Grenchnernetz - Iris Minder - E-Book

Grenchnernetz E-Book

Iris Minder

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Beschreibung

Ein scheinbar unschuldiger Fund wird zum Albtraum: Als eine ahnungslose Person zufällig auf Kinderpornografie auf dem Computer des Chefs stößt, gerät sein Leben in Gefahr. In einem perfiden Netz aus Intrigen gefangen, sieht er nur noch einen Ausweg – seine Familie und sich selbst zu erlösen. Doch das ist erst der Anfang. Toni Morand, ein verdeckter Ermittler, und die Grenchner Polizistin Hedy Steiner stehen vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Sie müssen nicht nur einen skrupellosen Kinderhändlerring zerschlagen, sondern auch einen drohenden Amoklauf verhindern. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, und jede Sekunde zählt. Während die Ermittlungen voranschreiten, offenbart sich das wahre Ausmaß des Verbrechens: Die Spur führt bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft. Wer ist Freund, wer ist Feind? Wem kann man noch trauen? Iris Minder schafft es, die dunklen Abgründe der menschlichen Seele aufzudecken und gleichzeitig Hoffnung und Mut zu vermitteln. Lassen Sie sich von diesem packenden Krimi in den Bann ziehen und tauchen Sie ein in eine Welt, in der nichts ist, wie es scheint. Ein Muss für alle Fans von fesselnder Kriminalliteratur!

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Umschlag

Foto: Susi Reinhart

Bearbeitung: Franziska Beck

Iris Minder

 

 

 

Grenchnernetz

Kriminalroman

 

 

 

2. Auflage

 

 

 

 

 

Ich widme die zweite Auflage zwei Krimifans. Es sind zwei Freundinnen, die sich spontan zur Verfügung gestellt haben, GRENCHNERNETZ unentgeltlich zu korrigieren. Grossen Dank!

 

 

 

 

 

 

 

Was mich erschreckt, ist nicht die Zerstörungskraft der Bombe, sondern die Explosionskraft des menschlichen Herzens zum Bösen. (Albert Einstein)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein kurzes Vorwort

 

Immer wieder liest man über die im Grenchnernetz thematisierten grauenhaften Verbrechen. Man liest davon in den Medien, wenn wieder ein Fall ans Tageslicht gebracht wird. Man entsetzt sich, vergisst und tabuisiert es häufig.

 

Meine Geschichte ist in Grenchen angesiedelt, weil hier seit 30 Jahren mein Arbeitsmittelpunkt ist. Grenchen ist nur die Kulisse und weder die beschriebenen Personen, Organisationen noch Handlungen sind wie von mir fabuliert in Grenchen vorgekommen.

 

Missbrauchsvorfälle geschehen prozentual häufiger im Familien- und Freundeskreis (auch unter Jugendlichen), wo man es nicht vermutet, als durch im «Grenchnernetz» beschriebene Organisationen.

März 2019

 

Er steht am Rande der Wandfluh. Die steile Felswand auf dem Obergrenchenberg ist eine bedrohliche, von weit her sichtbare Gefahr am Jurasüdfuss oberhalb von Bettlach. Er ist verzweifelt. Seine beiden Kinder eingeschüchtert und verängstigt neben ihm. Die Pistole auf die beiden gerichtet. Keiner kann mich aufhalten. Ich werde es tun. Die alle wollen es nicht anders. Meine Schuld wird es nicht sein. Die haben mich so weit getrieben. Mit dieser Schuld müssen sie nun leben. Es ist besser, wenn es die Kinder und mich nicht mehr gibt. Gnädig für die Kinder.

 

Ein Alarm aus der Stadtapotheke ist einige Stunden vorher bei der Polizei ausgelöst worden. Ein Mann würde mit einer Waffe in der Apotheke randalieren und wolle seine Frau erschiessen. Als die Sondereinheit dort eintrifft, findet man nur die verstörte Frau. Sie sitzt zusammengekauert, die Knie angezogen und mit den Armen umschlungen, in einer Ecke. Eine Kollegin, ebenfalls im Schock, streichelt ihr immer wieder den Kopf, um sie und sich selbst zu beruhigen. «Er wird den Kindern was antun», schluchzt die Apothekerin wie ein Mantra und wippt mit verschleiertem Blick nach vorne und hinten. Plötzlich springt sie auf und schreit die Beamten an: «Er drohte mir, sie zu töten. Die ganze Familie auszurotten. Tun sie was. Finden Sie meine Kinder!» Dann bricht sie weinend zusammen. Die von der Sondereinheit aufgebotenen Sanitäter kümmern sich um die beiden Frauen.

 

Während die Beamten nach dem Verbleib der Kinder suchen, eine Handyortung beim Staatsanwalt beantragen, steht er nun schon über eine Stunde vor dem Abgrund der Wandfluh. Die linke Hand, in der er die Pistole hält, ist inzwischen blutleer, weil er die Waffe derart verkrampft umklammert. Die Geschwister kauern am Boden, halten sich fest in den Armen und weinen still vor sich hin. Etwas irritiert den Mann. Eine Gefahr lauert irgendwo hinter ihm. Er muss jetzt handeln und dem Ganzen ein Ende setzen. Irgendein Ende. Ich muss mich jetzt entscheiden. Ich kann hier nicht einfach stehen bleiben. Ich muss was tun. Langsam wie in Zeitlupe dreht er sich um, schaut seine verängstigten Kinder an und hebt den linken Arm hoch, nicht um zu schiessen, sondern um die Verkrampfung zu lösen.

 

Da fallen zwei Schüsse. Stille. Kein Kinderweinen mehr. Ein dritter Schuss und der Mann stürzt die steil abfallenden Felsen der Wand-fluh hinunter.

