Gregorsbriefe - Gregor Schorberger - E-Book

Gregorsbriefe E-Book

Gregor Schorberger

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Beschreibung

Schwul und katholisch sein – das ist für Gregor Schorberger selbstverständlich. "Bestimmt bist Du, Papa, gespannt zu hören, was aus Deinem ›Stammhalter‹ geworden ist." In 20 biografischen Briefen erzählt er seinem verstorbenen Vater Stationen von einem bewegten Leben: Kindheit, Lehrzeit als Postbote, Ordenszeit in Frankreich, Coming-out, Begegnungen in der Seelsorge mit AIDS-Patienten und als Seelsorgeausbilder. Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie man gegen Vorurteile, Diskriminierung und Ungerechtigkeit eine überzeugende Grundhaltung bewahrt, wie man als schwuler Christ ein spirituelles Leben lebt. "Kämpferische Gelassenheit" Pierre Stutz, Theologe

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Inhalt

Gregors BriefeWidmungTeil I: 1947 – 1973Selbstfindung oder Anders als die AnderenBrief über den Anlass meines SchreibensBrief über die KindheitBrief über die SchulzeitBrief über die Zeit als PostlehrlingBrief über die Zeit als AbendgymnasiastBrief über die Ordenszeit als Kleiner Bruder JesuBrief über die Zeit als Theologiestudent in FreiburgTeil II: 1973 – 1992Coming-out oder Wege in die EmanzipationBrief über die Zeit als KrankenpflegeschülerBrief über die PastoralassistentenzeitBrief über die Zeit als MotorradfahrerBrief über die Zeit als Seelsorger mit AIDS-KrankenTeil III: 1992 – 2020Vertrauen oder Das eigene Selbst lebenBrief über die eingetragene LebenspartnerschaftBrief über die Zeit als SehlehrerBrief über die Zeit als MärchenerzählerBrief über die Zeit mit ehrenamtlichen Seelsorger*innenBrief über die Zeit des Unterwegsseins als schwuler ChristBrief über die Zeit als TrauerseelsorgerBrief über die PilgerzeitBrief über die PatenschaftBrief über die Zeit als schwuler AktivistNachwort Stückwerk wie alles im Leben!DanksagungBildtafelnBiographischesImpressum
Gregor Schorberger
Gregorsbriefe
Ein schwuler Seelsorger im Dialog mit seinem Vater
Autobiografie

Widmung

Für
Burkhard Cramer
Elisabeth Schorberger, geb. Ruhl
Johann Schorberger, geb. Skorupa

Teil I: 1947 – 1973

Selbstfindung oder Anders als die Anderen

Brief über den Anlass meines Schreibens

Frankfurt am Main, 1. Februar 2016
Lieber Papa,
heute, am 1. Februar 2016, würdest Du 108 Jahre alt. Würdest Du in Frankfurt wohnen und noch leben, wärest Du einer von 240 Hundertjährigen, die Oberbürgermeister Peter Feldmann diesen Monat in den Römer eingeladen hat. Diesen freudigen Anlass nehme ich gerne wahr, um Dir nach langer Zeit wieder einmal zu schreiben. Du selbst hast ja gerne lange Briefe an uns geschrieben, wenn Deine reiselustige Ehefrau Lieb, wie Du sie zärtlich nanntest, mit uns drei Kindern irgendwo in Holland, Frankreich oder Deutschland in Urlaub war. Nun habe ich das gleiche Alter von 68 Jahren erreicht, in dem Du am 10. Juli 1976 in meinen Armen zu Hause in Essen-Karnap gestorben bist. Grund genug, auf unsere gemeinsame Zeit und, mich in Dir spiegelnd, auf die Jahre nach Deinem Tod bis heute zurückzublicken. Bestimmt bist Du, Papa, auch gespannt zu hören, was aus Deinem »Stammhalter« geworden ist, dieser damals wie heute phlegmatischen Person. Ich höre Dich noch am Küchentisch schimpfen: »Schon hundertmal habe ich Dir gesagt: Gregor, sitz gerade! Geistesabwesend wie Du wieder bist, ist alles vergebliche Mühe, Dir etwas zu sagen.«
Übrigens feiere ich heute auch das 23½jährige Zusammensein mit Burkhard, meinem Lebenspartner. Ja, Papa, Du hast am 12. Juli 1992 einen neuen Schwiegersohn erhalten. Du bist bestimmt völlig überrascht, diese Nachricht zu hören, dass Dein Sohn einen Mann in einem Standesamt und in einer katholischen Kirche geheiratet hat, bestand doch zu Deiner Zeit in der Bundesrepublik noch der von den Nazis verschärfte Strafparagraph 175a. Du hast als Polizist an der Hauptwache in Essen eher dienstlich mit homosexuellen Menschen zu tun gehabt. Hätte ich Dir Burkhard jedoch 1992, im ersten Jahr unserer Liebe, vorgestellt, Du hättest ihn genauso gastfreundlich aufgenommen, wie es Mama, Deine Töchter Christiane und Marlene sowie ihr Mann Karlheinz mit ihren drei Kindern getan haben.
Du siehst, ich habe Dir aus meiner Lebensgeschichte viel zu erzählen, Freudiges, Leidvolles und Dramatisches. Ja, es gibt eine ganze Palette gefühlvoller Lebensereignisse, voller bunter Farben, die zwischen Sonnen- und Schattenseiten stehen. Du selbst scheutest Dich nicht, Deine Gefühle zu zeigen, seien es Tränen der Freude bei der Weihnachtsbescherung oder Tränen der Trauer angesichts eines längeren Abschieds eines Deiner Kinder. Viele Erlebnisse, die ich Dir aus meiner Kindheit und Jugendzeit erzähle, sind Dir bekannt. Andererseits ist auch einiges für Dich neu, da ich Vergangenes vor allem unter homoerotischen und spirituellen Zusammenhängen aufspüren und aus der Perspektive des neuen Jahrtausends wiedergeben werde. Meine Briefe an Dich erzählen von der alten und der neuen Heimat, von Erinnerungen aus der Kindheit, Jugend- und Erwachsenenzeit, von familiären, wohngemeinschaftlichen, partnerschaftlichen, kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Ereignissen. Dabei hoffe ich, mir beim Erinnern klarer zu werden über mich, wer ich bin und warum ich gerade in dieser Zeit und an diesem Ort auf die Welt gekommen bin.
Eingedenk Eurer gerade überstandenen grauenhaften Kriegserlebnisse frage ich mich, ob Du, Papa, und Mama, als Ihr mich im Oktober 1946 gezeugt habt, noch ein Kind wolltet. An meinem Geburtstag, dem 13. August 1947, waren meine Schwestern Marlene eineinhalb und Christiane fünf Jahre alt. Im Januar 1944 hatte Mama – gut ein Jahr nach Christianes Geburt –, während der Bombenkrieg tobte, sehr früh ein Kind im Mutterleib verloren. Wer war eigentlich dieses mein Geschwisterkind? Wäre es ein Bruder oder eine Schwester geworden?
