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Der Nachhaltigkeitsexperte Philipp Buddemeier und die finanzpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Katharina Beck, nehmen die Leser*innen in »Green Ferry« mit auf eine Reise zu den Inseln des konsequent nachhaltigen Wirtschaftens. Denn bei der konkreten Umsetzung der nachhaltigen Transformation sind viele noch im Blindflug unterwegs. Ihnen wollen die Autorin und der Autor mit der Reise auf der »Green Ferry« ein Angebot unterbreiten, das ihnen einen klaren Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaft aufzeigt. Wirtschaften innerhalb der planetaren Grenzen, auf sozial gerechte Art und Weise zum Wohle der Menschen – und natürlich ökonomisch erfolgreich. Beck und Buddemeier lösen in ihrem Buch diesen scheinbaren Widerspruch aus planetar nachhaltig und wirtschaftlich erfolgreich auf. Und sie zeigen anhand von Praxisbeispielen, Leuchtturmprojekten und strategischen Prinzipien, wie echte Transformation zur Nachhaltigkeit in Unternehmen tatsächlich gelingen kann – mit echtem Impact statt Greenwashing, mit Wachstum statt Degrowth, optimistisch statt rückwärtsgewandt. Jede*r von uns braucht konkretes Wissen und Kompetenzen, wie man richtige, zeitgemäße Entscheidungen im Sinne der Zukunftsfähigkeit trifft. Die Transformation, die uns jetzt bevorsteht, ist grundsätzlich, global und nur gemeinschaftlich zu meistern. Das Ziel: Wir wollen die nächste Entwicklungsstufe für Unternehmen und Organisationen erreichen, damit alle Menschen im Rahmen der planetaren Grenzen sicher und voller Entfaltungsmöglichkeiten leben können.
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Seitenzahl: 456
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KATHARINA BECKPHILIPP BUDDEMEIER
GREEN FERRY
DAS TICKET INS KONSEQUENT NACHHALTIGE WIRTSCHAFTEN
Inhalt
Willkommen im Terminal
Alle einsteigen!
Überfahrt zur normativen Inselgruppe: Welche Glaubenssätze leiten uns?
Die normativen Inseln: Wollen statt müssen
Insel 1: Prosozial statt asozial!
Insel 2: »Impact First« statt »Profit First!«
Überfahrt zur strategischen Inselgruppe: Welche Rolle spielen die systemischen Rahmenbedingungen?
Die strategischen Inseln: Den Kurs bestimmen
Insel 3: Standortbestimmung – Kerngeschäft, Wertschöpfungskette, Organisationale Verankerung
Insel 4: Ziele für den »safe and just space« setzen
Insel 5: Neue Geschäftsmodelle explorieren
Insel 6: Produkt- und Serviceportfolio weiterentwickeln
Insel 7: Mit Stakeholdern kollaborieren
Insel 8: Mit Geld und Finanzen gestalten
Insel 9: Rechtsform definieren
Insel 10: Schöner kommunizieren
Überfahrt zur operativen Inselgruppe: Wie entscheiden wir?
Die operativen Inseln: Machen, machen, machen
Insel 11: Neue Indikatoren und Entscheidungsregeln
Insel 12: Integration in die Wertschöpfungskette
Insel 13: Operative Verankerung mithilfe von Querschnittsfunktionen
Insel 14: Leadership neu leben
Überfahrt zur Bekräftigungsinsel: Wie hilft Technologie?
Insel 15: Die Bekräftigungsinsel
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Danksagung
Für das Buch geführte Interviews
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Copyright © 2022 Murmann Publishers GmbH, Hamburg
ISBN 978-3-86774-750-9
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Willkommen im Terminal
Ach, Reisen. Wir wissen nicht, wie es Ihnen geht, aber wir finden: Allein die Vorfreude und die Vorbereitungen lassen das Gemüt heiter und leicht werden. Es kribbelt. Neue Begegnungen mit Land und Leuten pusten den Kopf von der Last des Alltags frei, die Sonne streichelt die Seele, das andere Essen, der Wein, den lieben Gott oder wen auch immer einen guten Menschen sein lassen. Reisen ist für die meisten von uns eine Form des Eskapismus von den Sorgen und Nöten in unseren Köpfen, um uns herum, sogar in der Welt. Wer von uns wünschte sich in den vergangenen Jahren angesichts von Pandemie und Krieg nicht auf eine ferne Reise, fernab von diesem geplagten Planeten?
Doch Reisen ist nicht nur Flucht. Reisen ist mehr. Sehr viel mehr. Der französische Autor und Literaturnobelpreisträger Anatole France (1844–1924), dessen berühmteste Werke Die Insel der Pinguine und Die Götter dürsten sind, hat diesen anderen Blickwinkel einmal in einem Bonmot zusammengefasst: »Was ist Reisen? Ein Ortswechsel? Keineswegs! Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile.« 1 Der Mann wusste, wovon er sprach, schließlich war er nicht nur viel in der Welt herumgekommen, sondern auch gedanklich – oder gerade deswegen – immer auf Reisen.
Wir wollen Sie heute auf eine sehr besondere Reise mitnehmen, die dazu führen wird, dass Sie einige Ihrer Überzeugungen womöglich über Bord werfen. Wir reisen auf einem Schiff, besser: auf einer Fähre, der Green Ferry. Diese Reise ist eine Einladung, neue Menschen und ihre Art des nachhaltigen Wirtschaftens kennenzulernen. Und zu erfahren, wie das eigentlich geht. Hinein in die Zukunftswirtschaft. Die Reise mit der Green Ferry soll konkret bei der Umsetzung der nachhaltigen Transformation helfen, in Theorie und Praxis, und uns zu den Macher:innen und Vordenker:innen bringen.
Mit unserer Reise auf der Green Ferry wollen wir Ihnen ein Angebot unterbreiten, das einen klaren Weg ins konsequent nachhaltige Wirtschaften aufzeigt. Wirtschaften innerhalb der planetaren Grenzen, auf sozial gerechte Art und Weise zum Wohle aller Menschen – und gleichzeitig ökonomisch erfolgreich. Wer noch Zweifel hat, ist auf unserer Fähre genau richtig.
Wir treten den Gegenbeweis an. Wir versprechen zwar nicht, dass Sie am Ende unserer Reise einen festen Plan in der Tasche haben. Was wir aber sicher wissen: Sie werden eine Menge darüber erfahren haben, auf was es bei dieser für das Überleben des Planeten und seiner Menschen – und damit Ihrer Unternehmung – absolut notwendigen Reise ankommt. Daraus ergeben sich hilfreiche Impulse, wie Sie die Zukunft Ihres Unternehmens oder Ihrer Organisation nachhaltig gestalten können.
Den Kern bilden essenzielle Entscheidungen.
Das wird Ihnen nicht neu sein, schließlich ist das Leben – privat wie beruflich – eine Aneinanderreihung von Weichenstellungen. Sowie kleinen nächsten und auch großen konsequenten Schritten. Gerade als Führungskraft oder Pionier:in eines zukunftsfähigen Wirtschaftens ist der Geschäftsalltag durch eine Vielzahl von großen und kleinen Entscheidungen geprägt.