 

 

Januar 2019

 

Toni Morand sitzt in seinem schwarzen Peugeot. Einmal mehr eine langweilige Observation. Morand ist ein attraktiver, gepflegter Mann. Ein Charmeur den Frauen gegenüber, im Beruf jedoch konsequent und manchmal auch hart und unbeugsam. Wenn Freunde in Not sind oder ein offenes Ohr brauchen, ist er für sie da, feinfühlig, loyal und gut gelaunt. Diese Eigenschaften zusammen mit einer unglaublichen Intuition, einem bemerkenswerten Bauchgefühl, machen ihn zu einem hervorragenden Ermittler, was bei höheren Stellen nicht unbemerkt geblieben ist. Und so ist er seit ein paar Jahren mit ganz besonders heiklen Fällen betraut. Jetzt aber spielt er den Privatermittler und observiert einmal mehr einen Ehemann. Dessen Gemahlin will den möglicherweise untreuen Ehemann auf frischer Tat erwischen lassen. Er scheint sich seit einiger Zeit sehr intensiv um ältere, begüterte Damen zu kümmern. Dem will seine Angetraute nun ein Ende bereiten. Nicht dem Witwentrösten, sondern der Ehe mit ihm. Das lässt sie sich einiges kosten. Sie besitzt das Geld, er die Potenz. Leider bekommt sie vom Letzteren kaum was ab, er daher eine Menge von ihrem Vermögen. Dem will sie nun einen Riegel vorschieben. «Der Blödmann ist zum Glück mit einer Gütertrennung einverstanden. Jetzt wird er mit nichts dastehen. Aber eben nur, wenn Sie ihn bei einer seiner reichen Witwen erwischen», meinte sie zu Morand als sie ihm den Auftrag erteilte.

 

Seit zwei Stunden hockt er inzwischen hier in seinem schwarzen Peugeot und wartet ab. Seine heissgeliebten frittierten Pouletflügeli sind schon lange vertilgt. Er nagt noch ein paar kleine Fleischstückchen ab. Aus Langeweile und Frust. Ich höre auf mit diesen Observationen, auch wenn sie einiges an Geld einbringen. Ich verdiene ja genügend mit meinem anderen Job. Es wäre erleichternd nur noch jenen anderen machen zu müssen. Ich weiss, ich weiss, ich nehme mir immer wieder vor, eine andere Beschäftigung zu beantragen. Aber dann wird mir klar, dass ich mit diesem Privatermittlerjob sozusagen «vogelfrei» bin. Warum übernehme ich immer nur diese langweiligen Observationen von untreuen Ehemännern? Ich habe es selber in der Hand, die Fälle anzunehmen, die mich wirklich interessieren. Aber immer nur diese untreuen Typen, die ihre Frauen verarschen. Vielleicht räche ich mich so indirekt an diesem Schwein, der meine Regula auf dem Gewissen hat. Toni Morand schreit das Pouletknöchelchen an: «Ich kriege dich. Noch heute! Und dann ab nach Hause!» Dabei ist ihm nicht so ganz klar, wen er damit meint: Den persönlichen Widersacher oder sein Observationsobjekt.

 

Der graue Nebeldeckel, der seit einigen Wochen über Grenchen hängt, deprimiert ihn. In solch düsteren Zeiten kommt unweigerlich auch seine Wut wieder hoch. Die Wut auf dieses Arschloch von einem Typen, der ihm seine grosse, seine einzige wirkliche Liebe ausgespannt hat. Ich kriege dich! Irgendwann. Irgendwie. In Toni Morand kommen Erinnerungen hoch. Seine Regula. Er. Wie sie Hand in Hand der Aare entlang spazierten, von Grenchen nach Selzach. Fast ein wenig kitschig, ja. Im Nachhinein wird ihm klar, dass es etwas Unechtes, Gekünsteltes gehabt hatte. Er ist nur verblendet gewesen und viel zu sehr verliebt. Er hätte es ahnen müssen. Die Vorzeichen waren deutlich, damals, bei diesem letzten verliebten Spaziergang. Es wehte ihnen eine kalte Bise von Solothurn her entgegen. Der Wind, der die Aare scheinbar aufwärts fliessen lässt. Er sah, wie sie immer wieder anhielten, sich anlächelten, wie sie ihn auf einen seltenen Wasservogel aufmerksam machte. Ja, mit Vögeln kannte sie sich aus. Verdammt! Die Zweideutigkeit dieses Wortes lässt erneut seine Wut gegen diesen Patrick hochkochen. Er schlägt seinen Kopf wütend aufs Lenkrad. Der körperliche Schmerz erleichtert ihm die unsägliche seelische Not. Eine Bewegung hinter dem Tüllvorhang der beobachteten Wohnung im zweiten Stock des Einfamilienhauses an der Allmendstrasse holt ihn in die Gegenwart zurück. Es ist halb fünf Uhr und bereits dunkel. Jemand hat dort das Licht angezündet. Schemenhaft kann Toni zwei Personen ausmachen. Kommt, kommt schon. Zieht den Vorhang auf. Los! Zeigt euch. Dann kann ich endlich nach Hause. Das Glück steht auf seiner Seite. Eine ältere Dame, nackt, will die samtenen Vorhänge zuziehen und zieht dabei irrtümlich den schützenden Tüll auf. Toni gelingen ein paar eindeutige Schnappschüsse der Dame und des Ehegatten seiner Auftraggeberin. Beide im Adamskostüm – oder muss man politisch korrekt jetzt sagen – im Adams- und Evakostüm? Toni muss über seinen Gedankengang lachen. Er ist zufrieden mit sich. Eines der Porträts ist besonders gelungen. Beide gut erkennbar und die Hände des untreuen Ehemannes auf dem üppigen HängebBusen der Witwe. Es vergehen nur einige Sekunden, bis die beiden bemerken, dass sie sozusagen schutzlos als Nacktmannequins im Fenster stehen. Sofort wird der blickdichte Vorhang zugezogen. Toni Morand ist zufrieden mit sich und fährt mit seinem schwarzen Peugeot nach Hause, an die Leimenstrasse 21. Dort lädt er den Schnappschuss auf seinen Computer und sendet ihn der Ehefrau. Er hängt gleich auch die Rechnung der Mail an. Gesalzen, weil sie es ja vermag und er ihr durch seine Arbeit viel grösseren Schaden hat helfen können zu verhindern.