Ich wurde im Wohnhaus der Polizei in Essen-Karnap geboren, Karnaper Straße 87, mitten im Ruhrpott und umgeben von vielen Zechen. Mama wollte immer drei Kinder, und Du warst überglücklich, nach zwei Töchtern nun einen Stammhalter, wie es damals hieß, zu haben. Eure erste Zweizimmerwohnung lag direkt neben der Polizeiwache oberhalb einer Gefängniszelle. Sofort nach meiner Geburt im Sommer 1947 gab es heftigen Krach. Nicht aus der Polizeiwache kam der Lärm, sondern von Deinen Geschwistern, die extra aus Essen-Altenessen angereist waren, um an meiner Namensgebung mitzuwirken. Dein cholerischer Bruder Konrad wollte, dass ich seinen Namen bekomme, Deine stolze Schwester Hedwig unbedingt den Namen ihres Mannes Heinrich in mir verewigt sehen. So wurde ich einige Tage nach meiner Geburt auf den Namen Heinz-Gregor Konrad in der katholischen St. Marien-Kirche zu Karnap getauft. Ob Dir und Mama damals bewusst war, dass die Taufe ein großes Geschenk an jedes Neugeborene ist? Entsprechend dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen habe ich als Getaufter und damit als eigenständige Person Teilhabe am priesterlichen, prophetischen und königlichen Dienst Christi. Im Gegensatz dazu sahst Du, Papa, mich als Deinen Besitz an. An Mama schriebst Du in einem Deiner täglichen Briefe aus dem Polizeieinsatz während der Jahre von 1942 bis 1945 in Polen: »Was soll es mal geben, wenn wir das zweite und dritte Engelchen besitzen?« Von Dir, Mama und anderen Familienangehörigen mit Liebe überschüttet, wollte ich aus heutiger Sicht dennoch nicht von Euch bestimmt und abhängig bleiben.
Eigentlich müsste ich Heinz-Gregor Konrad Guste Paul heißen, da Deine anderen beiden Geschwister, ebenfalls sehr dominierende, temperamentvolle Personen, ihren Vornamen auch gerne bei mir verankert gesehen hätten. Du und Mama riefen mich glücklicherweise nur mit Gregor, dem Namen Deines jüngsten, viel zu früh verstorbenen Bruders. Als begabter junger Musiker besuchte er Ende der 1930er Jahre die Folkwang-Schule. Onkel Gregor war einer der vielen jugendlichen Kriegstoten des deutschen Volkes. Ob Du und Oma angesichts des Einberufungsbefehls mal daran gedacht habt, ihn zu verstecken? Ich selbst sah mir manchmal heimlich ein Foto von meinem Namensgeber an und fragte mich, wer er wohl als Kind und Jugendlicher gewesen sein mochte und ob er noch andere Hobbys außer Musik hatte. Heimlich deshalb, weil Du mir nie von Deiner Trauer über seinen Verlust erzählt hast, als wäre es ein Tabu. So weiß ich nicht einmal das Datum seines Geburtstages. Wen könnte ich da noch fragen? Gerade spüre ich, Papa, dass Onkel Gregor in mir heute wieder ganz lebendig geworden ist, so als gäbe es keine Trennlinie zwischen Toten und Lebenden.
Bist Du nicht ebenso überrascht wie ich, dass niemand von Mamas elf Geschwistern seinen Vornamen in mir verewigt gesehen haben wollte? Es lag wohl nicht nur an der demutsvollen katholischen Erziehung durch Mamas Eltern in Kamp-Lintfort. Immerhin stand Mamas jüngster, stets humorvoller Bruder Franz neben Deiner Schwester Hedwig als mein Pate am Taufbrunnen. Bemerkenswerterweise ist zwischen mir und meinen Paten zeitlebens keine nähere Beziehung entstanden. Was meinst Du, Papa, lag es an mir oder an den Paten? Spiegelbildlich muss ich eingestehen, dass ich mich um meine Patenkinder Birgit, Norbert, Fabian, Titus und Jonas nur wenig gekümmert habe.
Deine überschwängliche Freude darüber, nun einen Sohn zu haben, hatte die tragische Folge, dass Deine Tochter Christiane, die bis dato Deine Prinzessin war, »unbewusst gewollt« mich ab und an vom Fußbänkchen fallen ließ. Es war außer ein paar blauen Flecken und lautem Geschrei nichts passiert. Einige Wochen später hustete mich Christiane dermaßen an, dass ich sofort Stickhusten bekam und erstmals sechs Wochen von zu Hause fortmusste, um in der Lungenheilanstalt Essen-Heidhausen behandelt zu werden. Heute frage ich mich, ob nicht diese unbewussten Vereinnahmungen des winzig kleinen Gregors durch Dich, Mama, Tante und Onkel schon früh dazu geführt haben, dass ich von zu Hause wegwollte. Was meinst Du, Papa? Es war dann ja so, dass ich wegen der vielen Krankheiten – Stickhusten, Mandelentzündung, Blinddarm, chronische Innenohrentzündung, Halspusteln und Gelenkrheumatismus – öfters in Heilanstalten sein musste. Erstaunlicherweise bin ich bis zu meinem Rentenbeginn im Oktober 2012 als Klinikseelsorger im Krankenhaus geblieben. Papa, Deine Mutter sagte sehr früh nach meinem ersten Krankenhausaufenthalt: »Aus dem Jungen wird nichts mehr!« Doch Du und Mama habt an mich geglaubt.
Auch wenn mein endgültiger Weggang von zu Hause durch meinen Eintritt in die Ordensgemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu Euch bestimmt nicht leicht fiel, hattet Ihr mich dennoch während der gesamten Zeit meines Postulats in Frankreich und meines Noviziats in Spanien mit vielen Aufmerksamkeiten unterstützt. Bestimmt wärest Du, wie Deine Mutter, glücklich und stolz zu hören, dass aus Deinem schwachen, infektanfälligen, phlegmatischen Sohn, abgesehen von seinen Aushilfstätigkeiten in der Bank, als Anstreicher, Schweinehirt, Friedhofsgärtner und seinen beruflichen Titeln Postschaffner, Krankenpfleger, Sehlehrer, Pastoralreferent, Lehrsupervisor, Gefangenen- Trauer- und Krankenhausseelsorger, letztlich ein zweifacher Doktor geworden ist.
Lieber Papa, ich bin selbst überrascht, von wie vielen Ereignissen ich Dir inzwischen berichtet habe. Für heute, an Deinem Geburtstag, grüße ich Dich herzlich mit den besten Segenswünschen.
Dein dankbarer Sohn Gregor