Auch wir als Kapitän:innen der Green Ferry, die Sie begleiten dürfen, haben in der Vergangenheit eine grundlegende Entscheidung getroffen, die uns über diverse Ecken, aber im Endeffekt doch schnurstracks zu diesem Buch geführt hat. Wir waren lange Jahre Unternehmensberater:innen von großen Konzernen, saßen in langen Meetings und haben Strategien für die Nachhaltigkeit großer Unternehmen entwickelt. Manchmal durften wir uns über die Umsetzung freuen. Aber es gab auch Momente, in denen wir uns über Greenwashing geärgert haben oder darüber, dass unsere Vorschläge in der Schublade verschwanden.
Wir haben viel gelernt. Sicher nicht alles, auch wir sind nach wie vor Lernende. Aber genug, dass wir uns entschlossen haben, ein eigenes Konzept anzubieten, wie der Weg ins konsequent nachhaltige Wirtschaften tatsächlich funktionieren kann.
Wir sind nicht naiv, keine klassischen Ökos, keine Traumtänzer. Wir sind Realutopist:innen.
Was uns eint, ist die Überzeugung, dass wir ganz real in eine für viele noch als Utopie geltende Zukunft reisen können. Wir wollen die nachhaltige Moderne aus dem Ungefähren ins Konkrete bringen. Für den Erfolg brauchen wir Sie.
Bevor Sie die Green Ferry betreten, sollte Ihnen klar sein: Es wird eine Reise, die Ihnen einiges abverlangen wird. Transformation ist keine lustige Butterfahrt. Sie erfordert klares Navigieren, eine feste Hand am Steuer, eine gut ausgearbeitete Route. Wer sich auf den Weg macht, braucht Beharrlichkeit, muss mit Stürmen rechnen. Und mit Gegenwind. Mit Veränderung kennen sich unsere Co-Kapitän:innen aus.
Green Ferry-Co-Kapitänin Katharina Beck ist seit 2009 Parteimitglied bei Bündnis 90/Die Grünen, hat lange Zeit ehrenamtlich neben ihrer Beraterinnentätigkeit in Fachgremien Parteiprogramme mitgeprägt und das inhaltliche Ehrenamt gegenüber dem Bundesvorstand vertreten. Sie ist nun in der aktuellen Wahlperiode seit 2021 erstmals Mitglied des Deutschen Bundestags und dort finanzpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Schon früh, noch bevor Deutschland sich eine Kohlekommission für die Planung eines Ausstiegs gegeben hatte, hat sie sich für einen vorgezogenen Kohleausstieg 2030 ausgesprochen und mit bewirkt, dass dies Teil des grünen Parteiprogramms wurde. Das war zukunftsweisend. Heute ist der Kohleausstieg 2030 Teil des Koalitionsvertrages der Bundesregierung und selbst im Kohleland Nordrhein-Westfalen explizites Politikziel.
Green Ferry-Co-Kapitän Philipp Buddemeier hat sich nach seinem MBA 2006 bewusst für einen Einstieg in der Nichtregierungsorganisation Save the Children und der Clinton Foundation entschieden – entgegen allen Mahnungen seines Umfelds. Damals war der Fokus auf Nachhaltigkeit alles andere als ein Karriereturbo. Heute, nach vielen weiteren Stationen auf seiner Reise, ist er fest überzeugt, dass unternehmerischer Pioniergeist zu einem guten Leben für alle Menschen innerhalb der Grenzen unseres Planeten beitragen kann. 2020 gründete er Better Earth, um Unternehmen bei ihrer Transformation in Richtung Zukunftswirtschaft kompromisslos zu unterstützen. Seine Erfahrungen bei Save the Children und der Clinton Foundation helfen ihm, die Perspektiven unterschiedlicher Stakeholder:innen besser zu verstehen und dadurch besser zu beraten. Die Erfahrungen beider lehren: Beharrlichkeit zahlt sich aus.
Neue Autobahnen im Gehirn!
Doch wenn es einzig der Gegenwind von außen wäre … Viel kräftiger fegt mitunter der Gegenwind im Selbst. Man muss auf dieser Reise darauf vorbereitet sein, mitunter einen Kampf gegen sich selbst auszufechten, gegen die eigenen Vorurteile, Glaubenssätze und Muster, gegen die Autobahnen im Gehirn, wie der Neurobiologe Gerald Hüther eingefahrene Denkmuster einmal genannt hat. Anfänglich dünne Verbindungswege im Gehirn würden durch immer gleiche Verhaltensweisen immer dicker und seien irgendwann so etwas wie Autobahnen im Kopf. Hüther: »Die sind dann so beschaffen, dass man, wenn man einmal draufkommt, nicht wieder runterkommt.« Die Beharrungskräfte von Eingefahrenem sind leider enorm.2
Wir helfen Ihnen, die Ausfahrten von diesen Autobahnen zu finden. Weg von den allzu manifesten Überzeugungen, dass nachhaltiges Wirtschaften nie gewinnträchtig sein könne. Dass ökologisches und soziales Agieren in unserem Wirtschaftssystem nicht funktionieren würde, es immer eine Abwägung nur für das eine oder andere gäbe und dass monetärer Profit stets an erster Stelle eines Unternehmens stehen müsse. Wahr ist: Ohne Gewinne kein Überleben. Wahr ist aber auch: Kein Überleben ohne Planeten.
Wie die eigene Reise durch die nachhaltige Transformation in allen drei Dimensionen – ökologisch, sozial, wirtschaftlich – gestaltet wird, kann einem niemand abnehmen. Wir sind allerdings überzeugt, dass sie besser und schneller gelingt, wenn man sich an drei bedeutenden Anlegeorten umschaut: Wir reisen mit Ihnen zu den Inselgruppen der normativen, strategischen und operativen Entscheidungsdimensionen.
Die Green Ferry funktioniert im Hop-on und Hop-off. In einem Gesamtfährnetz. Von Insel zu Insel. Einsteigen, mitfahren, aussteigen. Repeat.
Die wichtigste Entscheidung haben Sie bereits getroffen. Sie haben dieses Buch erworben oder geschenkt bekommen. Und Sie haben es aufgeschlagen. Das ist ein hervorragender Start.
Also dann: Leinen los! Kommen Sie an Bord.
1 Gute Zitate: Zitate von Anatole France [online], https://gutezitate.com/zitat/166884 [abgerufen am 08.09.2022]
2 Hüther, Gerald: Computer spielen verändert die Hirnstruktur. In: Süddeutsche Zeitung [online], https://www.sueddeutsche.de/digital/forscher-warnt-computer-spielen-veraendert-die-hirnstruktur-1.616192 [abgerufen am 08.09.2022]
Überfahrt zur normativen Inselgruppe:Welche Glaubenssätze leiten uns?
»Man verändert die Dinge nie, indem man gegen die bestehende Realität ankämpft. Um etwas zu verändern, muss man ein neues Modell entwickeln, das das vorhandene Modell obsolet macht.« 1
Richard Buckminster Fuller (1895–1983), US-amerikanisches Universalgenie
Sehen Sie dort die wunderbaren zwei Inseln Steuerbord voraus? Bevor wir auf der ersten der normativen Inseln anlegen, empfehlen wir, einmal über das wunderbare Zitat von Fuller nachzudenken, diesem echten Visionär, der zugleich Architekt, Designer, Philosoph und Schriftsteller war. Denn um genau diese Essenz aus seiner Feder soll es hier auf dieser inspirierenden Inselgruppe gehen:
Neue Gedanken kommen erst in die Welt, wenn sie die alten schlagen, weil sie schlichtweg besser sind.