 

Mit sich und der Welt im Reinen, beschliesst er, sich ein ausgiebiges Schaumbad zu gönnen. Er sucht aus den vielen Beuteln einen passenden Zusatz aus. Er entscheidet sich für fizzy, prosecco party von treacle moon, mit dem Duft von wilden Trauben und Pfirsich. Das, so ist er überzeugt, passt am besten zu seiner momentanen Stimmung. Vor allem das Ende des Gedichtes auf diesem rosafarbenen Sachet spricht ihn an: «Flip Flop-Tänze durch den Sand, stibitzte Küsse … und plötzlich dämmert der Morgen». Morands Schwester Doris verwöhnt ihn mit diesen herrlichen Badesalzen, die sie ihm aus Bad Wörishofen mitbringt. Dort verbringt sie zusammen mit ihrem Lebenspartner immer ihre Ferien. Diese Tradition des Schaumbades hat er damals, als seine Liebeswelt noch in Ordnung war, zusammen mit seiner Regula eingeführt. Es waren Augenblicke von völliger Harmonie und Geborgenheit. Der Gedanke, dass diese grosse, diese einzige wirkliche Liebe seines Lebens einmal ein so brutales und abruptes Ende finden würde, wäre ihm damals völlig absurd vorgekommen. Andere Menschen trennen sich, ziehen einen andern Partner vor. Aber doch nicht Regula und er. Und doch passierte das völlig Unmögliche. Sie zog ihm diesen Patrick vor und raste sozusagen direkt in ihr Unglück. In den Selbstmord. Das Baderitual ist ihm geblieben. Am Anfang jedes Mal mit Tränen von tiefer Trauer und Wut. Heute entspannt. Manchmal meint er zu spüren, dass Regula auch in der Wanne sitzt und versucht, sich mit ihm zu versöhnen. Ja, er ertappt sich dabei, dass er mit ihr laut spricht. Aber er erschrickt jedes Mal, wenn er seine Stimme so fremd in der einsamen Wohnung erschallen hört. Toni weiss, dass die Zeit der Rache kommen wird. Hütet euch vor der Wut eines Geduldigen meint John Dryden, ein englischer Dichter. Und genau das ist seine Stärke: Geduld.

 

Toni zieht sich aus und steigt in die Badewanne. Aber dann hält er inne und geht mit nassen Füssen in die Küche, um sich ein Glas Prosecco einzuschenken. Passt schliesslich auch zum Namen des Badezusatzes. Er ist froh, dass ihn niemand dabei beobachten kann. Ein duftendes Schaumbad in rosa, dazu ein Gläschen perlenden Wein! So was Feminines, Weibisches passt eigentlich gar nicht zu einem hartgesottenen Ermittler, wie er sich gegen aussenhin gibt. Toni muss lachen, wenn er sich vorstellt, dass seine früheren Machokollegen ihn so sehen könnten. Bier, Wurst, Waffen und kalte Duschen waren eher so deren Ding. Es ist nicht so, dass Toni kein Interesse an Waffen, Bier und Wurst hat, aber eben, da gibt es halt noch diese ganz intimen Momente seines Baderituals. Aber so hat halt jeder eine verborgene Seite, denkt er, und lässt sich mit einem wohligen Aufstöhnen ins warme Wasser gleiten.

 

 

Zusammengerollt wie ein Embryo, die Decke bis zum Kinn. Die einzige Möglichkeit den tristen Januartag, erst noch ihr erster von vier freien Tagen, zu überstehen. Am Morgen las sie im Grenchner Tagblatt, dass der Skiclub Selzach das Skirennen auf den Grenchner Bergen absagen musste. Unten sei es zwar möglich, aber oben hätte der Wind den Schnee weggeblasen. Kalt und stürmisch ist es und sie liegt allein, eingepackt und versteckt zuhause an der Bucheggstrasse 57 im Parterre links. Einmal mehr versinkt sie in ihre Tagträume, um sich ihren privaten Problemen nicht stellen zu müssen. Sie sieht sich sitzend am Meer. Die Sonne geht unter. Die Wasseroberfläche glüht in allen Rottönen. Die letzten Schreie der Möwen kündigen eine warme Nacht an. Das Kommen und Gehen der Wellen ist ein beruhigendes Wiegen. Am Horizont die Silhouette eines Schiffes wie ein Versprechen von fernen Welten, von grosser Freiheit. Ein Gefühl von Behütetsein, von uraltem, mystischem Wissen. Sie spürt in ihrer Fantasiereise etwas Göttliches und träumt sich weiter in den Sonnenuntergang. Sie spürt den durch die Sonne aufgewärmten Sand an ihrem schlanken Körper. Ja, in diesen intensiven Tagträumen ist sie schlank und hübsch. In der Realität empfindet sie sich hässlich und dick. Da nützt es ihr nichts, wenn ein BMI (Bodymassindex) von 22 etwas anderes beweist. Sie findet es immer als grosse Ungerechtigkeit, dass schöne Frauen – lange Beine, lange blonde Haare und lasziver Blick – immer von allen angehimmelt werden. Die haben ihre sogenannte Schönheit nicht erarbeitet und keinen Grund, sich darauf etwas einzubilden. Das ist wie bei Bäumen. Man bewundert die wohlgeformten und ausladenden, die einfach die besseren Chancen hatten sich zu entwickeln, während ein kleiner Baum daneben, der sich abmüht, genügend Licht zu bekommen, übersehen wird. Ein knorriger Baum, der Charakter hat, Wunden und Risse, ist doch viel interessanter und spannender als das so hochgejubelte perfekt Schöne. Das Schöne ist einfach nur schön. Hinter Schönheit gibt es keine Geschichten! Hedy lässt sich wieder in ihre Traumwelt sinken und hört dem leisen Rieseln des Sandes unter dem sanften Kommen und Gehen der Wellen zu. Neben ihr im warmen Sand, die starken Arme beschützend um sie gelegt, spürt sie halbliegend ihren Traummann. Geborgen sein, beschützt sein und loslassen. Ihre grosse Sehnsucht. Ihr Traummann ist einfach wie selbstverständlich da, ohne, dass eine sexuelle Beziehung besteht. Sie spürt eine grosse Liebe. Es ist ganz einfach ein grosses Urvertrauen, das von diesem Mann ausgeht. Er gibt einem das Gefühl aufgehoben zu sein oder angekommen zu sein.

 

Das Handy klingelt und holt sie brutal aus ihrer Traumreise in die Wirklichkeit zurück. Ihr Herz rast durch den Schock. Sie spürt, dass ihre Wangen nass sind und trocknet sie mit der Bettdecke. Diese unerfüllte Sehnsucht nach einem beschützenden Partner an ihrer Seite, einer der einfach da ist, ehrlich und treu, treibt ihr jedes Mal die Tränen in die Augen. Wütend schreit sie in die leere Wohnung: «Kitsch, alles einfach nur Kitsch. Verdammt, was bin ich für eine blöde naive Kuh!»

Sie dreht sich um und nimmt das Handy: «Ja, Steiner!»

«Hedy, bist du’s? Ich bin’s. Barbara.»

Immer noch hässig auf sich selbst, lässt sie es an der Anruferin aus: «Logisch, bin ich es. Wer soll es sonst sein, wenn du meine Nummer wählst.»