Brief über die Kindheit

Frankfurt am Main, 13. August 2018
Lieber Papa,
heute feiere ich meinen 69. Geburtstag mit Burkhard, seiner Schwester Sabina, ihrem Mann Wolfgang und einigen Freunden aus der lesbisch-schwulen Gottesdienstgemeinschaft in unserem italienischen Lieblingsrestaurant »Chimino«. Bestimmt wirst Du Dich jetzt sofort fragen: »Lesbisch-schwule Gottesdienstgemeinschaft – was ist das denn?« Ihr offiziell vom Bischof Franz Kamphaus 1996 kirchenrechtlich verliehener amtlicher Titel hat den seltsam konstruierten Namen »Projekt: schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf« (PSK). Als damaliger Sprecher unserer Gemeinde hatte Burkhard einige Jahre später dem Gemeindeforum als Namensergänzung »Eine christliche Gemeinschaft von und für Lesben, Schwule und ihre Freundinnen und Freunde« vorgeschlagen. Die Teilnehmer*innen des damaligen Gemeindeforums begrüßten diese Namensergänzung einstimmig, sind wir doch seit der Gründung im Frühjahr 1991 eine Gottesdienstgemeinschaft mit weit offenen Kirchentüren. Über die kirchlichen Nachrichten sind nicht nur die Pfarreiangehörigen der Gemeinde Maria Hilf im Frankfurter Gallus-Viertel, sondern alle Gläubigen zur Gottesdienstfeier der Schwulen eingeladen. In dieser Kirche Maria Hilf habe ich am Sonntag, den 12. Juli 1992, Burkhard kennengelernt.
Ja, Papa, Du hörst richtig, heute bin ich tatsächlich schon ein Jahr älter als Du geworden. Grund genug, Dir mit einem Segensgruß zuzuprosten, wo immer Du auch bist. Sowohl an Geburtstagen als auch an Namenstagen, die zum Vorteil von uns Kindern in katholischen Familien zusätzlich gefeiert wurden, glänzte unsere Wohnung immer festlich. Natürlich habe ich mich auch über die originellen Geschenke gefreut, so zum Beispiel über einen wunderschön aussehenden braunen Kuschelbären, der mich fortan auf allen Reisen begleitete. Kein Wunder, dass mich Burkhard heute mit dem Kosenamen Bär ruft. Zum Kindergeburtstag gehörten natürlich auch die Nachbarskinder. Ich sehe noch Dein wohlwollendes Lächeln, wenn wir alle glücklich im Heu tobten. Ob Du, Papa, mit Deinen Eltern und Geschwistern auch jeweils so festlich die Geburtstage gefeiert hast, wie Mama diese mit uns im Hause gestaltet hat?
In der Erinnerung an Dein Lob für Mamas Kochkünste verstehe ich nun, dass ich auf den ersten Fotos pummelig bin. Einige Jahre älter geworden, spielte ich gerne auf dem Hof so versunken mit Sandburgen, dass ich gar nicht hören wollte, wenn Mama mich vom Treppenhausfenster aus zum Mittagessen rief. Alle familiären Geschehnisse, Essen, Schulaufgaben, Erdbeeren säubern und Besuche empfangen, spielten sich in unserer kleinen, aber gemütlichen Wohnküche ab. Ein gemeinsamer Essensbeginn mit Dir, Papa, war für Mama sehr wichtig. Hatte Mama doch die duftendsten Speisen auf den Küchentisch gebracht, wie Du lobend festgestellt hast: »Du bist die beste Köchin der Welt!« Mama faltete bereits die Hände zum Tischgebet. Es waren immer die gleichen Gebete. Zu Essensbeginn: Alle Augen warten auf Dich, o Herr; Du gibst uns Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand und erfüllst alles, was lebt, mit Segen. Amen. Und nach dem Essen: Danket dem Herrn, denn er ist gütig und seine Barmherzigkeit wäret ewiglich. Amen. Diese gemeinsam gesprochenen Tischgebete sind noch tief in mir, und obgleich ich sie nach meinem Weggang von zu Hause nicht mehr gebetet habe, glaube ich dennoch, dass sie meine ethisch-religiöse Haltung zu allen Geschöpfen maßgeblich mitbestimmt haben.
Gut erinnere ich mich, dass Mama uns Kindern bei längerem Verlassen der Wohnung, und ging es nur in den Kindergarten, stets ein Kreuzzeichen mit Weihwasser auf die Stirn gezeichnet hat; neben der Wohnungstür war ein kleiner Weihwasserbehälter angebracht. Ob Mama Dich auch gesegnet hat, immer wenn Du zwischen 1947 und 1954 zur Polizei-Fortbildungsschulung nach Wuppertal, Hiltrup und Düsseldorf gefahren bist? Mama hat in ihrer stillen religiösen Art nicht nur uns, sondern auch Dich, der kirchenlos groß geworden war, behutsam an die Kirche herangeführt. Christliche Feiertage wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten waren zur Freude von uns Kindern zu Hause immer besonders festlich gestaltet.
Jeden Morgen wurde ich von der Kindergärtnerin, Tante Waltraud, auf der gegenüberliegenden Straßenseite unserer Wohnung abgeholt. Sie hatte schon eine muntere Schar anderer Kinder bei sich, und wir gingen die lange Karnaper Straße Richtung Brücke. Mir war der Weg durch die sonntäglichen Besuche bei Oma, deren Wohnung in der Nähe des Kindergartens lag, bestens bekannt. Die Leiterin Schwester Hanna, die dem Karnaper Kloster der Genossenschaft der Christenserinnen angehörte, erwartete uns dann frohgestimmt im Kindergarten. Dort gab es wunderbare Spiele sowie fantasievolle Bastelarbeiten. Gleich einen Kopf größer fühlten wir Kinder uns, Papa, als Schwester Hanna sagte: »Ihr seid die Freunde Jesu!«
Der Sonntag hatte für uns Kinder immer einen besonders feierlichen, oftmals aber auch langweiligen Ablauf. Festlich gekleidet saßen wir alle zum Sonntagsfrühstück in der Küche. Anschließend ging es zur Kirche und dann zum Mittagessen. Vor dem Kaffeetrinken mussten wir Kinder stets in die öde Christenlehre und somit noch eine weitere ewig lange Stunde in der Kirche verbringen. Anschließend ging es auf den unendlich weiten Weg zu Oma Schorberger – als Kleinkind zuerst im Fahrradkörbchen – und dann zu Fuß weiter nach Essen-Altenessen in Dein Elternhaus in die Rahmdörne. Gefreut habe ich mich über Omas Einladung, mich auf ihre Pantoffeln zu stellen. Sie nahm meine Hände und schaukelte mich hin und her. Ebenso freute ich mich dort über Tante Friedels Knöpfe aus ihrem Nähzimmer, mit denen ich auf der marmornen Fensterbank selbstvergessen spielte. Diese innere Emigration an der Fensterbank in der Rahmdörne war überlebensnotwendig für mich, da Du, Papa, mit Deinen Geschwistern an fast jedem Sonntagnachmittag heftigste Wortwechsel geführt hast. Darüber hinaus musste ich die aufdringliche, hämmernde Stimme des Fußballspielkommentators aus dem Radio hören. Du und Deine temperamentvollen Geschwister konntet noch mit Eurem Geschrei den Sprecher übertönen, selbst wenn ein Tor fiel oder der Ball daneben ging.