Klingt einfach. Dauert mitunter nur. Aber dazu gleich mehr. Bevor wir die beiden Inseln in dieser Inselgruppe erreichen, sollten wir uns ein wenig auch mit geistiger Nahrung stärken.
Zentrale Inhalte und Begriffe
•Macht von Glaubenssätzen
•Funktionale versus dysfunktionale Märkte
•Kritik finanzieller Nutzenmaximierung
•Gemeinwohl
Alle bereit? Dann los.
Reden wir über Glaubenssätze, schließlich steuern wir gerade auf die normative Inselgruppe zu. Und fangen wir einmal mit nichts Geringerem als der Erde an. Oder genauer: mit ihrer Form. Im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hatte der griechische Philosoph Aristoteles vielleicht während einer lauen Sommernacht gut aufgepasst. Er beobachtete eine Mondfinsternis und sah, wie sich ein sichelartiger Schatten von rechts nach links vor den galaktischen Begleiter schob, ihn verdeckte und dann wieder, nur anders gekrümmt, auf der anderen Seite wieder verschwand. Und weil Aristoteles ein heller Kopf war, schloss er daraus die Möglichkeit, dass es sich bei dem Schatten vielleicht um den der Erde handeln könnte und dass diese demzufolge rund sein müsste. Eine Kugel eben. Und keine Scheibe, wie es damals ein tief verankerter Glaube war. Aber bei seinen Zeitgenossen biss Aristoteles mit seiner erstmals empirisch einigermaßen fundierten Vermutung auf Granit. Und das sollte sich auch über sehr viele Jahre nicht ändern.2
Noch zu Anfang des 16. Jahrhunderts hatte es etwa Ferdinand Magellan nicht leicht, Geld für seine aufwendige Seereise aufzutreiben, um eine Westroute zu den Gewürzinseln, den Molukken im heutigen Indonesien, zu finden. Da man glaubte, die Erde sei eine Scheibe, trieb Spaniens König Karl I. und andere Investoren die Sorge um, dass der portugiesische Abenteurer mit seinen fünf Schiffen am Rand der Erdscheibe schließlich auf Nimmerwiedersehen verschwinden könnte – und damit ihr ganzes eingesetztes Kapital. Die Sorge erwies sich als unbegründet, wie wir heute wissen. Magellan bewies mit seiner dreijährigen Erdumrundung, dass unser Heimatplanet eine Kugel ist. Auch wenn er das selbst nicht erleben durfte, leider starb er während eines Scharmützels mit Einheimischen am Strand einer Insel der heutigen Philippinen. Ein Jahr später, 1522, erreichte nur eines seiner Schiffe, die Victoria, wieder den Heimathafen im südspanischen Sanlúcar. Man sollte meinen, dass nun auch dem Letzten klar gewesen sein sollte, dass der Planet keine universale Frisbeescheibe ist.3
Und doch: Auch die Universalgelehrten Nikolaus Kopernikus, Johannes Keppler und Galileo Galilei wurden noch verlacht, wenn sie von der Erde als Kugel sprachen. Galileo musste sogar noch 1633 vor den Mächtigen der katholischen Kirche widerrufen, dass unser Globus ein Ball ist und er sich wie seine Nachbarplaneten um die Sonne dreht. Was für eine irre Idee war das aber auch?!
Das hatte Gott sicher so nicht geplant, denn der Mensch stand schließlich im Zentrum der Schöpfung und mit ihm sein Zuhause. Erst viele Dutzende Erdumrundungen um unser Zentralgestirn später dämmerte es auch dem Letzten, dass die Menschen über Jahrhunderte einem Irrglauben aufgesessen waren. Nur bei den Männern der Kirche dauerte es noch einen Tick länger. Zumindest, bis sie sich bei Galileo posthum für ihr starres Weltbild entschuldigten: Erst 1992 rehabilitierte die katholische Kirche Galilei.4
Rund 2000 Jahre brauchte es von Aristoteles’ erster Vermutung bis zur allgemeingültigen Erkenntnis: Die Erde ist rund.
Offenbar können Glaubenssätze und Überzeugungen derart tief im Kopf der Menschen verankert sein, dass noch so viele kluge Gelehrte sich das Hirn zermartern und wirklich erstaunliche und wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse gewinnen, ehe die alten Glaubenssätze zunächst ins Trudeln geraten, dann revidiert werden, ehe neue Sichtweisen ins kollektive Verständnis gelangen und als »Wahrheit« allgemeingültig anerkannt werden. Und die Liste mittlerweile überholter Glaubenssätze ließe sich uferlos fortsetzen.
MENSCHEN- UND MARKTBILD IM KAPITALISMUS – ZWEI GROSSE ANNAHMEN, DIE ÜBERARBEITET WERDEN MÜSSEN
Einer dieser Glaubenssätze ist nicht ganz so bedeutend wie jener bezüglich der Erdform oder jener über den Aufbau unseres Sonnensystems. Aber fast. Und es darf definitiv nicht wieder 2000 Jahre dauern, bis wir ihn überwunden haben. Es ist der feste Glaube an den geldnutzenmaximierenden Homo oeconomicus, der unser Denken beherrscht und noch immer den Ausgangspunkt für das Agieren in der Wirtschaft prägt. Wir wollen Ihnen auf der Green Ferry beweisen, dass nicht nur dieser Glaubenssatz falsch ist, wir uns von ihm und einem anderen lösen müssen, um zwei zentrale Entscheidungen auf den normativen Inseln als Basis für nachhaltiges Handeln erkennen und vor allem fällen zu können.
Der andere ist nämlich die idealtypische Vorstellung des Marktes, der alles wie von selbst reguliert. Hören wir hinein in ein bekanntes Dogma: »Ein Markt ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten, um Preis und Menge einer Ware oder Dienstleistung zu ermitteln.« 5 In dieser berühmten Definition von Paul Samuelson wird der Markt als volkswirtschaftlicher Mechanismus beschrieben, der einen Preis ermittelt, der die Wünsche von Käufer:innen und Verkäufer:innen gleichermaßen regelt. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Markt mit einem bestimmten Ort verknüpft ist.
Der Gleichgewichtspreis sorge dafür, dass nicht zu viel produziert und nicht zu wenig konsumiert werde, Angebot und Nachfrage würden in Balance gehalten. Konsument:innen und Produzent:innen, also Haushalte und Unternehmen, interagierten ausschließlich zur eigenen Bedürfnisbefriedigung, während keiner von beiden den Markt regieren könne.
Märkte können toll sein.