«Entschuldige, Hedy. Ich komme ungelegen. Tut mir leid. Kann ich dich später anrufen?»

«Nein, ist schon gut. Mir fliegt gerade die Decke auf den Kopf und einmal mehr drückt mich die Einsamkeit. Alles nichts Neues. Du kannst nichts dafür. Also, von vorne. Sali, Barbara. Ich freue mich, dass du mich anrufst.»

Barbara Schmid lacht. Das ist so typisch für ihre langjährige Freundin. Diese Stimmungswechsel kennt sie von ihr bereits seit der gemeinsamen Primarschulzeit. Ihr damaliger Klassenlehrer, Tom Suter, nannte sie spasseshalber und liebevoll unsereStimmungskanone.

«Kann ich dich treffen? Es ist eine etwas heikle Angelegenheit und ich möchte es einfach nicht so gerne am Telefon besprechen.»

«Natürlich können wir uns treffen. Es wird Zeit, dass ich mich heute noch aufraffe. Im Eldorado in einer Stunde?»

«Lieber nicht. Das Tea-Room liegt direkt neben der Apotheke. Man weiss ja nicht, ob Kunden dort sind und dann lange Ohren machen, wenn sie ihre Apothekerin dort sitzen sehen. Könnte ich nicht zu dir kommen?»

«Das tönt dramatisch.»

«Ich befürchte, dass es das auch ist, Hedy. Ich mache mir wirklich ganz, ganz grosse Sorgen. Aber mehr kann und will ich dir im Moment nicht sagen.»

«Nur einen kleinen Tipp.»

«Es geht um Hermann. Ich habe Angst um ihn.»

«Ich warte auf dich. Komm.» Hedy ist alarmiert. Angst um Hermann? Vermutlich ist er schwer krank. Etwas anderes kann sich Hedy beim besten Willen nicht vorstellen. Hermann ist Barbaras Fels in der Brandung. Wilde und verrückte Jahre der Orientierungslosigkeit prägten die Studienzeit ihrer Freundin. Sie absolvierte zwar diszipliniert ein strenges Studium zur Pharmakologin. Privat jedoch ist Barbara verloren. Nach einer sehr strengen Erziehung, in der wenig Platz für Selbständigkeit war, konnte sie mit dieser neuen Freiheit und deren Verlockungen nicht umgehen. Wegen Alkoholexzessen, Kiffen und häufig wechselnden Sexpartnern drohte Barbara abzudriften. Hedy musste ihre Freundin immer wieder aus heiklen Situationen retten. Und dann trat Hermann in ihr Leben. Sie trafen sich zufällig in der Kantine der Universität Bern. Gleichzeitig griffen beide zum letzten Vanillepudding mit Himbeeren. Barbara war etwas schneller, aber Hermann drückte versehentlich ihre Hand in die Dessertschale. Barbara zog lachend ihre Hand zurück und leckte den Pudding genüsslich ab. Beide schauten sich an und lachten haltlos. Sie konnten nicht mehr damit aufhören. Die nachkommenden Studenten am Buffet hatten nichts von diesem Missgeschick mitbekommen, aber weil das Grölen der beiden so ansteckend war, brachen alle in Gelächter aus. Eine fröhliche Stimmung, die in der sonst sehr ernsten und verhaltenen Atmosphäre der Mensa äusserst befremdlich wirkte. Hermann hatte dann den Vanillepudding bezahlt. Die beiden fanden zwei freie Plätze und setzten sich ganz selbstverständlich einander gegenüber. Gemeinsam löffelten sie dann das havarierte Dessert aus. Das war der Anfang ihrer grossen Liebe und die Rettung von Barbara. Hermann kann ihr durch seine ruhige, überlegte und unaufgeregte Art den nötigen Halt geben. Bis heute bleibt Vanillepudding mit frischen Himbeeren deren Lieblingsdessert, das sie sich immer dann gönnen, wenn sie ihre Zweisamkeit geniessen wollen. Hedy kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass Hermann ihre beste Freundin in Angst versetzen könnte. Er musste eine schlimme Diagnose erhalten haben. Krebs? Vielleicht unheilbar?

 

Hedy springt aus dem Bett, duscht sich schnell, zieht sich an, bettet die Leintücher straff und schüttelt die Bettdecke zurecht. Der Hilferuf ihrer Freundin macht sie unruhig und nervös. Normalerweise schliesst sie einfach die Schlafzimmertüre und fertig. Aber jetzt kann sie nicht anders. Sie überprüft noch schnell das Wohnzimmer. Dort ist wie immer alles sauber. Darauf legt sie grossen Wert. Aber Akten und Bücher bilden auf dem Tisch und rund ums Sofa eine chaotische Unordnung.

 

Hedy versucht sich wieder in den Griff zu bekommen. Eine hilflose Freundin braucht Barbara jetzt nicht. Sie will stark sein, die taffe und fokussierte Polizeibeamtin. Einmal mehr spürt sie, dass ihr Leben irgendwie wie zweitgeteilt ist. Manchmal, denkt sie, dass in ihr zwei völlig verschiedene Personen stecken. Im Beruf fokussiert, belastbar und manchmal richtig hartgesotten. Aber im Privatleben – besonders, wenn es um Männer geht – völlig verunsichert., anlehnungsbedürftig. Tagträume mit heiler Welt und Geborgenheit. Wenn ein Mann nett zu ihr ist und sie sich deshalb einbildet geliebt zu werden, dann wird sie Wachs, lässt sich formen und verformen und gibt schlussendlich frustriert und enttäuscht auf. Trotzdem ist sie nach wie vor auf der Suche und das Ganze beginnt wieder von vorne. Wie ein Pater Noster, ein Umlauflift, der in einer unendlichen Schleife auf und ab fährt. Jetzt aber ist sie die Freundin, die für die andere da sein wird, um zuzuhören und wenn nötig zu helfen.

