonst hatte sie es nie bemerkt, daß die Sonne auch in ihre kleine Kammer kam, aber jetzt stand wirklich ein rötlicher Fleck der späten Nachmittagssonne an der weiß getünchten rohen Wand. Das Geranium, welches das zwergenhafte Fenster fast ausfüllte und wie zusammengedrückt erschien, streckte seine lichtroten Blüten verwundert dem geputzten Mädchen entgegen.

Gesa steckte die beiden gekochten Eier zu sich, die sie nicht gegessen hatte, riß noch einige Blumen ab, alles, um es ihrem Hinnick zu schenken, und eilte dann, ohne sich vorerst noch in der Stube sehen zu lassen, hinaus.

Unter derselben großen Weide, unter der sie ihm am Nachmittag aus seiner Umarmung entschlüpft, saß sie nun gegen Abend und erwartete ihn; diesmal nur nicht im Boot, sondern auf der Werftinsel, ein Haufen aufgestapelter rauher Bretter diente ihr als Sitz. 21

Da hatte sie schon eine Stunde gewartet, die Sonne war da fern an der Mündung des Flusses rotglühend in die spiegelnde Flut versunken, schon zeigten sich Sterne als weiße Fleckchen am weißlich-blauen Himmel, und Hinnick hatte sich noch immer nicht blicken lassen.

An Bord war er nicht, sie konnte den Fischkutter von ihrem Platz aus genau sehen. Erst hatte sie gedacht, er läge wohl in der Koje und schliefe, aber nach einigem Nachdenken sagte sie sich: Nein, er ist nicht in der Koje, denn da kann nicht das Schloß von draußen vor der Luke liegen.

Also war er doch zum Markt gegangen . . .

Und dann versank sie in Sinnen: sie grübelte schwer darüber nach, warum sie erst so glücklich gewesen war. Nun stand das zornige Gesicht Hinnicks wieder dicht vor ihr; ein Frösteln überlief sie: keinen Gruß, nicht einmal einen Blick hatte er ihr gegönnt, als sie von ihm heimgegangen.

Wo sollte sie ihn nur suchen?

Sie nahm das blaue Band aus ihrem Haar und zog es glättend durch die linke Hand. Nun war ja doch alles vorbei.

Das Blau des Himmels wurde allmählich dunkler, die Sterne bekamen einen silbernen Glanz, und die Blinklichter mitten im Fahrwasser der Elbe waren mit jeder Minute deutlicher zu bemerken. Ein frischer Westwind, Regen verkündend, war 22 aufgestiegen und fegte über den Werftplatz, der in unheimlicher Ruhe dalag.

Sie glitt langsam von ihrem hohen Sitz und schritt schwerfällig über das zertretene Gras, das spärlich zwischen schmutzigen Spänen und Holzstückchen hervorschaute.

Müde, betrübt schritt sie über die Laufbrücke bis zu der glattbodigen Fähre, die mittelst einer schweren Kette von einem Ufer zum anderen gezogen wurde.

Als sie den Kahn zu sich herübergezogen hatte, sah sie sehnsüchtig den Fluß hinunter. Das Wasser war bis dicht an den Deich vorgedrungen, von dem Schilf waren nur spannlange Spitzen bemerkbar. Die Spiegelfläche war leuchtend weiß, es schien, als gäbe der Strom das Licht zurück, das er tagsüber eingesogen.

Weit im Westen bemerkte sie schwere, schwarze Wolken, die langsam, gleichsam mit dem Wasser von Cuxhaven heraufkamen. Es würde also tüchtigen und anhaltenden Regen geben. Sie dachte dabei gleich wieder an Hinnick: es war doch gut, daß er daheim, denn auf der Nordsee mochte jetzt ein unheimliches Wetter niedergehen. Und dann ist die Fischerei ein böses Geschäft.

Endlich stieg sie in den Kahn und zog sich nach der anderen Seite hinüber.

Sie spielte noch immer mit dem blauen 23 Atlasband, und ihre traurig fragenden Blicke ruhten beständig darauf. Sie wußte selbst nicht so recht, wohin sie nun eigentlich wollte. Dennoch setzte sie sacht einen Fuß vor den anderen. So schritt sie über den Deich, kam in die Niederung und ging, immer längs der wilden Hecke, den Tönen rauschender Tanzmusik und lustiger Männerstimmen entgegen.

Hinnick wollte eigentlich nur einmal auf dem Deich entlang, zwischen die Budenreihe hindurchgehen. Aber da lockte ihn zuerst das Karussell an: verdammt! er müßte doch den Ring greifen können! Nur einmal wollte er mit herumfahren und den Gaffenden schon zeigen, wie leicht der Ring aus der Holzbirne zu ziehen sei!

Also stieg er auf einen galoppierenden Gaul, der den rechten Hinterfuß schon zur Hälfte verloren hatte und nicht mehr recht Farbe bekennen wollte, und sauste im Kreise durch die Luft, wobei er sich tapfer an den lang geratenen Ohren festhielt.

Als er dann einige Male in die Luft gegriffen, und immer wütender geworden war, langte er so eifrig zu, daß er bald von dem stümperhaften Gaul herabgekollert wäre. Aber er hielt sich zu guter Letzt an dem alten, schmutzigen Holzhals so 24 ängstlich fest, daß alles in lautes, spottendes Gelächter ausbrach.

Das war ihm etwas aufrührerisch in die Krone gefahren; er fühlte sich in seinem Heroismus verkannt und versuchte gleich in der nächsten Aalbude von neuem sein Glück.

»Ünner de Söben un öber de Veertein!«