Wir dürfen aus einer Rede von Co-Kapitänin Katharina Beck im Deutschen Bundestag im Mai 2022 zitieren: »Es ist klar, wir müssen die soziale jetzt in eine sozialökologische Marktwirtschaft weiterentwickeln; denn die planetaren Grenzen sind einfach Fakt. Wenn wir sie nicht respektieren, entziehen wir uns jeder Grundlage für unser Wirtschaften. Der Kern dieses Begriffs ist aber das Wort Marktwirtschaft. Gut funktionierende Märkte haben viele Marktteilnehmer:innen. Sie ermöglichen freien Warenaustausch, Innovationen, Ideengenerierung, im Endeffekt Freude am Experimentieren und an der Zukunftsgestaltung. Damit sie funktionieren, brauchen sie ein paar Rahmenbedingungen, die verhindern, dass es allzu anarchisch zugeht, dass eben Wettbewerb in fairem Maße möglich ist. Umsätze und Gewinne gehören ganz natürlich zu dieser Marktwirtschaft; das können wir ganz entspannt festhalten. Als Unternehmerin und Gründerin ist mir dieser Punkt wirklich wichtig. Umsätze und Gewinne dürfen und sollen natürlich positiv ausfallen. Wer würde es der Bäckerei, der Buchhandlung oder der Metzgerei um die Ecke nicht gönnen. Auch skalierende kleinere und große Unternehmen sollen und dürfen das in unserer Marktwirtschaft. Das sind ja gerade die innovativen Kräfte, die Ressourcen gut allokieren und die wir auch für die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents brauchen. Gute Märkte regeln und sorgen auch für einen guten Preis, einen Marktpreis, der durch Angebot und Nachfrage ein ökonomisches Optimum schafft.« 6
Märkte können aber auch dysfunktional sein.
Zum Zeitpunkt der Rede lässt sich an den Tankstellen und auf den Stromrechnungen alles andere als ein Preisoptimum beobachten. Im Mineralölbereich finden sich oligopolistische Marktstrukturen. In solchen Strukturen kommen positive Kräfte von Märkten eben nicht zur Entfaltung: »Diese dysfunktionalen Märkte sind dann nicht mehr frei oder fair im Sinne der Marktwirtschaft; denn einige wenige Unternehmen können ihre Marktmacht ausnutzen.« 7 So findet dann auch keine faire Preisbildung mehr statt.
Märkte brauchen also gewisse Rahmenbedingungen, um auch tatsächlich gut zu funktionieren. Es dürfen nicht zu wenige Anbieter sein, das heißt, es braucht den Wettbewerb. Auch spielen der Ort des Marktes und Informationsasymmetrien durchaus eine relevante Rolle.
Ist an alle gedacht, wenn jeder an sich denkt?
Was unsere Co-Kapitänin in ihrer Rede außerdem würdigt, ist die Tatsache, dass das Streben nach eigenem Erfolg und Wettbewerb durchaus ihr Gutes haben. Doch führt das Maximieren von finanziellemErfolg immer zum höchsten Gemeinwohl? Wir blättern zurück zu einem der Urväter der liberalen Ökonomie: Adam Smith. Dieser war der Ansicht, dass jeder Akteur in einer Gesellschaft durch seine Leistung zur Mehrung seines eigenen Nutzens unbewusst und ungewollt dazu beiträgt, dass auch der Wohlstand in der Summe größer wird, also alle profitieren. Jeder denkt an sich, dann ist an alle gedacht – so in etwa trichtern uns Ökonom:innen in aller Welt das bis heute ein. Schließlich sei das Streben nach maximalem Eigennutz, gemessen dann meist einfach nur als Streben nach mehr Geld, dem Gemeinwohl maximal zuträglich.
Die berühmte »unsichtbare Hand« von Adam Smith (1723–1790) lässt grüßen – der Markt also, der alles wie durch Zauberei einfach aus sich heraus regelt und in Balance bringt. Smith, der Begründer der modernen Ökonomie, war der Ansicht, dass jeder Akteur in einer Gesellschaft durch seine Leistung zur Mehrung seines eigenen Nutzens unbewusst und ungewollt beiträgt, dass auch der Wohlstand in der Summe größer wird, also alle profitieren. Und natürlich hatte der Schotte dafür ein einfaches Beispiel parat – es wird heute in Einführungsvorlesungen noch vorgetragen: Stellen wir uns einen Bäcker vor, gerne in Smith’ Heimatstadt Edinburgh. Nennen wir ihn Mr. Dough. Der gute alte Mr. Dough produziert Eins-a-Brote, leckere Teilchen und andere hochwertige Backwaren zu attraktiven Preisen, nach denen sich die Hauptstädter:innen die Finger lecken. Warum macht er das? Nun, Adam Smith meinte: wohl, um ein erfolgreiches Geschäft aufzubauen, vielleicht eine zweite oder gar dritte Filiale zu eröffnen, zu expandieren, damit er sich mit dem hübschen Gewinn aus den Backwaren sein Leben versüßen kann. Soweit man das im 18. Jahrhundert eben konnte. Mr. Dough produziert also nicht, weil er ein Menschenfreund wäre und weil er es kaum aushalten könne, seine Kund:innen mit wunderbarem Gebäck zu beglücken, damit sich alle pappsatt am Esstisch über den Bauch streicheln. Er macht es, damit er Gewinn macht und sich ein gutes Leben aufbauen kann. Aus keinem anderen Grund. Oder anders gesagt, so Smith’ Theorie: Erlauben wir nur jedem Marktteilnehmer und jeder Marktteilnehmerin, seinen Eigennutz zu maximieren – weitgehend ohne irgendwelche staatlichen Regularien beachten zu müssen –, ist der Nutzen fürs Gemeinwohl insgesamt am größten. Simsalabim. Aus Egoismus wird Altruismus.8
Diese zwei Glaubenssätze – der Mensch sei ein (finanziell) nutzenmaximierendes Wesen und sein entsprechendes Agieren mehre in Summe das Gemeinwohl – halten sich seit langer Zeit, spätestens seitdem die ersten zarten Pflanzen des Kapitalismus sprossen und sich ihre Wurzeln tief und tiefer in unsere Köpfe gruben.
Was aber wäre, wenn diese zwei fundamentalen Glaubenssätze unseres Wirtschaftssystems gar nicht stimmen würden? Wenn sich das Fundament unserer heutigen Ordnung als fehlerhaft, brüchig und nicht belastbar erweisen würde?
Wobei diese alten Glaubenssätze zumindest historisch gesehen eher für die sogenannte westliche Welt zu gelten scheinen. Denn natürlich gab und gibt es Gesellschaften, die mit anderen Überzeugungen lebten und leben. Man denke zum Beispiel an die in einigen afrikanischen Ländern weit verbreitete Ubuntu-Philosophie, in der die Idee der Gemeinschaft eines der integralen Wesensmerkmale der Gesellschaft ist. Es ist eine Theorie und Grundauffassung der Zusammengehörigkeit der gesamten Menschheit. Die Bedeutung von Ubuntu wird auch so beschrieben: »Ich bin, weil wir sind.« 9
DREHEN WIR DEN SPIESS UM!
Was wäre also, wenn der Mensch gar nicht ausschließlich auf (finanziellen) Eigennutz ausgerichtet wäre? Gar nicht die egomane Maschine, in deren Gewand sie uns tagtäglich auf allen medialen Kanälen entgegenbrüllt? Sondern ganz anders? Gut eben. Ein Wesen, das empathisch ist, nicht nur am eigenen Wohlbefinden interessiert, sondern auch an dem aller anderen? Ein Wesen, das ein gutes Leben nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen will? Klingt nett.