 

Während sie den Tee aufgiesst – sie weiss, dass ihre Freundin, seit sie in Ostfriesland in den Ferien war, nur noch Tee trinkt – sinniert sie über ihre Barbara. Was sie wohl so bedrückt? Hedy erinnert sich, dass Hermann im Geschäft einen schweren Stand hat. Vor allem in Bezug auf die Beziehung zu seinem Chef scheint etwas nicht ganz koscher zu sein. Wie heisst er nur? Hedy kann sich nicht mehr erinnern. Irgendwie weiss sie nur noch, dass sie damals, als Barbara kurz etwas über ihn erzählte, für sich dachte nomen est omen. Ah, genau, Franz Hösli. Hedy hat auch von Kollegen immer wieder Gerüchte über diesen Franz Hösli vernommen. Normalerweise hört sie ja nicht auf Gerüchte, aber sie weiss aus Erfahrung, dass darin immer auch ein Körnchen Wahrheit steckt. Hatte der Hilferuf ihrer Freundin etwas mit diesem Hösli zu tun? Kaum, denkt sie, so übel kann die berufliche Situation ja kaum sein, dass sich Barbara dermassen um ihren Mann ängstigen muss. Die Angst, dass Hermann unheilbar krank sein könnte, kommt wieder in ihr hoch. Sie ermahnt sich ruhig zu bleiben und abzuwarten.

 

In diesem Augenblick hört Hedy Schritte auf der Treppe und öffnet ihrer Freundin sofort die Türe. Sie küssen sich dreimal herzlich. Barbara wirft ihre Schuhe von sich. Sie landen auf den vielen bereits dort liegenden Schuhen von Hedy. Etwas, das Hedy nicht leiden kann, sind Strassenschuhe an den Füssen, wenn jemand ihre Wohnung betritt. Sie ist ja eigentlich nicht sehr pingelig. Aber Strassenschuhe in der Wohnung geht für sie gar nicht. Sie hat in ihrem Beruf genügend mit dem sogenannten Schmutz der Strasse, den vielen kleinen und grösseren Halunken zu tun. Es kommt ihr dann vor wie, wenn mit den Schuhen auch das Verbrechen Einzug in ihren vier Wänden halten würde. Abgesehen davon ist der Fussboden warm. Bei der Renovation und dem Umbau ist eine Bodenheizung eingesetzt worden. Und deshalb ist das Ausziehen der Schuhe für jeden ihrer Gäste absolut zumutbar.

Hedy schenkt Tee ein, und wie es sich gehört, in japanischem Porzellan. In einer Schublade in der Küche findet sie noch ein Päckli Lotusguetzlis, die so fein nach Zimt duften. Hedy bemerkt, dass das Verbrauchsdatum allerdings schon seit zwei Monaten abgelaufen ist. Ein völliger Unsinn diese Ablaufdaten, ihrer Meinung nach. Es geht den Firmen nur darum, so viel wie möglich zu verkaufen, in der Hoffnung, dass sich die Leute an dieses Datum halten und dann halt das Essen entsorgen.

 

Barbara schlürft gedankenverloren ihren Tee. Man merkt ihr an, dass es ihr schwerfällt, mit dem belastenden Problem herauszurücken. Hedy lässt ihr Zeit. Das weiss sie aus Erfahrung bei Verhören. Einfach mal schweigen. Irgendwann bricht jeder das Schweigen. Und dann einfach mal reden lassen.

«Es geht um Hermann und seine Arbeit. Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe dir ja schon mal kurz angedeutet, dass Hermann Probleme mit seinem Chef hat. Mit diesem Franz Hösli. Weisst du, den hat man in der Zentrale nur auf diesen Posten gesetzt, weil man ihn am früheren Posten loswerden wollte. Er ist nicht tragbar. Es ist allgemein bekannt, dass er psychisch sehr instabil ist und beim geringsten Druck einfach das Büro verlässt. Er muss vor Jahren mal ausgetickt sein und man wollte ihn in die Psychiatrie nach Langendorf einliefern. Allerdings floh er aus dem Krankenwagen und man vertuschte diese ganze Angelegenheit. Das ist aber nur eines seiner Probleme. Er will es allen recht machen, entscheidet nie, lässt die Leute auflaufen, wenn sie mit Problemen zu ihm kommen. Er ist völlig, wirklich Hedy, völlig unfähig und so was von fehl am Platz für diese leitende Funktion in der Uhrenfirma AMI SA. Ausgerechnet so eine Person an so einem Posten, den man souverän führen muss, Entscheide fällen und die Verantwortung für 500 Angestellte tragen muss. Der ist ja überhaupt nicht fähig. Das Einzige, was er kann, ist seine leitenden Mitarbeiter zu ignorieren und klein zu machen. Nur um seine eigenen Schwächen zu vertuschen.» Hedy schweigt und starrt in die leere Tasse.

«Und Hermann leidet darunter?»

Barbara fährt hoch. «Leiden? Leiden! Das ist nur der Vorname. Ich erkenne ihn in den letzten Wochen überhaupt nicht mehr. Da ist irgendetwas am Laufen. Er muss etwas aufgeschnappt haben, das ihn völlig aus der Bahn wirft. Ich habe den Eindruck, dass in dieser Uhrenfirma sehr krumme, ja kriminelle Dinge laufen, die mit diesem Hösli zu tun haben. Aber Genaues weiss ich wirklich nicht. Hermann redet ja nicht mit mir. Es kann auch sein, dass er etwas Brisantes über diesen Hösli weiss. Als Sekretär des Chefs bekommt Hermann so einiges mit. Er schläft nicht mehr richtig und wenn, wacht er nach kürzester Zeit schreiend auf. Wenn ich ihn frage, was los ist, meint er nur, es sei besser, wenn ich es nicht wisse. Es sei sein Problem. Aber, Hedy, es ist nicht nur sein Problem. Er belastet damit die ganze Familie. Wenn Franziska und Robin, entschuldige Robb, du weisst ja, er will nicht, dass man ihn Robin nennt, also, wenn die beiden mal etwas laut spielen, schreit er sie an und verbannt sie in ihre Zimmer. Er, der sonst ein so geduldiger und lieber Vater ist! Und seit einiger Zeit höre ich ihn im Schlaf immer wieder stöhnen. Wenn er wie gesagt schreiend aufwacht, lässt er sich nicht mal in die Arme nehmen und meint nur, ein Albtraum sei es gewesen. Er könne sich nicht mehr an den Inhalt erinnern, ich solle nicht so hysterisch tun und dreht sich auf die andere Seite.» Wieder versinkt Barbara in Schweigen.

«Was kann ich für dich tun?»

«Du bist doch Polizeibeamtin. Kannst du nicht mal ein wenig nachforschen, was in dieser AMI SA los ist? Ich bin sicher, dass da krumme Dinge laufen. Unterschlagungen? Steuerhinterziehungen? Schwarzhandel? Aber das alles scheint mir nicht gravierend genug, dass es so heftige Reaktionen bei meinem Mann auslösen kann.»