Noch ein Bild aus der Rahmdörne ist mir unvergesslich: wie Oma im Nähzimmer von Tante Friedel im Januar 1951 aufgebahrt ist. Sie war nur 65 Jahre alt geworden. Sie wirkte ganz friedlich, als würde sie schlafen. Als vierjähriger Junge hatte ich keine Angst, mich ab und zu aus dem Wohnzimmer zu schleichen, um zur würdevoll aussehenden Oma ins Totenzimmer zu gehen. Mit einem Handkuss nahm ich auf meine kindliche Weise Abschied von ihr.
Oma verdanken wir den Namen Schorberger. Sie glaubte, mit dem polnischen Familiennamen Skorupa hätten ihre Söhne keine gleichwertigen Berufschancen wie andere Deutsche. 1926 hatte Oma also vom preußischen Justizminister die Namensumbenennung von Skorupa in Schorberger erwirkt. Drei Namen standen ihr beim Bürgermeisteramt in Essen-Altenessen zur Auswahl: Scherbel, eine der Übersetzungen des polnischen Namens Skorupa; Rosenberger, der Oma zu jüdisch war, und Schorberger. Außer mir und Tante Friedel trägt laut Internetrecherche niemand mehr in Deutschland diesen Nachnamen. Dein Vater, Papa, mein Großvater nahm den neuen Namen Schorberger nicht an und ließ sich bis zu seinem Tod weiterhin als Skorupa ansprechen.
Dein jüngster Bruder Gregor hätte sich bestimmt für die Herkunft seines Nachnamens interessiert, zumal er, noch im Juni 1923 unter dem Namen Skorupa geboren, schon drei Jahre später den Namen Schorberger trug. Zu wenig weiß ich von ihm, außer dass er gerne Trompete und Geige spielte. Du hast ihn in seinem musikalischen Talent finanziell so gefördert, dass Onkel Gregor zur Folkwangschule gehen konnte. Später ist er mit einer Militärkapelle in Südfrankreich aufgetreten. Du und alle Deine Geschwister waren seiner Freundlichkeit, seines guten Aussehens und seiner Talente als Musiker wegen stolz auf ihn.
Du, Papa, bist nach sieben Jahren Zechenarbeit unter Tage auf dem Schacht Fritz Heinrich, Essen-Altenessen, zur Polizei gegangen. Seit Deinem Diensteintritt im Oktober 1929 hast Du es vom Polizeiwachtmeister über den Truppenoberwachtmeister 1942 bis zum Polizeihauptwachtmeister geschafft. 1942 war auch das Jahr, in dem Christiane geboren wurde. Onkel Gregor sagte noch angesichts Christianes bevorstehender Geburt: »Gebt dem Kind einen schönen Namen!«, bevor er – wie Du uns erzählt hast – 1943 als Soldat und Musiker in den Krieg nach Südfrankreich ging. Noch im gleichen Jahr war sein Lebensweg mit nur 20 Jahren jäh beendet.
Monatlich oder alle zwei Monate ging es mit dem Zug vom verwunschenen kleinen Karnaper Bahnhof auf die große Reise nach Kamp-Lintfort in die Heimat Mamas. Meistens fuhren wir zu viert, Mama, Christiane, Marlene und ich, für einige Tage an den Niederrhein. Du, Papa, bliebst bei unseren Tieren.
Als geduldete Verwandtschaft aus Essen-Karnap waren wir in den ersten Jahren bei Mamas jüngster, stets nervöser, ständig den Bohnerwachsbesen schwingenden Schwester Klärchen untergebracht. Sie wohnte mit ihrem Vater in einem Feuerwehrhaus. Wenn ich zu Opas Wohnung hinaufging, blickte mich ein furchterregender, ausgestopfter Habicht mit seinen funkelnden Augen an. Ob ich wollte oder nicht, ich musste, um zu Opas Wohnung zu gelangen, an diesem toten Tier vorbei. Bestimmt liegt es an diesem Erlebnis, dass ich mir bis heute keine toten Tiere länger ansehen kann. Opa Ruhl wirkte in seiner großen Gestalt mit seinem Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer unnahbar auf mich, als hätte er keine Gefühle. Nur Mamas Schwester Käthe freute sich sichtlich, wenn Mama mit uns drei Kindern zu Besuch kam. Sie spielte mit uns, las uns schöne Märchen vor und überraschte uns mit kleinen lustigen Stücken, die sie aufführte. Tante Käthe wohnte in Ossenberg am alten Rhein-Arm, einer Gegend mit verwunschenen Wildpflanzen, riesigen Ulmen und Pappeln, großen Kerzen gleich, die zum Himmel loderten, und wuchtigen Trauerweiden, die sich tief vor Teichen und Seen verbeugten. Dorthin ging sie mit uns spazieren und erzählte uns viele spannende Geschichten von dieser etwas unheimlich wirkenden Urwaldlandschaft.
Da ich mit sechs Jahren etwas größer geworden war, brauchte ich nicht mehr mit Mama und meinen Schwestern in Tante Klärchens Haus zu bleiben. Einige Straßen weiter wohnte Tante Christine, eine ältere, ihren drei Kindern gegenüber sehr strenge Schwester Mamas, die zwei Söhne und eine Tochter hatte. Schnell fühlte ich mich mit diesen ein wenig älteren Cousins wohl. Johannes und Theo nahmen mich auf ihre Entdeckungsreisen in Hinterhöfe und überwucherte Wildgärten mit, wo sie geheime Buden hatten. Ich genoss beim Raufen besonders im Sommer ihre schwitzenden Körper. Auch zum Fußballplatz ging ich aus Liebe zu ihnen mit, obgleich schon damals Fußball für mich stinklangweilig war. Die Nächte im Bett zwischen Johannes und Theo hatten etwas prickelnd Erotisches an sich. Nach Kissenschlachten schmiegte ich mich unter der Bettdecke besonders eng an Theos Körper, da mir sein Po gefiel. Heute bin ich dankbar für diese erotischen Erlebnisse mit meinen Cousins, zeigten sie mir doch, Papa, schon als Kind, dass ich mich nicht nur phasenhaft, sondern manifest zu Männern sexuell hingezogen fühlte.
So unterschiedlich die beiden Orte Kamp-Lintfort und Essen-Altenessen auf mich wirkten, so unterschiedlich erlebte ich auch die beiden Herkunftsfamilien: die Schorbergers extrovertiert und selbstbewusst, die Ruhls introvertiert und schamhaft. Einig waren sich beide Familien in der Tabuisierung von Tod, Trauer, Sexualität und Familienkonflikten. Kinder galten als notwendiges Anhängsel der Eltern und gehörten bei geselligen Zusammenkünften an den Katzentisch, da sie nichts von den Themen der Erwachsenen mitbekommen sollten.