Doch damit nicht genug: Der »Mensch, das gute Wesen« ist revolutionär im wahrsten Wortsinn, umwälzend, Systeme auf links drehend, Neues gebärend, ein anderes Zeitalter einläutend. Denn – und das klingt für den einen oder die andere vielleicht etwas vermessen – nichts anderes wollen wir hier auf der normativen Insel anbieten: eine neue Sicht auf den Menschen und damit auch auf die Welt insgesamt. Wir sind davon überzeugt: Der Mensch ist »im Grunde gut« – so hat es der niederländische Autor und Aktivist Rutger Bregman als Buchtitel für eine umfassende Analyse diverser Forschungsdisziplinen über das Wesen des Menschen formuliert, wir kommen gleich noch darauf zurück.
Nehmen wir diese wissenschaftlich fundierte Haltung – der Mensch ist im Grunde pro- und nicht unsozial – als Basis und Ausgangspunkt für unser Denken, verändert sich alles. Und muss sich alles verändern. Denn die Heilung unseres geplagten Planeten und der Aufbau eines gerechten Miteinanders hängen maßgeblich davon ab, dass diese andere Menschen- und Weltsicht selbstverständlich wird, zu einem festen Glaubenssatz. Wir verstärken die Erdkrümmung nicht dadurch, indem wir an die Welt als Erdball nur fest genug glauben. Aber wir nähren die Positivkräfte des Menschen, indem wir auf Vertrauen setzen und unser gemeinsames Tun auf ein gelingendes Miteinander und die Heilung der Erde ausrichten.
Schnäpschen zwischendurch?
Im Ernst: Wir wollen, wir müssen aufräumen mit falschen Glaubenssätzen, die uns lange beherrschen und mit immer höherem Tempo in den planetaren Ruin treiben. Auf der individuellen Ebene sind viele von uns kollektiv überzeugt, dass der Eigennutz die stärkste Motivation des Menschen sei und dass man diese Logik in Geldeinheiten transferieren könne, nach dem Motto: Maximaler Gelderwerb ist gleich maximaler Eigennutz ist gleich maximale Motivation.
Dabei lassen traditionelle Modelle und Anreizsysteme oft außer Acht, dass Menschen nicht nur Gelderwerb als nützlich empfinden und er allein die Quelle von Motivation wäre. Zufriedenheit und Glück werden auch durch gute Beziehungen gespeist, durch sinnvolles Handeln, durch Selbstwirksamkeit, also die Möglichkeit, selbstbestimmt einen positiven Beitrag zu leisten. All das motiviert Menschen mehr als nur die schnöde Geldmehrung – und manchmal hat Geld sogar einen negativen Effekt auf die Motivation, wie wir später noch darlegen werden.
Knappheit macht Güter begehrenswert.
Eine Grundlage von Markttheorien ist Knappheit. Was knapp ist, ist begehrt. Viele westliche Märkte sind allerdings gesättigt. Daher sind in den letzten Jahrzehnten sogenannte Marktpenetrationsstrategien auf die Lehrpläne von Marketingvorlesungen in BWL-Studiengängen gekommen. Künstliche Verknappung gehört zum gut eingeübten Repertoire nicht nur bei Mode- und Luxusgüterherstellern, sondern findet sich in diversen Branchen wieder. Formulierungen wie »Nur noch wenige Tage im Angebot«, »nur noch zweimal verfügbar«, »29 andere Kunden schauen sich dieses Produkt gerade an« suggerieren Knappheit und sollen die Nachfrage steigern. Gefühlt oder real knapp kann auch Geld sein. Was nicht in großen Mengen verfügbar ist, löst den Reflex der Begierde aus. Und das gilt nicht nur für Güter und Geld, sondern auch für Karriereschritte, Fortschrittsindikatoren oder auch für die Messung von Erfolg auf der politischen Ebene.
Alle wollen immer mehr haben!
Wenn das BIP (Bruttoinlandsprodukt) steigt, die Menschen – und sei es nur durchschnittlich – mehr Geld im Geldbeutel haben, sehen Politiker:innen das als erfolgreich an. Wenn es um einkommensschwächere Teile der Bevölkerung geht auch zu Recht, doch es greift für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften, wo es auch um Teilhabe, Gerechtigkeit und Zugangsmöglichkeiten geht, zu kurz. Auf Ebene der Unternehmen wird das Haben durch den Glaubenssatz geprägt, dass Gewinnmaximierung der hauptsächliche Daseinszweck von Unternehmen sei. Auf nationaler Ebene gilt der korrespondierende Glaubenssatz, dass das BIP-Wachstum als zentrale Zielkoordinate für jegliches politische Handeln ein hinreichend guter Näherungswert für wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklung sei.
Und wenn jeder Mensch beziehungsweise jedes Unternehmen nur seinen Eigennutz maximiere, erzeugten wir den maximalen Nutzen für alle. Diese Haltung hat sich nicht nur in unserem Denken festgesetzt, sondern auch in unseren Redewendungen: »Jeder ist sich selbst der Nächste« oder »Jeder ist seines Glückes Schmied« bis hin zu »Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht«. So manifestieren sich Glaubenssätze.
Die umso stärker im kollektiven Gedächtnis verankert sind, wenn die Wissenschaft sie als erwiesen ansieht und als feste Lehrsätze propagiert, angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse also wie ein Zertifikat für Glaubenssätze wirken.
Ein Beispiel. Nehmen wir folgenden Glaubenssatz: Der einzige Sinn von Unternehmen besteht in der Gewinnmaximierung und der Einhaltung von Gesetzen, die im Sinne der kollektiven Interessen der Allgemeinheit durch demokratisch legitimierte Institutionen verfügt werden. Oder in Kürze: Unternehmen sollen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben möglichst viel Profit machen. Dem dürften die meisten Unternehmer:innen, Manager:innen und auch viele andere zustimmen, auch wenn wir manche kommentierend hören: Na ja, etwas anders ist es schon, aber im Endeffekt stimmt’s. Geheiligt wurde dieses Paradigma von vielen Ökonom:innen, wie zum Beispiel von Milton Friedman, der es 1970 in einem Essay beschrieb 10, häufig auf die einfache Formel gebracht: »The business of business is business.«
Und wer das nicht verstand oder verstehen wollte und so etwas wie die unternehmerische Verantwortung eines Unternehmens für die Gesellschaft ins Feld führte, den belehrte Friedman, dass die alleinige soziale Verantwortung eines Unternehmens darin bestünde, seinen Gewinn zu maximieren.
Konzeptionell sind Friedmans Ideen bestechend einfach: Unternehmen orientieren sich ausschließlich am Prinzip der Profitmaximierung, der Staat gibt den Rahmen vor und stellt das Gemeinwohl sicher.11 Ein klares Bekenntnis zum Maximieren des finanziellen Eigennutzes, ergänzt um wenige Regeln und durch die »unsichtbare Hand« des Marktes zum Wohl aller. So werden Grauzonen, Mehrdeutigkeiten, Externalitäten und Dilemmata vermieden.
Einfach, aber falsch.
In Wirklichkeit hat sich allerdings gezeigt, dass Friedmans Ideen so nicht funktionieren. Die rein profitorientierte Wirtschaft ist auf dem besten Wege, unseren Planeten und das Vertrauen der Menschen in eine lebenswerte Zukunft zu zerstören. Und letztlich die Grundlage des eigenen Erfolgs. Auch, weil Mitarbeiter:innen immer weniger Lust auf schnöde Profitmaximierung haben. Das Modell der reinen Shareholder-Value-Maximierung hat keine Zukunft. Trotzdem steht es ein halbes Jahrhundert später noch als Kern des Unternehmenszwecks in den Lehrplänen vieler Universitäten.