 

Hedy schaut ihre Freundin nachdenklich an. Sie ringt mit sich selbst. Auf der einen Seite will sie natürlich helfen und sich bei dieser AMI SA mal umhören und umschauen. Nur, ihre Möglichkeiten als Polizeibeamtin auszunützen, auf reine Vermutungen hin, widerstrebt ihr. Es gibt ihr ein Gefühl von Missbrauch zu privaten, freundschaftlichen Zwecken. Und irgendwie ist es ja auch so. RIPOL ist das schweizerische System, auf das jeder Polizeibeamte zurückgreifen kann. Der Name ist eine Abkürzung des französischen Wortes Recherches informatisées de la police. Dieses Register wird vom Bundesamt für Polizei geführt. Verschiedene Behörden können im RIPOL Ausschreibungen einfügen. Das sind Stellen wie Nachrichtendienst des Bundes, Bundesanwaltschaft, Militärjustiz, Kantonspolizeibehörden, Zentralbehörde für internationale Kindsentführungen sowie Strassenverkehrsämter. Diese Stellen können nicht nur Daten einfügen, sondern auch Informationen abfragen. Erfasst werden in diesem System Personen- und Sachfahndungen, Inhaber von Ausweisen, Fahrzeughalter, Tatorte und Tatzeiten wie auch die Beschreibung von Taten selber, deren Beteiligten, von Zeugen und Geschädigten. Es gibt auch grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit dem deutschen INPOL, dem Informationssystem der deutschen Polizeien. Allerdings hat man in das System einen Schutzmechanismus eingebaut, um Missbrauch zu verhindern. Jede Anfrage wird genau registriert. Normalerweise entdeckt man Missbrauch durch Zufallsprinzip. Wird dabei entdeckt, dass ein Beamter zu häufig nach einem bestimmten Fall oder einer bestimmten Person sucht, wird er gesperrt. Er muss zur Frage, warum er diese Person oder eben auch einen bestimmten Fall überprüft beim Vorgesetzten schriftlich Meldung erstatten. Wie jedes System kann aber auch dieses ausgetrickst werden. Es gibt viele Hacker, vor allem in kriminellen Organisationen, die über das System herausfinden können, ob eine bestimmte Person der Organisation im Fokus von Ermittlern ist. Am Arbeitsplatz von Hedy Steiner ist es eine Frau, die Offizierin Cäcilia Lüscher, ihre direkte Vorgesetzte. Dieser Dame traut Hedy allerdings nicht über den Weg und will vermeiden ihr gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Vor allem nicht, wenn es sich um eine mehr freundschaftlich-private Nachforschung geht.

 

«Ich möchte ehrlich zu dir sein. Ernsthafte Nachforschungen kann ich nicht machen, auch wenn ich das, was du mir erzählt hast, ernst nehme. Mir sind wirklich die Hände gebunden. Natürlich halte ich jetzt Augen und Ohren offen. Wenn du aber wirklich Näheres wissen willst, dann rate ich dir, dich an einen Privatdetektiv zu wenden. Ich weiss, das ist nicht gerade das Gelbe vom Ei.»

«Das kann ich nicht machen. Hermann wird sich wundern, wenn ich Geld von unserem Konto abhebe, ohne dass er weiss wofür. Wenn er es erfährt, dann wäre das für ihn wie ein Vertrauensbruch. Was es ja irgendwie auch ist. Aber einfach nur aus grosser Sorge um ihn. Dann muss ich halt einfach abwarten, wie es weiter geht.»

Hedy überlegt hin und her. Eine kurze Anfrage? Sie kann sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Hösli, der dem Namen entsprechend eher ein unbedeutender Höseler ist, ein Feigling, im RIPOL aufgeführt ist. «Also, ich schaue kurz mal rein. Mehr kann ich jedoch nicht tun.» Sie logt sich mit dem Handy im System ein und gibt den Namen Franz Hösli ein. Sie will kurz die drin eingefügten Dokumente öffnen.

«Scheisse! Was für ein elender Mist!»

«Was ist? Was Schlimmes?»

Hedy starrt immer noch aufs Display. RIPOL sperrt den Zugang zu den Dokumenten und schliesst Hedy aus dem System aus. Das bedeutet genau das, was sie befürchtet hat. Hätte sie nur auf ihr Bauchgefühl gehört und es sein lassen. Jetzt muss sie ihrer Chefin, Cäcilia Lüscher, Meldung machen. So eine elende Scheisse. Es bedeutet aber auch, dass Hösli im Fokus von Ermittlern steht, also doch Dreck am Stecken hat! Warum sonst sollte eine Suchanfrage sofort gestoppt werden! Oder steckt etwa etwas ganz anderes dahinter?

«Nein, es ist nichts. Ich komme nicht ins System», redete sie sich heraus, um ihre Freundin nicht zu belasten. «Vielleicht ist es besser, wenn du jemanden engagierst, einen privaten Ermittler. Es gibt da jemanden, der mir noch einen Gefallen schuldet.»

«Oh je, du meinst aber nicht diesen Toni Morand?»

«Doch, den meine ich. Es wäre für mich nochmals eine Gelegenheit, Kontakt mit ihm aufzunehmen.»

«Hedy, lass es. Du wirst wieder in deine alten Muster verfallen, dir von ihm alles gefallen lassen. Du mutierst bei jedem Mann, der dich privat interessiert, zu einem kleinen Dummchen. Ich will nicht schuld sein, wenn du wieder verletzt wirst, nur weil du dich völlig aufgibst und nur um scheinbar geliebt zu werden, alles mit dir machen lässt. Ich erinnere mich an Paul, an Florian, Hermann und eben auch an diesen Toni Morand. Ich will nicht schuld sein, wenn man dich wieder verletzt. Also vergessen wir alles.»

«Nein, Barbara. Ich werde Kontakt mit ihm aufnehmen. Es ist ja schliesslich endlich an der Zeit, sich zu ändern und … Ach, ich weiss nicht. Es ist für mich beschlossene Sache, mich mit Toni in Verbindung zu setzen. Ich will es und ich schaffe es. Punkt.» Dass sie selber nun einiges über diesen Hösli in Erfahrung bringen will, weil, wie sie vermutet hat, etwas mit dem Herrn wirklich nicht koscher ist, will sie Barbara natürlich nicht sagen.