Zu Hause in Karnap erlebte ich Dich, Papa, im Garten oder auf dem sommerlichen Hof in kurzer Hose, und mit oder ohne Hemd als körperlich unbefangen. Für Dich war es selbstverständlich, mich nachts, wenn ich mit meinem Oberbett vor Eurem Ehebett im Schlafzimmer stand, in Dein Bett kommen zu lassen – im Gegensatz zu Mama, die mich abwies. Bei Dir angekommen, nahmst du mich zärtlich in den Arm, und wenn ich ängstlich war, hast Du mich zur Beruhigung gestreichelt. Überhaupt, wenn Du gute Laune hattest, konntest Du uns drei Kinder zu unserem Vergnügen lange streicheln und kitzeln, was ich immer genossen habe. Dein unkonventionelles Verhalten hat erheblich dazu beigetragen, ein unverkrampftes Körpergefühl zu mir selbst zu entwickeln.
Dennoch sind Nähe und Distanz einschließlich der vielen Schattierungen zwischen diesen beiden Polen für uns beide zeitlebens ein großes Thema geblieben. Genoss ich als Kleinkind, bei Dir zu schlafen, am Tage gekitzelt oder, wenn es heiß war, im Garten mit dem Wasserschlauch abgespritzt zu werden, wehrte ich Dich dennoch öfters und sehr zu Deinem Leidwesen ab. Vor allem dann, wenn Du mich spontan umarmen, liebkosen oder auf den Schoß nehmen wolltest, wie es viele Fotos aus der Kindheit zeigen. Vielleicht hatte ich instinktiv Angst von Dir aus Liebe zu mir einverleibt, aufgefressen zu werden? Oder lag es daran, dass ich anfänglich ein dickes Kind war, bis ich durch viel Bewegung, Rennen, Ballspielen und Turnen, mein Übergewicht verlor?
Du erfreutest Dich an unserem Schulsport, gingst selbst mit uns schwimmen, fochtst später mit uns regelrechte Tischtenniswettkämpfe aus, bei denen Du am meisten schwitztest, oder nahmst uns zum Sammeln von Huflattich am unheimlichen Emscherdamm mit. Aber trotz all dieser sportlichen Aktivitäten litt ich unter vielen Krankheiten. Die Mandeln entnahmen sie mir im Krankenhaus der Stadt Gladbeck, wo ich in einem hellen schönen Krankenzimmer lag. Gern erinnere ich mich an sehnsuchtsvoll erwartete Besucher, die Geschenke mitbrachten, wie etwa die Schokolade von Stollwerck, deren Verpackung zweigeteilt war: Oben waren die Köpfe und unten die Unterkörper. Beim Verschieben der Teile machte es mir Spaß, plötzlich Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidern zu entdecken. Letztlich wollte ich selbst die verschiedenen Rollen dieser Schokoladen-Menschen ausprobieren. Ja, Du, Papa, hast mit mir als Kleinkind – allein der vielen Kinderkrankheiten wegen – einiges ertragen müssen. Hinzu kam noch mein phlegmatischer Charakter. Wegen meiner offenen Schnürsenkel, meiner unordentlich liegengelassenen Spielsachen und Zerstreutheit hast Du ständig mit mir gehadert. Phlegmatisch bin ich bis heute geblieben, sodass Burkhard mir in unserer gemeinsamen Wohnung nachgeht, um die von mir offen gelassenen Schubladen wieder zu schließen.
Noch vor der Einschulung unternahm Mama mit uns die ersten großen Reisen zur rundlichen, Kinder liebenden Tante Lieschen und dem sympathischen, Schnauzer tragenden Onkel Wilhelm nach Lauterbach in Hessen. Gleich zwei Sommerferien, 1953 und 1954, verbrachten wir Kinder mit Mama in der reinen unverfälschten Natur des Vogelsbergs. Im hübschen Fachwerkstädtchen Lauterbach genossen wir Kinder die märchenhaften Entdeckungen in einer ganz anderen Welt. Weite Wiesen und Fluren, haushohe Tannen und Laubbäume, die Geschichten zu erzählen wussten.
Dort gab es einsame Aussichtstürme im Wald, die Mama mit Marlene, Christiane und mir auf dem Arm erklomm. Von oben konnten wir das sagenhafte Panorama der Vogelsberglandschaft genießen. Allein ich hatte da oben, obwohl auf Mamas Arm, solche Angst, wie es ein Foto zeigt, dass ich bei der zweiten Turmbesteigung protestierend auf der untersten Treppe sitzen blieb. Auf dem Waldboden fühlte ich mich freier und erfreute mich am Anblick der Rehe und Hirsche, die wir zu Hause nur vom Gelsenkirchener Zoo her kannten. Im Wald fanden wir außerdem Steinpilze, Schirmpilze und an den Wiesenrändern Pfifferlinge. Tante Lieschen nannte uns ihre Namen und bereitete diese zu einem schmackhaften Mittagessen. Die Spätsommer- und Herbstzeit ist auch heute ob des reichlichen Pilzangebots in der Frankfurter Kleinmarkthalle meine Lieblingsjahreszeit. Ein besonderer Genuss waren für mich als Kind Tante Lieschens Pilzmahlzeiten, nicht aber ihr Zwiebelkuchen, den wir Kinder mit Streuselkuchen verwechselten und überhaupt nicht mochten. Fast täglich schriebst Du, Papa, uns anschauliche Briefe, was sich alles zu Hause, im Stall bei den Tieren oder in Haus- wie Schrebergarten ereignet hatte. Einerseits konntest Du Dich selbst sehr gut versorgen, warst aber auch glücklich, wenn meine ledig gebliebene Tante, Deine ältere Schwester, für einige Tage kam und Dich verpflegte, wie Du uns schriebst. Meine rundliche, stets nach Luft – besonders beim Treppensteigen wegen ihres Asthmas – schnappende Tante Guste war und blieb meine Lieblingstante. Sie versorgte Dich, Papa, manchmal, wenn Mama mit uns allen in Urlaub war. Mit uns Kindern reiste sie in der Phantasie durch die ganze Welt, weil sie wusste, dass sie am nächsten Sonntag im Lotto gewinnen würde. Und tatsächlich, am 8. Mai 1964 hatte Tante Guste »5 Richtige im Lotto«. Statt das Geld für sich zu behalten, wie Mama es wünschte, beschenkte sie ihre Lieben. Wir bekamen einen großen orientalischen Teppich für das Wohnzimmer, den wir uns sonst nie hätten leisten können. Ich freute mich jedes Mal, wenn sie zu Besuch von Altenessen nach Karnap kam, um mit Mama und mir zu unserem Vergnügen Rommé zu spielen. Begeistert erzählten wir Dir dann nach unserer Rückkehr anhand der Fotos von unseren Erlebnissen im gastfreundlichen Haus in Lauterbach.
Fremde Menschen, Landschaften und Städte durfte ich mir darüber hinaus dadurch vertraut machen, dass Ihr mich in den ersten Schuljahren der Gesundheit wegen allein in Kindererholungsstätten nach Oberbayern (Mittenwald), Oldenburg (Vechta), ins Sauerland (Meschede) und einmal mit Marlene an die Ostsee (Pelzerhaken) schicktet. Trotz heftigen Heimwehs an diesen Orten überwog in mir die Freude am Reisen. Dankbar bin ich daher Mama, die mit uns Kindern in den 1950er und 1960er Jahren viele solcher Reisen unternahm.
In Erinnerung an Deine vielen ermutigenden Briefe an mich aus der Ferne verabschiede ich mich für heute, an meinem 69. Geburtstag, an dem Dir und Mama ja auch ein Glückwunsch gebührt, wie es mein Kölner Freund Stefan Bey stets betont.
Liebe Grüße,
Gregor