UNSER ZENTRALER PUNKT: »IMPACT FIRST«!
Die Politik war bisher nicht in der Lage, diesem Treiben entschieden Einhalt zu gebieten und den Rahmen so zu setzen, dass die Wirtschaft im Sinne der Menschen agiert. Doch diesen Rahmen brauchen wir. Und er ist denkbar einfach: Die Wirtschaftsaktivitäten eines Unternehmens müssen innerhalb der endlichen Ressourcen unseres Planeten erfolgen und ein gutes Leben für alle Menschen ermöglichen. Punkt.
Kapitän:innen-Intermezzo
»Sehr geehrte Green Ferry-Reisende, wir hören den einen oder die andere raunen, dass Shareholder Value ganz schön 80er wäre. Ja, stimmt. Heute bekennen sich die meisten größeren Unternehmen selbstverständlich zu Corporate Social Responsibility oder anderen Nachhaltigkeitskonzepten wie ESG – und sprechen vom neuen Paradigma des Stakeholder Value. Nachhaltigkeit wird allerdings meist als weitere Wachstumschance und verbessertes Renditeversprechen positioniert. All das folgt nach wie vor der traditionellen ›Profit First‹-Maxime – und Stakeholder Value ist im Endeffekt nur der schlauere Shareholder Value.
Wir stellen die Mainstreamlogik des Stakeholder Value auf den Kopf und sagen: ›Impact First‹. Das heißt: Wir laden Unternehmer:innen ein, sich normativ neu auszurichten, konsequent an dem, was die Welt und die Menschen in Zukunft brauchen. Im Ergebnis ermöglicht die ›Impact First‹-Orientierung eine echte Gestaltung mit einer klaren Ausrichtung auf positive Zukunftserwartungen, anstatt sich wandelnden Gesetzesvorgaben und Käufer:innenpräferenzen hinterherzulaufen.«
Wenn wir Friedmans »Business« neu definieren, nicht als Profitmaximierung, sondern als gutes Wirtschaften innerhalb der planetaren Grenzen und im Einklang mit sozialen Normen, darf sein Satz »The business of business is business« die Jahre weiter überdauern. Wichtig ist uns nur, und das können wir gar nicht häufig genug betonen, die Entschiedenheit unserer neuen Definition. Hier geht es nicht um ein Vergleichen mit anderen Unternehmen, um die relative Performance, um »best-in-class«, sondern einfach um: Zukunftsfähigkeit.
Zukunftsfähigkeit im Sinne absoluter Nachhaltigkeitsleitplanken und konsequenter Umsetzung. Umsätze steigern und Kosten senken, in der alten Welt immer das Maß aller Dinge, gelten in der neuen Welt nur und ausschließlich dann als erstrebenswert, wenn dies im Rahmen der planetaren Grenzen und sozial verantwortlich möglich ist. Geld verdienen ist auch zukünftig herzlich willkommen. Aber nicht um jeden Preis.
Denn Unternehmen im Sinne Friedmans von der Verantwortung zu entbinden, die über die Profitmaximierung und Gesetzestreue hinausreicht, hat katastrophale Folgen: Dass wir heute umgerechnet Jahr für Jahr global gesehen 1,74 Erden 12 verbrauchen, also über die Belastbarkeit des Planeten hinausgehen, ist das Ergebnis eines falschen Wirtschaftens, das Konsumbedürfnisse immer weiter befeuert und damit das verantwortungslose Ausbeuten der Natur.
Wir müssen anerkennen, dass wir seit sehr langer Zeit das falsche Ziel verfolgen, ein falsches Menschenbild haben und falsche Anreize setzen. Mit anderen Worten: Wir müssen uns vollständig neu orientieren. Die Grundlage sind neue, normativ getragene Überzeugungen, die begeistern.
1 Zitiert nach: Laloux, Frederic: Reinventing Organizations, o. O. 2014. (eigene Übersetzung aus dem Englischen)
2 Vgl. Planet Wissen: Eratosthenes – Genie der Antike. [online] https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/ordnungssysteme/kartografie_das_gesicht_der_erde/pwieeratosthenesgeniederantike100.html [abgerufen am 08.09.2022]
3 Vgl. Deutsche Welle: Vor 500 Jahren: Magellans Reise um die Welt [online], https://www.dw.com/de/vor-500-jahren-magellans-reise-um-die-welt/a-49898819 [abgerufen am 08.09.2022]; Wikipedia: Ferdinand Magellan [online], https://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Magellan [abgerufen am 08.09.2022]
4 Vgl. Focus: Späte Anerkennung – Vor 20 Jahren rehabilitierte Rom Galileo Galilei [online], https://www.focus.de/wissen/mensch/naturwissenschaften/vor-20-jahren-rehabilitierte-rom-galileo-galilei-spaete-anerkennung_id_2293732.html [abgerufen am 08.09.2022] ]
5 Samuelson, Paul A.; Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre. Wien 1988, S. 5.
6 Deutscher Bundestag: 20.05.2022, Krisengewinne von Energiekonzernen: Rede von Katharina Beck, MdB [online], https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7536820#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk/dmlkZW9pZD03NTM2ODIw&mod=mediathek [abgerufen am 08.09.2022]
7 Ebd.
8 Vgl. Smith, Adam: The Wealth of Nations. Chicago 1977
9 Wikipedia: Nelson Mandela [online], https://en.wikipedia.org/wiki/Nelson_Mandela [08.09.2022] (eigene Übersetzung aus dem Englischen)
10 Vgl. Friedman, Milton: A Friedman doctrine – The Social Responsibility Of Business Is to Increase Its Profits. In: The New York Times [online], https://www.nytimes.com/1970/09/13/archives/a-friedman-doctrine-the-social-responsibility-of-business-is-to.html [abgerufen am 08.09.2022]
11 Ebd.
12 Global Footprint Network: Earth Overshoot Day 2021 [online], https://www.overshootday.org/newsroom/press-release-june-2021-german/ [abgerufen am 06.09.2022]
Die normativen Inseln:Wollen statt müssen
Wir wollen dem alten ein neues Denken entgegensetzen, das geprägt ist von zwei neuen Glaubenssätzen, zwei neuen Erkenntnissen: einem realistischen Menschenbild (»Prosozial statt asozial«) und einem primär an den sozialökologischen Anforderungen ausgerichteten Wirtschaften (»Impact First«). Grundlegend dafür ist die normativ-bewusste Entscheidung, denn nur so kommt das Neue in die Welt.
Jetzt wird’s ernst auf der Green Ferry. Es kommt zum neuen Schwur. Die sozialökologische Wirtschaft übernimmt das Ruder.
Entscheidungen ermöglichen Veränderung und Transformation, sie sind fundamental. Erst aus normativen Entscheidungen leiten sich die strategischen ab. Ohne diese Weichen schlagen wir auch operativ den falschen Weg ein.
ALSO ERSTENS: DER MENSCH IST PROSOZIAL. UND ZWEITENS: »IMPACT FIRST«
Unternehmen müssen sich fernab von Feiertagsreden einem Systemverständnis verschreiben, nach dem wir es als Menschheit nur gemeinsam schaffen können, die vor uns liegenden riesigen Aufgaben – Erhalt unserer Lebensgrundlagen und ein wertschätzendes Miteinander – zu bewältigen. »Müssen«? Unserer Erfahrung nach wird das eher zum »Wollen«, mit Freude und Spaß am Handeln.