«Froh und erleichtert wäre ich schon, nur, dass es ausgerechnet dieser Toni sein muss. Irgendwie ist er mir ein wenig suspekt. Unabhängig von dir. Der scheint ein dunkles Geheimnis zu haben. Er hat so einen unheimlichen Nimbus. Ich kann es nicht beweisen, halt ein Bauchgefühl. Du kennst doch sicher noch andere, die für solche Nachforschungen geeignet sind.»

«Nein, er ist der Beste. Beschlossene Sache. Ich melde mich wieder bei dir, wenn ich Näheres weiss.»

«Also, wie du willst. Ich möchte dann einfach nicht schuld sein, wenn du ...»

«Lass es jetzt. Du nervst. Ich weiss, was ich tue und brauche keine Mutter, die immer meint, es gut zu meinen.»

«Schon gut, schon gut. Aber pass auf dich auf. Entschuldige, aber ich muss weg. Es ist schon 6 Uhr. Meine Schwiegermutter bringt gleich die Kinder zurück. Danke für deine Hilfe. Ich habe aber immer noch ein schlechtes Gewissen.»

«Ach du Arme, das ist ja furchtbar. Jetzt musst du mit einem ach so schlechten Gewissen leben», scherzt Hedy und schliesst hinter ihrer Freundin die Türe.

 

Einen Moment bleibt sie stehen. Soll sie sich bei Barbara entschuldigen? War sie nicht ein wenig zu hässig zu ihr? Wenn eine Beziehung wieder mal zu Ende ist, muss schliesslich ihre Freundin herhalten, die Tränen trocknen und das Gejammer anhören. Und sie ist immer da für sie. Immer! Barbara hat recht. Immer und immer wieder sucht Hedy krampfhaft nach einer Freundschaft, nach einem Partner, einem Mann, bildet sich grosse Liebe ein und muss dann erkennen, dass sie weder geliebt noch respektiert wird. Sie würde alles, wirklich alles für eine Beziehung tun.

 

Wenn ich nur aufhören könnte mich selber für die Männer aufzugeben, mich dauernd anders zu geben als ich eigentlich bin. Wie ein Radar werde ich. Dauernd abcheckend, was möchte er, was könnte ich für ihn tun, welche Bedürfnisse hat er, welche Stimmung hat er. Ich muss einfach dieses Muster durchbrechen oder mich einfach damit abfinden Single zu bleiben. Das Singledasein hat schliesslich auch seine Vorteile. Nur, einfach mal neben jemandem aufwachen, gemeinsam Zmorge essen, am Abend über den Tag reden, fehlt mir halt schon. Bin ich noch lernfähig? Kann ich mein Klammeräffchen-Verhalten noch ablegen?

 

 

Wenn nur diese langweiligen Bürostunden bald vorbei wären. Hier hocken, auf den Bildschirm starren und nach Stunden auf die SBB-Wanduhr starren und dabei mit Schrecken feststellen, dass erst zwei Minuten vorbei sind, das ist es nicht, was er sich nach der Beförderung zum Leiter der AMI SA, einer vor allem in Brasilien und China beliebten Luxusuhrenfabrikvorgestellt hatte. Es wurde alles zum puren Gegenteil seiner Träume. Er sah sich damals als anerkannter und rundum geschätzter Patron im Format der früheren Uhrenmagnaten aus den Familien Schild. Er erträumte sich, dass man ihm mit Respekt begegnet, ja zu ihm mit grosser Ehrfurcht aufschaut. Sein Büro erträumte er sich als Mittelpunkt wirtschaftlicher Ereignisse und wohldurchdachter Entscheide. Als Zentrale von Innovation, Luxus und Wohlstand für die AMI SA und die Stadt Grenchen. Er malte sich genau aus, wie er als überragende Persönlichkeit durch seine konsequente, bedachte und entscheidungsfreudige Führungsqualität hochbrisante wirtschaftliche Probleme in Grenchen und der ganzen Welt löst. Bilder tauchten in seinem Innern auf, wie er durch die Stadt flaniert, preisgekrönt rundum Applaus erntend, dass jeder seiner Mitarbeiter sich vor ihm verbeugt, ehrfurchtsvoll. Jedermann ist darauf bedacht ein Selfie mit ihm in seinem Handy bei sich zu tragen und es allen voller Stolz zeigen zu können. Ja, so, genau so muss es sein. Das entspricht mir. Das ist mir das Leben, das Schicksal, Grenchen, die Welt schuldig. So ist es mir in die Wiege gelegt worden. Darum liess er – kaum seinen Chefposten angetreten – seinen Namen in grossen goldenen Lettern an seine Bürotüre montieren. So zeugt die Türe nach wie vor durch das überdimensionale Schild mit seinem Namen, Franz Hösli, auf beiden Seiten mit einer goldenen Krone eingerahmt, von seinen Träumen.

 

Seufzend und mit schwer belasteten, verspannten Schultern steht er auf und schaut zum Fenster hinaus. Sein Blick schweift über die blätterlosen Bäume und die dunklen Tannen am Jurasüdfuss. Im Winter sieht man die Wege und Strassen durch die lichten Bäume hindurch. Unglaublich, wie viele tote Rottannengerippe es inzwischen im Wald gibt. Wenn der Wald mal tot ist, dann wird einiges an Geröll und Gestein Grenchen überrollen. Ja, diese Erderwärmung scheint es wirklich zu geben, sinniert Hösli. Aber ich habe ganz andere Sorgen. Wie kann ich mich da noch um etwas kümmern, das sowieso bereits aussichtlos ist. Das sollen andere tun, solche, die keine so wichtigen Funktionen wie ich habe. Die AMI SA braucht mich.

 

AMI SA besitzt ein schönes Fabrikgelände in der Nähe des Bahnhofs. Einige der Räume werden an verschiedene Betriebe vermietet. So befinden sich hier städtische Ämter wie auch verschiedene Rechtsanwaltbüros. Hösli schaut erneut auf die Bahnhofs-Uhr. 14.30 Uhr.

«Genug Präsenz markiert. Ich verschwinde!»