Brief über die Schulzeit

Frankfurt am Main, 2. Oktober 2016
Lieber Papa,
gerade kommen Burkhard und ich vom Abendgottesdienst aus der Kirche Maria Hilf in unsere Wohnung zurück. Heute am Erntedanksonntag war sie besonders festlich mit Sonnenblumen, Dahlien, Glockenblumen und Beerensträuchern geschmückt. In Erinnerung an die vielen mit Kartoffeln, Bohnen, Karotten, Gurken und Kürbissen gefüllten Körbe vor dem Altar erzählte ich Burkhard von Deiner reichlichen Ernte im Herbst. Auf voll bepackten Handkarren brachtest Du freudestrahlend aus dem Schrebergarten vielerlei Früchte mit nach Hause. Dadurch muss ich an unsere winterlichen Karnaper Gärten denken und an die Schlüsselgeschichte. War es nicht an einem Oktoberabend, Papa, als Du völlig erschreckt feststelltest, dass einer unserer beiden Schlüsselbunde fehlte? Du verdächtigtest sofort uns Kinder, den Schlüssel verloren zu haben. Als ängstlicher Mann und noch dazu als Polizist stelltest Du Dir lautstark in unserem Beisein vor, wie leicht nun ein fremder Mann jederzeit bei uns einbrechen könne. So lebte jeder von uns wochenlang mit schlechtem Gewissen, den Schlüssel vielleicht wirklich verloren zu haben. Wegen Deiner Horrorvision ängstigte ich mich um unsere kleine, mir so vertraut gewordene Mietwohnung, die nun für jeden Dieb weit offenstünde. War es dann Januar oder Februar, als Du eines Tages mit verlegenem Gesicht und schlechtem Gewissen aus dem Schrebergarten nach Hause kamst? Reumütig sagtest Du uns, dass Du unseren zweiten Schlüsselbund wiedergefunden hattest. Er hing, wo Du ihn im Herbst hinterlassen hattest, an einem kahlen Ast des inzwischen blätterlos gewordenen Apfelbaumes. Es spricht für Dich, dass Du Dich bei uns Kindern entschuldigen konntest und trotz all Deiner cholerischen Anwandlungen nie nachtragend warst.
Deine cholerischen Anwandlungen konnte ich schnell wieder vergessen. Ich war auf Deine Anfrage, Dir bei einer Hausarbeit zu helfen, sofort dazu bereit, wohlwissend, dass ich es Dir, egal bei welcher Tätigkeit, nie recht machen konnte. Manchmal hast Du mich mit den Worten: »Du bist sowieso zu schwach auf der Brust!« entschuldigt. Säge ich heute ein kleines Brett, nicht selten schief, habe ich sofort Deine Stimme im Ohr: »Noch nicht mal die Säge kannst Du richtig halten!« Damals jedoch musstest Du mit mir Vorlieb nehmen, da sonst keiner im Karnaper Hause da war, den Du zur Mithilfe in den Hof hinunter hättest rufen können. Du hattest mal wieder viele schwere Eisenbahnschwellen aus Eichenholz kostenlos von der Zeche geliefert bekommen. Unser ganzer Hof roch durch die Gase der Schwellen nach Teer und Schwefel. Die schweren Schwellen hobst Du mit all Deiner erstaunlichen Körperkraft allein auf einen Holzbock. Ich brauchte nur die große Baumsäge am einen Ende zu halten, während Du sie mit aller Wucht hin und her zogst. Lauter dicke Holzscheiben entstanden so, die Du dann stundenlang mit der Axt zu Kleinholz verarbeitet hast. Ich schaute Dir bewundernd zu und blieb, Deiner Behauptung entsprechend, gerne schwach auf der Brust.
In meinen ersten Lebensjahren hatten wir zu Hause stets freundliche, kinderliebende Schweine, und schon als kleiner Junge konnte ich nicht ertragen zu hören, wenn der Schlachter kam und die Tiere, ihren bevorstehenden Tod ahnend, laut schrien. Ich versteckte mich im hintersten Zimmer der Wohnung und hielt mir die Ohren zu. Über die eingemachte »Fleischernte«, von der die Verwandten gläserweise beschenkt wurden, konnte ich mich mit Euch nicht freuen. Wie gingst Du, Papa, mit diesen zwei sich widersprechenden Haltungen in Dir um? Einmal die Tiere als Nutzvieh für unsere Ernährung zu betrachten und ein andermal als liebenswerte Lebewesen?
Dank Deiner Garten- und Tierpflege waren wir von Anfang an eine Selbstversorgerfamilie. Aus Sparsamkeitsgründen kauftest Du selten Futter für die Tiere. Mit der Straßenbahn schlepptest Du nach Deinem Polizeidienst in großen Eimern Essensreste aus dem Hotel »Handelshof« nach Hause. Deine Sparsamkeit selbst gegenüber den Tieren kannte allerdings ihre Grenze, wenn Du einen Sack Kleie oder Weizenkörner benötigt hast. Dann hast Du ihn gekauft oder noch lieber ihn Dir von uns zu Deinem Namenstag, Geburtstag oder sogar zu Weihnachten schenken lassen. Ich sehe noch Dein erfreutes Gesicht vor mir, wie Du, statt auf die Festtafel zu schauen, Deinen frohen Blick zuerst auf den Getreidesack unter Deinem Gabentisch richtetest. Dank der vielseitigen Ernährung blieben Deine Tiere gesund und gediehen prächtig. Deine Zuchterfolge mussten sich wohl herumgesprochen haben, denn an einem Freitag im Januar 1959 kam sogar ein Journalist von der Neuen Ruhr Zeitung, um Dich zu interviewen. Der fast ganzseitige Artikel mit einem sympathischen Foto von Dir hatte die Überschrift: Karnaper Polizeibeamter hütet am Abend den eigenen Kleintierzoo. Ein Züchter unter Tausenden mit seinen Sorgen und Freuden bei den Tieren.
In den acht Jahren Volksschule hatte ich weder ein Lieblingsfach noch lernte ich gerne. Eine helle Stimme dagegen, die fast atemlos immer wieder in den Pausen »Samuel« rief, faszinierte mich. Es war Joshua, einer der beiden Söhne des Lehrers Rosenberger. Den Anblick ihrer markanten Gesichtszüge, der dunkelblauen Augen, schwarzgelockten Haare und sportlichen Figuren genoss ich zwar damals sehr, wagte aber nicht, mit ihnen in Kontakt zu treten, da etwas Unausgesprochenes, Verbotenes zwischen uns stand. Meine Mitschüler trugen keine klassisch deutschen Namen und kamen, ganz im Sinne der Lehre von der »alleinseligmachenden Kirche«, nicht wie wir Katholiken in den Himmel. Ein volkstümliches Kirchenverständnis, das ich schon damals nicht glauben wollte. Erst später ist mir klar geworden, dass die attraktiv aussehenden Brüder auf mich, den blonden, Scheitelfrisur tragenden Jungen, erotisch wirkten. Wie ein inneres Selbstverbot hätte ich nicht gewagt, zu Hause über meine faszinierende Entdeckung der hellen Stimmen von Joshua und Samuel samt ihrem bildschönen Aussehen zu sprechen. Warum eigentlich nicht, Papa? Noch heute bin ich von orientalisch aussehenden, schwarzhaarigen Personen erotisierter als von blonden Männern. Nicht Skandinavien, sondern der Vordere Orient und Nordafrika wurden später meine bevorzugten Reiseziele.
Beim ersten Klassentreffen 1993, dreißig Jahre nach der Volkschulentlassung, trafen wir ehemaligen Schüler uns in der Gaststätte »Alt-Carnap«. Selbst mein inzwischen silberergrauter, hochbetagter Klassenlehrer Heinrich Schüssler freute sich an diesem Abend, von unseren Schulerlebnissen zu hören. Längst vergessene Abenteuer wie pubertäre Spiele unter der Dusche nach dem Turnen bekamen einen neuen Klang. Vor allem die Theaterstücke, die Fräulein Maria Storm mit uns einstudierte, waren lebhaftes Thema des Abends. Jeder/Jede wusste noch genau seine/ihre Rolle wieder aufleben zu lassen. Das Theaterspielen in der Volksschulzeit hat mir Spaß gemacht. Mit Vergnügen durfte ich in verschiedene Rollen schlüpfen, einmal als verzauberter »Zwerg Nase« im Märchen, dann als Maria beschützender Josef in einem Krippenspiel und schließlich als talentierter Chefkoch in »Dornröschen«. Ja, es bedurfte dieses Klassentreffens, um mir wieder einmal der vielen Facetten dieser Schulzeit bewusst zu werden.
In wie vielen Rollen warst Du, Papa, in Deiner Zeit als Schüler? Von Onkel Paul erfuhr ich, dass Du schon als Kind ein hervorragender Taubenzüchter warst und Deine ganze Freizeit darauf verwendet hast. Kein Wunder, dass Du wie ich nur ein durchschnittlicher Schüler gewesen bist. Umso mehr freutest Du Dich mit mir, dass ich wenigstens im Fach Kunst gute Noten nach Hause brachte. Fräulein Storm war für mich eine sehr moderne, attraktive Lehrerin, die in München Kunst studiert hatte. Sie erzählte uns später von ihren Kommiliton*innen Sophie und Hans Scholl von der Widerstandgruppe »Weiße Rose«, mit denen sie gerne im Café zusammengesessen und deren Widerstand gegen Nazi-Deutschland sie mit unterstützt hatte. Heute frage ich mich, ob nicht schon da die Wurzeln meines späteren Widerstandes gegen faschistoide Tendenzen in unserer bundesrepublikanischen Gesellschaft gelegt wurden.
Von Heimatkunde, Rechnen, Schönschreiben und Turnen im Unterricht wusste ich Dir nie etwas zu erzählen, weil ich an all diesen Fächern kein Interesse hatte. Bestimmt, Papa, warst Du damals sehr stolz auf Deine begabten Töchter Marlene und Christiane. Sie wechselten im Gegensatz zu mir nach der vierten Klasse der Volksschule auf die Realschule nach Essen-Altenessen. Brachten wir gute Schulnoten nach Hause, durften wir zur Belohnung ab und an ins Karnaper Kino. Unverändert gerne gehe ich ins Kino, nicht aber ins Theater, obgleich es Mama sehr früh mit uns Kindern einmal im Jahr, meistens an Weihnachten in Märchenstücke, besuchte. Heute ist mir der Theaterbesuch zu aufwendig. Ich mag nicht, rechtzeitig Eintrittskarten zu besorgen, besondere Kleidung zu tragen und mich in einem bürgerlichen Milieu zu bewegen, das nicht meines ist. Du, Papa, hattest weder an Kinobesuchen noch am Theater Interesse, freutest Dich aber mit uns über diese Abwechslung im Alltag.