Und um das ganz klar zu sagen: Wir wollen niemandem verbieten, Geld zu verdienen. Die zentrale normative Entscheidung ist, die erwünschte ökologische und gesellschaftliche Wirkung als unverhandelbaren Rahmen für zukunftsfähiges Wirtschaften anzuerkennen. Wir nennen das »Impact First«. Die Gewinnerzielungsabsicht ist bedingt. Die Achtung der planetaren Grenzen und sozialethische Normen sind als primäre Grundlage zu verstehen, innerhalb deren profitables Wirtschaften möglich ist.
Sie haben Zweifel? Dann schnappen Sie sich Ihren Rucksack und kommen Sie mit. Auf die normativen Inseln. Sie weisen allen Schiffen schon von Weitem den Kurs. Zuerst lassen wir den Blick über unser aktuelles Menschenbild schweifen, von dem Gesellschaft, Politik und Wirtschaft geleitet sind. Und das falsch ist.
Insel 1:Prosozial statt asozial!
Entscheiden Sie sich für ein realistisches Menschenbild
Zentrale Inhalte und Begriffe
•Menschenbild
•Homo oeconomicus (maximus)
•Homo prosocialis
•Menschliche Motivation
•(Eigen-)Verantwortung
•Rutger Bregmann: Im Grunde gut
Warten Sie noch einen Augenblick, bis wir fest vertaut sind und die Brücke auf den Steg freigegeben ist. Kommen Sie nun mit uns von Bord, schnappen Sie sich etwas zu trinken und lassen Sie uns auf einen wunderschönen Aussichtspunkt wandern, dort kann man das große Ganze in den Blick nehmen. So, alle da? Aus der Puste? Dann nehmen Sie gerne Platz auf einem der Felsen oder Baumstämme und kommen Sie erst einmal mit allen Sinnen an.
So, alle da? Aus der Puste? Dann nehmen Sie gerne Platz auf einem der Felsen oder Baumstämme und kommen Sie erst einmal mit allen Sinnen an.
Willkommen auf der prosozialen Insel. Schnaufen Sie durch und lassen Sie den Blick schweifen. Währenddessen möchten wir Sie einstimmen mit ein paar Worten über Robert Waldinger, ein angesehener Psychotherapeut und -analytiker an der Harvard Medical School, zudem Buchautor und Zen-Priester. Neben viel Meditationszeit vor der weißen Wand hat er eine aufsehenerregende Studie durchgeführt, in der er den Lebensweg von 724 Uni-Absolventen seit 1938 unter die Lupe nahm. Dabei mussten die Männer (damals waren Frauen an den Universitäten leider noch Mangelware) jedes Jahr einen Fragebogen ausfüllen, außerdem wurden sie zu Fragen interviewt wie: welche Krisen sie auf welche Weise gemeistert haben, welche Sorgen sie begleiteten, wie erfolgreich sie im Job waren und wie ihre Ehe verlief. Die Bilanz war eindeutig: Es geht nicht um Reichtum oder Ruhm oder darum, immer härter zu arbeiten. Die klarste Botschaft, die wir aus dieser langjährigen Studie erhalten, lautet: Gute Beziehungen halten uns glücklicher und gesünder. Punkt.1
Ja, wissen wir alles, mag es dem einen oder anderen durch den Kopf gehen. Spätestens seit dem Weltbestseller 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen von der ehemaligen Krankenschwester und Sterbebegleiterin Bronnie Ware wissen wir, was Menschen im Rückblick wirklich wichtig war – oder gewesen wäre: eigene Träume verwirklichen, Interessen neben der Arbeit verfolgen, eigene Gefühle ausdrücken, Freundschaften und Beziehungen pflegen, Freude ins Leben lassen. Kein Sterbender hat ihr die Reue anvertraut, dass er gerne mehr Reichtümer angehäuft hätte.2
Doch viele Menschen handeln nicht entsprechend. Im Gegenteil, sie haben kollektiv ein anderes Menschenbild im Kopf, nach dem sie ihr Handeln, sogar ihr Leben ausrichten. Die meisten Gelehrten an den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten bestärken uns sogar, dass dieses Bild exklusiv richtig sei. Dort scheint man zu meinen, dass dieses reduzierte Bild des Menschen und die darauf basierende Form des Wirtschaftens wie ein Naturgesetz als gegeben vorausgesetzt werden müssten.
Unveränderlich. Unverrückbar. Unumstößlich.
Und die, die dieses Bild des Menschen als »des Menschen Wolf« (Thomas Hobbes) heute anzukratzen wagen, geben sich der Lächerlichkeit preis, werden als Gutmenschen belächelt, als Utopist:innen ausgelacht und als naive Spinner:innen des diskursiven Raumes verwiesen. Dabei sollten wir uns das genauer ansehen. Denn schließlich wurde und wird auf der Grundlage dieses Bildes über unser Wesen ein ganzes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem abgeleitet. Bis heute. Erinnern Sie sich an Mr. Dough und die Wirkmächtigkeit von Adam Smiths Bäcker.
Es ist der Glaubenssatz über das Bild des Menschen als einem Wesen, das nach persönlicher Nutzenmaximierung strebt. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Aber persönlicher Nutzen, wie die angeführten Studien illustrieren, setzt sich aus vielen Elementen zusammen. Der Kernfehler ist, persönlichen Nutzen mit Geldzuwachs gleichzusetzen. Und wenn wir dann noch die Inkaufnahme von Nachteilen für andere hinzufügen und den Kant’schen Imperativ über die Klippe gehen lassen, haben wir das Bild vor Augen, das unserer Wirtschaftsordnung zugrunde liegt:
Der Mensch als egoistisches Individuum, das im Wettbewerb mit anderen Menschen um maximalen Ressourcenzugang und Besitz kämpft, auch auf Kosten anderer.
Welche Konditionen versprechen mir den größten Vorteil? Welcher ist der für mich beste Deal? Wie kann ich Menschen und Ressourcen so optimal nutzen, dass ich den profitabelsten Schnitt mache? In den Wirtschaftsfakultäten der Universitäten auf der ganzen Welt haben sie einen festen Begriff, der dieses Menschenbild prägnant zusammenfasst: Homo oeconomicus.