 

Kurz entschlossen fährt er seinen Rechner herunter, packt seine Agenda und sein Notizbuch ein. Die beiden Dinge, die ihm heilig sind und die er konsequent vor fremden Augen schützt. Beim Gedanken, dass jemand seine Termine und Aufzeichnungen sehen könnte, lässt seinen Blutdruck in tödliche Höhen steigen. Es ist ihm bewusst, wie gefährlich es für ihn ist, alles aufzuzeichnen. Aber er kann es einfach nicht lassen. Es ist für ihn wie die Bestätigung, dass er all das erlebt und gemacht hat. Er braucht dieses Handfeste, dieses immer wieder Nachlesen können. Wenn er das nicht hätte, wäre es so, wie wenn er das alles auch nur geträumt hätte. Es ist hart genug, dass sein Traum in Bezug auf seine Chefposition nur Schall und Rauch ist. Einen zweiten nicht erfüllten Lebenstraum würde er nicht ertragen. Damals, als er versuchte sich zu erschiessen, ja seit damals ist für ihn alles in seinem Leben nur ein Trugbild. Missachtet im Beruf und das andere, das grosse Geheimnis erst eine Ahnung. Es war gut, aus der Ambulanz zu fliehen. Ein Aufenthalt in der Psychiatrie in Langendorf hätte ihn zurückgeworfen. Ja, diese Flucht ist für ihn sozusagen das Ankommen in seinem ganz eigenen Leben. Dumm gelaufen, dass die ersehnte Anerkennung als hochgeschätzter Chef nur eine Illusion geblieben war. Er hat ja jetzt das andere, das Adrenalin, die autoritäre Kontrolle, die Versicherung, dass er auf keinen Fall mehr seinem Leben ein Ende setzen könnte. Ja, es durchflutet ihn mit Glücksgefühlen und gibt ihm das, was fehlt: Respekt, Anerkennung und Grösse.

Hösli packt also alles sorgfältig in seine exklusive Herrentasche aus Zebuleder vom Berchtoldshof Bätterkinden und zieht den nebelgrauen wollenen Wintermantel an. Für Hösli kommt eine andere Farbe für seine Kleidung nicht in Frage. Sie macht ihn unscheinbar und lässt so keinen Blick auf sein Inneres zu. Mit schlurfenden Schritten, und wie üblich mit hochgezogenen Schultern, verlässt er sein Büro und schliesst die Türe mit dem Schlüssel ab.

 

Kurz öffnet er die Türe zum Büro seines Sekretärs: «Ich muss weg. Dringender, geheimer Aussentermin!» Und schon knallt die Türe wieder zu. Man muss Distanz wahren zu den Untergegebenen. Nichts da mit Solidarisieren und solchem Mist. Jeder muss wissen, welcher Platz ihm zusteht. Darum hat Hösli beim Antritt seines Postens sofort veranlasst, dass sein Direktionsassistent – im Geheimen nennt er Schmid despektierlich seine Tippse - auf keinen Fall wie geplant in seinem Büro arbeitet. Er fand dann schnell einen kleinen Raum, der für einen Sekretär bestens geeignet war. Bis dahin diente dieses Zimmerchen als Kopierraum. Der Kopierer gehört sowieso in den Gang, dann hat man die Kontrolle. Nirgendwo wird so viel getuschelt und gemauschelt wie beim Kopierer und beim Kaffeeautomaten. Wenn jetzt beides dank seinen Anordnungen zentral steht und von allen Seiten einsehbar steht, kann man hier wenigstens Verbrüderungen und Intrigen gegen ihn den Riegel vorschieben. Häufig lauscht er bewusst, um so Geheimnisse zu erfahren. Hermann Schmid schaut nicht einmal richtig auf, als der Chef sich durch den Türspalt verabschiedet. Er wundert sich nicht mehr, dass dieser immer so früh weggeht. Am Anfang war es für Hermann unerträglich, dass sich sein Chef um jede Arbeitszeit foutierte. Ein Chef hat Vorbild zu sein. Hermann selber ist ein äusserst gewissenhafter und loyaler Mitarbeiter. Gewissenhaftigkeit ist seine Art und anders kann er nicht arbeiten und mit Menschen umgehen. Nur seine Loyalität dem Chef gegenüber begann in den letzten Wochen zu bröckeln. Wie kann man zu einem Vorgesetzten stehen, der keine, aber wirklich keine Eigenschaft mitbringt, um eine Führungspersönlichkeit zu sein. Einem Chef gegenüber unparteiisch sein, dessen häufigsten Aussagen bei wichtigen Entscheiden nur sind: «Was machen wir jetzt?» «Macht ihr das!» «Ich will das so haben, aber macht, wie ihr wollt!» Schmid hat aufgeben, ihn gegenüber dem Mitarbeiterstab zu entschuldigen. Am Anfang war es ja noch zu akzeptieren, schliesslich musste Hösli sich einarbeiten. Aber jetzt, nach vier Jahren?! Mit viel Bedenken muss nun Hermann Schmid beobachten, wie alle Mitarbeiter nur noch das tun, was sie wollen. Kein Entscheid wird mehr dem Chef vorgelegt, geschweige denn durch ihn abgesegnet. Jeder macht, was er für gut empfindet. Und da Hösli tief in seinem Innern froh ist, gar nicht mehr entscheiden zu müssen, lässt er alles laufen und zeigt damit im Grunde genommen sein Einverständnis. Er selbst bezeichnet das aber gegen aussen hin als grosse Führungsqualität. Dadurch würde er seine Empathie und seinen hohen EQ beweisen, was man ja andern CEOs immer wieder als Mangel vorwerfe. Er führe nach neuesten Kriterien und räume mit dem allmächtigen Chefgehabe auf. Aber wer dankt es ihm? Keiner! Hermann Schmid kann nur den Kopf schütteln. Wenn Hösli etwas beherrscht, dann seine Unfähigkeit in schillernden, blendenden Farben als Grösse darzustellen. Aber, wenn es mal nötig ist, dass der Chef eine Massnahme unterschreibt, tut er dies, ohne sich zu informieren, worum es sich handelt. «Ein guter Chef muss Vertrauen haben in seine Abteilungsleiter. Und ich? Ich habe Vertrauen. Und was schliessen Sie daraus? He? Was? Genau: Ich bin ein guter Chef», ereiferte er sich einmal bei Hermann Schmid, als dieser ihn fragend ansah, weil er ein wichtiges Dokument blindlings einfach unterschrieb.

 

Jetzt verlässt er wie immer viel zu früh sein Büro. Schmid ist vor drei Wochen auf etwas auf dem Rechner seines Chefs gestossen, welches ihm den Schlaf raubt. Kann er handfeste Beweise dieses dunkle Geheimnis betreffend in Höslis schwarzem Notizbuch und in der Agenda finden?

---ENDE DER LESEPROBE---