Ich erinnere mich gut an die ersten Ballettaufführungen des Nachbarn Erich Wecker in unserer kleinen Wohnung. Auf Deine Einladung hin kam dieser in Sprache und Gestik feminin wirkende junge Mann zu Besuch. Erich hatte keine Scheu, uns an seinem Balletttraining teilhaben zu lassen. Du, Papa, warst nach seinen graziösen Vorstellungen voll des Lobes, was ihn wiederum freute. Auf Mamas Frage, ob er inzwischen eine Freundin hätte, erklärte Erich ihr, dass er kein Interesse an Frauen habe. Noch vor seinen Auftritten in unserer Küche flüsterte er mir seinen Künstlernamen Konstantin zu. Ich fühlte mich dadurch von ihm geehrt. Mit Argusaugen bekam ich als Kind mit, dass Konstantin ein anderer Mann als meine Onkel Paul und Konrad war. Dass ich anders empfand als andere Jungen, durfte aber damals nicht bekannt werden. Schon im Alter von acht Jahren gab es ein strenges verinnerlichtes Tabu, öffentlich über meine Zuneigung zu einem Jungen zu schwärmen, was bei meinen Schwestern selbstverständlich toleriert wurde. Hatte ich als Kind nur Tierbilder über meinem Bett hängen, so erlaubte ich mir erst zu Studienbeginn 1971 in meinem Freiburger Studentenheim Poster von Balletttänzern, die mir in ihrer erotischen Ausstrahlung gefielen.
Zu Hause in Karnap hatten wir es geschafft: von der Zwei-Zimmer-Wohnung neben der Polizeiwache im Erdgeschoss über der Gefängniszelle in eine Drei-Zimmer-Wohnung in der ersten Etage. Der unaufhaltsame Aufstieg der Familie Schorberger. Wie wir die gemeinsame Toilette und Badewanne mit der in dieser Etage in zwei Zimmern wohnenden Familie Samer, Eltern und drei Kinder, geregelt haben, ist mir bis heute ein Rätsel. Dennoch haben wir uns vertragen, und selbstverständlich nahmen sie, obgleich evangelisch, an meiner ersten Kommunionfeier am Weißen Sonntag 1957 teil. Ich genoss es, an diesem Tag im Mittelpunkt nicht nur von Familie, Verwandten und Nachbarn zu stehen, sondern auch des gesamten Stadtteiles Essen-Karnap. Bei diesem Kommunionfestgottesdienst erstrahlte die Kirche im vollen Glanz. Angesichts des Hochfestes Mariens, der unbefleckten Empfängnis, habe ich als Kind wegen unserer Gefängniszelle im Haus allen evangelischen Nachbarn erzählt, dass wir als Katholiken das Fest »Maria im Gefängnis« feiern. Erst durch den Kommunionunterricht erfuhr ich den eigentlichen Grund des Hochfestes: Maria ist von ihren Eltern Joachim und Anna ohne Erbsünde geboren worden. Für mich, Papa, ist diese Erbsündenlehre, die sich auf die Schuld von Adam und Eva bezieht, eher ein Mythos als ein Geheimnis des Glaubens. Ohne es richtig benennen zu können, fühlte ich mich schon als Kind oft schuldig, nicht wegen der oberflächlichen »Sünden« wie ich habe genascht, ich habe den Eltern widersprochen, ich habe die Hühner gejagt, sondern wegen etwas nicht in Worte zu Fassendes. Befreit und erleichtert fühlte ich mich dann jeweils nach der Beichte durch die Vergebung der Sünden. Dank Jesu Barmherzigkeit konnte ich danach glücklich an der Kommunionfeier teilnehmen.
Beim Nachhauseweg am Kommuniontag trug ich würdevoll die Kerze über die Karnaper Straße an der Seite meines Mitschülers Axel, der meine tiefe Zuneigung zu ihm leider nicht erwiderte. Du, Papa, hattest in der Woche zuvor viele unserer Tiere geschlachtet, um die Festgäste, die Verwandten aus Kamp-Lintfort und Altenessen sowie die Hausnachbarn, zu beköstigen. Mama hat mit Hilfe ihrer Geschwister tagelang Kuchen gebacken und das Festessen vorbereitet. Ich hatte zum ersten Mal einen Anzug mit weißem Hemd und Fliege an. In diesem Kleidungsstück, das ich nach der Kommunionfeier selten trug, habe ich mich immer unwohl gefühlt. Ganz neue Kleider, und zwar einen kurzen roten Rock mit einem weißen Rochetthemd, erhielt ich danach auch zum Dienen in der Messe. Stolz trug ich in der kleinen Schar der Messdiener während der Messfeier die Kerze. Später durfte ich dem Priester Wasser und Wein zur Gabenbereitung reichen und das Weihrauchfass mal mehr, mal weniger heftig schwenken. Als kleiner Knirps von elf Jahren war ich plötzlich eine Person des öffentlichen Auftritts geworden. Besonders ehrenhaft war für mich, bei der Fronleichnamsprozession und bei den Wallfahrten nach Kevelaer eine Fahne tragen zu dürfen.
In den Messdienerstunden erhielten wir kleine Hefte mit Bildergeschichten, die von Wundern und biblischen Erzählungen handelten. Ganz aufmerksam hörte ich zu, als vom Schilfmeer die Rede war, in dem Moses im Körbchen ausgesetzt worden war, oder von Abrahams großen Karpfen im Teich von Urfa in Mesopotamien. Besonders aufgewühlt hat mich die Erzählung von der innigen Freundschaft des Königs David zu Jonatan. Erst später im Theologiestudium erfuhr ich vom erotischen Begehren Davids. In seiner Totenklage sagt er im zweiten Buch Samuel im ersten Kapitel: Schmerz kommt mir an wegen dir, mein Bruder Jonatan, du warst mir so lieb. Wundersamer war mir deine Liebe als Frauenliebe. Über diese spannenden biblischen Geschichten hinaus machte ich im Messdienerunterricht meine ersten Lateinerfahrungen, da wir die lateinischen Messgebete – damals wurde die ganze Messe noch in dieser Sprache gehalten – auswendig lernen mussten. Es machte mir besonderen Spaß, das Confiteor zu lernen, ohne zu ahnen, wie tief seine Inhalte später Auswirkungen auf mich haben sollten. Denn in diesem von allen Messdienern gesprochenen Gebet kommt die Aussage vor: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa« (»durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld«). Heute bin ich nicht überrascht zu sehen, dass ich später, gerade in der Zeit der Pubertät, nicht oft genug zur Beichte gehen konnte, da ich mich bewusst oder unbewusst schuldig fühlte.
Die Bilder aus der Volksfrömmigkeit von der alleinseligmachenden römisch-katholischen Kirche, von Todsünden, von ungetauften Kindern, die, wenn sie starben, nicht in die Hölle, aber auf einen Eisberg kamen, habe ich als Kind tief in mich aufgenommen. Als meine Cousine Petra, 1959 geboren, wochenlang ungetauft in ihrem Körbchen lag, hatte ich als Zwölfjähriger große Ängste um sie, falls ihr ein tödlicher Unfall passieren sollte. Bei einer Familienfeier, zu der Tante Friedel und Onkel Paul anlässlich der Geburt ihres Kindes eingeladen hatten, saßen alle gemütlich im Wohnzimmer und Petra lag allein in ihrem Körbchen in der Küche. Schnell ging ich zu ihr, nahm Wasser, goss einige Tropfen über ihr kleines Köpfchen und taufte sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Ich sehe noch, wie mich die kleine Petra bei meiner Taufhandlung lächelnd und still wie eine geheime Verbündete anschaute. Ganz erleichtert kehrte ich zur Festgesellschaft, die dank Petras Schweigen nichts von meiner geheimen Handlung gemerkt hatte, ins Wohnzimmer zurück. Ich weiß nicht, ob ich Dir, Papa, die Geschichte damals erzählt habe. Bestimmt warst Du wie ich überrascht zu hören, dass Petra uns in den 1970er Jahren erzählte, Theologie studieren zu wollen. Doppelt getauft wirkt Petra inzwischen segensreich, zuerst viele Jahre als Gemeindepastorin und seit einigen Jahren als Krankenhausseelsorgerin. Hier haben wir beide uns zu guter Letzt in derselben Aufgabe wiedergefunden, eine Profession, die mir bis zur Rente kostbar blieb.
Bis zu meinem Eintritt als Postulant in die Ordensgemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu bin ich gerne in Karnap Messdiener geblieben. Nicht geblieben bin ich bei den Pfadfindern, deren Uniform und Symbole mich zwar sehr beeindruckten, damals genügte mir jedoch die Erfahrung, sie überhaupt getragen zu haben, wollte ich doch mal wie Du, Papa, in Uniform auftreten. Du selbst machtest kein Aufheben wegen Deiner Uniform. Mein Tragen der Pfadfinderuniform ist nur ein kleines Beispiel von vielen dafür, was Du in mir gesät hast. So wie Du uniformiert zum Dienst gingst, ging ich dann stolz in Pfadfinderkluft zu den Treffen im Gemeindehaus. 1961 war ich auf Einladung eines Mitschülers in ein Zeltlager ins Sauerland mitgefahren. Das Zelten gefiel mir überhaupt nicht, da wir behelfsmäßig draußen am Waldrand zu essen, zu schlafen und zu wachen hatten.
Mein Interesse an Uniformen blieb auf einige Monate begrenzt, und ich verabschiedete mich von der Pfadfinderschaft. Allein der Verkauf der Zeitung »Befreiung« der CAJ (Christliche Arbeiter Jugend) begeisterte mich einige Jahre lang. Ich lernte aufgrund der Inhalte dieser Zeitung erste Anzeichen von Unrecht in Gesellschaft und Kirche kennen. Vom Kaplan angeregt, verkaufte ich die »Befreiung« erfolgreich nach der Kirche. Ging es doch hier um meinen ersten selbstständigen Arbeitsauftrag im Alter von dreizehn Jahren.
Heute, beim Rückblick auf die Schulzeit von 1954 bis 1962 stelle ich fest, dass es eine erholsam schöne, ungebundene Kindheit war. Viel wichtiger, als für die Schule zu lernen, waren mir das verträumte Spielen im Hof, im Garten und meine Freundschaft mit unseren Tieren.
Für heute verabschiede ich mich von Dir
mit einer herzlichen Umarmung und Gruß
Dein Sohn Gregor