Anna Reisch, die lange für das Netzwerk Plurale Ökonomik e. V. als Vorständin tätig war und Reinventing Society - Zentrum für Realutopien mitgegründet hat – das unsere Co-Kapitänin Katharina Beck ebenfalls mit aufgebaut hat – schätzt, dass 20 Prozent aller Studierenden irgendwann, weil sie ein wirtschaftliches Fach belegen, den rein in finanzieller Motivation gemessenen Homo oeconomicus auf dem Pult serviert bekommen. Während im Hauptfach zunehmend differenziertere Wirtschaftsmodelle diskutiert würden, werde insbesondere den Studierenden mit den Nebenfächern VWL oder BWL lediglich die klassische Theorie vermittelt. »Die jungen Menschen bekommen den längst überholten Homo oeconomicus als eigennütziges und nutzenoptimierendes Wesen kontextlos als vermeintliche Realität vorgesetzt, ohne jeglichen wissenschaftstheoretischen Überbau«, so Anna Reisch. 3
Auch Claudia Kemfert sieht die Lehre kritisch. Die Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Professorin an der Leuphana Universität Lüneburg und erfolgreiche Buchautorin, ist nach eigenem Bekunden »Wissenschaftlerin durch und durch«. Und hat als solche festgestellt: »Die Ökonomen sind leider oftmals noch immer recht rückwärtsgewandt, häufig sehr interessengeleitet und eindimensional marktorientiert. Vielfalt und Perspektivenreichtum ist häufig unerwünscht. Die klassische Lehre dominiert noch immer.«4
Der Homo oeconomicus reiht sich als Begriff in jene Abfolge ein, wie wir sie aus der Biologie kennen: vom Homo habilis über Homo ergaster und Homo heidelbergensis bis zum Homo sapiens, also uns. Und es klingt so, als sei der Homo oeconomicus eine Weiterentwicklung unserer Spezies, als hätte uns die Evolution nicht mehr nur den aufrechten Gang und ein wirklich hoch spezialisiertes Gehirn spendiert, sondern mit dem Aufkommen des kapitalistischen Wirtschaftens auch noch eine besondere Haltung in unsere Gene gepflanzt: die des nur auf seinen Vorteil bedachten, die Ellenbogen einsetzenden, geld- und besitzgierigen Menschen, der ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen und seine Umwelt durchs Leben bulldozert. Wer nicht entsprechend agiere, habe nicht alle Tassen im Schrank und wisse nicht, wie der Hase läuft.
DER BEGRIFF HOMO OECONOMICUS GAUKELT UNS EIN REIN RATIONALES WESEN VOR
Dabei ist es längst erwiesen, dass uns die rein monetäre Nutzenmaximierung nicht vor Glück aus dem Sattel hebt. Im Gegenteil: Das Empfinden von Glück, Zufriedenheit und Freude speist sich aus anderen Quellen. Persönliche Nutzenmaximierung ist naheliegend und regelmäßig sinnvoll. Aber Gleichsetzung von persönlichem Nutzen mit monetärem Zugewinn ist grob verkürzend und in dieser Verkürzung schlichtweg falsch.
Die Krone der Schöpfung und das Ideal der meisten Wirtschaftsakteur:innen ist der Homo oeconomicus maximus. Gerne auf Kosten anderer. Und natürlich ohne schlechtes Gewissen. Denn: Wenn ich meinen Nutzen nicht nur steigere, sondern auch nach allen Kräften bis zum Äußersten maximiere, dann ist ja allen gedient. Und dies sei – nach traditioneller Lehre – sogar wissenschaftlich bewiesen!
Auch wenn sich diese Doktrin für viele immer häufiger falsch anfühlt, auch wenn sie wissenschaftlich gar nicht stimmt und wenn sie uns noch nicht einmal glücklich macht: Diese Doktrin ist nicht nur auf Wissenschaft und Wirtschaft begrenzt, sondern auch tief in den Köpfen der Regierenden verankert. Noch einmal: Die Zielkoordinaten für jegliches politische Handeln fast aller Staaten sind auf das Wachsen des Bruttoinlandsprodukts und den Anstieg des Geldes im Portemonnaie der Einzelnen abgestimmt. Die Einseitigkeit des Starrens auf wirtschaftliche Kennzahlen, Börsenwerte, Wachstumsprognosen, Branchenindizes und durchschnittliches Geld der Einzelnen ist das Problem und gleicht einer paralysierenden gesellschaftsumfassenden Manie. Wir fokussieren kollektiv auf die Zahlen des BIPismus und lassen uns von ihnen einlullen wie die Schlange Kaa den kleinen Mogli im Dschungelbuch. Solange überall ein Pluszeichen vor den Zahlen steht, ist alles gut. Läuft! Bei finanziellen Minuszahlen ist große Krise angesagt, und es beginnt die Suche nach den Schuldigen und die Arbeit, den Trend schnellstmöglich umzukehren. Egal wie. Das muss umgekehrt nicht immer falsch sein, der starre Automatismus und das Schwarz-Weiß-Denken sind das Problem daran.
Klingt eindimensional? Stimmt. Weil es das ist.
Wir finden, dass wir dieses Menschenbild und damit zusammenhängend unsere Messung von Fortschritt dringend korrigieren müssen. Der Mensch ist mehr als nur ein Werkzeug der Geldmehrung, er empfindet nicht nur Gelderwerb als nützlich. Richtig und wissenschaftlich nachgewiesen ist: Die Initial-Zufriedenheit wächst mit dem Einkommen, aber nicht grenzenlos. Ein Team um den Psychologen Andrew T. Jebb von der Pudue University im US-Bundesstaat Indiana analysierte die Daten einer Studie des Marktforschungsinstituts Gallup, an der 1,7 Millionen Menschen aus 164 Ländern teilnahmen, der Gallup World Poll.
Die zentrale Fragestellung lautete: Bei welcher jährlichen Einkommenshöhe sind die Lebenszufriedenheit (langfristig) und das emotionale Wohlbefinden (von Tag zu Tag) am höchsten? Das Ergebnis: »Wir haben herausgefunden, dass das ideale Einkommen bei 95 000 US-Dollar für die Lebenszufriedenheit und 60 000 bis 75 000 US-Dollar für das emotionale Wohlbefinden liegt«, so Andrew T. Jebb. Danach ist Schluss mit lustig, danach zeigt sich keine signifikante weitere Steigerung, was das Glücksempfinden angeht.5 Nun könnte man einwenden, dass wir von diesen Summen global noch Lichtjahre entfernt sind. Geschenkt. Aber Maximieren? Macht nicht glücklicher.
Abgesehen von einer festen Einkommenshöhe ist laut diverser Studien auch die Relation innerhalb der jeweiligen individuellen Bezugsgruppe ein wichtiger Faktor fürs eigene Glücksempfinden. Ein Beispiel: Ein Verkäufer, der 3000 Euro brutto im Monat verdient und damit 1000 Euro mehr als die Kolleg:innen, ist wahrscheinlich zufriedener als die Chefärztin, die 10 000 Euro brutto im Monat verdient, aber 1000 Euro weniger als ihre direkten Kolleg:innen.6 Der Mensch ist schon ein irres Wesen. Unfassbar spannend – und widersprüchlich.
Denn: Das Streben nach mehr ist allzu menschlich, sonst wäre unsere Zivilisation auch längst nicht dort, wo sie heute ist. Aber nicht jeder menschliche Impuls hält der kritischen Reflexion stand. Die bloße Geldmehrung führt nachweislich nicht von allein zur Glücksmehrung. Der Mensch ist mehr, er ist ein prosoziales Wesen, das sein Wohlbefinden aus den sozialen Begegnungen und Interaktionen schöpft, aus guten Beziehungen, in denen Empathie, Zuwendung, Liebe, Schönheit, Humor und Unterstützung wesentliche Rollen spielen. Mit Euro oder US-Dollar unbezahlbar.
Das lässt sich auch ablesen an der Motivation des Menschen, sinnvolle Dinge zu tun – und das ganz ohne Geld. Unzählige Menschen, allein 30 Millionen der gut 80 Millionen Menschen in Deutschland, engagieren sich zum Beispiel ehrenamtlich in Sportvereinen, bei der Freiwilligen Feuerwehr, in unzähligen Projekten und Initiativen, die sich dem Gemeinwohl 7