Brief über die Zeit als Postlehrling

Frankfurt am Main, 21. November 2016
Lieber Papa,
gerade hat die Türklingel geläutet. Ich habe für Burkhard vom Briefträger einen großen Einschreibebrief entgegengenommen. Burkhard bekommt täglich wegen seiner Baustelle im Kaufhaus H&M auf der Zeil Post. Zum Glück hat der Briefträger nur eine Treppe bis zur ersten Etage zu ersteigen, um die Geschäftspost, sofern sie nicht in den Briefkasten geht, bei mir abzugeben. An der Tür sagte ich zu ihm: »Warten Sie noch einen Moment. Ich möchte Ihnen etwas geben. « Weiß ich doch aus eigener Erfahrung, was es heißt, bei Wind und Wetter und gerade bei trübnassem Novemberregen wie heute als Briefträger unterwegs zu sein. Mit erstauntem und dankbarem Blick nahm der junge attraktive Zusteller das kleine Trinkgeld in seine kaltgefrorenen Hände.
Im Rückblick auf längst vergangene Zeiten bin ich überrascht, im Alter von 14 Jahren bei der Post gelandet zu sein. Als ich im April 1962 die Ausbildungszusage erhielt, Papa, freutest Du Dich sehr mit mir. Dir war vor allem wichtig, dass ich über eine spätere Beamtenstellung zeitlebens abgesichert sein würde. Mir selbst hätte keine andere Lehre besser als die bei der Post gefallen können. Die vielseitige Praxis im Zustellungs-, Paket- und Zeitungsdienst, verbunden mit dem theoretischen Lernen, machte mir Spaß. Begeistert hatte ich die gerade eingeführten Postleitzahlen studiert. Schnell lernte ich außerdem alle Bahnstrecken im Ruhrgebiet auswendig, obgleich ich nie in einem Postzug mitfahren sollte.
Im zweiten Lehrjahr bekam ich aufgrund des sehr kalten Winters auf dem Paketwagen Gelenkrheumatismus. Drei Monate lang war ich stationär im St. Josef-Krankenhaus in Gelsenkirchen-Horst in Behandlung. Obwohl an meiner Berufskrankheit unschuldig, bestrafte mich die Postdirektion mit einer vierteljährigen Ausbildungsverlängerung. Vergeblich versuchten meine Altenessener Vorgesetzten, die Verlängerung mit dem Hinweis zu verhindern, dass ich in Essen von 60 Schülern als Lehrgangsbester ausgezeichnet worden war. Somit konnte ich nicht mit meinen Essenern Postlehrlingen zusammen den Abschluss machen, sondern musste als einziger nach Düsseldorf zur Prüfung, was zur Folge hatte, dass ich statt der erwarteten sehr guten Abschlussnote nur eine befriedigende Durchschnittsnote erhielt. Diese enttäuschende Nachricht war für mich so bitter, dass ich auf dem Rückweg ganz depressiv am Düsseldorfer Hauptbahnhof stand. Der Aufstieg in den Mittleren Dienst blieb mir damit verschlossen. Meine neue Berufsbezeichnung »Postschaffner zur Anstellung« erhielt ich feierlich vom Postamtmann in Essen-Altenessen ausgehändigt. Du, Papa, jubeltest über dieses Papier, mit dem ich als Beamter im einfachen Dienst bestätigt wurde. War doch jetzt Dein stets kranker, schwacher Sohn in scheinbarer sozialer Sicherheit.
Ich fühlte mich nach der Postlehre so, als sei alles zu Ende, als ginge nichts mehr weiter, als wäre alles umsonst gewesen, als müsste ich immer schwach und krank bleiben. Dennoch führte mich dieser Zustand als 15jähriger erstaunlicherweise nicht in die Verzweiflung. Dank Mamas Gebetsanleitungen, der Kommunionkind- und Messdienererfahrung war in mir der christliche Glaube vor allem in den unendlich langen Krankenhauswochen zu einer stattlichen grünen Pflanze mit vielen Ablegern herangewachsen. Aber, Papa, auch Deine Worte und Dein zuversichtlicher Blick am Krankenbett – »Es wird täglich besser!«, »Nur noch kurze Zeit und Du bist wieder zu Hause«, »Wenn Du nur gut zu Hause isst und trinkst, wirst Du wieder ganz gesund!« – waren im Sommer 1963 für mich überlebenswichtig.
Als Briefträger war ich oft in den Bergmannssiedlungen des Altenessener Nordens eingesetzt. Diese einfachen Menschen wuchsen mir ans Herz. Ich freute mich, mit ihnen über Glückwunsch- oder Urlaubspost und Geldzuweisungen zu reden. Ebenso litt ich mit ihnen bei schlechten Nachrichten durch Trauerbriefe, Gerichtsbriefe und nicht bezahlte Rechnungen. Monatlich bekamen die Bergleute die Gewerkschaftszeitung »Werk und Wir«, die meine Tasche dermaßen beschwerte, dass ich erneut Knieschmerzen bekam. Auch andere Krankheitssymptome in den Füßen und Beinen, Schmerzen in der Magen- und Herzgegend überfielen mich in den ersten Jahren nach meinem Krankenhausaufenthalt. Hatte ich dazu noch Kopf- und Ohrenschmerzen, Übelkeit und Schwindel, dann musste ich mich krankschreiben lassen, da ich nicht fähig war, meinen großen Bezirk zu meistern. Von manchen Postvorgesetzten erhielt ich Mitleid, sodass sie mich wegen meiner erlittenen Krankheitsrückfälle zeitweise für den Innendienst in der Zeitungsstelle des Postamtes freistellten.
Nach meinem langen Krankenhausaufenthalt wurden wir beide uns wieder so fremd, dass wir uns gegenseitig ständig auf die Nerven gingen. Nichts, aber auch gar nichts konnte ich Dir recht machen. Deine Schimpftiraden habe ich noch heute im Ohr: »Ständig gibst du Widerworte!«, »Zum tausendsten Mal habe ich dir gesagt, nimm die Hände vom Gesicht!«, »Wenn du mich noch einmal so anguckst, schmeiße ich dich die Treppe hinunter!«. Ständig hattest Du mit strafendem Blick etwas an mir auszusetzen. Aus jedem Fehlverhalten meinerseits machtest Du eine gewaltige Sache. Als ich Dich auf dem Hof nicht mit »Guten Morgen!« begrüßte, warst Du so verärgert, dass Du auf meinen Zuruf: »Du sollst mich nicht so anschreien!«, resigniert sagtest, ich solle meiner Wege gehen, dann hättest Du endlich Ruhe vor mir und ich vor Dir. Mama sagte mir oft genug mit traurigem Gesichtsausdruck nach solchen Ereignissen: »Nimm Papas Aussagen nicht so ernst, du musst dich wieder mit ihm vertragen, Papa hat es nicht so gemeint.« Statt von zu Hause fortzulaufen, wie ich es öfter nach solch einem Vorfall vorhatte, blieb ich auch diesmal, aus Liebe zu Mama. Mit meiner Empörung blieb ich indes allein. Auf andere Gedanken kam ich einerseits im Klagegebet an Gott und andererseits, indem ich alles in mein Tagebuch niederschrieb.
»Die 175er« nanntest Du, Papa, in meiner Jugendzeit während der 1960er Jahre Männer, die Männer lieben, wie mir kürzlich Marlene und Christiane berichteten. Wer diese Menschen waren und auf welche Weise Du mit ihnen dienstlich zu tun hattest, erfuhren wir damals von Dir nicht. Aus heutiger Sicht ist mir klar, dass »die 175er« eine der indirekt diskriminierenden Bezeichnungen für homosexuelle Männer ist. Fühltest Du, Papa, Dich als 21jähriger junger Mann in Deiner Männlichkeit durch solche Männer bedroht bzw. gezwungen, Deinen eigenen homoerotischen Anteilen begegnen zu müssen? Ob auch Du mit dem völkischen Nationalismus sympathisiert hast, der schon in der Kaiser- und Weimarer Zeit seine generelle Verachtung von Minderheiten wie jüdischen Familien, Sinti und Roma sowie homosexuellen Menschen proklamierte? Die diskriminierende Politik der Kirchen gegenüber homosexuellen Menschen hat schon in der Weimarer Zeit auch Deine und Deiner Familie prüde Sexualmoral maßgeblich beeinflusst. Wie konntest Du Dich über Erichs graziöse Ballettaufführungen in unserer Wohnung freuen und mit ihm und seinen Eltern befreundet bleiben, während gleichzeitig friedliebende schwule Männer wegen des § 175 in Essen verhaftet wurden? Als junger Essener Polizist der 1930er Jahre war Dir das schwule Lokal »Eldorado« bekannt. Weit über Essen hinaus war dieses neben anderen schwulen Lokalen beliebt und gesellschaftlich anerkannt. Heute steht auf der Gedenktafel am Geringplatz in Essen: Bis zum 2. Mai 1933 befand sich in diesem Haus unter dem Inhaber Willi Hartenfels das Tanzlokal »Essener Eldorado«, ein beliebter Treffpunkt homosexueller Männer und Frauen. Mit seiner Schließung begann die systematische Ausgrenzung von Schwulen und Lesben in Essen. Die von der Gestapo durchgeführte Aktion gegen Homosexuelle zerstörte das Leben der Betroffenen. Willkürliche Schutzhaft, Misshandlungen und Internierung in Konzentrationslagern gehörten zum Schicksal von Männern, die Männer liebten. Frauen, die Frauen bevorzugten, galten als »asozial«. Durch den § 175 StGB noch bis 1994 kriminalisiert, wurden die Opfer totgeschwiegen. Welche Kuriosität, dass gerade mein Verlag an der Technischen Universität Dortmund mit dem gleichen Namen »Eldorado« meine Dissertation »Studie zum Projekt: schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf« kostenlos ins Internet gestellt hat.